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Anonyme Briefe


Der alte Abbé Janel, Pfarrer von Malbec, wandelte durch seinen Garten, sein Brevier rezitierend. Seine Lippen murmelten die Liturgie, und er ging, einen Finger zwischen den Blättern des Buches haltend, mit großen Schritten und halbgeschlossenen Augen dahin.

Er sah den Briefträger kommen, ging mit etwas beschleunigten Schritten zum Zaun, nahm die Briefe, legte sie auf die Bank der Gartenlaube und dankte mit einem stillschweigenden Kopfnicken. Alles das, ohne daß seine Lippen aufhörten, zu murmeln. Darauf begann er wieder durch den Garten zu wandeln wie vorher.

Aber dann und wann schielte er nach der Gartenlaube.

Honorine kam und grüßte den Abbé im Vorübergehen. Sie trat ins Pfarrhaus und begann gleichzeitig zu fegen und fromme Lieder leise vor sich hin zu singen, wobei die Besenstriche der Kadenz der Lieder folgten.

Der Pfarrer machte das Zeichen des Kreuzes, steckte sein Brevier in ein Etui aus Tuch und prüfte schnell seine Post.

Er jammerte: »Wieder einer! … Wieder so einer! Ich erkenne die Schrift.«

Dann, nach einem Augenblick des Nachdenkens:

»Nun, das muß ein Ende haben. Ich fahre nach Nointot aufs Gericht. Der Wagen fährt in einer halben Stunde. Ich kann zurück sein, ehe es dunkel wird.«


Der Staatsanwalt Arthur Choiselin wärmte sich, Zigaretten rauchend, am Kamin, als der Gerichtsdiener ihm die Karte des Pfarrers brachte.

»Abbé Janel … was will der?«

»Ich weiß nicht, Herr Staatsanwalt. Er drängt sehr, sofort empfangen zu werden.«

»So, er drängt! Sagen Sie ihm, er soll warten. Ich bin beschäftigt.«

Und der Staatsanwalt schlug die Beine übereinander und entfaltete seine Zeitung. Nach zehn Minuten gähnte er, dann legte er ein dickes Aktenstück auf seinen Schreibtisch und gab schließlich den Befehl, den Priester hereinzuführen. Dieser näherte sich in sehr demütiger Haltung, ungeschickt seinen Regenschirm, seinen Hut und ein mit Bindfaden umschnürtes Paket in den Händen haltend, und nahm auf dem Rand eines Stuhles Platz.

»Was wünschen Sie, Herr Pfarrer?«

»Herr Staatsanwalt, ich möchte das Gericht bitten, meine Gemeinde von einer die christlichen Seelen tief bekümmernden Verfolgung zu befreien. Seit sechs Monaten werden wir mit den häßlichsten anonymen Briefen, die in Malbec selbst auf die Post gegeben werden, überschüttet. Sie betrüben den Hirten und demoralisieren die Herde.«

»Auf wessen Kosten gehen diese Briefe? Und an wen sind sie gerichtet?«

»Fast die ganze Gemeinde hat solche Briefe bekommen, hauptsächlich aber ich; und sie gehen auf Kosten einer in meinen Diensten stehenden Person, eines Mädchens namens Diftain; Honorine Diftain; sie ist eine Waise.«

»Und welcher Art sind die Verdächtigungen?«

»Ich wage es nicht, sie zu wiederholen, Herr Staatsanwalt. Nein, ich wage es nicht. Aber wenn Sie selbst Kenntnis nehmen wollen …«

Und er streckte ihm das mit Bindfaden umwickelte Paket entgegen.

»Teufel noch eins, Herr Pfarrer, das ist ja ein ganzer Ballen!«

»Ja, das Arsenal des Bösen ist ungeheuer groß, Herr Staatsanwalt. Wollen Sie sich selbst überzeugen!«

Arthur Choiselin blätterte. Er lächelte.

