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Das Familienkreuz


Justin hieß er mit Vornamen; von Beruf war er Advokat am Gerichtshof zu Angers.

Er hatte ein merkwürdiges Aussehen. Er maß fast sechs Fuß, seinen krausen Bart trug er, wie der liebe Gott ihn ihm frühzeitig ins Gesicht gepflanzt hatte: nichts unter der Nase, wenig an den Backen, dagegen am Kinn dicht und lang. Im übrigen war er wie Milch und Blut, dabei knochig und doch geziert, mit einem Wort: eine Mischung von Seemann und Chorknabe.

Eines Tages, am 17. Oktober 10 Uhr morgens, am Tage nach Schluß der Gerichtsferien, sah er einen kleinen, sehr korrekt aussehenden Herrn in sein Bureau treten, der sich als Steuereinnehmer Jean Vonnic vorstellte.

Justin erinnerte sich, ihn oft schon in den Kanzleien und bei den Bagatellegerichten gesehen zu haben. – Er deutete mit den Fingern auf einen Sessel.

Der kleine Mann setzte sich umständlich zurecht, und mit seinen kurzfingerigen, hellbehandschuhten Händen seinen Hut streichelnd, sagte er:

»Hochverehrter Herr Bineau, ich komme, Sie um einen Dienst zu bitten, um Unterstützung in einer persönlichen Angelegenheit. Sie haben den Ruf eines unabhängigen und klaren Geistes, Sie sind mein Mann. – Also die Sache ist ganz einfach die: Man scheint die Absicht zu haben, mich ins Zuchthaus zu bringen.«

Indem er dieses sagte, ließ Herr Vonnic die Glieder seiner in tadellosen Handschuhen sitzenden Hände in den Gelenken knacken, kreuzte die Beine und ließ seinen Fuß mit graziöser Sorglosigkeit wippen. Dann fuhr er, die Lippen spitzend, in flötendem Tone fort:

»Jawohl, ins Zuchthaus! Es scheint, daß ich ein Fälscher bin. Ich will Ihnen die Sache erklären. Kennen Sie einen gewissen Marquis de l'Authion? Er ist Kavallerieoberst.«

»Nein!«

»Nun also, das ist ein liebenswürdiger Spaßvogel. Er hat Verwandte in Angers und ist Besitzer des großen Gutes Thouarcé, das etwa 8 Meilen von hier entfernt liegt. Letzte Ostern erhielt ich seinen Besuch. Er vertraute mir an, daß er in seinem Klub starke Verluste erlitten hätte und daß er sich nicht Wucherern in die Hände geben wolle. Kurz, er brauchte 150 000 Franken, um ein großes Loch und bei der Gelegenheit eine ganze Anzahl kleiner Löcher zu verstopfen. ›Mein lieber Herr,‹ erklärte er mir, ›bevor ich mich aus der Gesellschaft zurückziehe, möchte ich alle meine Schulden erledigen. Suchen Sie mir diskret einen Geldmann‹; er betonte das Wort »diskret« sehr stark. ›Thouarcé ist völlig frei von Hypotheken. Ich habe absichtlich zuerst auf die anderen Güter Geld aufgenommen und Thouarcé unbelastet gehalten. Unter uns, es hat einen Wert von 400 000 Franken. Also, nun möglichst schnell und kein Wort darüber – wegen meiner Familie.‹

»Ich erwiderte ihm, daß seine Bitte um Diskretion überflüssig wäre … unter Kavalieren!«

Justin Bineau nickte zustimmend, schaute dabei aber etwas ironisch drein, und der andere fuhr nun mit gezierter Gleichgültigkeit fort:

»Ich dachte an meinen ehemaligen Gehilfen, der damals gerade eine ziemlich kärgliche Notariatspraxis in Boucheloire übernommen hatte. Ich interessiere mich für diesen frischgebackenen Notar. Er nennt sich Hallopier. Ich wollte ihm ein gutes Geschäft zuwenden, und dies war sicherlich eins. Die Notare haben immer einige wohlhabende Klienten, denen sie die besonders günstigen Geldanlagen reservieren. Auf diese Weise fesselt man sie an sich, und man überträgt dann die Klientel an seinen Nachfolger. – Der Marquis wollte ein Damno von 20 Prozent gewähren, dabei eine erste Hypothek. Das will bei unserem heutigen Zinsfuß von 3,25 etwas heißen, und die Zuwendung eines solchen Geschäftes verpflichtet zu Dank. Mein ehemaliger Gehilfe erdrückte mich auch beinahe mit seinen Dankbarkeitsbezeigungen. Ich für meine Person mag solche Gefühlsergüsse nicht und bin für solche Sentimentalitäten erst von 7 Uhr abends an zu haben.

»Nach Verlauf einer Woche kündigte mir Hallopier an, daß das gesuchte Kapital zur Verfügung stände, und ich teilte es dem Marquis mit. Er brachte mir eine in Paris beglaubigte Vollmacht, das Geschäft für ihn abzuschließen, Quittung in seinem Namen zu leisten und als Sicherheit eine hypothekarische Eintragung auf sein Gut Thouarcé machen zu lassen. Alles Nötige wurde dann von mir besorgt, und ich zahlte ihm gegen Quittung das Geld aus. Er selbst holte es in meinem Bureau ab. Er dankte mir, und ich vergaß die ganze Sache bald, da ich der Ansicht bin, daß solche Gefälligkeit weiter gar keine Bedeutung hat …«

»Unter Kavalieren,« schaltete Bineau ein.

»Sehr richtig, Herr Rechtsanwalt. – Indes dieser einfache Marquis hat sich mir gegenüber von einer wahrhaft fürstlichen Undankbarkeit gezeigt.«

Man sah dem Steuereinnehmer an, wie er das Salz dieses Witzes genoß. Dann mit einer Miene des Ekels wiederholte er, seine Worte wie Perlen hinlegend:

»Von einer wahrhaft fürstlichen Undankbarkeit! Hat er doch die Stirne gehabt, Strafanzeige gegen mich zu erstatten! Er behauptet, mich niemals gebeten zu haben, Geld für ihn aufzunehmen, noch eine Hypothek für ihn eintragen zu lassen! Er erklärte, daß er im vorigen Monat, als er versuchte, ein wirkliches Darlehen aufzunehmen – wie er es nennt – starr vor Staunen war, als er die durch mich besorgte Eintragung erfuhr.«

»Also, Herr Rechtsanwalt, ich bin ein Dieb und ein Fälscher und …«

Der Klient suchte, um seine Klagen zu krönen, nach einem passenden Ausdruck. Da er aber augenscheinlich keinen fand, wiederholte er:

»Also ganz einfach ein Fälscher! – Aus diesem Grunde, Herr Rechtsanwalt, lege ich die Wahrung meiner Interessen als Uebeltäter und Verbrecher in Ihre Hände. Ich weiß, Sie lieben solche originellen Fälle, und Sie scheuen nicht davor zurück, auch die Mächtigen dieser Erde hart anzufassen, wenn sie es verdienen.«

Er sagte das alles in einem leichten Plauderton. Aber um zu zeigen, daß er in allem Maß hielt, fügte er hinzu:

»Das ist ein sehr unangenehmes Abenteuer, das mich sehr ärgert.«

Bineau schwieg verblüfft vor der Ungeheuerlichkeit dieser Mitteilungen. Endlich rief er mit hocherhobenen Armen:

»Was für eine Geschichte, guter Gott! was für eine Geschichte! Das ist ja ungeheuerlich, das ist ja verrückt!«

Der Steuereinnehmer verneigte sich lächelnd.

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, es ist ungeheuerlich, aber es ist auch ein Gaunerstück, gegen das ich die Absicht habe, mich – ganz einfach – aufs äußerste zu verteidigen.«

Und um zu zeigen, wie entschlossen er war, hielt er zwischen seinem kleinen Daumen und seinem kleinen Zeigefinger, während er die andern Finger hochhob, ein imaginäres Gaunerstück wie einen stinkenden Gegenstand von sich weg.

»Also, Herr Vonnic, Sie sind, wie Sie sagen, im Besitze der notariellen Vollmacht, durch die Sie beauftragt wurden, das Geschäft abzuschließen und eine Hypothek eintragen zu lassen?«

»Hallopier bewahrt sie zusammen mit dem Hypothekarbrief auf.«

»Und sie ist in Ordnung?«

»Na, das wäre! Ich bin doch kein Kind und hätte ohne eine ernsthafte Sicherheit den Auftrag doch nicht angenommen. Ganz einfach! Es fehlt nichts, weder die Unterschriften des Notars noch der Notariatsstempel, alles ist da.«

»Und weiter!?«

»Nun, man behauptet, – ganz einfach – daß diese Vollmacht falsch ist und – ganz einfach – durch Ihren ganz ergebenen Diener hergestellt sei. Dagegen behaupte ich und bin ich gezwungen anzunehmen, daß die beglaubigte Vollmacht, die ich für echt hielt, als ich sie bekam, in allen Stücken – ganz einfach – vom Marquis de l'Authion herrührt.«

»Nun wohl, welcher Meinung ist der Notar, von dem die Beglaubigung herrühren sollte?«

»Das weiß ich nicht, aber ich kann es mir denken. Er wird durch seine Abschriften und seine Register beweisen, daß er niemals ein solches Schriftstück abgefaßt hat. Ueber alles Weitere wird uns ja die Untersuchung belehren. – Gestatten Sie, daß ich mich verabschiede, Herr Rechtsanwalt. Ihre Minuten sind kostbar, die meinen auch. Der Verhaftungsbefehl ist schnell unterzeichnet! Ich wünschte nur gleich von Anfang an mich der Unterstützung eines zuverlässigen und von krassen Vorurteilen freien Juristen zu versichern. Kann ich auf Sie zählen?«

»Das können Sie, Herr Vonnic.« –

Der Klient verbeugte sich.

»Herr Rechtsanwalt, ich vertraue Ihnen also ganz einfach meine Ehre an.«

Das sagte er mit scherzendem Ton, gab seinem Anwalt drei behandschuhte Finger und entfernte sich schnell.

Justin frühstückte und eilte dann zur ersten Sitzung des neuen Gerichtsjahres.

