Willibald Alexis / Julius Eduard Hitzig
Kriminalfälle des neuen Pitaval
Willibald Alexis / Julius Eduard Hitzig

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Winckelmanns Ermordung

Zwei Jahre vor Gerhard von Kügelgens Ermordung war in Dresden der aktenmäßige Bericht über Winckelmanns Tod, aus dem Italienischen des Rosetti übersetzt und von einem Vorwort Böttigers begleitet, erschienen, durch den viele Gerüchte über die letzten Lebensmomente des großen Archäologen widerlegt wurden. Begreiflicherweise gewann die kleine Schrift beim Bekanntwerden des Todes Kügelgens eine neue Bedeutung; man stellte Vergleiche an zwischen den Opfern, den Tätern und den Umständen, die die Tat begleiteten.

Wenn natürlich auch von einer eigentlichen geistigen Verwandtschaft zwischen Kügelgen und Winckelmann nicht die Rede sein kann, so bleibt es doch ein eigentümliches Zusammentreffen, daß beide friedliche, nur der Welt ihrer Ideen lebende Männer bestimmt waren, durch die Hand gemeiner Bösewichter grausam zu enden, die nichts von ihren Gütern lockte, die nichts an ihnen zu schätzen wußten als die paar Geldstücke, die sie in ihren Taschen vermuteten.

Der Prozeß gegen Kügelgens Mörder ist an und für sich ein höchst merkwürdiger Rechtsfall, der sein Interesse auch dann behielte, wenn Kügelgen eine minder berühmte Person gewesen wäre. Das Schicksal Winckelmanns ist weit weniger kriminalistisch denkwürdig, dafür aber waltet über ihm eine Dämonie, die geradezu schauerlich ist.

Es ist fast so, als hätte das Schicksal dem Manne, der mit so viel feinstem Gefühl für die Welt der Erscheinungen begabt war, eine Falle stellen wollen, in die Tausende robuster angelegte Naturen bestimmt nicht gegangen wären, um alles Geistige einmal auf deutlichste Weise in seiner irdischen Unzulänglichkeit zu zeigen.

Es haben seltsame Verhängnisse über Winckelmanns letzte Lebenstage gewaltet. Ein unbestimmter innerer Drang, über den er sich keine Rechenschaft hätte ablegen können, hatte ihn aus Rom nach Deutschland zurückgetrieben. Aber kaum war er wieder auf deutschem Boden, hatten die spitzen Dächer der Häuser und überhaupt alles, was sein Auge sah, sein überempfindliches Schönheitsgefühl so sehr verletzt, daß er in Schwermut verfallen war.

Er war in München und Wien mit Ehren überhäuft worden, aber um so unwiderstehlicher hatte ihn mit düsterer Gewalt die Erkenntnis gepackt, daß er zurück müsse nach seinem geliebten Rom. Alle Vernunftsgründe, die ihn nach dem Norden gewiesen hatten, vermochten keinen Augenblick die gewaltige Unruhe in ihm zurückzudrängen.

Er war mit höchster Eile zurückgefahren, merkwürdigerweise aber auf einem Wege, der für sein Kunstgefühl der ungeeignetste und in Hinsicht auf die Reisebequemlichkeit sogar recht unangenehm und unbehaglich war, vor allem aber war es ja nicht einmal der kürzeste gewesen, den er hätte wählen können: Er war von Wien nach Triest gereist, um von hier aus zur See nach Venedig, von dort aus wieder zur See nach Ancona und von Ancona nach Rom zu gelangen.

Am 1. Juni 1768 mittags gegen zwölf Uhr war er in Triest angekommen, als plötzlich eine unerwartete, unbegreifliche und in sich widerspruchsvolle Indolenz sich seiner bemächtigte, die so lange fortdauerte, als zu seinem Verderben nötig war. Winckelmann war in dem großen städtischen Gasthofe am Petersplatze abgestiegen und hatte im zweiten Stockwerke das Zimmer Nr. 10 bezogen, das aus zwei Fenstern die Aussicht auf den inneren Hafen und aus einem dritten die auf den Hof des Hauses hatte. In dem kleinen Nebenzimmerchen Nr. 9, dessen Tür von der zu Winckelmanns Zimmer keine zwei Meter entfernt war, wohnte seit zwei Tagen ein unbedeutender Fremder, der ohne Geld und Gepäck mutmaßlich zu Fuß aus Venedig angekommen war, aber doch den notdürftigsten Anstrich eines Gentlemans besaß.

