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Malcolm O'Granigan


»Man könnte glauben, wir wären schon im August. Eine wahre Sommernacht!« sagte Doktor Maingot und zündete sich an meiner Lampe eine Zigarette für den Weg an.

Wir brachen auf. Die Straßen lagen wie eingeschlafen im Mondschein da.

»Sie sind heute zum erstenmal bei Frau Le Masurier?« fragte er.

»Ja, zum erstenmal. Geht es da sehr vornehm zu?«

»Ein bißchen zu sehr, aber es ist trotzdem ganz nett. Nur ist sie leider etwas dumm. Sie hat einen Straußenhals und eine krumme Nase und hat sich deshalb immer, als ob sie zu einem Porträt Marie Antoinettes säße. Und damit alles stimmt, hat sie sich seit dem Tod ihres Mannes auch eine Einrichtung à la Louis XVI. Stück für Stück zusammengestellt. Gar nicht übel! Ganz merkwürdig, wie solch eine Gans diese Sicherheit des Geschmacks, wenn auch nur für solche Sachen, gewinnen kann. Man sollte glauben, daß diese Narren ihre besonderen Erleuchtungszustände haben und daß ihnen die hohen verstorbenen Persönlichkeiten, die sie zu spielen belieben, zu Hilfe kommen. Damit Sie's übrigens wissen: um zwölf drücke ich mich. Die Musik macht mir Kopfschmerzen.«

»So, Musik gibt es auch! Wer wird denn übrigens da sein?«

»Alle möglichen Schafsköpfe und Snobs. Der Beichtvater der Frau Le Masurier, dann ein Oratorianer; und dann Kürassiere und ein paar alte Kahlköpfe, die schon bei der Vertreibung Karls des Zehnten dabei waren. Und inmitten dieser ihrer lieben und getreuen Untertanen thront sie. O! und sie hat ihr Wappen, als ob ihr Seliger niemals Bordeaux und Burgunder verkauft hätte.«

»Das ist ja interessant, Doktor. Will sie sich denn nicht bald wieder verheiraten?«

»O natürlich! Aber sie wartet, bis ihr Herz spricht.«

Maingot stieß das große, eisenbeschlagene Tor auf. Wir durchschritten ein von außen nicht bemerkbares, weil wie von Gefängnismauern umschlossenes Gärtchen und befanden uns vor einem einstöckigen Gebäude, zu dem drei Stufen in die Höhe führten, eine Art Trianon; hohe Säulen trugen ein italienisches Dach. Zwischen den Säulen Guirlanden und Amouretten. Der Unterbau war etwas zu niedrig.

Das Parterre dagegen weit und hoch, mit großen Fenstertüren.

»Dahinter,« sagte Doktor Maingot, »ist ein richtiger Park.«

Klavier und Geigenspiel klangen heraus.

»Da haben wir's!« rief der Doktor. »Kaum gefangen, schon gehangen! Die Musik geht schon los. Also gehen wir rein, machen wir unser Kompliment, und dann drücken wir uns in den Garten. So lange das Gespiel da dauert, darf man nicht mucksen.«

Der große, von einem Kronleuchter und von Armleuchtern mit Kerzen erhellte Saal war schon ganz voll. Was ich sofort der Dame des Hauses gutschrieb, war, daß es weder Petroleum noch Elektrizität gab. Da kam sie uns auch schon entgegen, geschnürt und aufgeplustert, mit rundem Munde und vornehm zwinkernden Augen. Und meiner Treu, mit ihrem langen Hals, ihrem Reiherbusch, ihrer hochmütigen Haltung und ihrer Grenadiergestalt, konnte man sie nur für eine Parvenuesfrau oder eine Erzherzogin halten.

Maingot küßte ihr die Hand. Ich stotterte etwas von Bedauern, daß ich sie nicht angetroffen hatte, als ich ihr meinen Dank für ihre Einladung ausdrücken wollte. Sie geruhte mir in nicht ungnädiger Weise zu antworten, und als ein plumper, ziemlich gewöhnlich aussehender junger Mann von vielen Ahnen ihr irgend was ins Ohr flüsterte, wandte sie mir mit einem schrillen und affektierten Lachen den Rücken. Ein mächtiger, fleischiger Rücken, der gleich an ihren Reichtum denken ließ; ich kann mir denken, daß die armen Adligen von diesem Rücken träumten.

Das Klavier und die frisch gestimmte Violine schienen wieder beginnen zu wollen. Frau Le Masurier lehnte sich in einen Fauteuil, und die Musik legte wieder los. Maingot hatte sich schon in Sicherheit gebracht. Mir aber war der Ausweg versperrt. Ich war in eine Ecke neben ein mit altem Porzellan beladenes Pfeilertischchen gedrängt und vertrieb mir nun die Zeit damit, die Gesellschaft zu beobachten. Da war zuerst am Ehrenplatz neben der Hausherrin ein schöner Abbé im besten Mannesalter, mit einem Bourbonengesicht; die Beine, die er gekreuzt hielt, ließen feine Knöchel und violettseidene Strümpfe sehen. Er schien ein kindliches Vergnügen daran zu finden, den Fingern des Pianisten zuzusehen, die wie wild gewordene Spinnen dahinrasten. Zur Linken der Hausherrin wieder ein Abbé, dieser aber das Gegenteil von Eleganz, krausköpfig und gedrungen, wahrscheinlich der Oratorianer. Seine roten Hände hingen schlaff herab; er hörte mit angespannter Aufmerksamkeit zu. Dann ebenfalls noch in der ersten Reihe wirklich alte Damen oder solche, die durch ihre ungefällige Kleidung wenigstens ältlich aussahen. Und schließlich noch eine dichte Menge von Herren: eckige Chouansgestalten, einige monokelgeschmückte, blasierte Kürassiergesichter, ein paar junge Leute mit einer Frisur von 1830, einige ganz alte Herren, die aussahen wie wurmstichig gewordene königliche Garde du Corps des ancien regime, und zwischen allen diesen ein Rotkopf mit ganz merkwürdigem Profil, der schließlich meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Ein sehr merkwürdiges Profil! Hager und verlebt, mit tiefliegenden Augen und nur noch wenigen Haaren. Aber trotz allem etwas Großartiges, Herausgearbeitetes, Stolzes. Ein starrer Schnurrbart unter feingeschnittener Nase, ein eckiges Kinn – aber der Blick unstet und flüchtig. Wenn es wahr ist, daß der angespannte Wille auf andere wirkt, sie anzieht und ihnen befiehlt, so verdankte ich es vielleicht meinem angestrengten Willen, daß ich nun dieses Gesicht auch von vorne zu sehen bekam. Denn in diesem Augenblick wandte er langsam den Kopf. Und das Profil hatte mich nicht getäuscht. Auch so behielt das Gesicht ein durchaus eigenartiges Gepräge.

Ich nahm mir vor, Maingot für seine menschliche Raritätensammlung darauf aufmerksam zu machen.

Das Spiel hatte geendet, man applaudierte, die Musiker verneigten sich. Mein Unbekannter löste sich aus der Menge und drängte sich bis zum Fauteuil der Frau Le Masurier vor, stützte sich auf die Lehne und begann ihr die Cour zu schneiden. Sie lachte ihr affektiertes Lachen und bog sich zurück, denn sie hatte einen sehr schönen, weißen Busen. Die Abbés vertraten sich die Füße und machten Besuche bei den alten Damen.

In der Tür zum Garten erschien Maingot. Er schien mich zu suchen.

