Hans Christian Andersen
Der Improvisator
Hans Christian Andersen

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Der Besuch in den Katakomben. Ich werde Chorknabe. Das niedliche Engelskind.

Unser Mieter, der junge Maler, nahm mich auf seinen Wanderungen bisweilen mit zum Thore hinaus; ich störte ihn nicht, während er eine oder die andere Skizze machte, und wenn er fertig war, unterhielt ihn mein Geplauder, da er jetzt die Sprache verstand. Schon vorher war ich einmal mit ihm in der curia hostilia gewesen, tief hinein in jenen finstern Höhlen, wo in alten Tagen die wilden Tiere bis zu den Spielen aufbewahrt wurden, bei welchen den reißenden Hyänen und Löwen unschuldige Gefangene vorgeworfen worden waren. Die finstern Gänge, der Mönch, der uns hineinführte und die brennende Fackel beständig gegen die Mauer schlug, die tiefen Teiche, in welchen das Wasser spiegelhell war, ja so hell, daß man es mit der Fackel berühren mußte, um sich davon zu überführen, daß es den Rand erreichte, und man nicht einen leeren Raum vor sich hatte, wie es bei der Durchsichtigkeit und Klarheit desselben schien, alles erregte meine Phantasie, Furcht fühlte ich nicht, da ich von keiner Gefahr wußte.

»Gehen wir nach den Höhlen hinaus?« fragte ich ihn, als ich gegen Ende der Straße den obersten Teil des Kolosseums erblickte.

»Nein, zu andern weit größern!« erwiderte er. »Da sollst du etwas zu sehen bekommen, und dich will ich mitzeichnen, mein lieber Junge!«

Nun wanderten wir fort, immer fort, zwischen den weißen Mauern entlang, welche die Weingärten und die alten Ruinen der Bäder umschlossen, bis wir uns außerhalb Roms befanden. Die Sonne brannte heiß, und die Bauern hatten sich aus grünen Zweigen Lauben über ihre Wagen gemacht, unter welchen sie schliefen, während die Pferde, sich selbst überlassen, im Schritt gingen und von dem Heubündel fraßen, das zu diesem Zwecke über eine Seite derselben gehängt war. Endlich erreichten wir die Grotte der Egeria, in welcher wir unser Frühstück verzehrten und den Wein mit dem frischen Wasser mischten, das zwischen den Steinblöcken hervorsprudelte. Wände und Gewölbe, die ganze Grotte war inwendig mit dem feinsten Grün bewachsen, als wäre es ein aus Seide und Samt gewirkter Teppich, und rings um den großen Eingang hing der dichte Epheu, frisch und voll, wie das Weinlaub in Kalabriens Thälern. Einige Schritte von der Grotte liegt oder lag vielmehr, denn jetzt sind nur noch die Trümmer desselben übrig, ein kleines ganz einsames Haus, über einem der Eingänge in die Katakomben erbaut. Diese sind in alten Zeiten bekanntlich Verbindungsglieder zwischen Rom und den umliegenden Dörfern gewesen, sind aber später teils zusammengestürzt, teils, da sie Räubern und Schmugglern zum Versteck dienten, zugemauert. Die Eingänge durch die Grabgewölbe in der St. Sebastianskirche und hier durch dieses einsame Haus waren damals die beiden einzigen, welche man noch hatte, und ich darf annehmen, daß wir die letzten waren, die diesen benutzten, denn kurz nach unserm gefährlichen Abenteuer wurde auch er verschlossen, und nur der eine durch die Kirche blieb den Fremden unter Begleitung eines Mönches geöffnet.