Dieser Fremde war Francisco Arcangeli, ein Mann von mittlerer Größe, rundem, braunem, etwas pockennarbigem Gesicht, mit schwarzen Haaren und Augenbrauen, grauen Augen, kleiner Nase, niedriger Stirn und hastiger Sprache. Er war achtunddreißig Jahre alt. Seine nachmaligen Richter haben nichts Außerordentliches an ihm entdecken können bis auf jene Frechheit und Weltgewandtheit, die Abenteurern der niedersten Klasse zu eigen zu sein pflegt. Auch seine früheren Richter hatten nichts anderes in ihm gesehen als einen gemeinen Schelm und Verbrecher, der in seiner Jugend als Koch und später als Bedienter von einem vornehmen Herrn zum anderen übergegangen war und mehrere seiner Dienstgeber gründlich bestohlen hatte. Er hatte in Italien, Deutschland und Ungarn zusammen schon vier Jahre in Eisen gesessen, war dann begnadigt worden, stahl darauf wieder, hatte zwischendurch auch quasi geheiratet und trieb sich nun in den Küstenstädten umher, um irgendeine Verdienstgelegenheit aufzuspüren.

Auf Mord ging Arcangeli nicht aus, er war kein handfester Bandit, sondern nur einer jener durch Faulheit und Umhertreiben erschlafften Gesellen, die selbst zum Verbrechen nicht mehr die rechte Tatkraft aufzubringen vermögen; er nahm, wo er etwas fand, und schmeichelte sich ein, wo er etwas zu gewinnen hoffte. Weit vorauszudenken scheint seine Sache nicht gewesen zu sein.

Mit Zopf und wenn auch abgeschabtem Rocke konnte Arcangeli immerhin noch als ein Herr passieren.

Es war ihm gelungen, in dem vornehmsten Wirtshause Triests Aufnahme zu finden, und an der Mittagstafel saß er aus Zufall an der Seite des neuangekommenen Gastes. Ihre erste Bekanntschaft kam so zustande, daß Winckelmann den Wirt fragte, ob kein nach Venedig segelfertiges Schiff zu finden wäre, worauf der Wirt antwortete, er wisse keins, Arcangeli aber sich ins Gespräch mischte und sogleich einen Schiffer Stephan Ragusini nannte, der nach Venedig geladen habe. Auf Winckelmanns Bitte hin zeigte er ihm nach aufgehobener Tafel aus dem Fenster das Schiff, das im Hafen lag.

Winckelmann soll nun zuerst die Bekanntschaft weitergeführt haben, indem er Arcangeli ersucht hätte, ihn nach dem Hafen zu begleiten, wo er den Schiffspatron selbst aufsuchen wollte. Es geschah. Ragusini war indes noch nicht segelfertig; aber ein anderer Schiffer wollte noch in derselben Woche nach Ancona, und Winckelmann wollte nun mit diesem verhandeln. Da der Mann nicht zur Stelle war, gingen er und der gefällige Arcangeli nach der Siesta wieder zum Hafen. Sie fanden jetzt den Schiffer, der nächsten Sonnabend segelfertig zu sein versprach, und Winckelmann schloß mit ihm ab, indem er ihm noch ein Extrageschenk von zwei Dukaten versprach, wenn er sein Wort hielte.

Es war Winckelmann wahrscheinlich weder um die Seefahrt noch um Ancona zu tun, ihm war nur daran gelegen, möglichst schnell nach Rom zu kommen; und doch wählte er nicht den Landweg, sondern wartete mehrere Tage, die er müßig in Triest zubrachte, um nur die Gelegenheit zu benutzen, auf die er sich von vornherein festgelegt hatte.

Winckelmann war erfreut, diese Gelegenheit jetzt gefunden zu haben. Arcangeli war ihm dazu wenigstens mittelbar behilflich gewesen, er schien ein guter, ruhiger, sehr verträglicher Mensch zu sein, er wußte überall Bescheid, er wohnte Tür an Tür mit ihm in demselben Wirtshause; es ist also verständlich, daß der arglose Winckelmann, der in Triest keine Bekanntschaft suchte und noch weniger wünschte, daß sein Name bekannt würde, sich diesem Menschen anschloß.

Geistreiche Männer sind auf Reisen nicht immer wählerisch im Umgange; gehört es doch mit zum Reiz des Reiselebens, in den Bekanntschaften zu wechseln und in allen Kreisen Umschau zu halten. Selbst ein Mensch, der uns in der Heimat unausstehlich ist, kann uns in fremder Luft und in fremder Umgebung für den Augenblick interessant werden. Auch ein Arcangeli, der unwissende Küchenjunge, der spitzbübische Bediente, der Dieb und Herumtreiber, den man eben erst aus den Eisen freigelassen hatte, der Hochstapler, dessen höchste Leistung es bisher gewesen war, daß er sich für einen ungarischen Edelmann ausgegeben hatte, vermochte es, durch sein einschmeichelndes Wesen einen Winckelmann so zu fesseln, daß dieser sich auch für die nächsten Tage seine Gesellschaft gern gefallen ließ.