In der Wandelhalle gab es vom Vormittag an ein großes Gedränge von alten und jungen Anwälten, die sich nach den Ferien wieder begrüßten und sich gegenseitig von ihren Erholungsreisen erzählten. – Aber bald ertönte die Glocke, die die Eröffnung der Sitzung ankündigte, und in aller Eile lief der größte Teil davon. – Herr Bineau ging in den Lesesaal, wo eine Anzahl Anwälte scherzend, plaudernd und lesend dasaß. – Bineau wollte gerade eine Zeitung nehmen, als Bretonnière herankam und sich neben ihn setzte.

Das war ein alter, sehr träger und ein wenig zynischer Anwalt. Vor Jahren hatte er große Erfolge aller möglichen Art gehabt. Er war sehr schön gewesen und war noch heute ein großer Frauenjäger. Er war auch ein ganz bedeutender Redner gewesen. Man sprach noch heute von seinen Disputen mit den Staatsanwälten in den Preßprozessen zur Zeit des Kaiserreichs, und von seinen olympischen Gelagen an den Tagen nach den aufsehenerregenden Freisprechungen. Seitdem hatte das Spiel ihn zu Dreiviertel ruiniert, und die Frauen hatten ihm den Rest gegeben; er kümmerte sich nur noch aus alter Dankbarkeit oder aus Koketterie um sie. Und es gab keinen Unterrock in der Stadt, dem er nicht schon nachgelaufen wäre. Im übrigen war er ein guter Kollege, obgleich etwas geheimnistuerisch, fortwährend auf der Lauer nach interessanten Neuigkeiten und mit einer Beobachtungsgabe wie ein alter Hirt. Bei seinem Eintritt kamen die jüngeren Leute ihn begrüßen, denn noch immer umstrahlte es die Stirne des alten Advokaten wie ein Widerschein des ehemaligen Ruhmes.

Er beugte sich zu Justin.

»Also Sie verteidigen den Herrn Vonnic, wie es scheint? Wenigstens haben sie es mir auf der Staatsanwaltschaft erzählt.«

»Woher wissen die denn das schon?«

»Sehr einfach. Man hat ihn beim Kragen genommen, als er heute morgen gerade aus Ihrem Haus kam.«

»Ach so! Nun, er war so ziemlich darauf gefaßt.«

»Das glaube ich Ihnen gern. – Haben Sie eine Viertelstunde Zeit? Dann unterhalten wir uns ein bißchen über die Sache. Schön! Wir wollen auf die Promenade gehen; hier gibt es zu viel Ohren.«

Auf der großen verlassenen Allee faßte Bretonnère Justin unter.

»Also hören Sie! Ich komme gerade von Paris, wo ich eine Freundin wieder einmal besucht habe; ein gutes Mädchen, das ich einst, als sie noch eine kleine Modistin in der Rue de la Roé war, aus ihrem Dunkel gezogen habe. Ich gestehe, daß ich zuerst, trotz meiner weißen Haare, ihr den Weg gewiesen habe. Nun, das ist ja ganz gleich, ob ich es getan oder irgend ein anderer. Da sie aber nun mal auf diesen Weg kam, so habe ich ihr insofern wichtige Dienste geleistet, als ich sie die Philosophie ihres Berufes gelehrt habe. Heute ist sie lanciert und bewahrt mir eine mitleidige Dankbarkeit, diese brave Chou. Chou, mein Lieber, das ist eine Abkürzung von Chauberska. Wenn sie mich empfängt, sprechen wir – in den Pausen der Verhandlung – sehr vernünftig miteinander; und wenn sie eines Tages doch im Nachtasyl endet, so hat das nicht an meinen guten Ratschlägen gelegen.

»Sie hat eine große Anhänglichkeit für unser Anjou bewahrt, und andererseits wimmelt es in der Lebewelt nur so von Leuten aus Anjou. Sie nimmt sie, als gute Landsmännin, auf, und nachher erzählt sie mir davon.

»Diesmal war die Rede von zweien unserer Landsleute: erstens von dem Marquis de l'Authion. – – Was? das beginnt Sie zu interessieren? – und zweitens von diesem spaßhaften Vonnic. – – Bitte, unterbrechen Sie mich nicht!

»Den Marquis hat sie bei einer Freundin kennen gelernt, bei der gespielt wird. Das war so gegen Mitte April. Er hatte damals ziemlich leere Taschen, aber er hoffte bald wieder auf die gute Seite zu liegen zu kommen, und bot ihr an, am Ende des Monats zu zahlen, wenn sie ihrerseits ihn sofort wollte.

»Was Vonnic anbelangt, so hat er einfach in den ersten Tagen des Mai in Chous Wohnung angeklopft und sich auf die originellste Weise von der Welt vorgestellt.

»›Gnädige Frau, ich bin Vormund eines unglücklichen Verschwenders, den Sie recht schön ausgesogen haben. Er denkt nur noch an Sie und unterhält mich nur von Ihren Reizen. Er hat mir eine solche Schilderung davon gegeben, daß ich mir die Freiheit nehme, Ihnen meine glühendste Huldigung zu Füßen zu legen.‹

»Sie lachte und war entwaffnet.

»Er hat mit ihr bis Juli etwa 40 000 Franken verjuxt. Dann hat sie ihn hinausgeworfen; sie war seiner prätentiösen Monotonie und seiner Indiskretion überdrüssig. Es machte ihm z. B. besonderes Vergnügen, die Post des hübschen Kindes zu öffnen, und er machte Anstalten, sie zu bevormunden. Schließlich hat sie die glänzenden Anerbietungen des Marquis, der plötzlich wieder die Taschen voll Gold hatte, angenommen. Er verfolgte sie ungefähr seit Beginn ihres Verhältnisses mit Vonnic mit den drolligsten und glühendsten Liebesbriefen. Was nun auch vorhergegangen sein mag, jedenfalls ist für meine ausgezeichnete Chou eine Art Goldstrom daraus entsprungen. So, mein Lieber! Ich brauche kein großer Psychologe zu sein, um mir denken zu können, daß die Auskünfte, die ich Ihnen gebe, Ihnen sehr zupaß kommen. Und ich gebe Sie Ihnen umsonst, weil ich sie ebenso bekommen habe. Adieu, ich muß gehen.«


Justin war zum Abendessen bei Jouffre in Tremblay, in der Nähe von Angers, eingeladen.

Jouffre hatte im Frühjahr ein Fräulein von Sansonnier geheiratet, und trotz dieser Verbindung mit dem Adel hatte dank dem einfachen Wesen der jungen Frau die alte Freundschaft, die seit der Schule her bestand, nicht gelitten. Bei seinem Eintritt in den Salon sagte Jouffre zu ihm:

– »Du führst die Baronin Le Hongre zu Tisch, und jetzt komm und mache Bekanntschaft mit dem komischen Kauz, der da herumgestikuliert. Er ist ein entfernter Verwandter der Sansonniers, Marquis de l'Authion … Komm doch, was hast du denn auf einmal?« – – –

Der Marquis hatte ein drolliges, von tausend Fältchen durchzogenes Gesicht mit lächelnden Augen und einem struppigen Schnurrbart; im Knopfloch seines Frackes, fast kaum merklich, das rote Band der Ehrenlegion.

»Ah, Herr Bineau, Herr Rechtsanwalt Bineau! Famos, famos! Ich muß Sie konsultieren; das ist eine ganz tolle Geschichte, das wird wieder mal viel Familienkummer geben. Wissen Sie, wie man mich in der Familie nennt? Man nennt mich das »Familienkreuz«! … Na, gehen wir essen, ich werde Ihnen mein Abenteuer nachher im Rauchzimmer erzählen.«

Bei Tisch beobachtete Bineau das »Familienkreuz« so viel wie möglich. Zu Anfang benahm er sich augenscheinlich ganz gesittet, doch bemerkte der Anwalt an seinen Augen, an dem Zucken seines Schnurrbartes, daß er sich über die Gesellschaft rings herum lustig machte, und alsbald ließ er auch seiner Laune freien Lauf und fing an, den einen oder andern in Gespräche zu verwickeln, die diesen unangenehm zu sein schienen. Bineau begriff das freilich nicht recht, aber wohl nur deshalb, weil das Familienkreuz so beiläufig auf mehr oder weniger lustige Abenteuer, die mit dem berührten Gegenstand irgendwie zusammenhingen, hindeutete. Gegen Schluß der Tafel hörte er, wie der Marquis mit dem harmlosesten Gesicht von der Welt dem Sekretär des Erzbischofs seine letzte Hauslehrerstelle, die ihm die bischöfliche Gunst, – die ihn mit Recht so auszeichnete!‹ – bei den Blache in Quincé verschafft hatte, in Erinnerung rief. Der Abbé schien nicht sehr angenehm davon berührt; Frau Jouffre ahnte wohl die bösen Absichten des Vetters und hob schnell die Tafel auf. Im Salon beeilte sich das Familienkreuz, Bineau beiseite zu ziehen.

»O, Herr Rechtsanwalt, man hat mir meine Pointe getötet,« und er erzählte Bineau in aller Eile eine saftige Anekdote, in der der Hauslehrer der Blache's eine Rolle spielte. Bineau erkundigte sich, ob er in Angers in Garnison wäre.

»In Garnison, ich? O nein, Gott sei dank, nein! Im letzten Jahre haben sie mich zum Eskadronchef in Sampigny machen wollen. Na, so ein Glück! Ich habe mich darauf zur Disposition stellen lassen. Ich habe genug von diesem Beruf. Ich wohne in Paris, man muß doch einmal nach 28 Jahren treuer Dienste aufatmen. Im nächsten Jahr, wenn ich mich etwa zu sehr langweile, lasse ich mich vielleicht wieder einstellen. Wenn sie mich aber wieder in irgend so ein Sampigny stecken wollen, nehme ich endgültig meinen Abschied!«

»Und vorläufig langweilen Sie sich noch nicht?«

»Eigentlich nicht. Meiner Treu, nein! Das heißt, es gibt schon Dinge, die einen langweilen könnten … ich werde Ihnen das gleich auseinandersetzen … kommen Sie, wir wollen eine Zigarre rauchen.«

Im Rauchzimmer setzte sich der Marquis bequem auf einem Diwan zurecht, ließ Bineau neben sich Platz nehmen, schlug klatschend auf den Schenkel und fragte ihn:

»Nun sagen Sie mal, lieber Rechtsanwalt, kennen Sie vielleicht zufällig einen gewissen Vonnic, einen Steuereinnehmer?«

»Gewiß kenne ich den, ich bin sein Anwalt.«

»Ach nein, sein Anwalt? In der Sache da mit der Hypothek?«

»Ganz recht, in dieser Sache.«

»Himmelkreuzdonnerwetter noch einmal! Ja, aber dann?«

»Ja, dann sprechen wir über jeden beliebigen Gegenstand mit Ausnahme dieser … Sache.«

L'Authion zog an seinem Schnurrbart, erhob sich, klopfte die Asche seiner Zigarre in den Kamin und kam zum Diwan zurück.