»Kommen Sie doch,« sagte er, als ich an ihn herantrat, »wir wollen ein bißchen promenieren. Sie müssen doch von dieser feinen Gesellschaft genug haben.«

»Mehr als genug; ich habe nichts Interessantes gesehen, außer einer einzigen Person, die ich Ihnen besonders empfehlen möchte.«

»So so, Sie haben ihn schon entdeckt?«

»Woher wissen Sie denn, wen ich meine, Doktor?«

»Aber das ist doch ganz klar, er ist doch der einzige hier, der ins Auge fällt. Er sticht unter den andern hervor, wie eine Medaille unter einem Haufen von Zweisousstücken: mit kräftig modellierter Maske, mit den breiten und doch feinen Flächen, den durch das Alter schon etwas zu scharf herausgearbeiteten Kanten. Sehen Sie, ich weiß sofort, wen Sie meinen. Das ist ein gewisser O'Granigan, der sich erst seit ganz kurzem hier niedergelassen hat. Er ist Direktor einer Versicherungsgesellschaft.«

»Das klingt nicht nach dem Adelsalmanach.«

»Immerhin. Die Fremden – – Sie wissen doch. Besonders die Engländer, Schotten, Irländer – –«

»Zugegeben. Aber woher kommt er? Er bewegt sich inmitten dieser Mumien und Snobs, als ob er das von jeher gewöhnt sei. Ist er wenigstens wirklicher Gentleman?«

»Wenn korrektes Benehmen und Geist dazu genügen, o, dann ist er ein vollkommener Gentleman.«

»Und sonst?«

»Ah, und sonst, wissen Sie, das ist eine komplizierte Geschichte – – – Welch herrliche Nacht, sollte man glauben, daß es erst Mai ist?«

Wir gingen ohne zu sprechen nebeneinander dahin. Der Duft des Flieders und der Levkojen schwängerte die warme Nacht. Dann und wann drang ferne Musik bis zu uns, und manchmal erreichte uns auch das unerträglich gellende Lachen der Frau Le Masurier. Wir beschleunigten unsere Schritte. Wir drangen unter den Wipfeln der Kastanienbäume weiter bis zu den Büschen, von denen der Duft herkam und durch die sich Alleen dahinschlängelten; der Garten war ebenfalls durchaus im Stile Louis XVI. und richtete sich also in nichts nach den steifen Vorschriften Le Nôtres. Er war durchaus Natur, wenn auch ein wenig zurechtgestutzte Natur, mit allerlei Abwechslungen, wie sie die Zeit Rousseaus liebte. Ein Bächlein durchfloß ihn, in dem eine Fülle weißfilziger Blüten wucherte. An einer Windung des Bachs, unter einer Gruppe von Pappeln eine halbkreisförmige Balustrade.

Wir lehnten uns an die Rampe und schauten dem zitternden Spiel der Mondstrahlen im Wasser zu.

Maingot schien nachzudenken. Endlich sagte er: »Wie komisch wir sind in unsern schwarzen Fräcken. Wie tollpatschig in dieser delikaten Umgebung, bei diesen hübschen Widderkopfvasen! Ein Gilles gehört hierher mit seiner Guitarre, und Isabella in knisterndem Falbelröckchen, und Lelio, und der Kapitän, und Tartaglia, und die ganze bunte Rouéegesellschaft, und nicht wir beide, ein prosaischer Arzt und ein nüchterner Advokat von heute. Wie häßlich und ohne Eleganz ist unsere Zeit. Jawohl, häßlich sind Sie, mein Lieber!«

»Sie auch, Doktor.«

»Natürlich bin ich häßlich. Unsere Zeit ist langweilig, und wir verstehen nicht mehr, uns in glitzernde Seide zu kleiden und hinter schönem Schein unsere schwarzen Gedanken und Taten zu verbergen. Heute ist alles schwarz, eintönig, einförmig. In dieser ganzen Gesellschaft heute abend erhebt sich nur O'Granigan über unsere Gewöhnlichkeit mit seinem Air eines großen Abenteurers. Haben Sie übrigens gesehen, wie er sich um Frau Le Masurier bemühte?«

»Das war ganz auf Gegenseitigkeit, Doktor.«

»Ja, ja, das gibt 'ne Heirat. Das gibt eine komische Geschichte. Sehr komisch. – – – Er hat keine Ahnung davon, daß ich ihn schon seit Jahren kenne, oder vielmehr daß ich ihn nach Jahren wiedererkenne, trotz der mit ihm vorgegangenen Veränderung, trotzdem er seinen Namen vertauscht hat und trotz der paar Fältchen, die er mehr hat wie früher, und der vielen Haare, die er weniger hat.«

»Doktor, lieber Doktor, wissen Sie was, setzen wir uns in diese Holzsessel. Niemand sieht uns hier, als der Mond, und der ist ja ganz damit beschäftigt, sich in dem Bächlein zu spiegeln. Niemand hört uns hier, als die Pappeln, und die schlafen. Was ist das für ein Geheimnis, das Sie da haben? Erzählen Sie mir die Geschichte, die Ihnen auf den Lippen brennt, und ich werde diese Nacht im Kalender rot anstreichen.«

Maingot rieb ein Zündholz an, sah nach der Uhr und sagte:

»Also schön, bis um 12 Uhr, nicht länger; wir haben 40 Minuten dafür. Sie erinnern sich wohl, vor ungefähr 8 Jahren verbrachte ich einen Winter in Nizza. Ich hatte mir im Herbst, wer weiß wo, eine Lungenentzündung geholt, an der ich schon zu sterben glaubte, und meine Kollegen schrieben mir eine Kur im Süden vor. Na ja, beide Teile gewannen dabei. Ich, indem ich mein Leben behielt, und die Herren Kollegen, indem sie mir meine Klienten wegfischten … Da unten langweilte ich mich königlich. Zu meinem Glück passierte aber schließlich ein ganz anständiger Mord, so daß ich für den Rest meines Aufenthalts etwas Zerstreuung hatte. Sie erinnern sich wohl kaum der Affäre Baglia? Es handelte sich da um eine Frau, die eine andere mit dem Revolver erschoß. Ich verfolgte den Prozeß als kriminalistischer Liebhaber sehr genau; es war ganz außerordentlich interessant.«

»Wohl weniger der Prozeß selbst, als das, was dahinter steckte und was Sie sich zusammenkombinierten, wie in den Affären Rosalba und Mathieu Michel?«

»Natürlich, sonst würde ich Sie doch jetzt nicht mit dem an sich nicht besonders aufregenden Drama unterhalten. Selbstverständlich verbiesterten sich der Untersuchungsrichter, der Präsident und der Staatsanwalt, die sich nur an die Außenseite der Tatsachen hielten. Ach, mein Lieber, überhaupt, was unsere Juristen schon für feine Nasen haben! Aber wie sollten solche Leute klar sehen, die in keiner Weise eine Ahnung von psychologischer Analyse haben? O ja, ihr Strafgesetzbuch und ihre Prozeßordnung, die kennen sie ganz genau, aber was wissen sie von den menschlichen Leidenschaften, was von den geheimnisvollen Quellen, denen unser Wille entspringt, was von den so komplizierten Trieben unseres Wesens? Sie beurteilen alles nach sich selbst, und sie wissen nichts von mächtigen Leidenschaften. So gibt es weite Gebiete des seelischen Lebens, die ihnen geradezu sehr unwahrscheinlich erscheinen. Nun, ihre Justiz ist auch danach.

Jener Mord schien ihnen die einfachste Sache von der Welt zu sein, und ich wette, wenn sie hören würden, was ich Ihnen hier unter den Pappeln erzähle, würden sie mich ohne weiteres reif für Charenton erklären.

