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Ein Novembermorgen


Doktor Maingot ließ sich in einen Sessel zurückfallen. Er klopfte sich auf die Brust und jammerte:

»Daran gehe ich mal kaput! Das Herz, das ist der schwache Punkt bei uns Aerzten; die Anstrengung zermürbt es.«

Chauvon zuckte spöttisch die Achseln. Der Doktor wurde lebhaft.

»Weil wir kalte Gesichter zur Schau tragen und eine feste Hand haben, deshalb glauben Sie wohl, daß wir nicht empfinden, daß wir von Stein sind, unrührbar, unempfindlich. O nein, leider nein! Wenn man sich während Jahren mit dem Tod herumgeschlagen hat, wenn man sich fortwährend abgemüht hat, das Leben zurückzuhalten, das an allen Ecken und Enden wie Wasser aus einem Korb läuft, – nun ich kann Ihnen sagen, bei einem solchen Kampf verbraucht sich das Herz und kriegt Sprünge. – Glauben Sie etwa, Herr Rechtsanwalt, daß wir ungestraft fortwährend in menschlicher Fäulnis herumpantschen und herumwirtschaften? – Und dann die stete Verantwortlichkeit, rechnen Sie die für nichts? Und das fortwährende Aufderhutsein und die Wut der Ohnmacht, die oft bis zum Paroxismus getriebene Geistesanspannung, die fortwährenden Paraden und Gegenhiebe gegenüber den Fechterkniffen eines solchen Feindes? Und die herzzerreißende Erinnerung an seine eigenen Verstorbenen beim Anblick derselben Krankheit, die auch sie getötet hat! Die fortwährende Niederlage der Eigenliebe. Die unglücklichen Zufälle, die darauffolgende Entmutigung. – Kurz, mit 50 Jahren sind wir wie Bäume, deren Rinde noch unversehrt scheint, aber deren Inneres schon ausgehöhlt ist. – Ein kleiner Stoß – und da liegen wir … Ein verfluchter Beruf! – Wie gut habt Ihr Juristen es dagegen!«

»Hallo!« wehrte Herr Chauvon, »machen Sie uns noch etwas weiß von Ihren gefährlichen Gemütserregungen; wie Sie sich frühzeitig verbrauchen. Wenn man Sie anhört, glaubt man, so etwas gibt es nur bei Ihnen. Gibt es keine andern ekelerregenden Wunden als physische und keine anderen nagenden Sorgen als die vor einem kühnen chirurgischen Eingriff? Da irren Sie sich, mein Guter. Ich für mein bescheidenes Teil habe in meinem Beruf ein paar Male Schrecken und Angst kennen gelernt, die den Ihrigen wahrscheinlich in nichts nachgeben, und eine große Anzahl meiner Kollegen könnte Ihnen ebensolche Geschichten erzählen.«

Maingot lächelte mitleidig.

»Erzählen Sie Ihre Geschichte, das wird Sie erleichtern.«

»Schön, ich werde mich erleichtern. – Also Doktor, es handelt sich um einen ganz gewöhnlichen Muttermörder, den ich vor dem Kriegsgericht des dritten Korps verteidigte. Mein Klient nannte sich Alphons Juliard und leistete seinen Militärdienst in seiner Heimatstadt Rouen bei einem Infanterieregiment ab.

Er war mit seinem älteren Bruder von seiner grämlichen und sehr geizigen Großmutter erzogen worden. Dieser Bruder heiratete ein sehr hübsches und sehr wohlerzogenes junges Mädchen und ließ sich in der Vorstadt Saint Sever als Kunsttischler nieder.

Eines Montagmorgens blieben Türe und Fensterladen der Großmutter Juliard geschlossen, trotz alles Rufens des Bäckers und der Milchfrau. Die Nachbarn vermuteten irgend ein Unglück, holten die Polizei, brachen das Schloß auf und fanden die Alte erdrosselt. Sie war bereits kalt und starr.