»Sagen Sie im Ernst, können Sie mich nicht in der Angelegenheit hören?«

»Ganz im Ernst, ich kann nicht und ich darf nicht.«

Die Augen des Marquis verloren ihren vergnügten Glanz. Er dachte nach … die Backenmuskeln sprangen unter der Kontraktion der gespannten Kiefer hervor:

»Ja, es ist wahr, Sie können nicht … jedoch – – –«

»Es gibt da kein ›jedoch‹ …«

L'Authion ging ein paarmal an seiner Zigarre kauend auf und ab. Plötzlich blieb er stehen und fragte:

»Mit wieviel wird er bestraft werden?«

»Nun fangen Sie schon wieder an.«

»Ich fange schon wieder an! Ja, glauben Sie denn, daß die Sache mich nicht interessiert! Ihr Herren von der Robe, die Ihr euch fortwährend inmitten von Abenteuern, die andern passieren, bewegt … Euch ist das ganz gleichgültig, aber für mich ist das eine Art Debüt.«

»Mein Kompliment; für ein Debüt genügt das!«

»Ja, hatte ich denn eine Wahl? Sie sind merkwürdig. Es regnet Monate von Gefängnis, Jahre von Zuchthaus, und das macht auf Sie den gleichen Eindruck wie der Regen auf die Ente. Ich aber möchte Bescheid wissen, zum Donnerwetter! Ich will es wissen, bevor ich da von Ihren feierlichen Herren in der roten Robe gefragt werde, bevor Sie mich mit ihren verdammten Fragen in der Gerichtssitzung quälen. Also, zu wieviel wird er verurteilt werden?«

Bineau erhob sich nervös.

»Herr Marquis, verstehen Sie doch meine peinliche Situation. Was bezwecken Sie denn? Wenn es sich um einen Zivilprozeß handelte, würde ich mit Vergnügen mit Ihnen plaudern und zu einer Versöhnung und Einigung beitragen. Aber da es sich um eine Strafsache handelt, sind meine Hände gebunden, und ist mir der Mund verschlossen. Man behandelt doch eine Sache, bei der es sich um Zwangsarbeit dreht, nicht wie einen Streit um eine gemeinschaftliche Grenzmauer oder dergleichen. Entschuldigen Sie, wenn ich zu lebhaft bin, aber auf Ehrenwort, Sie versetzen mich in eine sehr unangenehme Situation.«

L'Authion murmelte mit gesenkter Stirne:

»Zwangsarbeit, Zwangsarbeit!« Und dann sich wieder aufrichtend und mit kalten Augen, sagte er mit schneidender, langsamer Stimme:

»Es ist sehr unangenehm für ihn.«

Alsbald trat der lustige Glanz wieder in seine Augen, seine tausend Fältchen begannen wieder durcheinander zu spielen:

»Mektub! wie die Araber sagen. Mektub, es steht geschrieben. Verteidigen Sie ihn, Herr Rechtsanwalt, und viel Glück!«

»Es ist mir sehr unangenehm, ihn gegen Sie zu verteidigen. Er hatte mir nicht gesagt, daß Sie Jouffres Vetter sind, und verdammt noch mal, das wird nicht abgehen, ohne daß wir im Laufe der Verhandlung aneinander geraten. Ich fürchte nur, daß Sie mir das sehr übel nehmen werden, Sie und Ihre ganze Familie. Ich bin in Verlegenheit … ich gehe mit mir zurate …«

»Aber, verehrter Herr, verteidigen Sie ihn, und hauen Sie nur fest auf mich zu, ich mache mir nichts daraus. Ich bin das Familienkreuz. Großer Gott, wenn ich hätte auf das Geschrei all der Leute hören sollen, denen ich seit dreißig Jahren auf die Füße getreten bin, müßte ich heute taub sein! Also, haben Sie keine Gewissensbisse! Da Vonnic doch einmal weißgewaschen werden muß, ist's doch gleichgültig, ob Sie's tun oder ein anderer. Sie werden wenigstens die äußere Form wahren, während ein andrer mir Kübel voll Kot über den Kopf gießen würde. Also lassen Sie nur. Wir finden alle unsere Rechnung dabei.«

Und sie gingen in den Salon zurück. L'Authion suchte sich eine Pokerpartie zusammen, und Justin brach bald auf.


Die Voruntersuchung hatte schon über einen Monat sich ganz im geheimen hingezogen. Sie mußte jetzt bald zum Abschluß gekommen sein. Vonnic hatte, da er noch nicht frei mit seinem Anwalt verkehren konnte, mehrere nichtssagende Briefe an ihn geschrieben. Nichts verlautete von den belastenden Aussagen des Marquis, noch von der Art, wie der Angeklagte sich verteidigte. Justin beschloß, einmal beim Untersuchungsrichter Nachfrage über den Stand der Sache zu halten.

Der Richter gehörte nicht zu den zugeknöpften Leuten.

»Sie wollen mit Ihrem Klienten sprechen?« fragte er. »Schön, das paßt gerade. Ich bin mit meiner Untersuchung ungefähr zu Ende. Hier haben Sie den Erlaubnisschein für das Untersuchungsgefängnis. Heute abend oder morgen schicke ich die Akten an die Eröffnungskammer. Der Staatsanwalt hat seine Anklageschrift schon fertig. Die Eröffnungskammer wird in ungefähr vierzehn Tagen ihren Beschluß gefaßt haben, Vonnic also bereits vor das nächste Schwurgericht kommen … Uebrigens sagen Sie ihm doch, er soll sich in der Verhandlung etwas mäßigen und nicht den Marquis de l'Authion als Spitzbuben behandeln. Ich habe schon die Ohren voll davon, und wenn der Gerichtsrat Landry Vorsitzender ist, wie es wahrscheinlich der Fall sein wird, so wird er damit gar keinen Eindruck machen – – aber ganz und gar nicht.«

Bineau begab sich sofort nach dem Untersuchungsgefängnis. Man führte ihn in ein kleines, aber helles Zimmer, und alsbald erschien Vonnic, von einem Gefängniswärter begleitet. Er rückte an seiner Krawatte, zog an seinen Manschetten und begrüßte seinen Verteidiger, der ihm die Hand reichte.

Der Wächter zeigte auf eine Klingelschnur:

»Wenn Sie zu Ende sind, Herr Rechtsanwalt, rufen Sie mich, bitte.«

»Schon gut, schon gut!« brummte der Steuereinnehmer ärgerlich.

Er ließ seine Finger in den Gelenken krachen und verbeugte sich.

»Sehr erfreut über Ihren Besuch, Herr Rechtsanwalt. Gestatten Sie, daß ich mich setze. Die Voruntersuchung ist wahrscheinlich schon abgeschlossen?«

»Beinahe. – Sie leiden nicht zu sehr unter Ihrem Aufenthalt hier?«

»Mein Gott, nein, wenigstens physisch nicht, obgleich die Gewohnheiten dieses Hauses ziemlich primitiv sind. So muß ich mich auch bei Ihnen entschuldigen, daß ich Sie mit einem Bart von gestern empfange. Ich vernachlässige mich, Herr Rechtsanwalt; aber was wollen Sie, das ist das Milieu.«

»Und das seelische Befinden, Herr Vonnic?«

»Ach, das seelische Befinden … Ziemlich schlecht! Was für ein Umgang! Was für Menschen! Ich habe zuerst versucht, mich abzuschließen, mich von dieser ganzen Bande fernzuhalten. Aber wissen Sie, ich bin Betätigung gewöhnt, und ich bin schließlich doch in den Hof hinabgegangen, um etwas Leben um mich zu sehen. Aber mit welcher Gesellschaft kommt man da zusammen! Glücklicherweise ist da ein Adliger unter den Angeklagten, und wir unterhalten uns gern miteinander. Aber kommen wir zu unserer Sache! Haben Sie schon die Akten einsehen können?«

»Nein, sie sind noch kaum bei der Eröffnungskammer.«

»Macht auch nichts. Sie werden nicht viel Neues aus diesen Akten erfahren. Der Untersuchungsrichter ist so fein wie eine Degenklinge aus Blei, und sowie ich den Mund aufmache, unterbricht er mich unhöflich und barsch. Sein tägliches Geschäft hat ihn vollkommen unfähig gemacht, irgend eine Sache vorurteilslos aufzufassen, und wenn ich auf den Marquis de l'Authion zu sprechen komme, schneidet er mir das Wort kurz ab, als ob sich eine kirchenschänderische Hand gegen das Allerheiligste erhöbe. Ja, für diese Art Leute ist derjenige, der die Anklage erhoben hat, immer glaubwürdig wie ein Gendarm, und seine Bekundungen werden geglaubt wie ein amtliches Protokoll. Ich bemühe mich vergebens, in diesen Schädel hineinzubringen, daß der Marquis der Regisseur dieser Komödie ist und daß er auch die ganzen Einnahmen daraus bezieht.«

»Hm! Fürchten Sie nicht, daß dieses Verteidigungssystem ein wenig gefährlich ist? Wäre es nicht vielleicht besser, nicht so sehr auf den Marquis loszuschlagen?«

Der Klient kniff die Lippen zusammen: »Herr Rechtsanwalt, es ist mir sogar ganz lieb, bei Ihnen solche vorsichtige Zurückhaltung zu finden. Die Ueberzeugung von meiner Unschuld wird dann, wenn Sie sie einmal gefaßt haben, um so fester sein. Ich weiß ja, ein Geschäftsagent, ein Rechtskonsulent, so ein armer Irgendwer wie ich muß hundertmal recht haben, damit man ihm gegen einen Edelmann glaubt, und wenn der selbst den schlechtesten Ruf hätte. Nun wohl, mit Hilfe Ihrer Beredsamkeit werde ich hundertmal recht haben.«

Bineau hörte ihn nachdenklich an. Er zauderte, auf den springenden Punkt zu kommen. Er ahnte, daß der andere ihm zur Antwort ungeheuerlich die Nase vollschwindeln würde.