»Das ist ja Zola, Herr Pfarrer! Der reine Zola! Haben Sie »Die Erde« gelesen?«

»Nein, Herr Staatsanwalt, ein Geistlicher darf die Werke der Kinder des Jahrhunderts nicht kennen und darf nur die Werke der Kinder des Lichts begünstigen.«

Er sagte das wie etwas ganz unmittelbar Einleuchtendes und Natürliches.

Choiselin zuckte die Achseln und fuhr fort, die Briefe zu durchblättern.

»Man richtet Ihnen Ihre Honorine gut zu. Hat sie Feinde? Was ist es denn für ein Mädchen? Was für einen Charakter hat sie?«

»Herr Staatsanwalt, sie ist unwissend, sie liebt die religiöse Erbauung und hat ein gütiges Herz. Gott hat ihr seine Liebe erwiesen, indem er ihr irdische Güter und vergängliche Reize versagte. Sie würde selbst einen Tiger rühren. Sie ist von bescheidenem Wesen, und ich glaube wohl sagen zu dürfen, daß sie häßlich ist. Diese beiden Gründe haben mich mit bestimmt, sie in meinen Dienst zu nehmen. Sie ist sehr zu empfehlen. Sie ist von glühendster Frömmigkeit, und der Eifer, mit dem sie den Gottesdienst besucht, ist geradezu vorbildlich. Ihr Aeußeres scheint mir nicht danach angetan, Gelüste zu erregen. Kurz, sie trägt das Banner der tugendhaften Jungfrauen bei allen Marienfesten. Die Vorsehung hat es zugelassen, daß sie durch Verfolgung geprüft wird, und sie preist die Absichten der Vorsehung. Nichtsdestoweniger habe ich gedacht, daß es ihr nicht verboten sein könnte, sich gegen diese schändlichen Schmähbriefe zu verteidigen. Die Macht ist einigen Menschen anvertraut, – zu denen Sie gehören, Herr Staatsanwalt, – um die Absichten des Bösen zu vernichten.«

»Sie haben sehr richtig gedacht, Herr Pfarrer. Sagen Sie, wohnt das Mädchen unter Ihrem Dach?«

»Nein, Herr Staatsanwalt, da sie noch nicht das kanonische Alter hat, kommt sie nur, meine Mahlzeiten zu bereiten, meine Ornate und Kleider zu reinigen und das Pfarrhaus zu fegen. Den ganzen übrigen Tag weidet sie ihre Kuh am Rande der Wege. Ihre Wohnung ist ein ärmliches Haus, das sie von ihrem Onkel geerbt hat, der ehemals mein Sakristan war. Ich habe Honorine in Kraft und Tugend heranwachsen sehen. Ich stehe für sie ein.«

»Wen haben Sie denn im Verdacht, Herr Pfarrer?«

»O, Herr Staatsanwalt, Sie bringen mich in arge Verlegenheit! Ich habe von der Kanzel herab drei Predigten über die Verleumdung gehalten, in der Hoffnung, der Schuldige würde sich selbst beim Gericht anzeigen. Aber ach! ich habe damit nur die Einbildungen noch mehr angefacht. Um mich für meine Vermutungen zu bestrafen, zweifellos – hat Gott geduldet, daß die Angehörigen meiner Gemeinde in meinen Worten Anspielungen zu entdecken glaubten, so daß jetzt mehrere mich bitter hassen. So werde ich mich hüten, irgend jemand zu beschuldigen.«

»Ganz wie Sie wollen, Herr Pfarrer. Ganz wie Sie wollen! Wenn Sie mir aber keine Fingerzeige geben, rücke und rühre ich mich nicht. Haben Sie also jemanden im Verdacht? Ja oder nein?«

»Ich bin der Diener des Friedens und des Mitleids, Herr Staatsanwalt. Es kommt mir nicht zu, ein vielleicht ungerechtfertigtes Urteil über irgend einen Menschen zu fällen. Ich habe die Klage der beleidigten Unschuld vor Ihr Ohr gebracht. Meine Rolle ist beendigt.«

»Also dann Guten Abend, Herr Pfarrer. Beten Sie zu Ihrem Gott des Mitleids, daß er Erbarmen hat mit Honorine und sie verteidigt. Ich, ich wasche meine Hände … wie mein ehemaliger Kollege Pilatus.«

Abbé Janel schien nachzudenken.