So tranken die beiden an diesem ersten Tage in einem Wirtshause miteinander Kaffee, trennten sich dann, während Arcangeli allein durch die Stadt spazierenging, fanden sich darauf wieder im Wirtshause zusammen, plauderten miteinander im Fenster, bis die Dämmerung eintrat und Licht gebracht werden mußte, und nahmen endlich das Abendessen zusammen in Arcangelis Stube ein, bei dem Winckelmann selbst nach seiner Gewohnheit weiter nichts zu sich nahm als Brot und Wein.

Sie gingen dann täglich miteinander des Morgens spazieren, nahmen im Kaffehause zusammen ihr Frühstück ein, fanden sich dort auch noch öfter im Laufe des Tages ein, saßen jeden Mittag an der Wirtstafel zusammen, und nach dem Abendspaziergange stellte sich Winckelmann regelmäßig in Arcangelis Zimmer zum Abendessen ein. Jeder bezahlte für sich oder, wie es in Kaffeehäusern geschah, einer für den anderen abwechselnd.

Arcangeli war nun schon drei Tage mit Winckelmann umgegangen – denn der Abgang des Schiffes verzögerte sich –, und obwohl er dringend Geld brauchte, um seine Gentlemanrolle fortzuspielen – ein kleines Darlehen, das er mit Not und Mühe von einem, ihm entfernt bekannten Geistlichen erhalten hatte, war so gut wie aufgezehrt –, hatte er doch noch keine Gelegenheit gefunden, seinem Freunde etwas abzuborgen, ja, er wußte noch nicht einmal, ob sich bei dem Fremden eine Bitte auch wirklich lohne.

Um das festzustellen, mußte er zunächst erst einmal Stand und Namen des Fremden wissen. Er fragte also kurzerhand, wer er sei, und entschuldigte seine Neugierde damit, daß er sagte, die Wirtsleute möchten es gar zu gern erfahren.

Winckelmann nahm arglos alles für Wahrheit, erklärte ihm beim Spazierengehen scherzend, er sei kein verdächtiger Mensch, zeigte ihm abends beim Nachhausekommen seinen Reisepaß und einige Empfehlungsschreiben an ansehnliche Handelshäuser in Venedig und erzählte auch, daß er wegen eines wichtigen Geschäftes nach Wien geschickt worden sei und dort eine Audienz bei Maria Theresia und dem Fürsten Kaunitz gehabt habe, die ihm eine goldene und zwei silberne Schaumünzen geschenkt hätten.

Arcangeli verlangte die Schaumünzen noch nicht zu sehen, er wollte seinen Mann erst ganz kennenlernen. Er erzählte aber unter anderem schon dem Kaffeeschenken Griol, daß der Fremde schöne Gold- und Silberschaumünzen besitze, auch sonst viel Geld haben müsse und eine versiegelte Schachtel für den Kardinal Albani mit sich führe; er halte den seltsamen Menschen für einen Juden, möchte aber doch gern genau wissen, wer er eigentlich sei.

Diese seltsame Frage richtete er auch an den Wirt des Hotels, aber wiederum ohne Auskunft zu erhalten. Die Lüsternheit nach dem Besitze der Münzen hatte den Bösewicht schon mit aller Gewalt gepackt, aber er scheint doch seiner Sache noch nicht sicher gewesen zu sein: Der Fremde mag vielleicht in seiner geheimnisvollen Zurückhaltung sogar etwas Unheimliches für ihn gehabt haben.

Auch den Fremden selbst versuche Arcangeli weiter auszufragen. So erfuhr er, wie er es später dargestellt hat, daß Winckelmann nach Wien geschickt worden sei, um der Kaiserin eine Kabale zu entdecken – worum es sich handelte, hatte Winckelmann nicht gesagt –; er sei in Wien sehr gut aufgenommen und in demselben Rocke, den er getragen habe, über die Hintertreppe und durch das Frauenzimmer in die Gemächer der Kaiserin geführt worden, wo er mit ihr ganz allein gesprochen hätte.

Das ist natürlich nur Winckelmann in der mehr als freien Übersetzung einer italienischen Bedientenseele. Arcangeli konnte sich nicht vorstellen, daß ein solcher Mann zu den Großen der Erde ohne irgendeine Intrige Zulaß erhalten habe, und er behauptete dem Gericht gegenüber sogar, daß er Winckelmann zurechtgewiesen habe, es sei von ihm nicht klug, solche Geheimnisse einem jeden zu erzählen – worauf Winckelmann erwidert hätte, er vertraue sich ja auch nur ihm an, weil er ihn für einen ehrlichen Mann halte!