Tief unten kreuzt, durch die weiche Erde gegraben, ein Gang den andern; ihre Menge, ihre Aehnlichkeit untereinander kann selbst denjenigen verwirren, welcher die Hauptrichtungen kennt. Ich machte mir darüber keine Gedanken, und der Maler hatte solche Vorsichtsmaßregeln ergriffen, daß er kein Bedenken trug, mich kleinen Knaben mit hinab zu nehmen. Er zündete ein Licht an, ein zweites hatte er noch in der Tasche, befestigte ein Knäuel Bindfaden an der Öffnung, durch welche wir hinabstiegen, und unsre Wanderung begann. Bald waren die Gänge so niedrig, daß nur ich aufrecht gehen konnte, bald erhoben sie sich zu kühnen Gewölben, da, wo sie von andern durchschnitten wurden, zu großen Quadraten erweitert. Wir kamen durch die Rotunde mit dem kleinen steinernen Altare in der Mitte, in der die ersten Christen, so oft sie von den Heiden verfolgt wurden, heimlich ihre Gottesdienste hielten. Federigo erzählte mir von den vierzehn Päpsten und den vielen tausend Märtyrern, die hier unten begraben lägen. Wir hielten das Licht an die großen Sprünge in den Grabnischen und erblickten darin die gebleichten Gebeine.Die Grabmäler sind hier ohne jeglichen Schmuck; dagegen findet man in den Katakomben des heiligen Januarius bei Neapel Heiligenbilder und Inschriften, jedoch ohne Kunstwert. Auf den Gräbern der Christen befindet sich ein Fisch abgebildet, dessen griechischer Name ἰχϑύς die Anfangsbuchstaben der Worte Ἰησοῦς Χριστός, ϑεοῦ υἱὸς, σωτήρ (Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser) enthält. Noch gingen wir einige Schritte vorwärts, dann machte der Maler Halt, denn der Faden war nicht länger. Das Ende band er an einem seiner Knopflöcher fest, steckte das Licht zwischen einige Steine und begann nun die tiefen Gänge abzuzeichnen. Ich saß dicht daneben auf einem Steine, er hatte mich die Hände falten und in die Höhe schauen lassen. Das Licht war halb abgebrannt, aber noch ein ganzes lag an der Seite desselben, außerdem hatte er Schwamm und Feuerzeug, damit er, wenn es plötzlich verlöschen sollte, es wieder anzünden könnte.

Meine Phantasie schuf tausend sonderbare Gegenstände in den unendlichen Gängen, die sich nur öffneten um eine ungeheure Finsternis zu zeigen. Alles war unheimlich still, nur die herabfallenden Wassertropfen brachten einen einförmigen Ton hervor. Während ich so in meine eignen Gedanken versenkt dasaß, wurde ich plötzlich durch das eigentümliche Gebaren meines Freundes, des Malers erschreckt, der einen tiefen Seufzer ausstieß und immer auf demselben Flecke umherlief. Alle Augenblicke beugte er sich auf die Erde hinab, als ob er nach etwas greifen wollte. Nun zündete er noch das längere Licht an und suchte rings um sich her. Da wurde ich über sein seltsames Wesen besorgt und richtete mich weinend empor.

»Um Gottes willen, bleib sitzen, Kind!« sagte er, »um Gottes willen!« und nun starrte er wieder auf die Erde.

»Ich will hinauf!« schrie ich, »ich will nicht hier unten bleiben!« Dabei ergriff ich ihn an der Hand und wollte ihn mit ziehen.

»Kind, Kind! Du bist ein herrlicher Junge! Ich will dir Bilder und Kuchen geben; da hast du Geld!« und nun zog er seinen Geldbeutel aus der Tasche und gab mir alles, was sich darin befand; aber ich fühlte, daß seine Hand eiskalt war und daß sie zitterte. Da wurde ich noch unruhiger und rief nach meiner Mutter, doch nun packte er mich heftig an der Schulter, schüttelte mich stark und sagte: »Ich prügle dich, wenn du nicht ruhig bist!« Darauf schlang er sein Taschentuch um meinen Arm und hielt mich fest, beugte sich aber in demselben Augenblicke nieder und küßte mich heftig, nannte mich seinen lieben kleinen Antonio und sagte: »Bete auch du zur Madonna!«

»Ist der Faden fort?« rief ich.

»Wir finden ihn,, wir finden ihn!« entgegnete er und suchte wieder. Inzwischen war das kleinere Licht niedergebrannt, und je mehr das größere infolge der schnellen Bewegung, mit der er umherleuchtete, schmolz und schon bis zur Hand, in der er es hielt, herunterbrannte, desto größer wurde sein Entsetzen. Es würde auch unmöglich gewesen sein, sich ohne Faden zurückzufinden, jeder Schritt konnte uns tiefer hineinführen, wo uns niemand zu retten vermochte.

Nach vergeblichem Suchen warf er sich auf die Erde nieder, faßte mich um den Hals und seufzte: »Du armes Kind!« Da weinte ich sehr, denn ich fühlte, daß ich nie wieder nach Hause kam. Er drückte mich, während er auf der Erde lag, so fest an sich, daß meine Hand unter ihn glitt. Ich griff unwillkürlich in den Staub und Schutt und hielt den Faden zwischen meinen Fingern.

