Willibald Alexis / Julius Eduard Hitzig
Kriminalfälle des neuen Pitaval
Willibald Alexis / Julius Eduard Hitzig

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Karl Ludwig Sand

In der Stadt Wunsiedel, die, reizend gelegen an den östlichen Abhängen des Fichtelgebirges, dem deutschen Vaterlande einen seiner edelsten Dichtergeister, Jean Paul Friedrich Richter, schenkte, ward auch Karl Ludwig Sand am 5. Oktober 1759 geboren, als jüngster Sohn des vormaligen preußischen ersten Justizamtmanns und Justizrats Gottfried Christoph Sand und seiner Ehefrau Dorothea Johanna Wilhelmina, geborene Schöpf.

Sands Freunde wollen seine Charakterstimmung aus der des Gebirgsvolkes, dem er angehörte, erklären. Wer die Bewohner des Fichtelgebirges kennenlernte, sagen sie, wird Eigentümlichkeiten angetroffen haben, die von alters her das Leben dieses Volksstammes bezeichnen.

Von der Mutter wird berichtet, sie sei eine gebildete, religiöse und verständige Frau gewesen. »Bestrebe Dich«, schreibt sie, »immer und ununterbrochen auf Dich achtzuhaben, damit Du nicht einzelne große, gute Handlungen für Tugend hältst, sondern jede Minute das zu wirken und zu leisten suchst, was unsre Pflicht von uns fordert.« In einem andern Brief schreibt sie: »Ich beschwöre Dich, bester Karl, laß durch die Schwäche der Schwärmerei Dich nicht abführen von bürgerlichen und häuslichen Hinsichten!« Der Vater ermahnt den Sohn zu religiösen Gesinnungen und schreibt ihm einmal: »Laß Dich nicht durch den jetzigen leichtsinnigen Geist der Zeit verführen, und glaube mir als Deinem alten, erfahrenen Vater, daß frühe, wahre Gottesfurcht die einzige sichere Vormauer gegen Verführungen besonders in der Jugend ist und daß alle Kenntnisse ohne wahre Religiosität nichts sind als tönend' Erz und eine klingende Schelle. Nur muß es nicht mißverstanden oder gar Scheinreligiosität sein, sondern solche, die sich durch Handlungen im ganzen Leben ausspricht.« Den Vater scheinen mannigfache Sorgen in dem kinderreichen Hauswesen zu drücken. Denn außer zwei älteren Brüdern – Georg, Kaufmann in St. Gallen, Fritz, Appellationsgerichtsadvokat in Kemnaht – hatte Sand eine in Wunsiedel verheiratete ältere Schwester, Karoline, und eine jüngere, Julie.

Aber seiner Jugend konnte Sand, trotz des Umgangs mit den geliebten Geschwistern, nicht froh werden. Eine gefährliche Blatternkrankheit hatte ihn dermaßen angegriffen, daß sein Unterricht im elterlichen Hause erst mit dem zehnten Jahr beginnen konnte. Seine jüngere Schwester kam ihm bald zuvor, und seine Ausbildung erforderte Anstrengung von seiner Seite und Geduld seitens der Lehrer. Daher eine frühe Niedergeschlagenheit des Gemütes. Statt ihn, wie andere junge Leute lebhaften Temperaments, zurückhalten zu müssen, hatte sein Vater dafür zu sorgen, daß er nicht noch zurückhaltender wurde.

Doch artete sein stilles Wesen nicht in Schläfrigkeit und dumpfe Trägheit aus, denn im zwölften Jahr zeigt er sich als ein beherzter Kämpfer im Knabenspiele, bei dem, aus einem falschen Ehrgefühl, der Scherz in blutigen Ernst überzugehen drohte. Schon im elften Jahr hatte er ein Kind vor dem Ertrinken gerettet.

Seinen Unterricht erhielt er zuerst am Lyzeum zu Wunsiedel, dann am Gymnasium zu Hof, und er ging, aus Liebe zu dem von ihm innig verehrten Lehrer, dem Rektor Saalfrank, endlich, bei dessen Versetzung nach Regensburg, zum dortigen Gymnasium über. Saalfrank glaubte sich von seinen Oberen zurückgesetzt. In Sands Briefen an seine Eltern sprudelt hier zuerst der Geist der Entrüstung auf, wie er edlen jugendlichen Gemütern eigen ist, wenn begangenes Unrecht ihr Gefühl empört.

Als Napoleon zu einer Truppenmusterung nach Hof gekommen war, verließ Sand diese Stadt und kehrte zu seinen Eltern zurück, weil es ihm unmöglich gewesen wäre, »den Unterdrücker des Vaterlandes in Hofs Mauern zu wissen, ohne sein Leben an denselben zu wagen«. Dieser Zug, von seinen Freunden berichtet, erhielt erst nach langen Jahren Wichtigkeit und Bedeutung.