Also zunächst die nackten Tatsachen:

In den ersten Novembertagen jenes Jahres kamen mit einem Abendzug gegen achteinhalb Uhr ein Herr und eine Dame in Nizza an. Sie fuhren zum Hotel Rossi und trugen sich als Herr und Frau Malcolm ins Fremdenbuch ein. Der Herr ging gleich darauf aus; die Dame blieb bis gegen zehn Uhr in ihrem Zimmer. Dann läutete sie, fragte, ob nicht eine Dame Juliette Mariotti im Hotel wohnte, und als ihre Frage bejaht wurde, ließ sie sich zum Zimmer der Dame führen, klopfte … und trat ein. Fünf Minuten später hörte man das Geknatter von Revolverschüssen. Man stürzte ins Zimmer … die unglückliche Juliette Mariotti lag da, sich mit beiden Händen den Leib haltend – sie war bereits im Todeskampf begriffen … Die andere betrachtete ihr Werk mit entsetzten Blicken. Die noch warme Pistole lag auf dem Teppich.

In diesem Augenblick kehrte der Herr zurück … kein anderer als unser Freund O'Granigan, obgleich er sich zu jener Zeit noch Malcolm nannte. Er trat ein, wurde beim Anblick der Toten ohnmächtig, und nachdem die Ohnmacht gehörig lang gedauert hatte, fing er an zu klagen und zu jammern.

Der Chef der Kriminalpolizei kam mit seinen Agenten, und Malcolm bekannte ohne weiteres seine Gewissensbisse und seine Verzweiflung, denn seine Schuld wäre es – seine unverzeihliche Schuld. Er hätte es wissen müssen: Die Italienerinnen seien eifersüchtig wie Wölfinnen, und er hätte sich in acht nehmen müssen. Die Mariotti war seine ehemalige Geliebte und verfolgte ihn noch fortwährend. Er hätte freilich geglaubt, sie auf eine falsche Spur gebracht zu haben. Die Baglia, seine gegenwärtige Geliebte, wütend über die Verfolgung der andern, hätte geschworen, sie würde sie noch einmal töten. Seit Monaten erschöpfte er sich deshalb in immer neuen Kombinationen, um ein Zusammentreffen der beiden zu verhindern. Um sie zu täuschen, hätte er seiner ehemaligen Geliebten geschrieben, er habe die Absicht, diesen Winter auf Majorca zuzubringen.

Aber man denkt eben nicht immer an alles. Die Baglia war wohl fähig, unter der Hand ihre Rivalin von seinem richtigen Aufenthalt zu benachrichtigen. Wer denkt an alle Schliche und Ränke der Frauen! Sie war fähig, sich auf diese Weise die Rache zu verschaffen … Er erinnerte sich jetzt, er hätte schon auf der Reise an ihr eine gewisse Exaltation bemerkt. Er hätte sich aber nicht weiter darüber beunruhigt, er hätte es für eine der bei Frauen so häufig ohne sichtbaren Anlaß vorkommenden seelischen Verstimmungen gehalten. Er hätte es ihr überlassen, Hotel und Zimmer auszusuchen, und während sie die Koffer auspackte, war er fortgegangen, um eine Zigarre zu rauchen, und als er wiederkam, war das Verbrechen geschehen.

Die Baglia war weniger gesprächig. Sie saß ganz stumpfsinnig da. Nur das eine behauptete sie immer wieder: die Mariotti hätte sich selbst getötet. Aber der Ton, in dem sie diese Behauptung aufstellte und immer wieder wiederholte, klang durchaus nicht überzeugend. Es wurde ein genaues Protokoll aufgenommen – die Mörderin verhaftet und Malcolm ersucht, sich für vorläufig nicht zu entfernen.

Der Chef der Kriminalpolizei gewährte ihm alle Erleichterung, die die Umstände erlaubten, lobte seine Offenheit, mit der er die Organe der Justiz über die Motive des Attentats aufgeklärt hätte, so schwer es auch seinem Taktgefühl fallen mußte, und am nächsten Morgen erwachte die gute Stadt Nizza mit einer Attraktion mehr.

Malcolm hielt sich während der ganzen Untersuchung in würdiger Zurückgezogenheit; kaum daß man ihn einmal in der Abenddämmerung am Ufer des Meeres traf oder des Morgens auf dem Wege zum Friedhof. Die Reporter, die ihn sprechen wollten, wies er zurück. Die wenigen Personen, die mit ihm in Berührung kamen, hatten den Eindruck einer aufrichtigen und stummen Trauer, eines Kummers, wie ihn der Gentleman der Außenwelt zeigt, der, so stark er innerlich ist, sich nur kühl und unauffällig äußert.

Man beklagte ihn ganz allgemein. Das Interesse, das er erregte, war außerordentlich groß und nahm sehr verschiedene Formen an. Die Frauen warfen feurige Blicke nach ihm, und wenn er gewollt hätte, so hätte er Dutzende von Trösterinnen haben können. Und die Männer hätten ihm sicher ihr Mitgefühl bezeugt, wenn er sich nicht in seine stolze und durch nichts unterbrochene Einsamkeit gehüllt hätte wie in ein vom besten Schneider gemachtes Trauerkostüm.

Die Voruntersuchung nahm einen Schneckengang. Die Signora Baglia beharrte auf ihrer Behauptung von einem Selbstmord. Der Richter, ein sehr geschickter Mann, zeigte ihr vergebens, wie banal und töricht dieses Verteidigungssystem war. Malcolm wurde natürlich mit großer Rücksicht verhört und erklärte in sehr bekümmertem Tone, er müsse bei seiner ersten Erklärung beharren. Immerhin, nachdem die erste Aufregung vorüber war, trat in seinen Aussagen noch mehr der rücksichtsvollste Kavalier hervor, und mit außerordentlichem Takt suchte er ihnen eine weniger belastende Form zu geben. Und der Richter, der gute Richter, dankte ihm gerührt für seine mitleidsvolle und doch richtige Umschreibung und sein beredtes Verschweigen, und überhaupt für die außerordentliche Geschicklichkeit, mit der er seine Pflichten als Zeuge und sein Widerstreben als Kavalier miteinander vereinigte.

Die Voruntersuchung wurde abgeschlossen. Nun verging wieder eine Zeit, bis die Personalien der Ermordeten sowie der Angeklagten festgestellt waren, und dann kam die Sache endlich vor das Geschworenengericht. Für die öffentliche Meinung war die Baglia schon verloren, weniger wegen des Verbrechens selbst, das sie begangen hatte, als wegen des Kummers und der Qual, die sie dem sympathischen Malcolm bereitete.

Sie erzählte den Geschwornen in einem plätschernden Kauderwelsch, wie sie den Geliebten letzten Mai auf der Insel Wight, wo sie neapolitanische Lieder sang, kennen gelernt hatte; die beiden waren sich in Ventnor begegnet. Er schien damals sehr traurig; er hatte gerade mit der Mariotti gebrochen.

Während 8 Tagen machten sie gemeinsame Wanderungen auf der Insel; dann reisten sie auf eine weitere Woche nach London, dann auf einen Monat nach Paris, worauf sie schließlich wieder nach London zurückkehrten. Er war damals bemüht, eine Versicherungsagentur oder die Leitung der Filiale einer Versicherungsgesellschaft zu erhalten, und lief während des Aufenthalts in London vom frühen Morgen bis zum späten Abend bei den Direktionen solcher Gesellschaften herum. Im Herbst reisten sie nach Biarritz und im November nach Nizza. Malcolm konnte die frühere Geliebte noch immer nicht vergessen – er sprach immerzu von ihr. Die Angeklagte gestand, daß sie sich darüber sehr geärgert hätte.

›Beachten Sie das wohl, meine Herren Geschwornen,‹ bemerkte der Präsident.