»Hier ist er!« rief ich.

Er ergriff meine Hand und wurde wie wahnsinnig vor Freude, denn hier hing wirklich unser Leben an diesem einen Faden. – Wir waren gerettet.

O, wie warm schien nicht die Sonne, wie blau war nicht der Himmel, wie herrlich grün waren nicht Bäume und Büsche, als wir in die freie Luft hinauskamen! Der arme Federigo küßte mich wieder, zog seine schöne silberne Uhr aus der Tasche und sagte: »Die sollst du haben!« Ich wurde so seelensfroh darüber, daß ich alles, was geschehen war, rein vergaß. Allein meine Mutter konnte es nicht vergessen, als sie es hörte, und er erhielt nie mehr die Erlaubnis, mich mit sich zu nehmen. Fra Martino sagte ebenfalls, daß wir allein um meinetwegen gerettet wären, daß mir die Madonna den Faden gereicht hätte, mir und nicht dem Ketzer Federigo, daß ich ein gutes frommes Kind wäre und nie ihre Milde und Gnade vergessen sollte. Dieser Umstand und einiger Bekannten scherzhafte Äußerung, daß ich zum Geistlichen geboren wäre, da ich, meine Mutter ausgenommen, die Frauenzimmer durchaus nicht leiden könnte, bestimmte dieselbe dazu, einen Diener der Kirche aus mir zu machen. Ich weiß selbst nicht, aber jedes Frauenzimmer flößte mir ein unbehagliches Gefühl ein, und da ich es recht naiv ausplauderte, wurde ich von all' den Mädchen und Frauen, die zu meiner Mutter kamen, aufgezogen. Alle wollten sie mich küssen. Besonders war es ein Bauermädchen, Mariuccia, welche mir durch diesen Scherz oft die Thränen in die Augen trieb. Sie war überaus lebhaft und mutwillig, lebte vom Modellstehen und ging deshalb immer in schönen bunten Kleidern und mit einer breiten weißen linnenen Kopfbinde um das Haar. Oft saß sie Federigo, besuchte auch meine Mutter und erzählte mir dann immer, sie wäre meine Braut und ich ihr kleiner Bräutigam, welcher ihr einen Kuß geben müßte und sollte. Ich wollte nun nie, aber dann zwang sie mich mit Gewalt. Als ich eines Tages, wie sie sagte, recht kindisch weinte und mich wie ein kleines Kind aufführte, rief sie lustig, ich müßte mich nun auch wie die andern kleinen Kinder an der Mutterbrust zur Ruhe bringen lassen. Erschreckt flüchtete ich mich auf die Treppe hinaus, aber sie haschte mich, hielt mich zwischen ihren Knieen fest und drückte meinen Kopf, welchen ich mit Abscheu abwandte, mehr und mehr an ihre Brust. Ich riß den silbernen Pfeil aus ihrem Haare, welches über mich und ihre entblößten Schultern in dichten Wogen hinabfloß. Meine Mutter stand in der Ecke, lachte und ermunterte Mariuccia, während Federigo, ganz unbemerkt in seiner Thür, die ganze Gruppe malte.

»Ich will keine Braut, keine Frau haben!« sagte ich zu meiner Mutter, »ich will Priester oder Kapuziner wie Fra Martino werden!«

Das sonderbare Stillschweigen, in das ich oft ganze Abende versunken war, hielt meine Mutter für ein Zeichen meiner Bestimmung für die Kirche. Ich saß dann und überlegte bei mir, welche Kirchen und Schlösser ich erbauen wollte, wenn ich erst größer und reich würde; wie ich dann, gleich den Kardinälen in roten Wagen mit vielen goldgalonnierten Bedienten hintenauf einherfahren würde; oder auch bildete ich mir aus den vielen Märtyrergeschichten, die mir Fra Martino erzählt hatte, irgend eine neue. Ich wurde natürlich der Held derselben und würde durch der Madonna Hilfe nie die Schmerzen fühlen, die mir zugefügt wurden. Besonders trug ich große Lust Federigos Heimat zu besuchen, um die Bewohner derselben zu bekehren, damit auch sie an der Gnade teilhaben könnten.