Arthur Choiselin begann von neuem, und diesmal im Ton eines gutmütigen Kindes:

»Wirklich, Herr Pfarrer, Sie betrüben mich. Also nur um mir Rebusse zum Entziffern zu bringen, haben Sie den weiten Weg bis hierher gemacht? Sehen Sie, ich will der Unglücklichen doch wirklich helfen. Wollen Sie sie vielleicht lieber zur Verzweiflung treiben lassen, als daß Sie mir ihre Feinde bezeichnen? Also, fassen Sie Mut! Setzen Sie sich da hin und schreiben Sie mir die Namen hier auf dieses Blatt. Sie wollen nicht? Nun gut, lassen wir's. Wenn es zu einer Katastrophe kommt, wissen Sie, wen die Schuld trifft.«

Der Abbé stammelte:

»Warum schreiben?«

»Alle Wetter noch mal! einfach damit ich die Namen behalte!«

»Gut, ich will Ihrem Wunsche Folge leisten. Sie versprechen mir aber, daß diese Mitteilungen geheim bleiben und ich selbst nicht in die Sache hineingezogen werde …«

»Aber, ich bitte Sie, Herr Pfarrer! Seien Sie ganz beruhigt.«

Der Pfarrer schrieb:

»Die Witwe Sandouville;

»Fräulein Faucher (die Tochter des Lehrers);

»Frau Binot (die Frau des Brigadiers).«

Der Staatsanwalt sah ihm über die Schulter.

»Haben Sie auf eine dieser drei Personen einen besonderen Verdacht?«

»Ach ja, Herr Staatsanwalt. Entschuldigen Sie meine Kühnheit, aber ich habe Frau Binot in Verdacht, die Gattin Ihres Brigadiers.«

»So, und weshalb gerade Frau Binot?«

»Ja, Herr Staatsanwalt, ich muß gestehen, zuerst hat Honorine meinen Verdacht auf diese Unglückliche gelenkt; sie wiederholt mir fortwährend: ›Herr Pfarrer, das ist die Binottin, das kann niemand anderes sein. Sie kann mich nicht leiden.‹ Tatsächlich, Herr Staatsanwalt, hat Frau Binot eine etwas scharfe Zunge und ist etwas herrschsüchtig. Auch ist sie von angenehmem Aeußeren. Sie hat oft die Frömmigkeit Honorinens ins Lächerliche gezogen und böse Gerüchte über ihre Ehrlichkeit sowie ihren Lebenswandel verbreitet. Und zwar aus Eifersucht. So vermute ich wenigstens.«

»Aus Eifersucht?«

»Ja, die Sache ist merkwürdig und der Gegenstand heikel. Indessen hat mir meine Magd errötend anvertraut, daß der Brigadier sich ungehörige Blicke und schlüpfrige Redensarten ihr gegenüber erlaubt. Die legitime Gattin wird hinter diese tadelnswerte Aufführung gekommen sein, und in der Annahme, daß Honorine das begünstigt, einen Haß auf sie geworfen haben. Ueberdies ist diese Dame, die in vieler Hinsicht eine durchaus respektable Person ist, etwas zu eitel auf ihre physischen Vorzüge, wie ich fürchte. Sie sündigt durch Hochmut. Und auf sie, Herr Staatsanwalt, habe ich in meiner Predigt über die Verleumdung gezielt.«

»Schön, das genügt, Herr Pfarrer. Wir werden die Untersuchung, wie es in solchen Fällen geboten ist, in diskreter Weise führen, und ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«


Der Brigadier Binot, durch Telegramm zum Staatsanwalt gerufen, eilte im fröhlichen Trab seiner Rouennaiser Stute auf der Chaussee dahin. Sehr schnell hatte er die dreieinhalb Meilen zwischen Malbec und Nointot zurückgelegt. Er bürstete sich von der Mütze bis zu den Sporen ab und ließ sich anmelden.