Der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt kamen. Man fand keinerlei Spur eines Kampfes, dagegen war ein Schrank erbrochen und durchwühlt; und die Ersparnisse der Alten waren verschwunden.

Der Kunsttischler und seine Frau wurden alsbald vorgeführt und waren starr vor Schrecken. Sie hatten die Großmutter bis zu ihrem Hause begleitet und sie da verlassen, wie sie bereits ihre Tür aufschloß. Ihr Bruder Alphons könnte es ihnen bezeugen.

Darüber wurde ein Protokoll ausgenommen und Alphons verhört. Er wollte nicht recht mit der Sprache heraus und verwirrte sich. Nach seiner Aussage hätten sie die Alte bis zu ihrer Küche begleitet und sie erst, nachdem sie noch etwas mit ihr geschwatzt, verlassen. Die beiden andern aber blieben fest bei ihrer damit in Widerspruch stehenden Aussage; alle drei gerieten durch diese Widersprüche in schweren Verdacht.

Unterdessen hatte ein Arzt die Leiche genau untersucht; er kam zu dem Schluß, daß das Opfer ganz unvorhergesehen von hinten überfallen worden war und daß der Mörder sie mit den Händen erdrosselt und unter seinen Fingern den Schilddrüsenknorpel oder Adamsapfel, wie man ihn gewöhnlich nennt, zerdrückt hatte. Die hintere Seite des Halses trug die Spuren der Daumennägel; eben aus diesen Spuren war zu schließen, daß der Angriff von hinten erfolgt war.

Der Sachverständige untersuchte darauf die Kleider. Er entdeckte kleine, beinahe mikroskopische Wollfäden an dem Rock der Alten; rote Wollfäden, wie sie von Soldatenhosen herrühren konnten.

Damit deutete alles auf Alphons als den Täter hin, während der ältere Bruder und seine Frau als Unbeteiligte erschienen und ihre Versicherungen nunmehr ebenso gläubig hingenommen wurden, wie man ihnen am Tage vorher mißtraut hatte.

Dann ging die Sache aus den Händen des bürgerlichen Gerichts in die des militärischen über. Das Militärgericht eröffnete die Untersuchung, die auf Grund der Hypothese geführt wurde, Juliard wäre nach dem Weggang des Ehepaares allein nochmals zu der Großmutter gegangen. Der Mann suchte sich herauszureden und schwatzte alles mögliche Zeug.

Eines Tages aber, als man ihn gar nicht fragte, legte er nach einem Besuche seiner ganz in Tränen aufgelösten Schwägerin ein vollständiges Geständnis ab. Zuerst dem Gefängniswärter, der die Unterhaltung der beiden bewacht hatte, dann dem Hauptmann, der die Untersuchung führte. Er gestand alles was man wollte, nur nicht, wie er das Geld verwendet hatte.

Er behauptete, sich nicht mehr zu erinnern, wie groß die verschwundene Summe war, aus welchen Münzen sie sich zusammensetzte, und gab der Vermutung Ausdruck, daß er das Geld nachts bei der Rückkehr in die Kaserne verloren hätte.

Als der die Untersuchung führende Offizier sich damit nicht zufrieden geben wollte, wurde der Mann ärgerlich.

›Sie wissen jetzt, daß ich gemordet, daß ich gestohlen habe. Jawohl, ich gestehe es; ich wiederhole es Ihnen. Aber nun lassen Sie mich in Frieden.‹

Ich wurde mit der Verteidigung beauftragt und versuchte aus Alphons das wirkliche Motiv des Verbrechens herauszubekommen, denn der Diebstahl erklärte mir die Sache nicht genügend. Aber selbst mir gegenüber ging er nicht aus sich heraus; vergebens bestürmte und bat ich ihn.