Wie meine Mutter oder Fra Martino es angestellt haben, weiß ich nicht, aber genug, eines Morgens zog mir meine Mutter einen kleinen Rock an, warf mir ein Chorhemde über, welches mir bis an die Kniee reichte, und ließ mich dann mich selbst im Spiegel betrachten. Ich war nun Chorknabe in der Kapuzinerkirche, sollte eines der großen Räucherfässer tragen und droben mit vor dem Altare singen. Fra Martino lehrte es mich alles. O, ich war so glücklich darüber! Bald wurde ich in der kleinen aber freundlichen Klosterkirche wie zu Hause, kannte jeden Engelskopf auf den Altargemälden, jeden bunten Schnörkel auf den Pfeilern, konnte mit geschlossenen Augen den schönen St. Michael mit dem scheußlichen DrachenDas berühmte Gemälde: St. Michael, der Erzengel, jugendlich schön und mit großen Flügeln, setzt seinen Fuß und seine Lanze auf des Teufels Haupt. kämpfen sehen, wie es der Maler dargestellt hat und machte mir über die auf dem Fußboden ausgehauenen Totenköpfe mit den grünen Epheukränzen um die Stirnen viele sonderbare Gedanken.

Am Allerheiligenfeste war ich mit unten in den Totenkapellen, in welche mich Fra Martino bei meinem ersten Besuche im Kloster geführt hatte. Alle Mönche sangen Seelenmessen, und zwei meiner Altersgenossen schwangen mit mir die Rauchfässer vor dem großen Altare von Totenköpfen. – Man hatte auf die von Knochen gebildeten Kronleuchter Lichter gesetzt, und die Mönchsskelette hatten neue Blumenkränze um die Stirn und einen frischen Strauß in die Hand bekommen. – Viele Menschen waren, wie gewöhnlich, zusammengeströmt; sie knieten und die Sänger stimmten das feierliche Miserere an. Lange betrachtete ich die gebleichten Totenköpfe und die Rauchwolke, welche in seltsamen Gestalten zwischen ihnen und mir auf und ab wogte. Da begann sich plötzlich alles vor meinen Augen zu drehen; es war, als sehe ich das Ganze durch einen starken Regenbogen, es klang mir vor den Ohren, als ob tausend Kirchenglocken auf einmal läuteten; es kam mir vor, als segelte ich einen Strom hinab, es war unaussprechlich schön. – Mehr weiß ich nicht; das Bewußtsein verließ mich, ich ward ohnmächtig.

Die von der großen Menschenmasse herrührende schwere Luft und meine erhitzte Phantasie hatten meine Ohnmacht verursacht. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf Fra Martinos Schoß unter dem Orangenbaum im Klostergarten.

Meine verworrene Erzählung über das, was ich gesehen zu haben vermeinte, erklärten er und alle Brüder für eine Offenbarung. Die seligen Geister wären an mir vorübergeschwebt, aber ich hätte den Anblick ihres Glanzes und ihrer Herrlichkeit nicht aushalten können.

Dies gab denn die Veranlassung dazu, daß ich bald mehrere sonderbare Träume hatte, auch wohl selbst einige erdachte, die ich meiner Mutter erzählte und sie ihrerseits wieder ihren Freundinnen mitteilte, so daß ich täglich mehr für ein Gotteskind galt.

Inzwischen näherte sich die glückliche Weihnachtszeit. Die Pisserari, die Hirten aus dem Gebirge, erschienen in ihren kurzen Mänteln, mit Bändern und dem spitzen Hut, und verkündigten mit ihren Sackpfeifen vor jedem Hause, an welchem die Bildsäule der Madonna stand, daß der Heiland geboren werden sollte. Ich erwachte jeden Morgen bei diesen einförmigen melancholischen Tönen, und meine erste Beschäftigung war alsdann meine Rede durchzulesen, denn ich gehörte zu den auserwählten Kindern, Mädchen und Knaben, die diesmal zwischen Weihnachten und Neujahr vor dem Jesusbilde in der Kirche Santa Maria Araceli predigen sollten.