Das wenigstens scheint wahr: Winckelmann hat dem Menschen mehr vertraut, als die Vorsicht erlaubte, und Arcangeli hat die Gelegenheit benutzt, seine Aufrichtigkeit durch Fragen weiter auszubeuten.

Endlich hat Winckelmann dem unermüdlichen Gesellschafter die Münzen gezeigt: Arcangeli gibt an, daß Winckelmann ihn eines Morgens in sein Zimmer genötigt habe, um ihm die Münzen zu zeigen und sich bei ihm nach ihrem Wert zu erkundigen. Arcangeli wollte sie auf zehn und auf siebzehn Dukaten abgeschätzt haben.

Wann in Arcangeli der Entschluß, Winckelmann zu berauben, reif geworden ist, läßt sich aus seinen Angaben nicht ermitteln, da er hinsichtlich der Zeitbestimmung verwirrte Antworten gab; man ist also genötigt, die chronologische Ordnung aus anderen Umständen zu gewinnen.

Am 5. Juni, an dem Tage also, da der Schiffer spätestens zur Reise bereit sein sollte, hatte er noch nicht fertig geladen, aber Winckelmann wollte nun unter allen Umständen gerade mit diesem Schiffe fahren, so daß er noch nicht die Geduld verlor und, statt eine andere Reisegelegenheit zu suchen, immer nur den Schiffer überlief und ermahnte, sich dazuzuhalten, wobei Arcangeli ihm redlich beistand. Die Zeit benutzte der letztere, darüber nachzudenken, wie er seinen Münzenraub ausführen solle.

Bald schien es ihm klar, daß sich ein Mord dabei vielleicht nicht vermeiden ließ; jedenfalls ist sicher, daß er sich am 7. Juni ein spannenlanges einschneidiges Messer mit Scheide kaufte. Mit dem Messer in der Tasche fand er sich wieder im Kaffeehause ein. Dieses Mal bezahlte Winckelmann. Ihre Unterhaltung war lebhaft; sie galt der Reise nach Venedig, den Schaumünzen, dem Kardinal Albani und dem Fürsten Kaunitz. Nach den Aussagen eines Zeugen, der das Gespräch freilich nur bruchstückweise zu hören bekam, war Winckelmanns Ungeduld so sehr gestiegen, daß er schon davon sprach, lieber zu Lande nach Venedig zu fahren. Es ist möglich, daß erst diese Äußerung Arcangeli zu einem letzten schnellen Entschlusse bewog.

Das Messer bot ihm indessen nicht Sicherheit genug. Abends gegen sechs Uhr ging er deswegen noch in einen Kramladen und kaufte sich hier für drei Soldi drei Klafter Bindfaden. Dann kehrte er zu Winckelmann zurück, trank aufs neue mit ihm Kaffee und zahlte die Schuld vom Morgen zurück. Vor Einbruch der Dämmerung eilte er aber nach Hause, drehte dort die Bindfäden zu einer Schnur zusammen, fertigte daraus eine Schlinge oder einen Strang und verbarg beide Mordwerkzeuge unter seinen Kleidern, die über dem Stuhle hingen, doch so, daß er sie im Augenblicke hervorziehen konnte.

Zur Stunde des Abendessens kam Winckelmann wieder in das Zimmer, aß sein Brot und trank seinen Wein unter harmlosen Gesprächen, während Arcangeli sein Abendessen verzehrte. Es sollte nach dem Plan des falschen Freundes Winckelmanns letzter Lebensabend gewesen sein; aber der Mut verließ ihn noch einmal, er schob die Tat bis zum nächsten Morgen auf, und Winckelmann kehrte in sein Zimmer zurück.

Das natürlichste, sollte man denken, wäre, daß Arcangeli nun die Nacht zu seinem dunklen Werke benutzen würde; aber auch er legte sich ruhig zu Bette, seinem eigenen Geständnis nach mit dem festen Vorsatze, nunmehr am anderen Morgen unerschrocken an die Tat zu gehen.

Am Morgen des 8. Juni schlich Arcangeli aus dem Hause, vielleicht um sich in der frischen Luft und der Einsamkeit Mut zu machen. Er kam allein zum Kaffeehause und ging fort, ehe Winckelmann dort eintraf. Dieser war schon so an ihn gewöhnt, daß er nur mit Arcangeli Kaffee trinken konnte, fragte nach ihm und ging fort, um ihn zu suchen.