Im Jahre 1813 war Sand achtzehn Jahre alt. Er würde schon damals den Versuch gemacht haben, von seinen Eltern die Erlaubnis zum Mitgehen in den Feldzug zu erwirken, wenn nicht die Schlacht bei Leipzig seinen Entschluß unnötig gemacht hätte. Er schreibt deshalb in einem Brief an die Schwester: »Wenn es nötig sein sollte, mein Leben zum Opfer zu bringen, fühlte ich mich viel zu mutbeseelt, als daß ich mich erst dazu rufen lassen sollte.«

Im Jahr 1814 erteilte ihm sein Vater seine Einwilligung zum Studium. Er hatte sich für das Studium der protestantischen Theologie entschieden.

Sein Streben zog ihn nach Tübingen, wohin er im Herbst 1814 mit dem rühmlichen Zeugnis der Reife vom Regensburger Gymnasium abging. Er hatte jedoch unterlassen, die damals erforderliche Erlaubnis der bayerischen Regierung zu erbitten. Sie wurde ihm nachträglich abgeschlagen, und man wies ihn zum Besuch einer inländischen Universität an. Inzwischen war Napoleon aus Elba zurückgekehrt, Sand trat als Freiwilliger in bayerische Kriegsdienste. Doch erfolgte der Sieg bei Belle-Alliance zu schnell, als daß er ins Feuer gekommen wäre, und mit den aus den französischen Cantonnierungsquartieren entlassenen bayerischen Truppen traf er schon im Dezember 1815 in Anspach ein und wurde mit dem Zeugnis untadelhafter Aufführung entlassen.

Er war ohne Wissen der Eltern in den Kriegsdienst getreten. Dies war, wenn man sich in die allgemeine Stimmung von 1815 zurückversetzt, nichts Außergewöhnliches. Auch stimmte dieser Ausbruch von Vaterlandsliebe mit früheren Äußerungen überein. Schon 1809 will er beim unglücklichen Anfang des österreichischen Krieges viel Angst ausgestanden haben.

Nach einem kurzen Aufenthalt im väterlichen Hause bezog er im Winter 1815/1816 die Universität Erlangen. Von hier an beginnt ein vollständiges Tagebuch; es gibt Aufschluß und Rechenschaft nicht nur über sein tägliches Tun und Treiben, sondern auch über seine Gedanken, Stimmungen und Ansichten. Am Neujahrstage 1816 schreibt er eine Art Gebet, das man als ein Manifest seines der religiösen Verehrung des Vaterlandes fortan gewidmeten Lebens betrachten kann. Es heißt darin: »Gott, du ließest mein deutsches Vaterland sich durch seine eigene Kraft entwinden dem Joche der Knechtschaft. Zum Zweifler wurde ich, solange ich mich als Weltbürger kenne, in dieser Rücksicht nie; mein Glaube stand fest; aber daß meine feste Zuversicht durch die großen Prüfungen, die das Jahr 1809 und der Anfang des Jahres 1812, die Schlachten bei Lützen und Bautzen mit sich brachten, öfters doch den sich entwürdigenden Zweiflern ein geneigtes Ohr verlieh und über das Hohnlachen der deutschen unwürdigen Spötter fast zur Verzweiflung gebracht wurde: das verzeihe mir durch die Vermittlung unseres Herrn Jesu, der mich nicht gänzlich sinken ließ und endlich durch seinen heiligen Geist so hohen Mut in meine Seele brachte. – Vater, du hast Unendliches an uns getan! Du ließest Sieg uns zuteil werden über unseren Nationalfeind; und alle schwankenden Pflanzen in deinem deutschen Garten, niedergebeugt durch verheerende Elemente und hin- und hergeschaukelt vom Winde des Zeitgeistes, sind wieder aufgerichtet; in tiefer Scham über ihr Zweifeln an deiner allwaltenden Gerechtigkeit, die ihrem schwachen Sinn zu lange langmütig schien, wagen sie es nun, sich wieder aufzurichten zu dir, und sind dir gerettet. – Herzenslenker! Auch mir wurde zuteil, wenigstens mit ausziehen, wenngleich nicht mitstreiten zu können fürs Vaterland!«

In heiterer Stimmung verließ Sand mit Ablauf des Sommersemesters 1817 Erlangen. Er ging dem großen Reformationsfest auf der Wartburg entgegen und der Fortsetzung seines Studiums in Jena, wo das Ziel seines Lebens, die Erneuerung der deutschen Burschenschaft zu einer politischen Vereinigung, schon weit fortgeschritten war.