Er war ein wirklich schöner Gendarm.

Er hielt sich ganz gerade und stand fest auf seinen breiten Füßen und wartete, bis man ihn fragte.

»Gestern,« sagte der Staatsanwalt, »habe ich gehört, daß Ihre Gemeinde durch anonyme Briefe vergiftet wird. Sie kommen aus Malbec selbst und enthalten ehrenrührige Behauptungen über ein Mädchen namens Diftain. Wissen Sie das?«

»Und ob ich das weiß! … Man hat ja die Gemeinheit gehabt, meine Frau zu beschuldigen! Sie ist beinahe krank geworden vor Entrüstung.«

»Ach nein, wirklich?« …

»Ja, und ich schwöre Ihnen, Herr Staatsanwalt, daß mir diese Geschichten das Blut kochen.«

»Beruhigen Sie sich, Brigadier. Haben Sie auch anonyme Briefe erhalten?«

»Niemals. Alle Welt hat welche erhalten, nur wir nicht. Meine Gendarmen sind davon überschwemmt. Das ist nun auch so eine besondere Bosheit, damit nur ja der Verdacht auf uns fällt.«

»Haben Sie niemand in Verdacht?«

»Ganz und gar nicht, Herr Staatsanwalt. Aber ich habe eine Idee. Wenn Sie mir drei Tage Zeit geben wollen, so verpflichte ich mich, den Schreiber heranzuschaffen, oder ich will meine Tressen verlieren.«

»Drei Tage, schön. Was ist das für eine Idee?«

»Die Einschätzung beginnt gerade. Die Formulare sind schon eingetroffen. Ich werde den Gemeindediener begleiten und werde die Fragebogen vor meinen Augen ausfüllen lassen.«

»Sie müßten eigentlich ein Vergleichsstück haben …«

»Der Stellmacher hat mir einen Brief gegeben, den er diese Woche erhalten hat, denn ich war schon von mir aus entschlossen, eine Untersuchung anzustellen, und wenn etwas dabei herauskäme, den Herrn Staatsanwalt von dem Resultat zu benachrichtigen.«

Choiselin neigte zustimmend den Kopf.

»Uebrigens, was ist denn das für ein Mädchen, diese Diftain?«

»Es ist nicht viel an ihr, meiner Meinung nach. Wenn man Wäsche in ihrer Umgebung aufhängt, fehlt immer irgend etwas.«

»So so, und ihre sonstige Aufführung?« …

»Ja, ihre sonstige Aufführung! Das ist ein Mädchen, das den Teufel im Leibe hat. Sie läuft allen Männern nach.«

»Merkwürdig, sehr merkwürdig … Sie können gehen, Brigadier.«


Eine halbe Stunde von Malbec entfernt bemerkte Binot Honorine, die ihre Kuh hütete und dabei Strümpfe strickte.

»So,« sagte er ärgerlich, »da ist sie wieder; ich kann keine drei Schritte machen, ohne auf sie zu stoßen.«

Nichtsdestoweniger fragte er höflich:

»Na, Honorine, wie stets mit der Liebe?«

»Nicht gut, Herr Binot; es könnte besser gehen.«

»Du mußt heiraten, dann wirst du schon genug kriegen.«

Sie errötete und sagte:

»Es gibt nur einen, der mir so gefiele, daß ich ihn heiraten möchte.«

Dann schwieg sie wieder, während ihre Kuh eine Hecke durchbrach.