Ueberhaupt sein ganzes Geständnis machte mir den Eindruck, als ob er es mehr aus Nervenerschöpfung abgelegt hätte, als um seinem Gewissen Ruhe zu schaffen und der Wahrheit die Ehre zu geben. Es hatte einen falschen Klang. Vergebens machte ich ihm klar, daß die Wollfädchen, die ihn belasteten, durchaus nichts bewiesen, wenn er z. B. neben der Großmutter zu Abend gegessen und dabei wiederholt ihren Rock gestreift hätte. – Er schüttelte den Kopf und murmelte irgend etwas vor sich hin.

Am Abend vor der Gerichtssitzung taute er indessen auf und vertraute mir merkwürdige Dinge an. Er war der Geliebte seiner Schwägerin, und zwar war er wahnsinnig in sie verliebt. Diese wilde Leidenschaft beherrschte ganz und gar seinen Geist und all sein Handeln. Alles andere war ihm ziemlich gleichgültig. Er sagte zu mir:

›Sehen Sie, Herr Rechtsanwalt, es ist nun mal so weit gekommen, und nun gibt es kein Zurück mehr. Ich habe mich hineingeritten, um so schlimmer für mich. Jetzt nur schnell zu Ende, ob so oder so, das ist mir gleichgültig. Soviel ist mir jedenfalls klar: mein Bruder und ich hätten uns eines Tages wegen seiner Frau doch umgebracht; einer von uns war zuviel. Jetzt wird einer weniger da sein; nun stimmt die Rechnung.‹

Am nächsten Tage wurde er einstimmig zum Tode verurteilt. Auch als die Revision zurückgewiesen wurde, verlor Juliard seine Ruhe nicht. – Ich verfaßte ein Gnadengesuch.

Der Bruder und die Schwägerin kamen, sich bei mir zu bedanken. Sie trugen übrigens nicht sehr auffallende Trauer um ihre Großmutter. Die Frau war zierlich und fein, der Mann machte den Eindruck eines rohen Patrons.

Von Zeit zu Zeit brummte er: ›Dieser verfluchte Alphons! … Der verflixte Alphons!‹ und schlug sich schallend auf die Knie.

Nicht ein Wort vom Verbrechen und von dem Todesurteil.

Während der schrecklichen Woche, die nun folgte, verleugnete sich die Kaltblütigkeit des Verurteilten nicht.

Wenn ich ihn im Gefängnis aufsuchte, gingen der Gefängniswärter und der diensthabende Offizier aus der Zelle, um uns ungestört miteinander sprechen zu lassen.

Aber einmal, das war am 6. November, verließ Juliard doch die Energie. Er begann zu schluchzen:

›Ich kann nicht mehr! Ich bin am Ende meiner Kräfte! Ich will ja nicht mehr als meine 12 Kugeln in den Leib. Man soll doch mal ein Ende machen, wenn nicht, dann mache ich noch Dummheiten, und davon hat doch niemand etwas …‹

Dann nahm er sich mit einem Ruck wieder zusammen, und indem er versuchte, seiner Stimme einen festen Ausdruck zu geben, sagte er:

›Versprechen Sie mir, mich bei der Hinrichtung bis zum Pfahl zu begleiten?‹

Ich versprach's ihm.

An der Türe erwartete mich der Sekretär des Kriegsgerichtes, Thomerel. Er hielt mir ein Papier entgegen:

›Da lesen Sie; also morgen früh um dreiviertel sieben. Das Gnadengesuch ist abgelehnt, und es sind sofort alle nötigen Befehle erteilt worden.‹

›Danke! Ich werde um sechs an Ort und Stelle sein.‹

Er war sehr erstaunt. Ich teilte ihm den Wunsch des Unglücklichen und mein Versprechen mit.

Da begleitete er mich ein Stück, an seinem Schnurrbart hin- und herziehend. Endlich, am Ende der Straße, blieb er stehen und legte die Hand auf meinen Arm.