Unterm 17. August 1817 schreibt er an einen Freund: »Mein Herz hängt mit Freuden daran, da ja alle unsere jetzigen Burschenschaften nicht mehr ein eitles, mit den wenigen Jahren der Universität dahinschwindendes Treiben sind wie ehemals; sondern da wir, von Gott mächtig erweckt, nun endlich einmal angefangen haben, all das Hohe und Herrliche – Aufhören der krassen Zwingherrschaft, dagegen Freiheit und bei sicherer ständischer Verfassung freies Sprechen und Treiben der Bürger und eigenes Verfechten dieser hohen Güter – genug, weil wir nun einmal streben, was deutsch heißt, in unser deutsches Vaterland wirklich hineinzuführen, und weil wir dies gewißlich nicht nach Abschluß der Jugendzeit wieder ruhen lassen und als einen Studentenschwindel vergessen wollen.«

In Wunsiedel, wo er die Ferien zubrachte, abermals predigte und sich zu seinem Abgange nach Jena vorbereitete, arbeitete er den Aufsatz aus, der unter die Teilnehmer der Wartburgschaft verteilt wurde. Es ist sein damaliges Glaubensbekenntnis von der Bedeutung der Burschenschaft und zerfällt in 11 Artikel, deren Inhalt in Kürze folgender ist:

*

1. Unsere Sache fällt mit jeder anderen bedeutenden Umschwungszeit zusammen; ähnlich besonders der deutschen Reformation. Heute aber ist sie mehr eine wissenschaftlich-bürgerliche Umwälzung.

2. Der Wahlspruch der deutschen Burschen sei: Tugend! Wissenschaft! Vaterland!

3. Wer diese Ideen bekennt, ist unser geliebter Bruder. Von nun an darf nur auf das neubegonnene Leben gesehen werden.

4. Zur Verwirklichung dieser hohen Sache eine allgemeine, freie Burschenschaft durch ganz Deutschland.

5. Das Ganze darf nicht durch Eideshand zusammenhängen. Die Idee allein soll alle vereinen.

6. Jedwedem Unreinen, Unehrlichen, Schlechten soll der einzelne auf eigene Faust nach seiner hohen Freiheit zum offenen Kampfe entgegentreten. Das Ganze soll damit verwickelter Kämpfe überhoben bleiben.

7. Für das liebe deutsche Land kein Heil außer durch eine solche allgemeine, freie Burschenschaft. In Deutschlands innig verbrüderte edle Jugend wird das Hohe und Herrliche wirklich schon eingelebt.

8. Der Brauch für die Burschenschaft muß allenthalben in seinen Hauptzügen gleich sein.

9. Für Urfeinde des deutschen Volkstums erklärt: a) die Römer, b) Möncherei, c) Soldaterei.

10. Von einzelnen hervorleuchtenden Männern und einigen Jünglingen höherer Art, wie einst von Martin Luther, geht der neue Geist aus. Die Fürsten wissen wenig zu raten.

11. Die Hauptidee des Festes ist: »Wir sind allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht: 1. Petr. 2,9. Ihr seid ein königlich Priestertum und ein priesterlich Königreich.«

*

Seine Tagebücher und Briefe aus Jena sind heiterer als die in der verbittertsten Stimmung in Erlangen geschriebenen. So finden wir darin einen Besuch Sands bei Goethe, den er mit harmloser Laune um freundliche Verwendung zu einem löblichen Zwecke ansprach. Im Herbst 1819 hatte er eine Reise nach Berlin unternommen, wo ihn nichts als die für ihn merkwürdigste Größe der Zeit, Jahn, angesprochen zu haben scheint.

Wie er ihn schildert, ist als ein Bild jener Tage und für Sands Anschauungsweise gleich charakteristisch: »Jahn ist ein Held dieser Zeit, ein wahrhaft freier und edler Mann, gewachsen jedem Sturme in diesem Erdenleben und empfänglich für die zartesten Freuden des Geistes, ein rechter Mensch, passend in alle Verhältnisse des Lebens.

Was über seine Art besonders Aufschluß gibt, ist, daß er um die Zeit der französischen Revolution in jener Zeit, wo alle edle Seelen für das Heiligste erglühten, von Arbeitern, die er hochrühmt, auf dem Lande seine Jugendbildung erhielt. An der Hand der Geschichte, die er mit voller Liebe erfaßte, verwilderte er aber nicht wie die meisten jener Zeit, sondern blieb in derber Sittlichkeit seinem Ziele unverrückt treu.«

Auf Jahns Weisung besuchte Sand mit seinen Reisegefährten bei der Rückkehr alle Schlachtfelder aus den Befreiungskriegen und hatte den Verdruß, daß die Landsleute sie für Zahnarztgehilfen hielten, die den Toten die Zähne ausbrechen wollten, um sie den lebendigen Menschen einzusetzen. Ihrer wären schon viele dagewesen, und sie würden nichts mehr für sich finden.