»Deine Kuh, deine Kuh!« schrie der Brigadier. »So beeil' dich doch! Willst du etwa, daß ich dich notiere?«

Sie erwiderte, die Augen senkend:

»Alles was Sie wollen, Herr Binot.«

»Du dämliches Mädel! Willst du geschwind deine Kuh heraus holen! Bringe sie lieber gleich heim, ich komme nachher zu dir mit der Einschätzung.«

»Wegen was Sie wollen, Herr Binot. Ich gehe nur erst nach dem Pfarrhaus, um dem Pfarrer sein Essen zu bereiten, und komme dann nach Hause.«

Der schöne Gendarm schüttelte den Kopf und ritt, vor sich hinbrummend, davon.

»Ich werde dir was … mit deinem Banner der heiligen Jungfrau und deinen weißen Unschuldskleidern … Das ist entschieden ein ganz durchtriebenes Frauenzimmer, diese Honorine, und ihr Pfarrer ist ein Esel … Er wird noch die ganze Gegend mit seinen Predigten in Feuer setzen. Der Lehrer ist böse auf ihn, seine Tochter auch, Frau Sandouville ebenfalls … und meine Frau erst, und ich vor allem … Der Anstifter dieser Geschichte muß eben gefunden werden.«

Plötzlich packte ihn ein zuerst unklarer Gedanke, der sich allmählich immer tiefer in sein Hirn einbohrte:

»Jawohl, nur ein Frauenhirn kann auf so eine Geschichte kommen. Das ist der Streich eines verdrehten Frauenzimmers, eines Deubels im Unterrock. Aber freilich … ist nur die Frage, wer kann die Frau sein?«

Er schloß sein Selbstgespräch mit den entschlossenen Worten:

»Aber wenn ich dich kriege! Und kriegen tue ich dich!«

Nach dem Abendbrot gingen der Brigadier und der Gemeindediener zur Diftain. Sie wartete schon auf ihren Besuch und lud sie ein, sich zu setzen. Sie bot sogar einen Kirschschnaps an. Man nahm am Tisch Platz. Binot breitete die Papiere vor sich aus und erklärte, wie sie ausgefüllt werden mußten. Honorine beugte sich über seine Schulter und benutzte jede Gelegenheit, sich an ihm zu reiben und ihn zu berühren. Er ließ es sich gefallen, belustigt unter seinem Schnurrbart lächelnd.

»So, mein Kind, jetzt hast du wohl verstanden; nun schreib deine Antworten in den Fragebogen ein.«

Die Zungenspitze schräg zwischen die Lippen gelegt und mit gestrecktem Halse füllte sie das Blatt mit ihrer großen, schweren, langsamen und schnörkelreichen Schrift aus.

»Teufel noch mal!« sagte der Brigadier, »du kannst aber wirklich stolz sein auf deine schöne Handschrift. Na, nur weiter, du interessierst mich.«

Sie fuhr mit vor Eifer rotem Kopfe fort.

»Du hast wohl viel Preise in der Schule bekommen?«

»Habe ich auch.«

»Ja, du setzt einen ordentlich in Erstaunen … So, fertig. Gib her.«

»Warten Sie, zuerst ablöschen …«

Sie trocknete den Fragebogen mit kräftiger Faust, Er sah ihr nachdenklich zu. Als sie fertig war, nahm er das Löschpapier in die Hand. Neben den frisch abgedrückten Buchstaben bemerkte er ältere Abdrücke.

»Kannst du mir das nicht geben, Norine? Damit ich es zwischen die Blätter legen kann. Sie werden mir sonst zu leicht schmutzig.«

»Aber selbstverständlich, Herr Binot. Brauchen Sie sonst noch etwas? Sie brauchen sich nicht zu genieren.«

Sie gingen und machten bis spät in die Nacht hinein ihren Rundgang durch das Dorf.

Aber der Brigadier ließ alle weiblichen Handschriften ruhig an sich vorüberziehen, ohne sich irgend weiter dafür zu interessieren – auch die der Witwe Sandouville und des Fräulein Faucher, der Tochter des Lehrers.