Nicht nur ich, meine Mutter und Mariuccia, wir freuten uns darüber, daß ich als neunjähriger Knabe eine Rede halten sollte, sondern auch der Maler Federigo, vor dem ich, ohne jener Wissen, von einem Tische herab eine Probe abgelegt hatte. War es doch auch nur ein Tisch, allein mit dem Unterschiede, daß eine Decke auf demselben lag, auf welchen man uns Kinder in der Kirche stellte, wo wir dann vor der versammelten Menge die auswendig gelernte Rede von dem blutenden Herzen der Madonna und von des Jesuskindes Herrlichkeit hersagen mußten. Ich fühlte nichts von Furcht, nur Freude machte mein Herz stärker klopfen, als nun die Reihe an mich kam und alle mich anblickten. Ich war bis jetzt dasjenige der Kinder, welches am meisten gefiel, das ließ sich nicht leugnen; jetzt aber wurde ein junges Mädchen emporgehoben. Die Kleine war so unendlich zart gebaut, hatte dazu ein so wunderbar verklärtes Antlitz und eine so melodische Stimme, daß alle in die Erklärung ausbrachen, es wäre ein kleines Engelskind. Selbst meine Mutter, die mir gern den Preis zuerkannt hätte, sagte laut, sie gliche den Engeln auf dem großen Altargemälde. Das merkwürdig dunkle Auge, das kohlschwarze Haar, das kindliche und doch so kluge Gesicht, die schönen kleinen Hände, nein, es kam mir denn doch so vor, als ob auch meine Mutter etwas zu viel davon spräche, obgleich sie behauptete, auch ich wäre ein Gottesengel gewesen. – Es giebt ein Lied von der Nachtigall, die als Junges im Neste saß und nach den grünen Blättern des Rosenstockes hackte, die Knospe nicht sah, die sich zu bilden begann; – und Monate danach, als die Rose sich entfaltete, sang die Nachtigall nur ihr ihre Lieder, flatterte in die Dornen hinein und verblutete. Dies Lied ist mir, als ich älter war, oft eingefallen, aber in der Kirche Araceli, da kannte ich es nicht, weder meine Ohren noch mein Herz kannte es. Zu Hause mußte ich in Gegenwart meiner Mutter, Mariuccias und mehrerer Freundinnen die gehaltene Rede wiederholen, und es schmeichelte meiner Eitelkeit nicht wenig; aber sie verloren früher das Interesse dieselbe zu hören, als ich sie immer von neuem vorzutragen. Um nun mein Publikum in Atem zu halten, machte ich mich selbst daran mir eine neue Rede abzufassen, doch bestand dieselbe mehr in einer Schilderung kirchlicher Feste als in einer eigentlichen Weihnachtspredigt. Federigo war der erste, der sie hörte, und wenngleich er lachte, war es mir doch sehr schmeichelhaft, daß er sagte, meine Rede wäre in jeder Beziehung ebenso gut wie die, welche mir Fra Martino beigebracht hätte, und in mir steckte ein Poet. Ueber das letzte sann ich viel nach, da ich es nicht verstand, doch dachte ich mir darunter einen guten Engel, der in mir wohnte. Vielleicht war es derjenige, der mir, wenn ich schlief, die schönen Träume eingab und so viel Herrliches zeigte.

Es kam sehr selten vor, daß meine Mutter den Stadtteil verließ, in welchem wir wohnten. Es erschien mir deshalb als ein vollkommenes Fest, als sie eines Nachmittags sagte, wir wollten eine Freundin in TrastevereDer Teil Roms, welcher auf der rechten Seite der Tiber liegt. besuchen. Ich bekam meine Sonntagskleider an; der bunte seidne Latz, welchen ich damals anstatt der Weste trug, wurde mir über der Brust mit Stecknadeln unter dem Jäckchen angeheftet; das Halstuch war in eine große Schleife zusammengelegt und den Kopf schmückte eine gestickte Mütze. Ich war recht niedlich.