Vonnic riß ihn aus seinem Nachdenken.

»Herr Rechtsanwalt, da Sie die Akten noch nicht eingesehen haben, gestatten Sie mir, daß ich Sie jetzt gleich orientiere. So weit ich die Sache überschaue, wird sie sehr leicht sein. Das Problem stellt sich ganz einfach so: der Marquis ist ein Spieler und Bummler. Ist er auch ein Dieb?«

»Aber erlauben Sie, erlauben Sie! Das ist die Kehrseite des Problems, um das es sich für uns handelt. Zunächst dreht es sich nicht darum, zu wissen, ob l'Authion ein Dieb ist, sondern ob man ihn bestohlen hat.«

Der Steuereinnehmer lächelte, den Mund spitzend: »Sie vergessen, Herr Rechtsanwalt, daß der negative Beweis unmöglich ist. Wie soll ich beweisen, daß ich das Verbrechen nicht begangen habe? Das kann ich doch nur, indem ich auf seinen wirklichen Urheber hinweise. Bitte, schenken Sie mir einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit: Worin besteht das Vermögen des Marquis? Er hat sein Gut Thouarcé; das hat einen Kapitalwert von 400 000 Franken. Ein ganz hübsches Kapital. Sein Einkommen daraus aber beträgt 10, 12, 15 000 Franken, höchstens. Die Weinberge sind von der Reblaus verwüstet, und die Pächter können nicht zahlen. Rechnen wir dazu sein Wartegehalt, 2 oder 3000, macht zusammen 18 000, wenn Sie wollen 20 000. Das ist nicht übermäßig, und mit einer einzigen Niederlage im Spielklub verliert er zwei Jahreseinkommen. Ohne daß ich seine sonstigen Ausgaben überhaupt in Betracht ziehe. Kurz, er sitzt auf dem Trockenen. Einmal auf dem Trockenen, muß er zwischen dem Laster und der Tugend wählen. Der Weg der Tugend besteht ganz einfach darin, daß er eine Hypothek, eine richtige Hypothek auf sein letztes Gut Thouarcé aufnimmt. Eine Hypothek, deren Zinsen er nicht besorgen kann, und deren Kapital er nicht zurückzahlen kann. Keine sehr angenehme Aussicht. Der Weg des Lasters besteht ganz einfach darin, sich die Vorteile einer solchen Anleihe zu verschaffen, ohne die Unannehmlichkeiten mit in Kauf zu nehmen. Zu diesem Zweck sucht man ganz einfach einen gefälligen und diskreten Mann. Man gibt ihm – ganz einfach – eine Vollmacht mit einer schön nachgemachten Beglaubigung. Der diskrete Mann fällt darauf rein, nimmt den Auftrag ganz einfach an, besorgt das Geld, läßt die Hypothek eintragen und zahlt das Geld aus. Darauf streitet man – ganz einfach – die Vollmacht ab, leugnet, die Quittung über die Summe ausgestellt zu haben, erstattet – ganz einfach – eine Klage beim Staatsanwalt, und 150 000 Franken sind verdient – ganz einfach!«

»Sehr scharfsinnig, Herr Vonnic, obgleich das bei dem Marquis die Kühnheit eines Apachen und eine nicht häufig zu findende Geschicklichkeit im Fälschen voraussetzt.«

»Ebenfalls sehr scharfsinnig, Herr Rechtsanwalt. Freilich, andererseits wenn er nicht der Fälscher ist, dann muß ich es sein, – ganz einfach. Danke für den Vorzug. Aber kommen wir wieder auf unseren besagten Handel. Apachenkühnheit; zugegeben. L'Authions Streich ist von großer Kühnheit, zugegeben. Das Ganze klingt unwahrscheinlich, zugegeben. Aber überlegen Sie: ganz einfach, ist denn der ganze Schwindel, den man mir zuschreibt, wahrscheinlicher? Ich müßte nicht frech, nicht tollkühn, ich müßte ganz einfach ein Idiot gewesen sein. Und Dummheiten zu machen, Herr Rechtsanwalt, das gehört ganz einfach nicht zu meinen Gewohnheiten. Ich soll mit voller Ueberlegung das Risiko einer Anklage der Ehrlosigkeit, der Verurteilung gelaufen sein, – denn die Sache konnte doch nicht lange verborgen bleiben. Dazu bin ich nicht dumm genug, und so nötig habe ich das Geld nicht.«

Der Anwalt rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, fortwährend an die mit Chou durchgebrachten 40 000 Franken denkend. Der andere merkte, daß er mit etwas zurückhielt:

»Was gibt's noch, Herr Rechtsanwalt? Ich bitte Sie, halten Sie mit nichts hinterm Berg. Wir sind hier, wie soll ich sagen …«

»Ganz einfach unter Kavalieren, Herr Vonnic. Nun schön, erzählen Sie mir von Ihren Abenteuern in Paris.«

Herr Vonnic zog die Augenbrauen zusammen, und Bineau dachte bei sich: wenn er nicht die Herkunft der 40 000 Franken erklären kann, die er da klein gemacht hat, dann ist's aus mit ihm.

Plötzlich glättete sich die Stirn des Klienten:

»Ach so! Mein Verhältnis mit Chou macht Ihnen Kopfschmerzen? Ach Gott, sehen Sie, ein erloschenes Feuer flammt manchmal wieder auf. Die liebe Kleine ist Ihre und meine Landsmännin. Ich kannte sie früher als kleine, einfache Modistin, ich sehe sie noch mit ihrem großen Karton unterm Arm …«

»Ich weiß, Herr Vonnic, ich weiß; sie wohnte rue de la Roé zu jener Zeit.«

Der Klient verbeugte sich. » Rue de la Roé, ganz recht. Sie war charmant, die Kleine; nun, selbst der Gerechte sündigt siebenmal am Tage. Und ich habe mir nie etwas auf meine Gerechtigkeit eingebildet. Ich habe sie aber nicht vom rechten Wege abgelenkt. Jedoch sie glitt, und ich habe sie nicht gestützt. Sie verstehen doch den Unterschied? Später habe ich sie dann aus den Augen verloren, und dann habe ich ihre Spur wiedergefunden.«

»Dank Ihrem Verschwender?«

»Dank meinem Verschwender, sehr richtig. Sie sind vorzüglich informiert, Herr Rechtsanwalt. Ich habe ihre Spur wiedergefunden, und während zweier Monate haben wir uns sehr geliebt …«

»Ist Fräulein Chou sehr uneigennützig?«

»Ah, ich verstehe, Herr Rechtsanwalt! Sie würden einen vorzüglichen Untersuchungsrichter abgeben; es drängt Sie, zu wissen, mit welchem Gelde ich mein Glück bezahlt habe! Nun wohl, ich versichere Sie, es hat mich gar nichts gekostet. Ganz einfach gar nichts. Mein Verschwender hatte noch sehr große Revenuen, dank meiner gewissenhaften Verwaltung. Er hatte die liebe Kleine sehr verehrt. Und fuhr noch fort, sie von weitem anzubeten. Der Unglückliche konnte sich kaum noch rühren, und ich umgab ihn deshalb mit den durch den Paragraph 513 des Zivilgesetzbuchs vorgeschriebenen Schutzmaßregeln. Er konnte keine Verträge schließen, keine Anleihen aufnehmen usw. ohne meine Mitwirkung. Aber er war unbeschränkt in der Verfügung über seine Renten. Eines Morgens sagte er zu mir: ›Mein lieber Vormund,‹ – ich forderte nämlich von ihm, daß er mich so nannte, – ›mein lieber Vormund, ich fühle mich am Ende. Bringen Sie doch in meinem Namen dieses kleine Andenken einer Frau, die ich heiß geliebt habe.‹ Und ich brachte der Frau das Andenken, das die Form eines Banknotenbündels hatte. Sie wußte mir Dank dafür. Wir erinnerten uns an die Vergangenheit und feierten ihre Rückkehr … ganz einfach, Herr Rechtsanwalt!«

»Und Ihr Verschwender?«

Der Vormund neigte den Kopf auf die linke Schulter und seufzte: »Er ist gestorben.«

»So ein Halunke!« dachte Bineau. »Gleichviel, wenn er zufällig nicht lügt? Welch ein Schlag für die Anklage!«

Vonnic schwieg, gegen die Lehne seines Stuhles zurückgelehnt, die Beine gekreuzt. Er betrachtete die zierliche Spitze seines Stiefels, in dem sein kleiner Fuß sich wölbte.

Endlich sagte der Rechtsanwalt: »Der Tod dieses armen Teufels ist ein Unglück. Er beraubt uns unseres Hauptzeugen.«

»Statt seiner haben wir seine Erben. Sie werden uns seinen günstigen Vermögenszustand und die Ehrlichkeit meiner Verwaltung bezeugen.«

»Nun etwas anderes. Hat Ihnen Chou mal vom Marquis de l'Authion gesprochen?«

»Sehr oft. Er beschoß sie mit einem wahren Hagel von bizarren Briefen und eroberte schließlich die Festung mit Hilfe der durch mich angeschafften 150 000 Franken.«

»Nun behauptet er aber, dieses Geld nicht erhalten zu haben.«

»Oh, er hat einen erfinderischen Kopf, er wird schon irgend einen Roman erzählen, um seine plötzliche Freigebigkeit zu erklären.«

Bineau sah seinen Klienten von der Seite an. Der Klient regte sich nicht. Er betrachtete seine rosigen Nägel und pfiff leise zwischen den Zähnen. Und als er seine Betrachtung und seine Fanfare beendigt hatte, sagte er:

»Wenn's gefällig ist, wollen wir einmal die Sachlage resümieren und präzisieren. Ich bin der Angeklagte, ergo habe ich nicht nötig, etwas zu beweisen. Der Staatsanwalt hat die Beweise beizubringen. Dennoch, da die beste Verteidigungsart die Offensive ist, habe ich Ihnen meinen Plan dargelegt. Ich fürchte, er hat Sie nicht recht überzeugt … oh! wozu protestieren? Ihr Zaudern ist die natürlichste Sache von der Welt: erst nach einiger Ueberlegung werden Sie meinen Plan aufnehmen. Ja, man bildet sich nur zu leicht ein, – und Sie machen darin keine Ausnahme – daß jede Sache ihre Licht- und ihre Schattenseite hat, und daß man blind sein muß, wenn man beide nicht unterscheiden kann. Sie irren, Herr Rechtsanwalt. Jede Sache hat ihre zwei grauen Seiten. Beweis: Ihr Beruf. Denn wenn das gute Recht der einen Partei und das Unrecht der anderen augenfällig wären, brauchte man nicht erst zu plaidieren, um die Richter zu überzeugen. Gehen wir also von dem Grundsatz aus, daß nur methodisches Vorgehen und scharfer Verstand zur Wahrheit führen. Wenden wir ihn auf den vorliegenden Fall an. Ich gebe zu, daß ich im ganzen Gerichtsgebäude wenig Menschen finden werde, die mich lieben. Man fürchtet und beneidet mich, weil ich für Vereinfachung bin und die Leute daran gewöhne, auch ohne offizielle Ratgeber, ohne Sachwalter und Notare auszukommen. Dem allein ist manches böse Geschwätz über mich zuzuschreiben. Ferner weiß man, daß ich sehr genau über Vermögensverhältnisse Bescheid weiß, und man folgert ganz einfach daraus, daß ich den Vermögensinvaliden am Wege auflauere, um ihnen den Rest zu geben.