Am nächsten Tage, während der Gemeindediener die Pachthöfe und Weiler in der Umgegend allein besuchte, galoppierte der Brigadier nach Nointot.

»Was, Sie sind schon da?« rief Arthur Choiselin.

»Ja, ich bin schon da, und ich habe den Schuldigen.«

»Donnerwetter, alle Achtung. Also wer ist dieser Schuldige?«

»Die Diftain selbst. Ich habe den Beweis.«

»Die Diftain selbst … Das ist nicht schlecht. Das Gesicht, das der Pfarrer machen wird, wenn er das erfährt! Ja, die verflixten Frauen, mit denen lernt man nie aus.«

Der Brigadier zog das Einschätzungsformular und den Brief, den ihm der Stellmacher gegeben hatte, heraus. Die Aehnlichkeit war schlagend.

»Das springt in die Augen, Herr Staatsanwalt. Und nun, wenn Sie jetzt auch mal dies hier sich genau ansehen möchten …«

Er hielt ihm ein Stück dünnes rosa Löschpapier entgegen, ganz bedeckt mit unleserlichen Buchstabenabdrücken. Choiselin betrachtete es gleichgültig von beiden Seiten:

»Ja, ich sehe nichts … Ich sehe nichts!«

»Der Herr Staatsanwalt müssen die Rückseite betrachten und das Papier gegen das Licht halten.«

»Ich verstehe, ich verstehe!« rief Choiselin. Und er hielt das umgewandte Papier gegen eine Fensterscheibe.

Nun sah man Zeilen in der Form von Briefadressen. Der Staatsanwalt entzifferte:

»Herrn Co... ca...trix …«

»Das ist der Tabakhändler.«

»Ah! Herrn Abbé Janel … ein … zwei … drei Janel. Und das … das kann ich nicht lesen. Wer ist denn das?«

Die Nase dicht an der Fensterscheibe, entzifferten sie eifrig:

»Das, Herr Staatsanwalt, das ist Pergegaux, der Bäcker … und das Bobée, der Stellmacher.«

»Ja, ja, die Sache stimmt. So ein Aas von Mädchen! Aber was hat das für einen Sinn, solche Gemeinheiten über sich selbst zu schreiben?«

»Ich weiß nicht, was sie in ihrem Gehirn hat, aber sie hat den Teufel im Leib. Sie ist mannstoll. Und dann wird es ihr natürlich auch Vergnügen gemacht haben, die ganze Gemeinde auseinanderzubringen, besonders die Ehepaare zu verhetzen. Es ist ihr ja auch gelungen, meine Frau in Verdacht zu bringen.«

»Ah ja, das ist ja wahr! Hat sie sich mal mit Ihrer Frau gestritten? Hat sie mit ihr Streit gesucht?«

»Mehr als einmal. Bei der Verteilung von Brot an die Armen, beim Fronleichnamsfest und was weiß ich bei was für Gelegenheiten noch. Sie versucht alle Welt gegen sie aufzuhetzen.«

»Und sie läuft den Männern nach, sagten Sie?«

»Ob sie ihnen nachläuft, Herr Staatsanwalt! Sogar ich habe darunter zu leiden. Sie verbringt ihre Zeit damit, auf mich zu lauern.«

Arthur Choiselin dachte mit vergnügtem Gesicht eine Minute nach und musterte Binot vom Kopf bis zu den Füßen. Endlich lachte er aus vollem Halse.