Aber die Baglia wehrte sich sofort: gewiß, sie hätte sich darüber geärgert, aber doch nicht bis zu dem Grade, daß sie die andere hätte ermorden wollen.

Der Staatsanwalt hatte das verächtliche und boshafte Lächeln eines alten, skeptischen Kriminalisten aufgesetzt; da begann die Arme, nun ganz außer Fassung gebracht, zu weinen, und der Präsident, anstatt sie zu beruhigen, rief ihr in Erinnerung, daß sie vor dem Leichnam ihres Opfers weniger seelische Erregung gezeigt hätte.

Die Baglia senkte den Kopf, dachte nach, und plötzlich sich aufrichtend sagte sie:

›Ich habe gelogen, – ich habe getötet, aber er hat gewollt.‹

Na, mein Freund, das gab einen schönen Lärm! Das ganze Auditorium protestierte gegen diese seinem Liebling angetane verleumderische Beleidigung. Der Präsident zuckte die Achseln und warf einen Blick zu den Geschworenen hinüber, der besagte:

›Sehen Sie, jetzt zeigt sie ihren wahren Charakter.‹

Aber die Baglia hielt daran fest:

›Er hat gewollt, er hat gewollt,‹ sagte sie immer wieder.

Bei jeder Frage schüttelte sie eigensinnig den Kopf und wiederholte:

›Er hat gewollt.‹

Endlich verlor der Präsident die Geduld. Er schrie sie an, sie nun nachahmend:

›Warum hat er gewollt?‹

Einen Augenblick blieb sie mit offenem Munde stumm und nachdenklich; dann schluchzte sie:

›Warum? Ich weiß nicht.‹

Ein allgemeines Rufen unterstrich diese jämmerliche Niederlage. Der Präsident geriet außer sich und schrie mit sich beinahe überschlagender Stimme:

›Das ist doch zu dumm, Angeklagte. Warum, aus welchem Interesse heraus soll er Ihnen befohlen haben, diese Unglückliche zu töten? Sie gestehen doch selbst, daß er fortwährend an sie dachte, immerzu von ihr sprach.‹

›Ich weiß nicht.‹

Ein neues Geschrei … Der Präsident öffnete die Arme weit, wie einer, der nicht mehr kann, die Geschworenen antworteten ihm mit Blicken des Verständnisses. Nun begann der Staatsanwalt:

›Weshalb haben Sie das nicht in der Voruntersuchung gesagt?‹

›Ich nicht wagte, ich habe Furcht vor ihm.‹

Furcht vor ihm! Furcht vor dem sympathischen, traurigen, schmerzerfüllten Malcolm. Das Maß war voll, und die Entrüstung kochte über. Als man sich ein wenig beruhigt hatte, begann der Präsident noch einmal:

›Wann und wo hat er Ihnen den Mord befohlen?‹

›In der Eisenbahn, hinter Marseille. Er hat gewollt, ich sollte sie töten, und ich sollte sagen, daß sie sich hat selbst getötet. Er versicherte, man würde mir glauben. Er hat mir gedroht, mich zu töten, sie zu töten, zum Schluß sich zu töten, wenn ich mich weigerte. Ich habe Furcht gehabt.‹

Das Publikum brach in ein Hohngelächter aus … die Geschichte war doch zu stark. Der Präsident fuhr seufzend fort:

›Er wußte also, daß seine frühere Geliebte im Hotel Rossi wohnte?‹

›Er wußte, er hatte ihr Rendezvous gegeben durch Telegramm.‹

›Schön, noch was Neues! Jetzt haben wir also ein Telegramm. Von wo aus hat er dies Telegramm gesandt?‹

›Von Biarritz.‹

›Und mit seinem Namen gezeichnet?‹

›Nicht mit seinem, mit meinem!‹

Entrüstete Rufe erfüllten den Saal bei dieser Ungeheuerlichkeit. Der Präsident hatte sich schon in die Unwahrscheinlichkeiten ergeben, lächelte sanft und fuhr in seiner Vernehmung fort:

›Dann haben Sie vielleicht auch das Original dieses Telegramms geschrieben?‹

›Ja, ich habe es geschrieben.‹

Diesmal blieb das Publikum starr vor so viel Frechheit. Die Angeklagte wimmerte:

›Er hat gewollt!‹

Der Staatsanwalt fragte sie mit dem Ausdruck des Ekels:

›Wohin war dieses Telegramm adressiert und was enthielt es?‹

›Adressiert an Mariotti, rue Pigalle 201, Paris; abgefaßt auf Italienisch: »Der Dich nicht vergißt, erwartet Dich Nizza 4. November Hotel Rossi … Chi non dimentica ti spera a Nizza quattro novembre hotel Rossi.‹

›Und Sie haben dies ohne Mißtrauen geschrieben und unterzeichnet?‹

›Er hat gewollt, ich schwöre, er hat gewollt?‹


»Nun, mein Lieber, was halten Sie von dem Anfang der Geschichte?«

Indem er dies sagte, stellte der Doktor fest, daß es beinah zwölf war. Die Musik im Salon wütete noch immer, allerdings mit Unterbrechungen. Wir kehrten zurück und gingen durch den Salon, ohne daß jemand auf uns achtete. O'Granigan erzählte irgendeine närrische Geschichte, worüber alles außer sich war. Auf der Straße schlug Maingot mir auf die Schulter:

»Sehen Sie, genau so wie ich ihn von jener Gerichtssitzung her kenne, finde ich den schönen Malcolm hier wieder. Oh, nicht etwa, daß er da unten auch solche Scherze trieb! Nein. Es handelt sich um eine Eigentümlichkeit, die mir schon bei dem Prozesse auffiel und die mir jetzt wieder beim Vorübergehen in den Sinn kam. Sehen Sie, mein Lieber, dieser Mann ist absolut unharmonisch. Er kann noch so viel Sonaten und Symphonien verschlucken, er bleibt doch ebensowenig musikalisch wie Sie oder ich, und es mangelt ihm außerdem der eigentlich menschliche Sinn, die Harmonie des Wesens. Er spricht mit falscher Betonung, seine Stimme schmiegt sich nicht seinen Gedanken an. Seine Modulation ist ohne jede Grazie und willkürlich. Es ist ein schlecht zusammengepaßter Organismus. Auch seine Gesten gehen nicht mit dem Sinn seiner Worte zusammen. Wenn man aber so gebaut ist, dann existiert meistens ein ganz genau erkennbarer Bruch zwischen Verstandes- und Instinktleben und Vorherrschaft des letzteren. Dann ist man entweder ein Kretin, oder grausam, oder sinnlich – oder all das zusammen. Nun, Kretin ist er nicht, aber seine Psyche ist zum guten Teil tierisch. Ich habe das schon damals vor dem Geschworenengericht gemerkt. Nicht etwa, daß er großer Feinheit unfähig wäre, wenn es notwendig ist. Aber seine Schlauheiten müssen dann irgendwie als Mittel zu einem brutalen Zweck dienen. Ja, schlau ist er. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie er sich in Szene zu setzen verstand, als er Zeugnis ablegen mußte. Bewunderungswert! mein Lieber. Nur diese kleinen, ganz kleinen Diskordanzen in Stimme und Gesten, die mich erschreckten, und merkwürdigerweise nur mich allein. Wissen Sie, was psychologische Harmonie anbelangt, da bin ich empfindlich bis auf Vierteltöne.