»Dies nur ganz im allgemeinen.

»Lassen Sie uns jetzt zu den Mitteln und Wegen übergehen. Wurde die Vollmacht, die nun falsch sein soll, von mir gefälscht? Man beweise es.

»Ist die Quittung über das Geld, die der Marquis selbst ausgestellt, datiert und unterschrieben hat, gefälscht? Man beweise es.

»Man wird darüber zwei Schreibsachverständige vernehmen. Der Sachverständige der Staatsanwaltschaft wird in den Grundstrichen meine Hand erkennen. Der Sachverständige, den Sie heranholen werden, wird an den Haarstrichen l'Authion erkennen. Sie werden sich gegenseitig ihre Unwissenheit vorwerfen, und das Gericht wird so klug sein wie zuvor.

»Um den Hypothesen, die man gegen mich aufbaut, die Gewißheit von Tatsachen zu verleihen, muß man erst beweisen, daß ich ein ausgepichter Fälscher bin. Weshalb gerade ich und nicht mein Gegner? Man müßte dazu annehmen, ich hätte die Sache mit Absicht so angepackt, daß eine Anklage und ein Verfahren daraus folgen mußten. Es mag recht schmeichelhaft für meine Kühnheit sein; aber nicht im geringsten schmeichelhaft für meinen Verstand, und in der Beziehung – ich muß sagen, ich halte mich mit Recht oder mit Unrecht für ziemlich begabt.

»Was den Marquis anbelangt, so will ich nicht immer dasselbe wiederkauen. Ich bin entschlossen, ihn nur so viel anzugreifen, als es notwendig ist, um seine Verdächtigungen zurückzuweisen und den Staatsanwalt in seinem Eifer zu zügeln. Sind Sie derselben Ansicht, Herr Rechtsanwalt?«

»Durchaus. Sie sind ein Weiser, und es ist eine Schwäche, in irgendeiner Sache zu scharf zu sein. Bleiben wir eben, wie Sie sagten, im Grauen. Es gibt kein Schwarz und kein Weiß, noch irgend etwas ganz Evidentes. Adieu, Herr Vonnic.«


Am Tage der Verhandlung wimmelte vom frühen Morgen an die Menge am Fuße der Haupttreppe. Auf der obersten Stufe stand ein Schutzmann mit dem Säbel an der Seite und hielt die Andrängenden in angemessener Entfernung.

Erst um 11 Uhr öffneten sich die Pforten. In einem Augenblick war der Schwurgerichtssaal angefüllt. Im Hintergründe das gewöhnliche Publikum, zusammengedrängt, unter der Aufsicht zweier Schildwachen mit aufgepflanztem Bajonett, vor ihnen, durch ein Holzgitter getrennt, die Habitués des Hauses, junge Anwälte, Richter, Journalisten.

Im Hintergründe schwieg mau voll Respekt vor der Feierlichkeit des Saales und in gespannter Erwartung des Dramas aus der Wirklichkeit, das sich da abrollen sollte. Dagegen war vorne ein großes Stimmengewirr. Einige Vorwitzige betrachteten neugierig das auf dem Platz des Herrn Staatsanwalts bereitstehende Riechfläschchen und schnüffelten daran. In den Seitengängen eilten geschäftig die Gerichtsdiener auf und ab.

Bineau, schon in seiner Robe, rauchte im Vorsaal eine Zigarette, als er sich abrufen hörte:

»Herr Rechtsanwalt, geben Sie mir doch, bitte, etwas Feuer.«

Es war l'Authion, der vergnügt lachte, dann aber, ihn vom Kopf bis zu den Füßen musternd, etwas ernster wurde und sagte:

»Alle Welt, wie verändert Sie aussehen in Ihrer Robe, man bekommt etwas Angst.«

»Sie und Angst!«

»Ja, ja, trotz meines vergnügten Aussehens. Ich fühle mich durchaus nicht wohl in diesem Durcheinander von Papieren, Strafgesetzbuchparagraphen und Hypotheken. Dagegen Ihr Klient, der Schlauberger! Wenn ich sicher wäre, daß die Geschichte mich nicht nochmal hundertfünfzigtausend Francs kosten würde, würde ich ihm die Führung meiner kleinen Geschäfte anvertrauen. Der Kerl imponiert mir!«

Bineau stieß eine Rauchwolke durch die Nase.

L'Authion fuhr fort: »Er imponiert mir, sag ich Ihnen, und sein Trick auch. Was mir der Bursche für Dienste leisten könnte, ist kaum glaublich. Allein, wissen Sie, ich lasse mich nicht gerne rupfen; es ist eine Frage der Eigenliebe. Solche Streiche spielt man Geizhälsen, die ihre Münzen vergraben. Ich dagegen, der ich mich mit Eifer dem Gesetz der möglichst schnellen Zirkulation des Geldes unterwerfe – nein, wissen Sie, Sie müssen zugeben, das arme, alte Familienkreuz so zu behandeln, das ist gemein, und seine paar Jahre Zuchthaus, die der Schlingel kriegen wird, die wird er nicht gestohlen haben. Aber allerdings, was habe ich von dieser Verurteilung! Nichts! Höchstens insofern, als ich nichts verliere. Der Notar aus Boucheloire wird die Zeche bezahlen müssen, der Esel! Er wird die Hundertfünfzigtausend Francs dem Kapitalgeber zurückzahlen müssen. Er wird sich seinerseits an Vonnic halten wollen, der aber ist viel zu schlau, als daß er sich nicht schon längst zahlungsunfähig gemacht hätte. Daß bei der ganzen Geschichte ich zum Schluß nur unangenehme Redensarten ernten werde ist gewiß. Zum Teufel! meine Rolle als Rächer des Geschädigten macht mir absolut keinen Spaß.«

Drei Glockenschläge, ein Gerichtsdiener schreit: »Der Gerichtshof – Hüte ab!«

Der Lärm, den die jungen Anwälte und Journalisten machten, verstummte plötzlich.

Die roten Roben zogen vorüber, voran der Gerichtsrat Landry, der den Vorsitz in dieser Schwurgerichtssession führte, geschmeidig, mit feinem Gesichtsausdruck, liebenswürdig nach allen Seiten grüßend und lächelnd – in seinem Kielwasser die Beisitzer, und schließlich der Oberstaatsanwalt, sehr groß, sehr schön, mit sehr undurchdringlichen Gesichtszügen – mit dem Schnurrbart und der Fliege der alten Parlamentarier. Sie nahmen Platz … im Publikum reckte man die Hälse, und der Gerichtsdiener schrie:

»Setzen da unten, setzen … setzen!«

Der Vorsitzende ordnete eine Menge Gegenstände um sich herum an: Federhalter, Bleistifte, Aktendeckel … Dann rief er:

»Die Sitzung ist eröffnet, führen Sie den Angeklagten vor.«

»Setzen, setzen!« brüllte der Gerichtsdiener.

Der Angeklagte erschien … Er trat zur Anklagebank, die gegenüber den Sitzen der Geschworenen stand, hinter ihm vier Gendarmen … Die Unruhe dauerte fort. – Der Gerichtsdiener schrie sich heiser.

Der Präsident klopfte zweimal mit dem Stielende seines Federhalters auf den Tisch. Sofort entstand völliges Stillschweigen, und der Präsident lächelte, indem er konstatierte, daß er sein Publikum in der Hand hielt. Das Instrument war gestimmt, es würde nach Belieben erklingen. –

Die Identität wurde festgestellt – die Zeugen wurden aufgerufen und zunächst wieder hinausgeschickt. Das ärztliche Zeugnis, das die Abwesenheit der liebenswürdigen Chou rechtfertigte, wurde verlesen, hierauf der Eröffnungsbeschluß und die Anklageschrift, beides in sehr mäßiger Prosa, und dann begann der ernsthafte Teil der Sitzung.

Unerschütterlich und ehrerbietig, aber von einer durchaus ungezwungenen Ehrerbietigkeit, antwortete Vonnic auf die Fragen des Verhörs. Kurze Gesten seiner behandschuhten Hand unterstrichen manchmal seine kurzen Sätze. Seine helle Stimme klang ganz großartig, und das Publikum verlor nicht ein Wort. Gewohnt an stumme oder stotternde Angeklagte, sympathisierte das große Publikum instinktiv mit diesem ruhigen, klaren und kaum verlegenen Manne, bevor es überhaupt noch verstand, wessen er angeklagt war. Aber als der Gegenstand der Anklage sich langsam enthüllte, als man erfuhr, daß Vonnic beschuldigt wurde, einen Notar und einen Marquis hineingelegt zu haben, hatte er gewonnenes Spiel. Unter dem väterlichen Auge der Schildwachen begann eine ununterdrückbare Vergnüglichkeit das Publikum zu bewegen.

Und die schneidenden Fragen wechselten mit den trockenen Antworten.

Der Gerichtsrat Landry begann lebhaft zu werden. Zwei- oder dreimal ging er hart an die Grenze der Böswilligkeit und des Mißbrauchs der Autorität. Murmeln im Publikum mahnte ihn zur Vorsicht. Das Instrument begann sich zu verstimmen.