Als wir nach abgestattetem Besuche uns wieder heimwärts wandten, war es schon ziemlich spät, aber herrlicher Mondschein, die Luft frisch und blau. Die Cypressen und Pinien standen in wunderbar scharfen Konturen auf den naheliegenden Anhöhen. Es war einer jener Abende, deren es in jedem Leben einzelne giebt, die sich, ohne sich durch irgend eine große Lebensbegebenheit auszuzeichnen, doch in ihrer ganzen Farbenpracht unauslöschlich der Erinnerung einprägen. So oft ich mich seitdem in Gedanken an den Tiberfluß zurückversetze, sehe ich stets das Bild jenes Abends: das dicke gelbe Wasser, auf welches der Mond herabschien, die schwarzen Pfeiler der alten zerstörten Brücke, welche mit starken Schlagschatten aus dem Strome, in welchem das große Mühlenrad brauste, emporragten, ja selbst die lustigen Mädchen sehe ich, die mit ihrem Tamburin vorüberhüpften und den SaltarelloEin römischer Volkstanz nach einer sehr einförmigen Melodie. Er wird von einem oder zweien getanzt, doch ohne daß diese je miteinander in Berührung kommen. Am häufigsten sind es zwei Männer oder zwei Frauen, die sich mit raschen hüpfenden Tritten und steigender Schnelligkeit in einem Halbkreise bewegen. Die Arme sind in ebenso großer Bewegung, wie die Beine, und verändern unablässig ihre Lage mit der natürlichen Anmut, die den Römern eigen ist. Die Frauenzimmer pflegen beim Tanze den Rock ein wenig emporzuheben, oder selbst den Takt auf dem Tamburin zu schlagen, welchen andernfalls ein Dritter durch die einförmige Trommel angiebt, deren Abwechslung lediglich in der größeren oder geringeren Schnelligkeit besteht, mit der die Schläge aufeinander folgen. tanzten. In den Straßen bei Santa Maria della Rotunda war noch alles in Bewegung; Schlächter und Obsthändlerinnen saßen hinter ihren Tischen, wo die Waren zwischen Lorbeerguirlanden lagen und die Lichter in der freien Luft brannten. Das Feuer loderte unter den Kastanientöpfen und das Gespräch wurde mit Schreien und Lärm geführt, so daß ein Fremder, welcher die Worte nicht verstand, es für einen Streit auf Tod und Leben halten mußte. Eine alte Freundin, welche meine Mutter bei einer Fischhändlerin traf, hielt uns so lange auf, daß die Lichter zu erlöschen begannen, ehe wir uns wieder auf den Weg machten, und während meine Mutter ihre Freundin bis vor ihre Thür begleitete, wurde es auf den Straßen und selbst auf dem Korso totenstill, als wir aber in die Piazza di Trevi einbogen, auf der sich die prächtige Kaskade befindet, klang uns wieder lustiges Leben entgegen.

Der Mondschein fiel gerade auf den alten Palast, wo das Wasser zwischen den Felsenblöcken des Fundaments, die lose übereinander geworfen zu sein scheinen, hervorströmt. Neptuns schwerer steinerner Mantel flatterte im Winde, während er über die große Kaskade, an deren Seiten blasende Tritonen die Seepferde lenken, hinausschaute. Unter ihnen breitet sich das große Bassin aus und auf den Treppenstufen, die rings um dasselbe laufen, lag eine Schar Bauern und streckte sich behaglich im Mondschein aus. Große zerschnittene Melonen, aus denen der rote Saft quoll, lagen neben ihnen. Ein kleiner vierschrötiger Bursche, dessen ganze Tracht aus dem Hemde und den kurzen Lederhosen bestand, die aufgeknöpft und lose um die Kniee hingen, saß mit einer Guitarre da und griff lustig in die Saiten. Bald sang er einen Vers, bald spielte er, und alle Bauern klatschten in die Hände. Meine Mutter blieb stehen und nun hörte ich ein Lied, das mich ganz wunderbar ergriff, denn es war nicht ein Lied wie andere, nein, er sang uns vor, was wir sahen und hörten. Wir spielten selbst eine Rolle in dem Liede mit, und dabei reimte es sich und hatte eine herrliche Melodie. Er sang, wie schön man mit einem Steine unter dem Kopfe und dem blauen Himmel als Decke schlafen könnte, während hier die beiden Pifferari die Sackpfeife bliesen, und dabei zeigte er auf die Tritonen, die in ihr Horn stießen. Er sang, wie die ganze Schar von Bauern, die hier die Melonen bluten ließen, die Gesundheit ihrer Geliebten trinken wollten, welche jetzt schliefen, aber im Traume die Peterskuppel und den Geliebten sähen, der in die Stadt des Papstes gegangen wäre. »Diese Gesundheit wollen wir trinken und aller Mädchen Wohl, deren Pfeil die Hand noch nicht geöffnet hat.Der Pfeil, den die Bäuerinnen im Haare tragen, hat bei den Mädchen eine geschlossene, bei den Verlobten und Verheirateten eine offene Hand. »Ja,« fügte er hinzu und kniff meine Mutter in die Seite, »und Mutters mit und der Braut, welche der Junge bekommt, wenn ihm der schwarze Flaum wächst!« – »Bravo!« sagte meine Mutter, und alle Bauern klatschten und brüllten mit: »Bravo, Giacomo! Bravo!«