›Herr Rechtsanwalt! ich bin ja kein Rekrut mehr. Ich diene jetzt 30 Jahre, und 20 davon habe ich mit Gerichtsakten zu tun gehabt. Nun also, auf Ehrenwort, diese Geschichte erscheint mir durchaus nicht klar …‹

Ich antwortete ihm nicht. Er verließ mich, indem er mir Mut für morgen wünschte. –


Um viereinhalb Uhr morgens hörte ich das Rattern meiner Droschke und sprang aus dem Bett. Ich öffnete das Fenster etwas und schloß es schnell wieder. Es war eine ganz finstere, eisig kalte Nacht. Kein Laut war noch zu hören.

Während ich mich mit feuchten Händen und zitternden Fingern ankleidete, tönten von weitem die langsamen und traurigen Schläge der Turmuhren. Ich dachte:

Er schläft vielleicht noch; aber in den Kasernen ist wahrscheinlich schon alles wach.

Meine Gedanken verweilten bei diesem Kontrast: der Lärm der Mannschaftsstuben und die still daliegende Zelle, in der nichts sich rührte, während die andern in aller Hast die Vorbereitungen zu dem Tode trafen.

Sein Tod! – – Er würde ihn holen kommen, wenn alles so vorbereitet war, daß es keine Hoffnung auf Entweichen, auf Milde, auf Reue mehr gab. – Mir wurde so schwach, daß ich mich wiederholt an den Möbeln stieß.

Ich versuchte ein Biskuit mit einem Glas Madeira zu mir zu nehmen, aber mein Magen zog sich zusammen und verweigerte irgend etwas aufzunehmen.

Auf der Straße empfing mich ein kalter Windstoß. Der Kutscher schnarchte, ich rüttelte ihn wach.

›Zum Schießplatz!‹

›Zum Schießplatz! Ach so, heute wird also der Soldat erschossen!‹

Nicht eine Seele in der Straße. Wir ratterten in dem flackernden Licht der Gaslaternen an den still daliegenden Häusern mit den geschlossenen Fensterläden vorüber. Ich mußte immerfort denken:

Der Gefängniswärter sieht nach seiner Uhr und mißt ihm seine letzten Minuten Tropfen für Tropfen zu … – Warum weckt man ihn nicht auf, er würde doch noch etwas leben, bevor er sterben muß …

Dann begannen überreizte Ideen und Visionen auf mich einzustürmen. – Da waren die Schwägerin, der Bruder, die Großmutter; die kamen auf mich zu und wichen wieder zurück. Sie sprachen irgendwelche Worte in rhythmischem, durch den gleichmäßigen Takt der Pferdehufe bestimmtem Tonfall. Das Aufflackern irgend eines Lichts beleuchtete sie in regelmäßigen Zwischenräumen, dann aber versanken sie für einen Augenblick wieder in das Dunkel der Nacht …

Plötzlich erstaunte mich die Vision nicht mehr: mit einem Schlage hatte ich das Gefühl eines sicheren Wissens!

Den Grund des Verbrechens, das Motiv des Geständnisses, ich kannte sie. Juliards Kaltblütigkeit war etwas Selbstverständliches. Aber wenn mein sicheres Wissen mir auch ganz zweifellos erschien, es in seine Elemente logisch zu zerlegen war mir unmöglich.

Aber mein Geist arbeitete weiter, ohne daß das Bewußtsein und der freie Wille dazu beitrugen, und brachte mir immer größere Klarheit. Wenn ich mir es überlege, so war es ein Zustand von Verdoppelung der Persönlichkeit, wie er im Halbschlummer nicht selten ist. Meine Sinne blieben immerhin soweit wach, daß ich die Straßen, durch die wir fuhren, hätte benennen können.