»Rufen Sie den ersten Zeugen,« befahl der Präsident.

Der erste Zeuge gab seine Personalien: Antoine René Marquis de l'Authion, 50 Jahre alt, Kavallerieoberst.

»Wollen Sie, Herr Oberst, den Geschworenen erklären, weshalb Sie eine Strafanzeige gegen den Angeklagten erstattet haben?«

Der Marquis begann zu sprechen. Vonnic hörte mit seitwärts hochgehobenem Kinn und halb geschlossenen Augen zu. Er begleitete die Aussage mit einem Kopfnicken und spöttischem Lächeln, welche sagten: »Das dachte ich mir … fahr nur so fort.«

Und der Zeuge fuhr fort. Er beschrieb seine Ueberraschung, als er von der in seinem Namen bewilligten Eintragung hörte. Er setzte auseinander, daß sie ihn gehindert hatte, daß sie ihn bis zu ihrer Löschung hindern würde, irgend eine Anleihe abzuschließen – eine sehr peinliche Sache bei den harten Zeiten. Ganz allmählich gewann seine angeborene Drolligkeit immer mehr die Oberhand. Er begann, sich in seinem Fahrwasser zu fühlen, und erzählte nicht schlecht.

Als er zu den Beziehungen Chous und Vonnics kam, rief er, die Arme weit ausbreitend:

»Wer sollte ihm glauben, daß sein Verschwender ihn, wie er behauptet, beauftragt hatte, vierzigtausend Franken der Chou zu bringen? O nein, das sind die Notpfennige des armen Familienkreuzes, die er durchgebracht hat, und ich bin überzeugt, daß er in seinen Wollstrümpfen oder sonst irgendwo noch Hundertzehntausend Francs versteckt hat.«

»Das Familienkreuz, was ist denn das,« fragte der Präsident.

Der Marquis verneigte sich und antwortete verschämt:

»Das Familienkreuz, das bin ich.«

Gelächter ertönte unter dem Publikum, und der Angeklagte gurrte: »Erlauben Sie, mein Teurer, erlauben Sie – – –«

Der Präsident ärgerte sich.

»Mein Teurer, mein Teurer? – Ein bißchen weniger Vertraulichkeit, wenn ich bitten darf!«

Da wandte sich Vonnic zum Gerichtshof und begann im unverschämtesten Ton:

»Könnte der Marquis uns vielleicht erklären, wie er im Monat Juli das Fräulein Legay, genannt Chou, unterhalten konnte, wenn er einerseits die 150 000 Franken, die ich ihm bezahlt zu haben behaupte, nicht einkassiert hat, und wenn er andererseits seit der hypothekarischen Eintragung im Mai keine neuen Anleihen aufnehmen konnte und ihm drittens die harten Zeiten, wie er sich ausdrückt, die Taschen leer gemacht haben? – –«

So sehr diese Frage seitens des Angeklagten dem Gebrauch widersprach, unterdrückte der Präsident sie doch nicht, sondern wandte sich an den Zeugen:

»Sie haben gehört, mein Herr? Würde es Ihnen belieben, darauf zu antworten?«

»O, von wegen belieben, nein! Es beliebt mir nicht! Es ist eine sehr indiskrete Frage! Aber, was soll ich tun? Ich werde sie trotzdem beantworten. – Die Sache ist die: Zuerst gab die Piquedame ihre Sprödigkeit auf, Chou könnte das bezeugen. Dann habe ich beim Grandprix nur so in den Tausenden geplätschert. Ein Pferd gewann 30:1, und ich hatte 300 Franken gesetzt; Sie wissen doch, Clodoche, Sie müssen sich erinnern, was für Aufsehen das gemacht hat!« –

»Weiter, weiter, brummte der Präsident.« –

»Wie groß ist der Gesamtbetrag der Gewinne, Herr Oberst?«

Der Marquis begann an den Fingern zu zählen. Wollen mal rasch nachrechnen: Ein Baccarat ungefähr 18 000 Franken, bei Clodoche hatte ich 300 Franken, 30:1 gesetzt, das muß ungefähr 9000 Franken machen, … zusammen ungefähr 26 bis 27 000 Franken … ein bißchen mehr, ein bißchen weniger. Damit konnte ich mir die kleine Chou leisten, um so mehr, als sie nicht so besonders anspruchsvoll ist …«

Vonnic zuckte die Achseln. Der Oberstaatsanwalt roch an seinem Riechfläschchen. Der Gerichtsrat Landry zog ein Papier aus den Akten und fragte den Zeugen:

»Herr Oberst, hier ist die Quittung über das Ihnen vom Angeklagten ausbezahlte Geld. Haben Sie sie geschrieben?«

Der Marquis warf einen Blick auf die Quittung und erklärte: »Ich habe das nicht geschrieben, auf keinen Fall!«

»Das bestätigt auch der Schreibsachverständige, den die Staatsanwaltschaft vorgeladen hat. Der Sachverständige der Verteidigung bezeugt das Gegenteil, wir werden beide hören. Sie versichern ferner, Herr Oberst, daß Sie mit der notariellen Vollmacht nichts zu tun haben?«

»Allerdings behaupte ich das. Diese juristischen Formeln da, das ist hebräisch für mich!«

Der Präsident wandte sich zu dem Steuereinnehmer:

»Nun wohl, Sie lesen und schreiben dies »Hebräisch« ganz geläufig?«

Vonnic verbeugte sich.

»Sehr geläufig! Das da erschien mir sogar so klar und so echt, daß mir gar kein Verdacht kam, als der Marquis de l'Authion mir dies übergab.« – –

»So, wirklich?! Sie wissen doch, daß der Zeuge bestreitet, jemals den Fuß in ihr Haus gesetzt zu haben, daß er bestreitet, Ihnen jemals irgend ein Dokument gebracht zu haben, daß er bestreitet, jemals von Ihnen irgend eine Summe in Empfang genommen zu haben. Sie müssen auch wissen, daß ihre so echt aussehende Vollmacht etwas hinkt.«

Der Angeklagte fuhr auf, und seine Gleichgültigkeit schien mit einem Schlage verflogen:

»Hinkt! Sie hinkt! Was? Inwiefern!«

»Nur Geduld! Ich werde Ihnen das gleich erklären! Wollen Sie uns zuerst einmal sagen, warum Sie, wo es sich um eine Summe von 150 000 Franken handelt, sich mit einer formlosen Quittung, mit einem Stück Papier ohne irgendwelche Beglaubigung begnügt haben?«

Vonnic gewann sofort seine Ruhe wieder, und mit sanftester Stimme antwortete er:

»Herr Hallopier und ich sind Geschäftsleute, und infolgedessen mußten die Anleihen zwischen uns in beglaubigter und offizieller Form abgeschlossen werden. Das war mit der hypothekarischen Eintragung eine Garantie für den Kapitalgeber. Zwischen dem Marquis de l'Authion und mir handelte es sich nur um eine diskrete Gefälligkeit, wie man sie sich unter Kavalieren leistet. Deshalb habe ich mich mit einem Stück Papier begnügt. Ich habe Unrecht getan, das gestehe ich, aber ich konnte nicht erwarten, daß man mein Vertrauen mißbrauchen würde.« – –

Die Augen des Gerichtsrates Landry blitzten auf. Seine Stimme wurde neckisch:

»Sie verstehen, Herr Marquis de l'Authion, es scheint, daß Sie der Dieb sind und daß wir Sie werden verurteilen müssen …«

Das Familienkreuz machte eine verschämte Bewegung, und im Hintergrund des Saales stieß eine Anzahl einfacher Seelen, die die Ironie nicht verstanden, einen Ruf aus, in dem sich Ueberraschung und aufrichtige Genugtuung mischten.

Das Instrument verstimmte sich immer mehr. Der Präsident schüttete seine schlechte Stimmung über den Angeklagten aus:

»Nach Ihren Angaben hätten Sie also das Geld, das Sie mit der Legay durchgebracht haben, nicht dem Zeugen abgeschwindelt, sondern ihrem Verschwender abgeluxt. Wenn wir die Sache unter dem Gesichtspunkt der Delikatesse betrachten, so ist das eine gleich viel wert wie das andere.«

»Verzeihung, mein Mündel hat mir einen Auftrag gegeben; ich habe diesen Auftrag ausgeführt, und wenn man meine Delikatesse in Frage ziehen will, muß man Beweise vorbringen, denn mir liegt doch nicht die Beweislast ob!!«

»Zugegeben! Die Geschworenen werden das zu würdigen haben … Herr Marquis de l'Authion, hat die Legay Ihnen einmal von diesem so treu ausgeführten Auftrag gesprochen?«

»Ob sie zu mir davon gesprochen hat! Aber nein! Chou ist verschwiegen wie ein Grab. Denken Sie doch nur, wenn sie schwätzen würde, was würde das für Geschichten geben! Sie mit ihrer großen Klientel aus Anjou würde Stadt und Land auf den Kopf stellen. Nein! Nein! Chou ist wie ein Beichtvater. Chou, das ist die Sicherheit unserer Ehen, – unser aller Sicherheit!«

Und über die Bänke der Zuhörerschaft ging es wie ein leichter Hauch von zustimmendem und beifälligem Geflüster.

Der Marquis fuhr fort:

»Verdammt noch eins! Das läßt sich nicht bestreiten, das alles ist sehr gut arrangiert, und ich habe Achtung vor dem Talent dieses Schlaukopfes da. Auf mein Wort, ich habe es erst vorhin seinem Verteidiger gesagt – – –«

Und er lachte breit, mit sich sträubendem Schnurrbart und mit den vor Vergnügen glitzernden Augen in seinem faltigen Gesicht. Sein Lachen wollte gar nicht enden und steckte allmählich die durch das drollige Wesen dieses gutmütigen Anklägers gewonnene Zuhörerschaft an.

Das Gesicht des Präsidenten verfinsterte sich. Er fühlte, daß die Feierlichkeit der Versammlung sich verflüchtigte und ein schwankartiger Zug den Ernst des Dramas störte.

Vonnic und seine Gendarmen sahen nachsichtig auf die Heiterkeit des Publikums.