»An alle dem sind Sie schuld, Brigadier.«

»Wer, ich?«

»Ja, Sie sind schuld daran. Sie sind ein zu schöner Gendarm … Die Diftain macht auf mich den Eindruck einer Hysterikerin. Sie ist eifersüchtig auf Frau Binot, und da sie bösartig und lügnerisch ist, wie alle Hysterikerinnen, sucht sie ihre Rivalin durch Ehrabschneiderei zu verderben. Daß sie sich selbst dadurch verdirbt, das ist ihr ganz gleichgültig. Da sie den Brigadier ihrer Träume nicht haben kann, will sie sich dafür rächen, daß er sie verschmäht … Nun, wir werden sofort Ordnung schaffen und die Tugend der Gendarmerie energisch beschützen … Sie können gehen.«


Vierundzwanzig Stunden später war das Untersuchungsverfahren eröffnet und es fand eine Haussuchung bei Honorine statt. Eine Menge gestohlener Gegenstände wurde aufgefunden, unter anderem Wäsche des Pfarrers Janel, aus der die Monogramme ungeschickt entfernt waren. Honorine wurde hinter Schloß und Riegel gesetzt.

Aber der gute Pfarrer mit der unschuldsvollen Seele blieb trotz der Fülle der Beweise der unerschütterliche Verteidiger der Diftain. Er beschwor den Staatsanwalt, den Untersuchungsrichter, sich doch ja vor Justizirrtümern in acht zu nehmen. Er überschüttete sie mit Verteidigungsschriften. Er bestritt, daß man auf dem Löschpapier irgend etwas erkennen könne. Daß man seine Wäsche bei ihr gefunden hatte, schrieb er einer Zerstreutheit seiner Dienerin zu. Sie hatte sie gewiß mitgenommen, um sie bequemer ausbessern zu können. Freilich gab er zu, daß er geglaubt hätte, sie könne überhaupt nicht schreiben, und vor dem von ihr ausgefüllten Steuerformular blieb er mit offenem Munde stehen. Aber er blieb eigensinnig. Er sandte glühende Gebete zum Himmel. Er versuchte sogar, den Verein der tugendhaften Jungfrauen zu einer neuntägigen Andachtsübung zum Besten ihrer Bannerträgerin zu veranlassen. Sie weigerten sich. Er bat den Herrn, die Anschläge des Bösen zu vereiteln. Er erflehte ein Wunder, und das Wunder geschah.

Schon eine Woche saß Honorine im Gefängnis zu Nointot, als der Briefträger dem Pfarrer einen neuen anonymen Brief brachte, der ganz genau den früheren glich.

Der Abbé Janel glaubte den Verstand zu verlieren. Er stotterte eine Unmenge von Te Deums, und vor dem Altar niederknieend, leistete er das Gelübde, die Erinnerung an dieses Ereignis durch ein großes Exvoto aufrecht zu erhalten. Die Tugend triumphierte. Er erkannte, daß der Herr sein Wohlgefallen auf ihn geworfen hatte und ihn an der Hand führte.

Und diese Hand führte ihn auch in vollem Lauf die drei Meilen der Chaussee bis zum Bureau des Herrn Staatsanwalts. Er stürzte herein wie ein Wirbelwind, und überwältigt durch so viele Gemütserregungen, auch durch einen kleinen Asthmaanfall, ließ er sich in einen Sessel fallen. Und als er seine Sprache wiedergefunden hatte, goß er über Arthur Choiselin und den Untersuchungsrichter das Uebermaß seiner Rührung aus.

Die beiden Auguren hörten ihn unbeweglich und stumm an. Und der gute Abbé hörte nicht auf, von den Gnadenakten des Himmels zu sprechen. Er schwenkte seinen Brief, er betonte seine genaue Uebereinstimmung mit den früheren Briefen, und nun wäre es unmöglich, Honorine länger zu verdächtigen. Er argumentierte, jauchzte und segnete.

Die beiden Auguren verständigten sich mit einem Blick. Choiselin läutete.

»Man führe die Diftain herein.«

Sie erschien, begleitet von einer Nonne.

Beim Anblick des verlorenen Schäfleins stieg das Nunc dimittis des guten Greises Simeon auf die Lippen des Priesters.

Der Untersuchungsrichter hielt Honorine den Brief hin:

»Wer hat das geschrieben?«

Mit einem dummen Gesicht erklärte sie, die Hände über dem Bauch gefaltet:

»Ich, Herr Richter.«

»Wann?«

»Gestern.«

»Wo?«

»Hier, in diesem Zimmer, nach Ihrem Diktat.«

»Es ist gut, führen Sie sie zurück, Schwester.«

Dann wandte er sich zu dem Priester.