Arcangeli war im Hafen umhergelaufen, um sich ein Fahrzeug zu verschaffen, das ihn nach der Tat nach den Bädern von Monfalcone übersetzen sollte. Es war ihm nicht gelungen, was aber seinen Mut, ja anscheinend sogar seine gute Laune nicht getrübt hatte, denn nachdem er ins Wirtshaus zurückgekehrt war, scherzte er mit dem deutschen Stubenmädchen Eva Tuch, das in seiner Kammer die Betten machte, und rief ihm in gebrochenem Deutsch zu: »Jungfer, Jungfer, schenken Sie mir zwanzig Dukaten.«

Dann erst ging er zu seinem Nachbar. Winckelmann hatte Oberkleider, Halsbinde und Perücke abgelegt. So saß er am Schreibtische, der zwischen den beiden Fenstern an der Meeresseite stand, und hatte eben einige Worte geschrieben. Er erhob sich, als der Italiener eintrat, ging ihm freundlich entgegen und drückte ihm seine Freude darüber aus, daß er am kommenden Abend endlich fortreisen könne.

Das Gespräch scheint wieder sehr lebhaft gewesen zu sein: Winckelmanns Herz floß über, wenn er von Rom sprach; sein Interesse an diesem Gegenstand war so lebhaft, daß er während des Gespräches Niederschriften machte. Ja, wenn wir Arcangeli glauben dürfen, lud er ihn in der Fülle seiner Freude sogar dahin ein, erzählte ihm vom Palaste seines Gönners, des Kardinals Albani, und versprach ihm, wenn er nach Rom komme, ihm diesen Palast zu zeigen und ihm dort zu beweisen, wer er eigentlich sei und in welchem Ansehen er stünde.

Beide gingen bei diesem Gespräch im Zimmer auf und nieder, und das Stubenmädchen, das jetzt in Winckelmanns Zimmer das Bett machte, erkannte, obwohl sie kein Wort von der italienisch geführten Unterhaltung verstand, an den Mienen und dem Tone der beiden Gäste, daß sie von heiteren und freundlichen Dingen sprechen mußten. Die Eva ging halb neun Uhr aus dem Zimmer; eine andere Magd, Therese Baumeister, fand, als sie eine Viertelstunde später einen vergessenen Leuchter aus dem Zimmer holte, beide noch im eifrigsten Gespräch.

Dann kehrte Arcangeli in seine Kammer zurück, steckte das Messer ohne die Scheide in die Tasche seines Kamisols und trat unter dem Vorwand, daß er sein Schnupftuch vergessen habe, wieder in Winckelmanns Zimmer. Hier fragte er ihn – nach seinem Geständnis –, ob er ihm heute an der Wirtstafel nicht noch einmal die Schaumünzen zeigen wolle. Winckelmann antwortete, nein, er möchte kein Aufsehen erregen. Da fragte Arcangeli, warum er denn nicht sagen wolle, wer er eigentlich sei.

Winckelmann, dem diese Zudringlichkeit jetzt vielleicht mißfallen mochte, sagte kurz, er wolle sich nicht zu erkennen geben, und setzte sich, ohne weiter auf ihn zu achten, an seinen Schreibtisch nieder.

Das war der verhängnisvolle Augenblick. Arcangeli warf ihm plötzlich den Strang von hinten um den Hals und zog ihn mit aller Kraft zusammen. Aber Winckelmann war ebenso plötzlich aufgesprungen und hatte den Mörder mit einem kräftigen Stoße von sich geschoben. Arcangeli griff nun mit dem Messer an. Doch faßte Winckelmann mutig mit der Hand in das Messer, mit der anderen den Mörder selbst an der Brust. Vielleicht hätte der stärkere Deutsche trotz seiner Wunden und der halben Erdrosselung gesiegt, aber beide bewegten sich im Ringe bis über die Mitte des Zimmers nach der Eingangstür zu, und hier, als Arcangeli schon zitterte, fielen beide auf den Boden nieder. Winckelmann fiel unglücklicherweise rücklings und zuunterst, Arcangeli sank nur auf ein Knie und drückte das auf ihn. Dem Schurken blieb das Messer frei in der Hand, und er konnte dem schon ermatteten und halb erstickten Winckelmann ungehindert noch fünf Stiche versetzen.

Inzwischen hatten das Stampfen der Ringenden und das Getöse des Falles den Kammerdiener Harthaber in dem darunterliegenden Speisezimmer aufmerksam gemacht. Er sah zum Fenster hinaus, ob jemand oben schreie. Es war aber inzwischen still geworden. Dennoch lief er schnell die Treppe hinauf. Er lauschte an der Tür und hörte ein Ächzen und Röcheln wie von jemand, der sprechen will und daran gehindert wird.