Während er seine Zeugenaussage machte, ruhig und doch schmerzlich bewegt, in vornehmer Haltung, möglichst diskret, mit allerlei durch das Mitleid gegebenen Einschränkungen, und während er so ganz unmerklich sein Spiel mischte und, ohne daß er die Absicht zu haben schien, in dem Geist der Geschworenen die Gewißheit sich festsetzen ließ, daß es sich nur um ein Verbrechen aus Eifersucht handeln konnte, fühlte ich ein immer wachsendes Unbehagen und eine nervöse Ungeduld. Und allmählich kam ich zu der Ueberzeugung, daß alle, der Gerichtshof, die Geschworenen, der öffentliche Ankläger, der Verteidiger – daß sie alle in einer blutigen, von dem sympathischen Malcolm gekochten Suppe pantschten.

Aber vergebens suchte ich eine Antwort auf die zunächstliegende Frage: Was für ein Interesse hatte er denn an der Ermordung der Mariotti?

Darauf konnte ich absolut keine Antwort finden, auch nicht einmal einen Schimmer, keine irgendwie zulässige Hypothese. So sehr genierte ihn doch die ehemalige Geliebte nicht, daß er sie hätte opfern müssen; und ein Mensch, wie er, hatte sicherlich nicht zum erstenmal mit einer garzusehr an ihm hängenden Geliebten zu tun. Existierte aber vielleicht zwischen ihnen irgendein furchtbares Geheimnis, das er nur mit ihr aus der Welt schaffen konnte, dann hätte er sicher einen anderen Weg eingeschlagen; er hätte sicherlich keinen Gehilfen zu seinem mörderischen Werk genommen. Man hätte eines Tages die Mariotti bei St. Cloud oder sonst irgendwo aus der Seine gefischt … und die Geschichte war erledigt. Die Vermutung, daß er vielleicht von ihr erbte, war auch nichts wert. Eine Mariotti besitzt keine Renten, und diese war nach ihren Personalien die siebente Tochter eines genuesischen Fuhrmanns. Also nichts, was auf das Motiv führen konnte.

Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß der Gerichtshof und die Geschworenen nicht einmal darnach suchten. Man hatte ihnen ein akzeptables Motiv für den Mord zur Verfügung gestellt – weibliche Eifersucht. Ein geradezu klassisches Motiv, von dem man alle Tage in den Zeitungen liest. Und selbst das geringste Detail dieser Affäre zeigte ganz offenbar besonnenste Ueberlegung. Die Depesche, die die Angeklagte an ihr Opfer schickte, der Revolver Malcolms, den sie aus dem Koffer ihres Geliebten genommen hatte, bevor sie bei der Mariotti eintrat, ihre Gleichgültigkeit vor der Leiche, ihre törichte Behauptung vom Selbstmord der Mariotti – und die ebenso häßlichen wie kindischen Verdächtigungen des Unschuldigen, der auf die Straße gegangen war, um seine Zigarre zu rauchen, währenddem sie einen Mord beging – all das wirkte zu ihren Ungunsten auf die Geschworenen und den Gerichtshof.

Es wirkte natürlich je nach den Persönlichkeiten auf ganz verschiedenen Wegen, aber führte zum selben Resultat. Die guten Leute waren zu wenig mit der psychologischen Methode vertraut, um sich an eine tiefere Analyse wagen zu können. Diejenigen, welche zufällig nicht ganz überzeugt waren, daß wirklich Eifersucht das Motiv der Tat gewesen war, wurden durch die so belastenden Nebenumstände bestimmt. Diejenigen wieder, welche auf diese Nebenumstände weniger Wert legten, die an und für sich den vorwiegenden Einfluß des männlichen Willens nicht für ausgeschlossen hielten, wagten doch vor dem unbestreitbaren Schmerze Malcolms nicht, diese Hypothese ernsthaft ins Auge zu fassen. Kurz, auf den verschiedensten Wegen kamen sie alle zum selben Resultat der Verurteilung. Und der Präsident hatte auch das sehr genaue Gefühl davon; denn am Schluß des Zeugenverhörs machte er sich zum Dolmetscher der allgemeinen Meinung und richtete an Malcolm eine ausdrückliche Ehrenerklärung.

Malcolm seinerseits beteuerte unter tiefer Bewegung des Publikums, daß er der Unglücklichen verziehen habe. Das nahm nun wieder der Staatsanwalt zum Ausgangspunkt seiner Rede, indem er erklärte, daß er im Namen der öffentlichen Gerechtigkeit, die kein sentimentales Mitleid kennen dürfe, rücksichtsloser sein müsse. Ja er bedauerte sogar, daß der Gerichtshof, der über die Eröffnung des Verfahrens zu entscheiden hatte, aus Mitleid den belastenden Umstand des Vorbedachtes übersehen und die Baglia nicht unter der Anklage des Mordes, sondern nur unter der des Totschlages vor das Geschworenengericht geschickt hätte. Nicht etwa, daß er ihren Kopf forderte! Großer Gott, nein! Aber rein unter juristischem Gesichtspunkt war die Qualifikation der Tat als bloßer Totschlag ungenau. – Ich beobachtete während der ganzen Rede des Staatsanwalts die Baglia, die unter der Flut dieser Beredsamkeit sich wie gesteinigt wand.

Der Gerichtsarzt hatte in für die Laien schreckenerregenden Ausdrücken über die Autopsie der Mariotti berichtet. Die oberen Bauchwände, die äußeren Lappen der Leber, der Nabel, die Nieren, der Lendenmuskel figurierten in seinem Vortrag. Er kam zu dem Schluß, wie ziemlich leicht vorauszusehen war: Sie ist getötet worden durch einen Schuß in den Bauch.

Und dabei blieb er, der Esel.

Weder der Verteidiger, noch der Präsident, noch der Staatsanwalt richteten irgendwelche Fragen an ihn. Nicht ein Wort über die Angeklagte.

Ich dagegen, ich beobachtete sie. Ich ließ sie nicht aus den Augen, aus Gründen, die Sie gleich kennen lernen werden. Ich konnte nicht entdecken, was Malcolm für ein Interesse an dem Tod seiner ehemaligen Maitresse haben sollte; noch weniger aber konnte ich erkennen, was für Interesse die Baglia daran haben sollte.

Das Motiv der Eifersucht schien mir absolut nicht stichhaltig. So ein schöner Hahn auch Malcolm war, daß die Hennen sich seinetwegen gleich gegenseitig umbringen sollten, schien mir sehr unwahrscheinlich. Die Angeklagte schien mir gar nicht so furchtbar verliebt in ihn. Nur die zweifelhafte Psychologie der Herren Juristen konnte sie für eine Tragödienheldin nehmen. Sie hatte ein armseliges, ziemlich charakterloses Gesicht. Ihr Temperament schien viel mehr zur Passivität zu neigen. Sie machte mehr den Eindruck, als ob sie unter dem dräuenden Blick ihres Herrn und Gebieters sich duckte. Sie gehörte zu der zahlreichen Klasse der sich willenlos Hingebenden. Es war eine Frau, mit der man sich amüsieren konnte, die sich aber auch prügeln ließ, ziemlich unempfänglich gegen das wechselnde Schicksal und für ihre alten Tage eine richtige Kandidatin für die Salpêtrière Die Salpêtrière ist ein berühmtes Hospital in Paris für nerven- und geisteskranke Frauen. Von ihm ist unter anderem die Forschung über Hypnotismus einerseits und Suggestion und Hypnotismus andererseits ausgegangen.. Wenn also von blinder Leidenschaft, die sie zum Verbrechen getrieben hätte, nichts zu merken war, so war andererseits auch keine eigennützige Erwägung zu finden, die sie hätte dazu bringen können, denn ihr Liebesverhältnis war so zerbrechlich, daß es vor dem ersten Windstoß zusammenfallen konnte.