Der Oberstaatsanwalt mischte sich ein:

»Herr Marquis, Sie sind nicht hier, um die verbrecherische Virtuosität des Angeklagten zu feiern. Vergessen Sie sich bitte nicht! Es besteht ein merkwürdiger Gegensatz zwischen der Anzeige, die Sie erstattet haben, und Ihrem Benehmen bei dieser Verhandlung.«

Der Schnurrbart des Marquis sträubte sich wieder.

»Aber, ich bitte Sie! Man stiehlt mir 150 000 Franken, und ich erstatte Anzeige, das ist doch sehr einfach. Sie wollen doch nicht, daß ich davon krank werde oder daß ich einen Trauerflor um meinen Hut trage? Befreien Sie mich vor allen Dingen von dieser verfluchten Hypothek, da Sie sich doch auf diese Dinge verstehen und ich mir nicht zu helfen weiß. Mehr will ich gar nicht.«

Damit verneigte sich der Zeuge und ließ sich auf einer der Bänke unter den Referendaren nieder, während der Präsident mit bekümmertem Gesicht ihm nachträglich die verspätete Erlaubnis gab, sich zu setzen.

Darauf erschien der Schreibsachverständige der Anklage, ein Mann mit traurigem Gesicht und trauriger Gestalt. Er kreuzte seine Arme, gab seine Personalien an, erwähnte, daß er Offizier der Akademie sei, und wartete auf die Fragen.

»Herr Sachverständiger, Sie haben eine Quittung, unterzeichnet Marquis de l'Authion, in Händen gehabt, Sie haben sie mit anderen Schriftstücken verglichen, die von dem Zeugen und von dem Angeklagten herrührten. Wollen Sie, bitte, den Geschworenen das Resultat dieser Untersuchungen mitteilen; hier, um Ihre Erklärung zu erleichtern, haben Sie das Schriftstück, um das es sich handelt …«

Der traurige Herr nahm seine gekreuzten Arme auseinander, ergriff das Papier und sagte in lautem Ton:

»Gibt es hier vielleicht eine schwarze Tafel? Ich brauche eine schwarze Tafel!«

Hinter ihm glucksten die jungen Juristen und der Marquis, der mitten unter ihnen saß, vor Vergnügen. –

Der Präsident klopfte mehrere Male hintereinander mit seinem Papiermesser heftig auf den Tisch. Nachdem wieder Stillschweigen eingetreten war, sagte er:

»Herr Sachverständiger, wollen Sie, bitte, Ihre Erklärung abgeben … ohne schwarze Tafel, bitte! Wir haben nicht viel Zeit.«

Der Sachverständige sammelte sich von neuem und rief: »Die Quittung ist das Werk eines Fälschers, das sage ich auf meinen Sachverständigeneid.«

Und dann ergoß er sich in orakelhaften Auseinandersetzungen über schwertartige Endstriche, die einen lügnerischen Charakter beweisen, über gebrochene große Buchstaben, die Verstellung anzeigen, etc.

»Kurz,« so schloß er, »in der Schrift des Marquis de l'Authion begegnen wir viel geistiger Bildung, Phantasie, aristokratischem Hochmut; in der Schrift des Herrn Vonnic finden wir im Gegenteil die charakteristischen Zeichen für diejenigen abscheulichen Eigenschaften, die auch durch die Unterschlagung konstatiert sind. – Vergebens hat der Fälscher versucht, sich zu verbergen; es ist ihm trotz seiner Geschicklichkeit nicht vollkommen gelungen. Das könnte ich bis zur Evidenz beweisen, wenn ich eine schwarze Tafel hätte – – – aber ich habe keine.«

Das Familienkreuz lehnte sich mit vergnügtem Gesicht auf seine Bank zurück und sich zu seinem Nachbar wendend, sagte er:

»Dabei hat es Vonnic gar nicht an Vorlagen gefehlt, er hat doch immer alle meine Briefe an Chou aufgemacht.« – –

Nach dem Sachverständigen der Staatsanwaltschaft kam Herr Hallopier, dessen Gestotter nicht sehr viel Klarheit in die Verhandlung brachte …

Er hätte geglaubt … wie hätte er nicht glauben sollen gegenüber einer beglaubigten Vollmacht … er wäre freilich bestraft dafür, geglaubt zu haben.

Der Präsident unterbrach ihn:

»Einen Augenblick, bitte. Hören Sie mal zu, Herr Hallopier, und Sie auch, Angeklagter, und Sie, Herr Marquis de l'Authion. Sie haben nichts Merkwürdiges, nichts Verdächtiges an dieser famosen Vollmacht bemerkt? Nichts, nein? Nun wohl, sie ist nicht in Ordnung. Die Unterschrift des Pariser Notars ist nicht mit der für solche Fälle vorgeschriebenen Legalisation versehen … Selbst den geschicktesten Menschen passieren die ärgerlichsten Vergeßlichkeiten … Sie verstehen mich wohl, Vonnic!« …

Und der Gerichtsrat Landry genoß inmitten eines tiefen Stillschweigens seinen seit langem vorbereiteten Knalleffekt.

Die drei Hauptbeteiligten schleuderten sich tödliche Blicke zu. Plötzlich sprachen sie alle drei zu gleicher Zeit. Auch das Publikum wurde wieder unruhig. Ein schnell aufeinanderfolgendes Klopfen des Papiermessers rief die Ruhe wieder zurück.

»Bitte, einer nach dem andern. Herr Marquis de l'Authion, bitte, was haben Sie zu sagen?«

»Was ich zu sagen habe! Daß mir nun nicht einmal der Trost bleibt, durch ein paar ganz besonders kluge Spitzbuben bestohlen zu sein, wenn ein solcher notarieller Galimathias solche Fehler enthält. Auf mein Wort, das ist einfach ekelhaft, und ich entziehe dem Angeklagten den letzten Rest meiner Achtung …«

Vonnic erhob sich. Er war bleich und seine Stimme zitterte.

»Ich bekenne meine Unbesonnenheit. Eine Gedankenabwesenheit … Diese Lücke hätte mir in die Augen springen müssen, als mir der Marquis de l'Authion die Schriftstücke brachte. Aber er hatte es so eilig! Und nun habe ich mich total hineinlegen lassen … Freilich, der Untersuchungsrichter ist genau so blind gewesen wie ich. Er hat während vier Wochen alle Dokumente in Händen gehabt, ohne etwas zu bemerken.«

Der Untersuchungsrichter hörte der Verhandlung hinter den Richtern sitzend zu. Er drückte sich unauffällig.

Nun kam Hallopier, der schlug sich auf die Brust.

Sein Vertrauen hätte ihn ins Verderben gestürzt. Niemals hätte er daran gedacht, eine Urkunde, die sein ehemaliger Chef präsentierte, in allen Einzelheiten zu prüfen. Er kannte doch seine außerordentliche Erfahrung.

Der Präsident kürzte das Gejammer des armen Teufels dadurch ab, daß er ihn auf seinen Platz schickte.

Darauf wurde die Aussage des Herrn Bellevergue, Notars in Paris, angeblichen Verfassers der Vollmacht, vorgelesen. Er leugnete seine Vaterschaft ab, da seine Abschriften und sein Register keinerlei Spur einer solchen Vollmacht enthielten. Darauf ging man zu der schriftlichen Zeugenaussage Chous über, die außerordentlich vorsichtig abgefaßt und sowohl der Verteidigung wie der Anklage günstig war. Endlich kam der von Rechtsanwalt Bineau vorgeladene Schreibsachverständige.

Der war ganz modern und hatte absolut nichts Pedantisches. Er leistete in aller Eile seinen Sachverständigeneid und verlangte keine schwarze Tafel.

Man bot ihm die strittige Quittung; er wies sie mit einer Handbewegung zurück und sprach mit großer Geläufigkeit:

»Meine Herren, das Schriftstück ist mit Unrecht als falsch verdächtigt worden; derjenige, der es geschrieben hat, ist derselbe, von dem die Vergleichsschriftstücke herrühren, und das ist unbestrittenermaßen der Herr Marquis de l'Authion. Die Unterschiede, die man zu entdecken behauptet, sind ganz und gar illusorisch. Man darf auch nicht vergessen, daß die Benützung von ungewohntem Papier, von fremder Feder und Tinte immer auf die Schriftführung einen gewissen Einfluß hat; und nun ist die Quittung, die hier in Frage steht, durch den Unterzeichner nicht bei ihm zu Hause, sondern bei dem Angeklagten geschrieben worden, und es waren Feder, Tinte und Papier dem Schreiber ungewohnt, daher ein gewisses Zittern, daher ein gewisser Mangel in der Freiheit in den Schriftzügen …«

»Aber bitte, erlauben Sie!« jammerte eine Stimme von der Zeugenbank her.

Eine einfache Handbewegung des Präsidenten verwies den protestierenden Sachverständigen der Staatsanwaltschaft zum Stillschweigen.

Der Sachverständige der Verteidigung hatte sich jedoch gar nicht stören lassen:

»Der allgemeine Ausdruck, der »Habitus« der Schrift sind allein beweisend, und sie täuschen niemals, denn sie sind nicht nachahmbar, weil sie instinktiv sind. Jeder schreibt auf seine Art, wie jeder auf seine Art geht, grüßt, sich die Nase schnaubt, und die Natur allein erzeugt täuschende Aehnlichkeiten. Im vorliegenden Falle finde ich trotz der gewissen Gezwungenheit der Schrift, veranlaßt durch die fremden Werkzeuge, daß das verdächtige Dokument denselben Habitus hat, wie die Vergleichsdokumente, die zugestandenermaßen von dem Herrn Marquis de l'Authion herrühren. Mit einem Wort, wenn ich das fragliche Dokument betrachte, so sehe ich den Marquis vor mir, ich sehe ihn, wie er die Quittung von 150 000 Franken schreibt, unterzeichnet und datiert.«

Der Präsident lächelte.

»Und Sie, Herr Sachverständiger?« Damit wandte er sich an den traurigen Herrn. »Sind Sie noch immer vom Gegenteil überzeugt? Antworten Sie von der Bank aus, es hat keinen Zweck, sich zu bemühen.«

»Ich versichere, daß die Quittung gefälscht ist, nur ein Blinder …«

»Das genügt, das genügt!«

Der Gerichtspräsident erteilte nun das Wort dem Oberstaatsanwalt.