Der Mörder hatte noch nicht so viel Zeit gewonnen, die Türe zu verschließen. Als Harthaber öffnete und eintrat, sah er Arcangeli in dem Zimmer knien und mit beiden Händen auf Winckelmanns Brust drücken. In dem Augenblick, als der Diener die Tür öffnete, war der behende Italiener aber auch schon aufgesprungen, hatte den Kammerdiener mit Gewalt beiseite gestoßen und war ohne Rock und Hut die Treppe hinuntergestürzt, ohne daß jemand sonst ihn gesehen hätte und Harthaber sich selbst bewußt geworden wäre, was vorgegangen war.

Harthaber stürzte auf Winckelmann, um ihn aufzuheben, dieser aber war schon selbst aufgestanden. Harthaber fragte ihn, was denn vorgegangen sei. Winckelmann öffnete nur das Hemd auf der Brust, aus der das Blut in Strömen floß, und sprach mit gepreßter Stimme: »Sieh, was er getan hat!« Der Kammerdiener, immer noch im Glauben, es handle sich um einen blutigen Streit zwischen zwei Freunden, ermahnte ihn, ruhig zu bleiben, während er nach dem Wundarzt gehen wolle.

Winckelmann, den die Todesangst überwältigt, geht selbst dem Cameriere nach, die Treppe hinunter bis in den ersten Stock, um Leute zu suchen; rufen kann er mit der Schlinge um den Hals nicht mehr.

Unten will gerade die Stubenmagd Therese Baumeister über den Gang in die Küche. Da hört sie hinter sich eine leise, gebrochene Stimme ächzen: »Jesus, Jesus!« Erschrocken dreht sie sich um und sieht wie ein Gespenst Winckelmann mit blassem, blau angelaufenem Gesicht, blutiger Brust und blutenden Händen wankend ihr nachgehen. »Therese, Theres!« winkt er ihr flehend mit der Hand zu, daß sie ihm helfen solle. Aber das neunzehnjährige Mädchen ergreift bei diesem Anblick ein solcher Schrecken, daß sie völlig außer Fassung gerät, statt zu helfen, die Treppe hinunterstürzt und allen Leuten zuruft: »Herr Winckelmann bricht Blut!« Ohne zu wissen, wohin, läuft sie nach einem Beichtvater, einem Arzt, endlich nach der Küche, wohin ihr Herr und ihre Frau gegangen sind.

Das Mädchen ist von dem Anblick so erschüttert worden, daß sie selbst, als sie nach Hause zurückkommt, zu Bett gebracht und ihr zur Ader gelassen werden muß.

Winckelmann hat auch jetzt noch keine Hilfe gefunden. Den Strick um den Hals, schleppt er sich bis zur Tür des Wirtszimmers. Sie ist verschlossen. Er muß zurück, um sich mit der Linken am Treppengeländer zu halten, während er sich mit der Rechten die Brustwunde zudrückt. So steht er eine Weile unbeweglich, ächzend, zitternd da, bis Evas Geschrei die übrigen Mägde herbeiruft. Auch die starren ihn erschrocken an: Sie halten ihn für irr und glauben, daß er sich selbst verwundet habe.

Endlich gewahrt ihn ein Mann, Antonio Vanino; aber auch der meint, hier sei nichts mehr nötig als ein Beichtvater, und stürzt Hals über Kopf die Treppe hinunter, um einen Priester herbeizuholen. Dann kommt Francesco Pontini hinzu; ihm wird beim Anblick des blutenden Mannes so übel, daß er fort muß, um nicht selbst in Ohnmacht zu fallen. Ein dritter Mann, sogar der Jäger eines Edelmannes, Joseph Sutter, war ein ebenso schlechter Helfer in der Not: Er hielt die Schlinge, die von Winckelmanns Hals herabhing, für dessen aus dem Unterleib herausfallendes Gedärm, und statt beizuspringen, rannte er die Treppe einigemal hinauf und herab, um seinem gnädigen Herrn von allem, was er gesehen hatte, Nachricht zu bringen.

Endlich kam ein umsichtiger und entschlossener Mann, der Cameriere Movio, der Winckelmanns Winken mit der Hand begriff. Er löste ihm die eng zugezogene Schlinge und warf sie auf den Boden. Wie lange der unglückliche Mann in dieser bewußten Qual des Erstickens zugebracht hatte, läßt sich daran ermessen, daß der Cameriere Harthaber inzwischen den Weg zum Hause des Wundartztes hin und zurück gemacht hatte – doch ohne ihn zu finden. Winckelmanns erste Frage war nach dem Wirte, dann begann er zu sinken; zwei Männer faßten ihn unter, brachten ihn die Treppe hinauf, wieder in sein Zimmer und setzten ihn auf das Sofa.