Ich versuchte nicht, die bedrückenden Träume abzuschütteln, ja ich lächelte sogar diesen Phantasien zu. Es waren ja im Grunde genommen nur die Gedanken, mit denen ich mich gewohnheitsmäßig beschäftigte, die nun Körper annahmen und ungezügelt dahingaloppierten. Und da nun einmal die wache Ueberlegung nicht zum Ziele kam, vielleicht daß aus diesem Traum das Gesuchte hervorgehen würde. Aber nein, da gab es nichts, was ich hätte verstandesmäßig analysieren können, nichts als die ironische unabweisliche Gewißheit, daß ›ich wußte‹ …

Da plötzlich durchfuhr es mein Gehirn wie ein letzter Zuruf des Traumbildes, wie ein letzter Blitz, – und ich stieß einen tiefen Erleichterungsseufzer aus.

Mit einem Male ›sah ich‹.

Ich sah die kleine Schwägerin meinen Juliard mit ihrer Liebe verlocken. Ich sah das Verbrechen vorbereiten, sah es von dem älteren Bruder begehen, der andere half ihm dann dabei. Die eventuellen Aussagen, schlecht vor dem Mord überlegt, waren nachher vergessen worden. Ich sah den Soldaten im Gefängnis noch zaudern, ob er sprechen sollte und damit seine Geliebte und seinen Bruder mit sich vor den Richter ziehen. – Dann, nach jenem Zusammentreffen mit der weinenden Schwägerin in dem Sprechzimmer des Gefängnisses, faßte er den Entschluß, sich ganz für den Gegenstand seiner Leidenschaft, für die Frau zu opfern, klagte sich allein an und lieferte sich dem Gerichte aus. Gestern noch zitterte er bei dem Gedanken an sie; sie hatte ihn unterjocht und verzaubert. Das einzige, was er nun noch fürchtete, war, sie zu verraten; und aus Furcht vor einem Schwächeanfall rief er nach dem Tode …

Soweit war ich mit meiner Spekulation gekommen, da bäumte ich mich angewidert auf und stieß meinen schrecklichen Verdacht zurück, verfluchte meine unheimlichen Träume, meine romanhaften Neigungen und die Schwäche, mit der ich meinen Gedanken ungezügelt den Lauf gelassen hatte.

Eine Abteilung Infanterie kreuzte an den Quais den Weg. Die Tornister erzitterten im Takt der Schritte. Die Offiziere zogen die Schultern unter ihren Mänteln herauf. Die Leute marschierten, wie mir schien, mit schleppendem Schritt. Undeutliche Geräusche, wie ein dumpfes Trampeln, kündigten den Anmarsch anderer Bataillone an.

An der Brücke holte eine zweite Kolonne die erste ein und marschierte dann links neben ihr her. Die Lichter an den Ufern, die Signallaternen auf den Schiffen spiegelten sich in der Seine, tanzten auf dem Gewoge der schwarzen Wassermassen. Ein Geruch von fadem Wasser erfüllte die Nacht. Ueber Bon-Secours, hinter den Hügeln, wuchs allmählich eine bleiche, trübe Dämmerung. Die Umrisse der Dächer tauchten aus dem Dunkel in den werdenden Tag …

Ich fuhr zwischen Pappelreihen dahin; der Morgenwind bog ihre mageren Wipfel. Wolken liefen den krankhaft bleichen Himmel entlang. Die Ebene erstreckte sich bis zu einem Tannengehölz, das sich abhob hart wie ein Tintenstrich. – Ein trostloses Landschaftsbild!

An einer Wegkreuzung hob sich die Silhouette eines Gendarmen zu Pferde ab. Bald tauchten staffelförmig aufgestellte Schildwachen auf, deren Bajonette leuchteten.

Die Droschke hielt. – Rechts, parallel zu der Straße, zog sich eine Erderhöhung bis zu dem großen Hügel hin, wo sich der Kugelfang befand.

Drei Mann waren damit beschäftigt, den Eingang zum Schießplatz zu ebnen. In ihrer Nähe ging der Platzmajor mit seinem Adjutanten auf und ab.

›Klettern Sie da die Böschung in die Höhe und gehen Sie sie bis zum Ende!‹ sagten sie zu mir.