Der schöne Mann in der roten Robe begann zu sprechen, ohne sich zu erhitzen, ohne erzwungene Entrüstung, in vornehmer Zurückhaltung: Wenn man diesen an seinen Tisch gelehnten Mann in Rot ansah, so kam neben seiner prächtigen und würdigen Majestät der magere, ganz in Schwarz gekleidete Verteidiger gar nicht auf.

Der Oberstaatsanwalt sprach gut, sehr gut sogar. Was nun den Inhalt seiner Rede anlangt, so hielt er es für ganz gewiß, daß einer, der eine solche Anzeige erstattete, nicht selbst der Verbrecher sei und in so ungeheuerlicher Weise mit den Werkzeugen der Gerechtigkeit sein Spiel treiben könnte. Auch erschien ihm der Fall der einfachste von der Welt, keine Schwierigkeiten, gar keine! Von Zweifel gar keine Spur. Und seine feste Ueberzeugung trug ihn zu den höchsten Höhen der Beredsamkeit. Die Hand auf seiner überzeugungstreuen Brust beteuerte er, daß er noch niemals die Verurteilung gefordert hätte, außer, wenn er sich nach reiflichem Studium aller Belastungsgründe von der Schuld des Angeklagten überzeugt hätte und wenn der Augenschein sich aufdrängte. Nun, die Verurteilung Vonnics forderte er ohne Zubilligung des geringsten Milderungsgrundes. Das Verbrechen war ganz offenbar. Die Erklärung, die Vonnic gab, war lächerlich, die Ausflüchte bemitleidenswert. Der Fall verschlimmerte sich noch durch die Mittel, die der Angeklagte anwandte, um sich der Bestrafung zu entziehen und um den Verdacht auf ein Mitglied unserer Armee zu werfen, unserer über jeden Verdacht erhabenen und stolzen Armee. Darüber wäre kein Wort zu verlieren. Wer anders könnte den gesamten Umständen nach die Fälschung begangen haben, als der Angeklagte? Er erklärte sich für völlig außer stände, denken zu können, daß irgend ein anderer diese Fälschung begangen haben könnte.

Zum Schluß sprach er von den höheren Interessen der Gesellschaft, die über dem Gefühl persönlicher Milde stehen, vom schrecklichen, abscheulichen Durste nach Gold, von den Praktiken der Fälscher und Betrüger, von der gerechten Bestrafung der Verbrecher, und unter diesem heftigen, aber vornehm verhaltenen Zorn zerstampfte er den Angeklagten zu Pulver.

Dann setzte er sich. Ein schmeichelhaftes Gemurmel lief durch den Saal. Der Präsident ließ es gewähren; denn er gönnte dem Kollegen von der Staatsanwaltschaft den Triumph. Nun erhob sich Rechtsanwalt Bineau.

Das war nun eine ganz andere Melodie. Gar nichts Vornehmes, keine gewählten Beiwörter, keine kunstvollen Perioden und keine Kaskaden von Adverbien … ein langer, schwarzer, unbeweglicher Biedermann, der ganz kurze und durchsichtig klare Sätze sprach; aber die Geschworenen spitzten die Ohren. Bineau ging ohne lange Vorrede auf den Kern der Frage los. Er teilte die Ausführung der Anklage in zwei Teile: es gab da Dinge, die man wußte und solche, die man nicht wußte. Was man wußte, war, daß eine Vollmacht existierte mit gefälschter, notarieller Beglaubigung, und weiter eine Quittung über 150 000 Francs, die ebenfalls für falsch erklärt wurde. Was man nicht wußte, war: Wer ist der Urheber dieser Fälschung, und er begann in aller Ruhe die Behauptung des Oberstaatsanwalts zu zerpflücken.

Die Geschworenen waren zum größten Teil ziemlich einfache Landleute. Zuerst hörten sie doch mit einem gewissen Mißtrauen dem Rechtsanwalt zu; sie erwarteten arglistige Advokatenkniffe. Jedoch es setzte sie in Erstaunen, daß der Präsident so ganz in Ruhe das Gebäude, das der Oberstaatsanwalt vorhin aufgebaut hatte, von dem Anwalt einfach demolieren ließ, und schließlich erwuchs aus dieser Ueberraschung ein Verdacht gegen die Solidität der vom Oberstaatsanwalt angeführten Gründe.

Und dieser Verdacht desorientierte schließlich die Gehirne der zwölf braven Bürger völlig. Sie bewunderten die Rücksichtslosigkeit des Verteidigers. Ganz allmählich, als sie sahen, daß diese Rücksichtslosigkeit ungerügt blieb, fingen sie an, Gefallen an ihr zu finden; der Geist der Unabhängigkeit wehte auch sie an. Sie betrachteten jetzt mit viel weniger Ehrfurcht den schönen Mann in Rot, der die Strafe verlangt hatte, und sie wurden fast der These zugänglich, daß nicht Vonnic als Angeklagtem, sondern dem Ankläger die Beweislast zufiel. Immerhin, als Bineau ihnen sagte, daß etwaige Zweifel dem Angeklagten zugute kommen müßten, wendeten sie denn doch fragend ihre Blicke nach dem Richtertisch.

Aber der Präsident mühte sich mit dem widerspenstigen Schloß seiner Schublade ab. Die beiden Beisitzer duselten in sehr würdiger Haltung vor sich hin. Die Geschworenen waren nun überzeugt, daß der Advokat ihnen nicht irgend etwas einreden wollte. Als der Verteidiger dann davon sprach, wie ein in Geldverlegenheit befindlicher Mann sich Geld dadurch verschaffen könne, daß er jemand den Auftrag gibt, Geld für ihn zu leihen und nachher einfach die Vollmacht abstreitet – sahen die Geschworenen den schönen Mann in Rot mit etwas verblüfftem Gesicht an. Dieser aber verzog geringschätzig den Mund, worauf ihm sechs von zwölf Geschworenen ihr Vertrauen von neuem schenkten. Die andern blieben unsicher.

Als Bineau dann den für den Marquis so gelegen gekommenen Gewinn von 28 000 Franken ihnen in Erinnerung rief, als sie ihn den öffentlichen Ankläger auffordern hörten, den Beweis zu führen, daß Vonnic der Urheber der Fälschung war, und zwar er und nicht ein anderer, – den Beweis zu führen weiter, daß Vonnic in Angers sich den Notariatsstempel von Bellvergue verschafft hätte, schnauften die zwölf Geschworenen bereits vor Geistesanstrengung, und Bineau fuhr fort, sie zwischen den beiden Hypothesen der Anklagen und der Verteidigung hin und her zu schaukeln. Als er sie für genug bearbeitet hielt, faßte er alle dunklen Punkte der Angelegenheit noch einmal zusammen, führte noch zwei, drei letzte Hiebe gegen die oberflächliche Beweisführung der Staatsanwaltschaft, beschwor flüchtig das Gespenst des Justizirrtums herab und schloß mit einer Anspielung auf das merkwürdige Fräulein Chou, die Sicherheit der Ehen von Anjou und den Treffpunkt ihrer Spargroschen.

Die Geschworenen ergötzten sich, und ein Beisitzer, der gerade wieder aufgewacht war, lächelte mit verschleierten Augen.

Der Präsident fragte Vonnic, ob er noch etwas zu seiner Verteidigung zu sagen hätte. Er verneigte sich und antwortete: »Nichts!«

Der Präsident verkündete den Schluß der Sitzung. Er las den Geschworenen die Frage vor, über die sie Beschluß fassen sollten. Er trichterte ihnen schon zum zehntenmal seit der Eröffnung der Session die Formeln ihrer etwaigen Entscheidungen sowohl gegen den Angeklagten als zu seinen Gunsten ein. Die Geschworenen begaben sich in den für ihre Beratungen bestimmten Saal. Die Richter zogen sich solange zurück, und der Angeklagte wurde durch seine vier Gendarmen hinausgeführt.

Jetzt begann die Zuhörerschaft sich zu entspannen und mit halblauter Stimme ihre Vermutungen über den Ausgang der Sache auszutauschen. Um Bineau, der nachdenklich an seinen Platz gelehnt stand, hatten sich die Kollegen geschart und erwogen die Chancen; sie alle glaubten an eine Verurteilung, mit einer einzigen Ausnahme. Bretonnière prophezeite allein Freisprechung.

Man sah wiederholt nach der Wanduhr. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde schon berieten die Geschworenen.

L'Authion spazierte in schlechter Stimmung, eine Zigarette rauchend, in der Wandelhalle. Er merkte, wie ihn viele von der Seite ansahen.

In der Schar der Anwälte wiederholte Bretonnière sehr ruhig:

»Das bedeutet Freisprechung. Ich wette 100 Franken auf Vonnic, wer hält's?«

Als man allgemein widersprach, fügte er hinzu:

»Aber, ich bitte Sie, verstehen Sie mich recht, es handelt sich bei dieser Wette um Verurteilung oder Freisprechung, nicht etwa um Schuld oder Unschuld. Also ich wette, daß die Geschworenen sich nicht werden einigen können. Rechnen wir doch einmal nach. Auf 12 gibt es 3, die sich keine Gerichtssitzung vorstellen können ohne Verurteilung, dazu kommen 2 vollkommen Verwirrte, welche die ganze Geschichte nicht verstanden haben; die werden sich aus Wichtigtuerei den 3 Scharfen anschließen. Schön, das macht 5 Stimmen für die Verurteilung. Aber der Rest, die Furchtsamen, die Intelligenten, die werden sich der Stimme enthalten oder die Schuldfrage mit nein beantworten. Resultat: eine Majorität zugunsten des Angeklagten oder zum mindesten nicht die nötige Mehrheit zur Verurteilung. Wer hält die Wette!


Bretonnière sollte recht behalten. Die Geschworenen beantworteten sämtliche Schuldfragen mit Nein. Der Gerichtshof verfügte die sofortige Entlassung des Angeklagten.

Herr Vonnic verbeugte sich sehr kühl und ernst vor der Geschworenenbank, gönnte dem Gerichtshof ein herablassendes Kopfnicken, zog seine Handschuhe aus und streckte drei Finger seinem Verteidiger entgegen:

»Sie haben Ihre Sache ganz famos gemacht, Herr Rechtsanwalt … Ganz einfach famos!«

Als Rechtsanwalt Bineau sich im Anwaltszimmer seiner Robe entledigte, murmelte er vor sich hin:

»Sollte ich zufällig einen Unschuldigen verteidigt haben?«


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