Endlich kam auch ein Arzt. »Sind sie tödlich?« fragte Winckelmann mit schmerzhaftem, aber ruhigem Blicke. Der Arzt sagte die Wahrheit: zwei waren es ohne Zweifel. Winckelmann schwieg. Man mußte ihn auf eine Matratze am Boden legen, wo ihn erst ein Riechfläschchen wieder zur Besinnung brachte. Die erste deutliche Antwort, die er dem neben ihm knienden Ritter Cajetan Vanuzzi gab, war: »Der hat mich ermordet, der neben mir wohnte.«

Die Gerichtspersonen, die inzwischen herbeigeeilt waren, mußten dem Unglücklichen, der vor Schmerz und Blutverlust oft in Ohnmacht fiel, die letzten Äußerungen mühsam abquälen. Auf die Frage, ob er den Mörder kenne, antwortete er nach einer schmerzhaften Atempause: «Der Wirt muß es wissen, fragt ihn danach.» Auf die Frage, wer er selbst sei, verwies er nur auf seinen Paß.

Die Schlinge und das Messer, das Arcangeli nach der Tat ins Zimmer geschleudert hatte, wurden vom Gericht beschlagnahmt. In Arcangelis Zimmer fand man auf dem Stuhle unter seinen Kleidungsstücken auch noch die Scheide des Messers.

Der Sterbende fand noch so viel Besinnung, um sein Testament zur Niederschrift zu geben, in dem er den Kardinal Albani zu seinem Haupterben ernannte; außerdem soll er, wenigstens nach der Verteidigungsschrift für Arcangeli, noch in seinen Todesqualen sein Bedauern für den Mörder ausgesprochen und das Gericht um Milderung seiner Strafe gebeten haben. In den Akten freilich ist nichts davon enthalten.

Nachdem das Testament niedergeschrieben war, nahmen die Todesqualen des Unglücklichen wieder zu, so daß er nicht einmal mehr die Kraft hatte, das Schriftstück zu unterzeichnen, und nach einem kurzen Todeskrampfe hauchte Winckelmann nachmittags um vier Uhr sein Leben aus.

Der Mörder aber war entflohen. Nachdem er durch den Cameriere Harthaber entdeckt worden war, hatte er keinen Augenblick Zeit verlieren und weder sich nach der gehofften Beute umtun noch, um sich anzukleiden, in seine Kammer zurückkehren können. Ohne Rock und Hut, mit blutbeflecktem Hemd und Wams war er aus dem Hause gestürzt. Obgleich es die helle Morgenstunde war, während der die Stadt am volkreichsten und die Polizei am wachsamsten ist, war es ihm doch gelungen, unverfolgt zu entkommen. Auch in der folgenden Zeit entging er mit Glück den Nachstellungen der Polizei. Er schlug sich durchs Gebirge auf Seitenwegen nach Capo d'Istria zu. Als er auf die Hauptstraße gelangte, erhielt er von einem Straßenaufseher den guten Rat, nicht dahin zu gehen, weil man dort schon auf ihn aufpasse. Der Beamte riet ihm vielmehr, sich in einer Bauernhütte zu verbergen und sich am folgenden Tag nach Isola zu begeben. Nach vielen Irrwegen wurde er aber endlich auf dem Wege nach Krain ergriffen, gestand vor dem Kreishauptmann sein Verbrechen und wurde darauf im Triumphe geschlossen auf einem Wagen nach Triest gebracht.

Bezeichnend genug ist, daß jener Straßenaufseher, der in dem Flüchtling einen Mörder erkannt hatte, ihm mit Rat und Tat beistand, statt ihn zu ergreifen, damit er dem rächenden Arm der Gerechtigkeit zufalle. Aber wir müssen bedenken, daß wir uns in Italien befinden: Die Teilnahme galt durchaus nicht dem Diebe, sondern dem Manne, dem das Unglück begegnet war, in Wallung zu geraten und sein Messer einem anderen in die Brust zu stoßen!

Diese Rolle suchte Arcangeli selbst bei der Untersuchung zu spielen. Mit empörender Gleichgültigkeit nannte er seine Mordtat ein Geschäft, eine Begebenheit: L'affare, il caso, il fatto coltelletto. In allen Momenten seines Leichtsinns, seines Trotzes und seiner Reue erschien er als eine armselige Bedientenseele, der jede Spannkraft zu einem moralischen Ernste, ja sogar zu einem ernsten Zorne abging. Bei jeder Äußerung mußte man sich entsetzen, daß ein Winckelmann in der Gesellschaft eines solchen Lumpen die letzte Woche seines Lebens verbrachte.