Dann zerstreuten sie sich, um der Infanteriekolonne, die eben anlangte, die Plätze anzuweisen.

Von der Böschung aus umfaßte ich mit einem Blick den Platz, der die Form eines schmalen, langgezogenen Rechteckes hatte. An den beiden Längsseiten standen von einem Ende zum andern die Regimenter aufgestellt. Im Hintergrunde an der einen Querseite die Kavallerie, in der Mitte ein breiter, freigelassener Raum.

Drei Meter vor dem Kugelfang war der sehr niedrige Pfahl mit einem eisernen Haken in halber Höhe.

Ein Infanterist in Hemdsärmeln wurde gerade damit fertig, den Pfahl zu befestigen, den er mit ein paar großen Kieselsteinen noch fest verkeilte.

Nachdem er auch damit fertig war, putzte er sich nachdenklich mit dem Aermel die Nase, ging noch einmal um sein Werk herum, versetzte den großen Kieselsteinen noch einen letzten Tritt und ging davon mit der Hacke über der Schulter.

Ueber diesen zweitausend Menschen, die da zusammengehäuft waren, lagerte eine ungeheure Spannung.

Der älteste Oberst, der vom Jägerregiment, kommandierte die versammelten Truppen.

... Schon sechseinhalb! Ich hatte Mühe, meine Uhr wieder in die Tasche zu stecken, so zitterten mir die Finger. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Munde. Jetzt unterschied ich das Glitzern von Säbeln in der Richtung von Rouen. Eine Abteilung Kavallerie galoppierte die Avenue entlang, in ihrer Mitte einen Ambulanzkarren.

Der Oberst zog den Degen, und seine langgezogene, starke, kräftige Stimme kommandierte:

›Gewehr über!‹

Andere schnelle Kommandos erfolgten, und dann ein allgemeines Waffengeklirr, und dann eine erschreckende Stille. Der Wagen hatte den Schießplatz erreicht und näherte sich jetzt im Schritt.

Plötzlich ein triumphierender, heller Trompetenstoß. Die Hörner aller Regimentskapellen klangen über die Felder zu Ehren dessen, der jetzt in den Tod ging.

In ganz langsamem Schritt näherte sich der Karren unter dem Geschmetter der Trompeten. Vor dem Pfahl beschrieb er einen Halbkreis. Ich kletterte von meinem Beobachtungsposten herab mit schlaffen Beinen und unregelmäßig klopfendem Herzen. Plötzlich schwiegen die Trompeten, und nur der Morgenwind fuhr fort zu seufzen.

Zuerst stieg der Feldprediger aus, der seinen Chorrock angelegt hatte, dann ein Wächter aus dem Militärgefängnis und zuletzt, gestützt von einem Gendarm, der Verurteilte. – Ein Strick fesselte seine Ellbogen und Handgelenke hinter dem Rücken, so daß er die Brust weit hervorstrecken mußte. Das weiße Hemd der Elternmörder bedeckte seinen Körper und ein schwarzer Gazeschleier sein Gesicht.

Das war kein Mensch mehr, das war eine unförmliche, schreckenerregende Sache. Das Gesicht, die Augen – diese Spiegel des Lebens – waren nicht mehr zu sehen. Es machte den Eindruck, als ob er bereits enthauptet wäre.

Er aber sah rings um sich, betrachtete die ferne Hügelkette, die Tannen, den Wald, die Rauchwolken, die der Wind von den Fabriken emportrieb – – diese ganze, ihm vertraute Natur, die sein schwarzer Gazeschleier wie in Trauer zu tauchen schien.

Er bemerkte mich und versuchte eine Bewegung zu machen, als wollte er mir seine gefesselte Hand reichen und sagte zu mir:

›Vielen Dank, Herr Rechtsanwalt. Ich werde Ihnen das nie vergessen. – – –‹

Ich war durch diese überraschende Formel so verwirrt, daß ich stotterte und mit Mühe nur meine Tränen zurückhielt. –

Der Gerichtssekretär las das Urteil vor. – Auf ein Wort des Wächters schleuderte Juliard seine Holzpantoffeln rechts und links von sich; die nackten Füße im Schmutz, hörte er sein Todesurteil an.