Auf den Stufen der kleinen Kirche rechter Hand entdeckten wir inzwischen einen Bekannten, unfern Federigo, der mit dem Bleistifte dastand und das ganze lustige Mondscheinsstück aufnahm. Als wir nach Hause gingen, scherzte er und meine Mutter über den muntern Improvisator, wie ich jenen Bauer nennen hörte, der uns durch seinen Gesang so gut unterhalten hatte.

»Antonio,« sagte Federigo zu mir, »du solltest ebenfalls improvisiert haben, du bist ja auch ein kleiner Dichter! Du mußt lernen, deine Reden in Verse zu setzen.«

Nun verstand ich mit einem Male, was ein Dichter sein mußte, nämlich einer, der schön singen konnte, was er fühlte und sah. Ei, das wäre lustig, und müßte ja, wie ich mir vorstellte, leicht sein; hätte ich nur erst eine Guitarre.

Der erste Gegenstand meiner Sangeskunst war nicht mehr noch weniger als des gegenüberwohnenden Hökers Laden. Schon früh war meine Phantasie zwischen der merkwürdigen Zusammenstellung seiner Waren, die sogar die Blicke der Fremden auf sich lenkte, umhergeschweift. Zwischen schönen Lorbeerguirlanden hingen gleich großen Straußeiern die weißen Büffelkäse; die Lichter standen, mit Goldpapier umwunden, wie Orgelpfeifen nebeneinander und die Würste waren wie Säulen aufgerichtet, die Parmesankäse, wie gelber Bernstein leuchtend, trugen. Wenn nun des Abends das Ganze erleuchtet war und die rote Glaslampe vor dem Madonnabilde an der Wand zwischen Würsten und Presciutto (Schinken) brannte, glaubte ich in eine Zauberwelt hineinzublicken. Die Katze auf dem Ladentische und der junge Kapuziner, der stets so lange mit der Signora handelte, kam ebenfalls mit in mein Gedicht hinein, welches ich mir so oft in den Gedanken zurechtlegte, daß ich es Federigo sicher und deutlich hersagen konnte, und welches sich, da es seinen Beifall gewann, bald durch das ganze Haus und über die Straße fort bis zu des Hökers Signora verbreitete, die dazu lachte und die Hände zusammenschlug, indem sie es ein merkwürdiges Gedicht, eine divina Commédia di Dante nannte.

Nun wurde denn auch alles besungen! Ich lebte völlig in Phantasien und Träumen, in der Kirche, wenn ich das Rauchfaß zum Gesange der Mönche schwang, auf den Straßen zwischen den rollenden Wagen und schreienden Händlern, wie in meinem kleinen Bettchen unter dem Madonnabilde und dem Weihwasserkessel. Stundenlang konnte ich in der Winterdämmerung vor unserm Hause sitzen und in die lodernden Flammen auf der Straße schauen, wo die Schmiede ihr Eisen glühend machten und die Bauern sich erwärmten. Ich sah in dem roten Feuer eine Welt, flammend wie meine eigne Phantasie. Ich jubelte vor Freude, wenn des Winters der Schnee eine so starke Kälte von den Bergen zu uns hinabjagte, daß Eiszapfen an dem Steintritonen draußen auf dem Platze hingen; schade, daß es so selten geschah! Dann waren auch die Bauern froh, denn sie sahen dies als das Vorzeichen eines fruchtbaren Jahres an. Sie reichten einander die Hände und tanzten in großen Schafpelzen um den Triton, während der Regenbogen an dem hohen Wasserstrahle spielte.

Aber ich verweile zu lange bei den einzelnen Jugenderinnerungen, die für Fremde nicht die tiefe Bedeutung, nicht das wunderbar Ergreifende wie für mich haben können. Bei der Wiederholung derselben, beim Verweilen bei den Einzelheiten ist es mir, als durchlebte ich alles noch einmal.

Doch ich will zu der Begebenheit übergehen, die die erste Dornenhecke zwischen mir und dem Paradiese der Heimat aufrichtete, die mich unter Fremde hinausführte und meine ganze Zukunft bestimmte.


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