In den vier ersten Verhören wandte Arcangeli seine ganze Verschmitztheit an, das Ereignis so darzustellen, als wäre es ein im Raufhandel begangener Mord gewesen. Da er sich aber in viele Widersprüche verwickelte, wurde er bald widerlegt. Psychologisch merkwürdig ist nur die Veranlassung seines endlichen wahrhaftigen Geständnisses. Nachdem er zuerst hartnäckig behauptete, daß er den Strick, mit dem er Winckelmann erdrosselte, in dessen Zimmer gefunden und also die Tat ohne Vorbedacht begangen hätte, sagten drei unverdächtige Zeugen aus, daß er diesen Strick am 7. Juni sechs Uhr abends im Gewölbe des Seilers Bozzini gekauft habe.

Dieser Umstand war trotz dieser Zeugenaussagen falsch. Die Zeugen waren auf eine merkwürdige Art, die hier nicht näher dargelegt werden kann, getäuscht worden. Aber Arcangeli geriet durch den Gedanken, daß er auf erlogene Zeugenaussagen hin für überwiesen erklärt werden sollte, in ein solches Gemisch von Ärger, Wehmut und ohnmächtiger Rache, daß er weinte und lieber alles gestand, als den Verleumdern den Triumph zu gönnen, ihn zu verderben.

In seinen Verteidigungsgründen zeigte sich Arcangeli womöglich noch erbärmlicher als in seiner Handlungsweise. So entschuldigte er sich damit, daß nie er Winckelmann, sondern dieser stets ihn gesucht hätte, um ihn für seine Dienste zu benutzen; ebensowenig hätte er ihn gebeten, ihm seine Schaumünzen zu zeigen. Das, was Winckelmann über seine Sendung nach Wien gesprochen habe, sei ihm verdächtig vorgekommen; er habe gemutmaßt, »daß Winckelmann ein Spion oder sonst ein schlechter Mensch wäre«. Zu diesem Urteil sei er auch aus dem Grunde gekommen, weil er ihn für einen Juden oder Lutheraner gehalten hätte; denn Winckelmann habe weder mit ihm zur Messe oder in die Kirche gehen wollen noch den Hut abgezogen, wenn sie an einer Kirche vorübergegangen wären. Außerdem habe er oft in einem großen Buche gelesen, das weder deutsch noch französisch, noch italienisch, sondern in einer anderen ihm ganz unbekannten Sprache gedruckt gewesen wäre. Wer schuld war an dem Unglück, sei also erstens Winckelmann selbst, weil er ihm die unseligen Münzen gezeigt habe, in zweiter Linie aber der Teufel, der ihm den bösen Gedanken eingegeben hätte, sie dem fremden Manne zu rauben – was er übrigens eigentlich nur aus Liebhaberei getan habe –, und schließlich trage einen guten Teil der Schuld auch der Cameriere Harthaber, der die Tür geöffnet hätte, dort aber verdutzt und wie ein Gimpel stehengeblieben sei und dem Ringen zugesehen habe; wenn er zugesprungen wäre, hätte er den Mord sicher verhindern können.

Am 16. Juli verurteilte das Stadt- und Landgericht von Triest den Mörder Arcangeli zum Tode durch das Rad. Er hörte das Urteil mit Entsetzen an und gebärdete sich wie ein Wahnsinniger. Am Tage der Hinrichtung selbst, am 20. Juli, zeigte er sich gefaßt. Sie fand an demselben Wochentage, zur gleichen Tagesstunde, auf demselben Petersplatze und dem Gasthofe gegenüber statt, wo Winckelmanns Blut vergossen worden war.

Man hatte Winckelmann bei seinem Begräbnisse keine jener Auszeichnungen und Ehrenbezeigungen gewährt, die einem Manne seines Ansehens und seiner Verdienste zugekommen wären. Archäologie und Kunstkritik waren für die damaligen Bewohner von Triest unbekannte Dinge: Winckelmann war ihnen ein unbekannter Name.

Erst nachdem er in der Erde ruhte, kam von allen Seiten Kunde, welcher Mann hier ermordet worden war. Nun suchte man die früheren Versäumnisse durch den Eifer gutzumachen, mit dem man den Prozeß des Mörders betrieb. Dennoch ließ man das Grab des großen Archäologen ohne Denkstein und gab es so der Vergessenheit zum Raube.

Wo er ruht, war schon im ersten Jahrzehnt des nachfolgenden Jahrhunderts zweifelhaft. Erst 1823 wurde ihm in der alten Friedhofsanlage des museo lapidario ein marmornes Denkmal errichtet.


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