Also auch in dieser Hinsicht nichts; weder bei Malcolm noch bei der Angeklagten ausreichende Motive, die Mariotti zu töten oder töten zu lassen, und doch standen wir vor einem wohlüberlegten und vorbereiteten und kaltblütig ausgeführten Verbrechen. Eine verwickelte Geschichte!

Also dieser Widerspruch zwischen der unbestreitbaren Tatsache der Ermordung und der Abwesenheit jedes verständlichen Motivs enervierte mich schließlich geradezu. Ich beschloß, auf möglichst wissenschaftliche Weise vorzugehen, zu beobachten und zu folgern.

Meine erste Beobachtung richtete sich auf die Baglia selbst, auf ihr Aussehn. Während der Aussage des Gerichtsarztes konstatierte ich bei der Angeklagten eine Eigentümlichkeit, die dieser in seiner Unschuld nicht bemerkt hatte. Ich konstatierte eine merkliche Asymmetrie des Gesichts. O! Sie war nicht so sehr groß, aber immerhin merklich. Die linke Hälfte war ganz anders wie die rechte.

Die linken Augenbrauen, das linke Auge, der linke Mundwinkel, der Jochbeinmuskel waren unbeweglich, und als sie zwei- oder dreimal bei etwas saftigen Bemerkungen des Staatsanwalts lächelte, durchzog dieses Lächeln schräge das Gesicht.

Der Gerichtsarzt hielt vielleicht diese symptomatische Grimasse für den Ausdruck des Schmollens, dem weiter keine Wichtigkeit beizulegen war. Aber da täuschte er sich. Die Asymmetrie des Gesichts war ganz deutlich. Diese Beobachtung gehört mit zu meiner Theorie des unharmonischen Wesens: physische Disharmonie und daher Bruch des intellektuellen Gleichgewichts. Jeder Irrenarzt wird mir darin beistimmen.

Da sie aber diese physischen Eigentümlichkeiten besaß, enthüllte die Baglia für mich eine Hinneigung – freilich nichts als eine kleine Neigung – zum Wahnsinn, zu einer Minderwertigkeit des Gehirns – zur Sinnestäuschung. Bei Malcolm dagegen zeugten der falsche Tonfall, seine überraschenden Bewegungen von der Herrschaft brutaler Instinkte. Ein nettes Paar, das zu schönen Sachen fähig war! Nun hatte ich meinen Ausgangspunkt. Ich etikettierte die beiden Charaktere:

Der Mann: befehlshaberisch, selbst beherrscht von seinen Instinkten, phantastisch, erfinderisch, bösartig; die Frau: sehr fügsam, seelisch niedergedrückt, – weiches Wachs in der gewaltsamen Hand des anderen. Ein Sehender, der eine Blinde führt … Fiedelbogen und Geige …

Ich rieb mir vergnügt die Hände und beglückwünschte mich, obgleich mir damit das Motiv des Verbrechens immer noch nicht klar wurde. Indessen sah ich doch jetzt ein unbestimmtes Licht durch die Nebel leuchten.

Während der Pausen verkehrte ich mit dem Verteidiger, einem pfiffigen und schon ganz verderbten Referendar. Sein Aplomb amüsierte mich, und der Roman, den er sich zurecht gemacht hatte, ebenfalls. Er hatte sich zuerst ein schönes Drama über den wahrscheinlichen Selbstmord der Mariotti konstruiert. Durch die Geständnisse der Baglia war dieses Werk unbrauchbar geworden, und nun zimmerte er an einer neuen finsteren Tragödie, die auf der absurden Voraussetzung aufgebaut war, daß es sich um ein Verbrechen aus Eifersucht handelte; denn wie er mir gestand … auch er ließ sich durch das Märchen von dem verderblichen, ungeheuerlichen Einfluß des Geliebten nicht nasführen.

Ich wünschte dem frühreifen Jungen viel Glück, unterließ es aber natürlich, ihn in meine Ueberlegungen einzuweihen. Ich suchte ihn dagegen unauffällig über die Gewohnheiten, das Leben und die Neigungen Malcolms auszufragen. Er war darüber sehr wenig unterrichtet und, vollständig absorbiert von seinen dramatischen Konstruktionen, kümmerte er sich auch sehr wenig darum. Nur mit Mühe entnahm ich der Unterhaltung mit ihm einige Details, die dieser junge Mann für absolut nebensächlich hielt. Ich erfuhr, daß unser Held allerlei Geschäfte braute, mit allen Weltstädten in Korrespondenz stand und fortwährend spekulierte. Infolgedessen war er fortwährend wechselnder Stimmung, und seine Geliebte hatte bald Gewitter, bald den schönsten Sonnenschein, eine sehr wechselnde Existenz und manchmal kaum das Nötige für die gewöhnlichen Mahlzeiten. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, das große Los zu gewinnen, und dachte fortwährend an Goldminen … fortwährend quälte er sich mit wilden Spekulationen. Seine Sinnlichkeit brach in wilden Anfällen … in plötzlichen Gelüsten … in wüsten Nächten aus. Die Gewinnsucht drängte für gewöhnlich die Sinnlichkeit zurück. Andererseits absolut kein Ehrgeiz, gar kein Durst nach äußeren Auszeichnungen, ebensowenig nach feinschmeckerischen Genüssen, und gar keine Eitelkeit.

Ich fragte nun meinen Referendar über seine Klientin aus, über etwaige Manieren und Ticks, die er vielleicht an ihr bemerkt hätte. Er belehrte mich spöttisch, daß ihm nichts Besonderes aufgefallen wäre, außer daß sie sich bei jedem Besuch in kindischen Klagen über den Mangel an Spiegeln im Gefängnis, über die schreckliche Häßlichkeit der anderen gefangenen Frauen und über das ganz unerträgliche Fehlen von Haarbrenneisen ergoß.

Innerlich resumierte ich meine Beobachtungen folgendermaßen: 1.) Malcolm ist der Anstifter; 2.) die Baglia ist das passive Werkzeug; 3.) Motiv des Verbrechens: das Geld!

Eins und drei waren für mich ganz ohne Zweifel. Malcolm war für mich ein typischer »Impulsiver«, dessen Handlungen triebartig waren; und zwar beherrschte ihn ein einziger, ganz ausschließlicher Trieb. Und diesen zu befriedigen, war er unerschöpflich in seinen Mitteln.

Aber was Punkt Zwei anbelangte, so grübelte ich stundenlang nach. Wenn meine Annahme richtig war, so mußte die Angeklagte ein geradezu erschrecklich nachgiebiges und schmiegsames Wesen sein, das nicht ein Atom selbständigen Persönlichkeitgefühls bewahrt hatte. Jede Kraft des Widerstandes mußte in ihr ertötet sein.

Gewiß, es brauchte sich nicht um Suggestion oder Hypnose im eigentlichen Sinne des Wortes zu handeln, um Absorption, um völlige Ersetzung des eigenen Willens durch den anderen; dazu hatten die Vorbereitungen zum Verbrechen viel zu viel Zeit in Anspruch genommen und waren sie viel zu sehr kompliziert; und nicht ein einziges Mal sprach die Angeklagte davon, daß Malcolm mit ihr hypnotische Experimente angestellt hätte. Allmählich überzeugte ich mich, daß ihr Fall zu den gemischten, noch schlecht studierten Erscheinungen gehörte, in denen Furcht, Liebe, religiöser Glaube usw. … alles zugleich hineinspielten. Langsam aber setzte sich in meinem Gehirn immer tiefer die Ueberzeugung fest, daß der Schlüssel des ganzen Rätsels in der ganz gewöhnlichen Furcht, in der panischen, erdrückenden Angst der Baglia lag. Auch heute noch bin ich der Ueberzeugung, die Angeklagte log nicht, als sie vor den Geschwornen jammerte:

›Er hat gewollt, ich habe Furcht vor ihm gehabt.‹

Ich bin überzeugt, daß sie unter dieser Furcht kaum noch lebte, keinen Schlaf mehr finden konnte.