Als die Verlesung beendigt war, rief er mich; den Mund ganz nahe an mein Ohr bringend, sprach er zu mir …

Der Gendarm zog ihn sanft am Strick und führte ihn zum Pfahl. Er ließ ihn niederknien, befestigte die Fessel, die die Ellbogen zusammenhielt, am Haken und bog den Oberkörper, der sich etwas vorneigte, zurück, band ihn unter den Schultern am Pfahle fest; dann legte er ihm eine Binde über die Augen. –

Mein Herz schlug unerträglich. Ich hätte die Minuten, die Sekunden vorwärts treiben mögen, und Schrecken und Entrüstung durchtobten mich beim Anblick dieser Tausende ohne Leidenschaft und Gefühl, die da durch einen anonymen Willen vereinigt waren zu einem Werk des Todes. Vergebens suchte ich die Verkörperung dieses monströsen Willens, der da aus dem Verborgenen heraus tötete. Vergebens suchte ich statt seiner die klar in die Augen springende Notwendigkeit, die drohende Gefahr, den Zorn, das treibende Schicksal. – Ich hätte es noch verstanden, wenn diese 2000 Menschen sich auf den an seinen Pfahl gebundenen Unglücklichen gestürzt und ihn vernichtet hätten. Ich hätte meinen Kopf abgewendet und meine ohnmächtigen Hände gekrampft.

Aber nein, nicht einmal ein Schrei des Hasses oder der Rache.

Die erste Reihe der Kolonne rechts löste sich los und formierte zwei Glieder; ein Dutzend Gefreite mit gesenktem Gewehr, die im voraus geladen waren.

Der Gefangene mußte sie nahen hören. Sechs Meter von ihm entfernt machten sie Halt. Ein Adjutant zog seinen Degen. Die Leute zielten ohne Hast. Einer von ihnen bewegte seinen rechten, augenscheinlich vom Aermel etwas beengten Arm, um das Gewehr besser in Anschlag bringen zu können.

Links von der kleinen Abteilung ein Sergeant, ebenfalls mit einem Gewehr; der Unteroffizier, der, wenn nötig, den Gnadenschuß zu geben hatte.

›Feuer!‹ kommandierte der Adjutant.

Eine einzige Detonation ertönte. Juliard schien wie von der Erschütterung in die Höhe gehoben und fiel dann trotz der ihn haltenden Stricke vornüber. Rote Flecken durchbrachen die Weiße des Hemdes. Die kleine Abteilung machte rechtsumkehrt und verschwand wieder in der Kolonne. Ein Oberarzt schickte den überflüssigen Unteroffizier fort. Der Gendarm band den Körper los.

›Gehen Sie aus dem Wege!‹ schrie mir eine Stimme zu.

Bei den Klängen eines Parademarsches marschierten die Regimenter an diesem menschlichen Wrack vorüber.

Nach dem Abmarsch der Truppen führte der Karren die Leiche Juliards davon, und nur ich und der Soldat, der den Pfahl eingeschlagen hatte, blieben zurück.

Mit sachverständigem Gesicht prüfte er den Pfahl. Drei oder vier Kugeln hatten ihn durchlöchert. Er grub ihn sorgfältig aus und nahm ihn sich über die Schulter. Ich folgte ihm. Er durchquerte die ganze Stadt, um dieses Stück Holz, von dem das Blut herabtropfte, in das Pioniermagazin zurückzubringen …

Das ist meine Geschichte, Doktor. Glauben Sie noch, daß wir Anwälte vor seelischen Erregungen geschützt sind?«

Maingot schüttelte den Kopf, zündete seine Zigarre frisch an und fragte:

»Was hat er Ihnen denn ins Ohr erzählt?«


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