»Sind Sie noch immer von unserer Ungeschicklichkeit und ihrer Unschuld überzeugt?«

Der Abbé Janel saß ganz niedergedonnert da und rührte sich nicht. Die Fäuste auf den Knien, das Haupt gebeugt, atmete er schwer, und stille Tränen flossen über die Falten seiner Wangen.

Endlich erhob er sich und murmelte:

»Meine Herren, ich spreche Ihnen meine demütigsten Entschuldigungen aus. Ich habe gesündigt durch Hochmut. Ich, der andere dieser Sünde beschuldigte. Ich habe mich von unbesonnenen Urteilen hinreißen lassen. Aber meine Absichten waren rein. Des ruf ich den zum Zeugen an, der unsere Gedanken prüft. Verzeihen Sie mir, wie ich dieser Unglücklichen verzeihe und wie, ich hoffe es, mir die Angehörigen meiner Gemeinde verzeihen werden … Ich bin ein großer Sünder, aber ich konnte nicht an solche Bosheit bei einem Kinde glauben, das ich habe geboren werden und aufwachsen sehen.«

Und der Pfarrer von Malbec wandte sich schwankend und schluchzend zur Türe.

»Einen Augenblick, mein Herr, einen Augenblick,« sagte der Staatsanwalt. »Hören Sie mir aufmerksam zu und erwägen Sie meine Worte wohl. Wenn wir auch darein willigen, Ihre Unbesonnenheit zu vergessen, so sollen Sie doch wenigstens wissen, daß die Behörde Sie fortan im Auge behalten wird. Also keine sauersüßen Predigten mehr zum Thema der Verweltlichung des Unterrichts, sonst übergebe ich Sie der Strenge der Gesetze, der Rache der Frau Sandouville und des Lehrers, die Sie mir verleumderisch, und zwar schriftlich denunziert haben. Artikel 373 des Strafgesetzbuches. Einen Monat bis zu einem Jahr Gefängnis, nicht zu reden von der Geldbuße und den zivilrechtlichen Entschädigungsansprüchen.«

»Ach, Herr Staatsanwalt, jede Strafe wäre zu mild für meinen Fehler. Indessen habe ich nicht trotz meiner Skrupel und nur weil Sie darauf bestanden, Ihnen die Namen ausgeliefert?«

»Weil ich darauf bestand?! Sie träumen, Herr Abbé, und ich möchte Ihnen nicht raten, vorkommenden Falles das dem Gericht zu erzählen; nein, auf Ehrenwort, ich möchte Ihnen das nicht raten!«

Am folgenden Sonntag stieg der Pfarrer von Malbec wie gewöhnlich auf seine Kanzel. Nach der Verkündigung der Aufgebote und nach dem Gebet für die hingeschiedenen Gläubigen erhob er sich und begann die Predigt auf eine ungewöhnliche Weise, ohne jegliche Geste und ohne jede lateinische Zitation. Seine Predigt war ein öffentliches Bekenntnis, wie zur Zeit der primitiven Kirche. Seine für gewöhnlich klare, helle Stimme brach sich in der Kehle. Mit einfacher Würde, ohne jede Emphase, aber nichts vergessend, klagte er sich an. Er bat um die Gebete und das Mitleid seiner Beichtkinder. Er gestand seine Gewissensbisse, seine Verblendung, seine beleidigenden Verdächtigungen gegen einige unter ihnen, und er tat ihnen öffentlich Abbitte. Zum Schluß verkündigte er, daß der Bischof ihm seinen Abschied bewilligt hätte. Nachdem er sich so mit sich selbst versöhnt hatte, endete er damit, seine letzte große Messe zu singen.

Er ist in Rouen im ›Heim der alten Priester‹ gestorben.


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