Nun, Angst und Schrecken auf die Spitze getrieben, genügen, selbst einen gesunden Organismus zu zerstören und zu vernichten. Was für Verwüstungen mußten sie da in diesem armen Kopf anrichten! Mein Gott, er hätte sie einfach zerbrochen, das fühlte sie.

Und nun beobachten Sie den großartigen Machiavellismus, die unvergleichliche Geschicklichkeit, mit der er sein Verhalten in der ganzen Angelegenheit regelte. Er bleibt immer im Hintergrund, nicht er z. B., sondern sie schreibt jenes Telegramm; ganz beiläufig erzählt er den Richtern, daß sie ihm während der Eisenbahnfahrt fieberhaft erregt schien; und er zerbricht dann freilich diesen von ihm abgesandten Pfeil, allerdings nachdem er schon sitzt, indem er eine harmlose Erklärung dafür zu suchen scheint, die aber die Tatsache selbst bestehen läßt. Während Wochen hat er die Baglia fortwährend mit Erinnerungen an die Mariotti gequält, so daß sie eingestehen muß, davon ganz außer sich und geradezu eifersüchtig geworden zu sein. Und alle diese von ihm erzählten Details fallen wie ebensoviel Steine auf die Unglückliche – erdrücken sie und zerbrechen sie. Ein rücksichtsloser Patron. – Madame Le Masurier wird es schon zu merken bekommen, wenn sie erst verheiratet sind! Ein rücksichtsloser Patron! Und dabei hat auch er seinen Defekt im Gehirn und seine krankhafte Perversität, was uns nicht hindern soll, ihn zu seiner Pflege ins Zuchthaus zu schicken, wenn wir darum gebeten werden, nicht wahr, Herr Advokat?«

Ich stimmte mit einem Kopfnicken zu, und da Maingot sich in Stillschweigen versenkte, trieb ich ihn etwas an:

»Und was weiter, Doktor, was weiter? Was war das Motiv, das Interesse, der Zweck des Verbrechens? Man hat die Mariotti doch nicht ermordet, um ihre Haut zu verkaufen!«

Mein Begleiter blieb einen Augenblick stehen und erhob einen Finger:

»Das ist eben die Sache, hier liegt es – hier wird die Geschichte etwas romanhaft. Die direkte Beobachtung ist unmöglich; es bleibt nur die Möglichkeit des Wahrscheinlichkeitsschlusses; der kann einen verdammt in die Irre führen! Das Problem stellt sich folgendermaßen: Vorausgesetzt ein Mädchen, das nicht einen Pfennig besitzt, ermordet ein anderes Mädchen, das ebenfalls nichts hat: welch großer Geldgewinn kann dem Mann, der das Verbrechen befahl, aus dem Verbrechen zufließen? Das ist der Punkt! – Nun, mein Lieber, ich fürchte, doch in die Irre zu gehen und zu phantasieren. Ich zaudre – – –«

Ich kannte meinen Maingot zu gut, um ihn zu drängen. Welche Neigung er auch für das Seltsame und Abenteuerliche hatte, soviel Tatsachensinn besaß er andererseits und hatte deshalb eine große Scheu, sich auf schwankenden Boden zu begeben. Er empfand ein außergewöhnliches Vergnügen daran, er tat sich etwas zugute darauf, selbst die verwickeltsten Gewebe zu entwirren, aber unter der Bedingung, daß er den Anfang und das Ende des Fadens sah.

Ich begleitete ihn bis zu seiner Tür, ohne daß er einmal den Mund aufmachte, außer zu der kurzen Bemerkung, daß die Baglia, die zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, sehr bald ins Irrenhaus überführt werden mußte.

Im Augenblick, als wir uns trennen wollten, hielt er mir meine Hand fest und besann sich eines Bessern:

»Kommen Sie doch zu mir herauf. Sie sind wohl noch nicht so schläfrig!«

Und als wir unter der Lampe saßen – den Lampenschirm tief heruntergerückt, sagte er:

»Ich ziehe es doch lieber vor, Ihnen meine Mutmaßungen anzuvertrauen; denn sie grenzen fast an Gewißheit, und die Art, wie Sie sie auffassen, wird mein Probierstein sein. Es handelt sich darum, welchen großen – Sie verstehen, großen – Geldgewinn O'Granigan aus der Ermordung der Mariotti gezogen hat. Ein kleiner Gewinn wäre außer Verhältnis zu dem vielfältigen Risiko, das er lief, zu der bedeutenden Ausgabe an Kaltblütigkeit und Kühnheit, zu den aufreibenden, erregenden Anspannungen, die zu alledem gehört haben. Ueberdies ist er kein Mann von engem Gesichtskreis und kleinlichen Geschäften. Wir müssen also suchen, ob der Tod der Mariotti ihm eine Goldmine sein konnte, wovon er, wie gesagt, fortwährend träumte.

Ich habe lange mit großem Eifer die grandiosen Kombinationen der ganz großen Kanaillen studiert, analysiert und immer wieder von allen Seiten betrachtet, und ich habe mich überzeugt, daß die einfachsten Kombinationen immer die wahrscheinlichsten sind. Die Einfachheit verbürgt den Erfolg. Die verwickelten Pläne führen ihren Urheber nur in ein Labyrinth.

Ich habe Malcolm von allen Seiten untersucht; daß er im Versicherungswesen tätig war, gab mir immer wieder zu denken. Um diesen Beruf zu wählen, mußten ihm mir ganz unbekannte Umstände erlaubt haben, den Mechanismus des Versicherungswesens mit all seinen Feinheiten genau kennen zu lernen.

Ich machte mir klar, daß jeder Mensch in allem, was er auch tut, ganz und gar derselbe bleibt. Es ist selten, daß die Ausführung eines Verbrechens nicht auf den Mißbrauch der berufsmäßig geübten Eigenschaften hinweist. Jede Handlung eines Menschen trägt den Stempel seiner professionellen Geschicklichkeit. Und ich kam dazu, mich zu überzeugen, daß die finanzielle Operation, die ich suchte, keine andere war als eine Versicherung auf das Leben der Mariotti zugunsten O'Granigans, der heute Versicherungsfachmann ist. Sie denken vielleicht, daß die Evidenz mir in die Augen sprang. Jawohl, ich danke. Schwierigkeiten häuften sich auf Schwierigkeiten.

Gewiß, der in Frage stehende finanzielle Coup wäre glänzend gewesen, es war etwas Großartiges darin und doch etwas Einfaches. Aber das Schlimme war, er war ja ganz und gar nicht möglich, er war ja nicht durchführbar. Erstens hätte die Mariotti, nachdem Malcolm mit ihr gebrochen hatte, geschwatzt und jedem Bekannten oder Unbekannten erzählt, daß sie Hundert- oder Zweihunderttausend Franken oder noch mehr wert war, und ich bin überzeugt, daß dann nach ihrer Ermordung ein Haufen anonymer Briefe dem Gericht in Nizza diese Tatsache bekannt gemacht hätte. Weiter kannte sie ganz genau die Brutalität ihres Geliebten und seine Gewinnsucht, und sie wäre sicherlich da nicht ohne Vorsichtsmaßregeln zum Rendezvous gekommen, mit ihm, dem Habgierigen und leicht gewalttätig Werdenden, sie, – die jeden Augenblick zu Geld zu machen war. Kurz, der so glatt vor sich gegangene Bruch, das so leicht gewährte Rendezvous, die Zwanglosigkeit Malcolms ihr gegenüber bewiesen mir: diese Unglückliche hatte gar keine Ahnung davon, daß sie ein wandelnder Geldschrank war und ihr Leben ein Kapital zur Verfügung Malcolms, wenn er den Mut hatte, es ihr zu nehmen.

Wenn dem aber so war – er konnte doch nicht ihr Leben versichern, ohne daß sie es wußte! Und doch, ich hatte den ganz bestimmten Eindruck, auf der richtigen Fährte zu sein. Was mich in diesem Glauben noch unterstützte, war die Tatsache, die ich nun kennen lernte – daß das englische Gesetz es verbietet, jemand zu verhaften, der nicht unmittelbar mit eigener Hand an einem Verbrechen teilgenommen hat. Ich ahnte, daß die Sicherheit und das Vertrauen Malcolms durch diesen Glauben an seine Straflosigkeit erhöht wurde. Ja, ja, man kann ein ganz großer Spitzbube sein – man kann sich doch täuschen! Er dachte gar nicht einmal daran, daß auch er in Gefahr war, und das ist echt englisch; ein echter Engländer kann sich ja von vornherein gar nicht denken, daß das englische Gesetz nicht allgemeines Weltgesetz ist. Wenn er den Abgrund gekannt hätte, an dem er entlang ging, wenn er die großen Machtvollkommenheiten, die unsere Untersuchungsrichter haben, gekannt hätte, so hätte er vielleicht den Streich nicht in Frankreich vollführt, jedenfalls nicht mit solcher Kühnheit; aber er kannte eben diese Gefahr der unmittelbaren Verhaftung, die ihm drohte, nicht.

Es blieb also die Aufgabe, herauszubekommen, auf welchem wunderbaren Wege das Leben der Mariotti ohne ihr Wissen versichert worden war, und ich habe mich lange vergebens damit abgemüht, bis ich zufällig eine Einladung zu dem Kriminalisten-Kongreß in London erhielt. Sie sehen keinen Zusammenhang zwischen dieser Einladung und der Affäre Malcolm? Nur Geduld! In London führte man mich natürlich auch in jene bekannten Elend- und Schmutzquartiere – der Anblick dieser Ablagerung der Hefe der Menschheit machte mich nachdenklich. Alle Geschlechter, Lebensalter, Nationalitäten wirr durcheinander. Man brauchte nur hineinzugreifen, man hatte einen internationalen Deklassierten männlichen oder weiblichen Geschlechts. Und was mir ganz neue Gesichtspunkte eröffnete, war das Fehlen all der Vorurteile, bezüglich Personalpapieren usw., die man bei uns hat.

Ich legte meinem Begleiter, einem ziemlich geschwätzigen und oberflächlichen Polizeibeamten, alle möglichen kriminalistischen und statistischen Fragen vor. Ich entrüstete mich über das erschütternde Elend dieses Ausschusses der Menschheit ohne Glauben und Gesetz, und er erzählte mir von den verschiedenen Arten, auf die sie sich durchzuschlagen suchen.

Ich brachte ihn auf das Versicherungswesen als auf eine große Gelegenheit zu Betrügereien, und er schnurrte ab, wie eine aufgezogene Uhr. Alles in allem sagte er mir etwa folgendes:

›Das Individuum ist bei uns selbständig und muß sich selbst schützen, was freilich für die Dummen sehr schlimm ist. Wir mischen uns ziemlich wenig zwischen die Betrüger und die Betrogenen. Wenn ein Unternehmen gegründet wird, z. B. eine Lebensversicherung, so darf sie nur auf sich selbst zählen und auf den Scharfblick ihrer Erfahrung und ihrer Beamten, niemals auf die Polizei, wenn sie sich vor Betrügereien schützen will. Daher haben die Gesellschaften auch bald ungeheure Gewinne, bald ungeheure Verluste. Hier bei uns sind Geburt, Tod, Identität, Familiennamen, Vornamen, … fast ganz und gar Privatsachen. Da heißt es nun: › Beware of pickpockets‹ und vorwärts! Da wird irgendein unbestimmter Donald oder eine gar nicht bestehende Gwendoline versichert. Auf einmal werden sie irgendwo bei den Antipoden totgeschlagen. Der Inhaber der Police meldet sich. Es ist Sache des Versicherers, zu wissen, ob es sich nun wohl um seinen Donald und seine Gwendoline handelt, die er aus der Kassa bezahlt.‹

Mit einemmal sah ich nun klar, ganz klar. Malcolm brauchte nur irgendeine Italienerin aufzufischen … ihr sehr unvollkommene Zeugnisse zu verschaffen, die sie für einen Tag zur Juliette Mariotti machten. Und das war es wohl, womit er sich bei seinem fortwährenden Herumlaufen in London, wovon die Baglia uns erzählt hatte, beschäftigte. Also er versicherte die Pseudo-Mariotti zu seinen Gunsten; dann schickte er sie vorsichtshalber mit dem ersten abgehenden Dampfer in ihr Vaterland zurück, und nach Bezahlung der ersten Prämie schaffte er die wahre Mariotti aus der Welt. Das Schwierigste freilich war, als Mordinstrument ein passives, schwachköpfiges, widerstandsloses Wesen zu finden. Er fand es in der Baglia, wie er es nur wünschen konnte, und bediente sich ihrer, nachdem er sich darüber vergewissert hatte, daß sie Wachs in seinen Händen sein würde. Die Verwendung der Baglia war ein um so glücklicherer Einfall, als dadurch die öffentliche Meinung das Verbrechen notwendigerweise der weiblichen Eifersucht zuschrieb. Und heute, während die Baglia im Irrenhause sitzt oder irgendwo im Rinnstein verkommt, während die wahre Mariotti auf dem Friedhof von Nizza verwest, lebt die andere, die falsche Mariotti als gute Familienmutter wahrscheinlich zwischen Mailand und Brindisi. Dann und wann zerbricht sie sich vielleicht den Kopf und frägt sich, welchem Heiligen oder welcher Madonna sie ihre unverhoffte Rückkehr ins Vaterland und die Handvoll Lires, die ihr zu heiraten erlaubten, verdankt.

Was O'Granigan anbelangt, so hat er sich mit gutem, barem Geld die gegenwärtige Stellung als Direktor der »Salamander«, Feuer- und Lebensversicherungs-Gesellschaft, gekauft. Er wird sich niemals so reinlegen lassen, des seien Sie sicher … er kennt die feinsten Schliche im Versicherungswesen … und er wird unsere gute Madame Le Masurier heiraten.«


In der Tat, er heiratete sie, und bei diesem Anlaß kam er auf einmal mit einem Grafentitel zum Vorschein, den er bis dahin aus seiner angeborenen Bescheidenheit heraus verheimlicht hatte. Kein Verwandter kam zu seiner Hochzeit – ich vermute, die Grafen O'Granigan haben die erbliche Eigentümlichkeit, von väterlicher und mütterlicher Seite her Waisen zu sein. Also keine Verwandten – nur ein halbes Dutzend außerordentlich eleganter Freunde wohnten der Feier bei.

Die Kirche Saint-Médard war bis in den äußersten Winkel voll feiner Gesellschaft und grüner Pflanzen. Die Erzengel des Hauptaltars schienen auf Bäume geklettert zu sein, und ihre guten Gesichter schauten sehr erstaunt aus einem Palmendickicht hervor.

Beim Eintritt des Hochzeitszuges brauste der Klang der großen Orgel über die tropische Vegetation hinfort.

Die Trauung der Madame Le Masurier mit dem Mörder der Mariotti vollzog der schöne Abbe mit dem Bourbonenprofil.


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