Um Michaelis 1817 war Sand nach Jena gekommen; um Ostern 1819, nach einem andenhalbjährigen Aufenthalt ohne bedeutende und auffällige Ereignisse, verließ er es, um, mit zwei Dolchen auf der Brust und einem Ranzen, den Weg nach Mannheim anzutreten.

*

Die Zeitungen, in der letzten Zeit seine Hauptlektüre, fingen schon damals an, Einfluß auf die deutsche Bildung und namentlich auf die Jugend zu üben. Die deutschen Zeitungen aus jener Zeit hatten nur eine Meinung, und diese eine Meinung war die der deutschen, aus dem Befreiungskriege heimgekehrten Jugend. Bei der Untersuchung befragt, was er denn unter Freiheit verstehe, lautete seine Antwort:

»1. Nichts anderes, als was man in den Zeitungen und in den Liedern edler Dichter immer lese.

2. Daß die Klagen, die jetzt so häufig gehört würden, einmal aufhörten, namentlich die Klagen über unerschwingliche Abgaben ... Preßzwang, über Mangel an Öffentlichkeit.

3. Darin, daß es höchstes Ziel des Staates werde, dafür zu sorgen, daß aus jedem einzelnen Menschen ein edler, freier Mensch gezogen werde, der seiner Würde sich selbst bewußt sei, zu den höchsten Geistesfreuden ungehindert gelangen könne und im Staate nicht als eine tote Maschine, sondern als ein nach eigenem Willen sich bestimmendes Wesen geachtet werde.«

Sand konnte nach seinen Kenntnissen zum Glauben verführt werden, daß er durch Kotzebues Ermordung eine dem Vaterlande ersprießliche Tat vollführte.

Kotzebue hatte leichtfertig und leichtsinnig, wie alles, auch die letzten Aufwallungen des deutschen Nationalgefühls, davon er Zeuge war, besprochen und bespöttelt. Die Art, wie er nur das Lächerliche im Treiben der Altdeutschen auffaßte und satirisch besprach, mußte die jugendlichen Gemüter, die es zu ihrer Religion gemacht hatten, entflammen. Als Korrespondent der russischen Regierung berichtete er in sogenannten Bulletins über die deutschen Zustände, wie er sie ansah.

Der Vorwurf, daß Kotzebue ein Verräter am Vaterlande geworden war, ließe sich aus einem gewissen Standpunkt verteidigen; der, daß er ein russischer Spion gewesen, ist unhaltbar. Eingebürgert in Rußland, mit einem Titel vom russischen Kaiser, mehrmals auf Missionen desselben im Auslande und von ihm besoldet, paßte auf ihn zum wenigsten nicht der Begriff: Spion. Was er tat, tat er in aller Öffentlichkeit.

Die russische Regierung unterhielt in vielen Ländern Europas Korrespondenten, die ihr Berichte über das literarische, industrielle, künstlerische und geistige Treiben dieser Länder abzustatten hatten. Sie wählte dazu gewöhnlich Schriftsteller und Männer von Geist, die im gesellschaftlichen Leben zu Hause waren und mit Urteilskraft und Anschaulichket schreiben und beobachten konnten. Solche Korrespondenten unterhielten auch andere Fürsten, bis sie die Fortschritte der periodischen Presse und des öffentlichen Lebens überflüssig machten, da ja auf billigere und umfassendere Weise das, was sie ihnen berichteten, in den Zeitungen zu lesen war. Ein solcher Korrespondent für die Regierung in Petersburg war Kotzebue, und was ihm vorgeworfen werden kann, ist nur die Art, mit der er berichtet hat.

Eines seiner spöttischen Bulletins war durch Nachlässigkeit oder Verrat eines Abschreibers in fremde Hände gekommen und in der damaligen Oppositionszeitung abgedruckt worden. Es stellte Kotzebue vor der öffentlichen Meinung bloß.

Wann Karl Ludwig Sand zuerst den Gedanken gefaßt hatte, das deutsche Vaterland an Kotzebue zu rächen, ist weder aus der Untersuchung ermittelt, noch geht es aus seinen Tagebüchern hervor.

Der Gedanke an ein Märtyrertum, an ein Hingeben des Lebens für seine Ideen, spukte schon sehr früh in seinen Äußerungen. Schon aus Erlangen schrieb er an seinen Freund Cl.: »Nach Freiheit wollen wir ringen, und also wollen wir uns nicht durch das Drohen des Todes bändigen und gängeln lassen, der ja doch die höchste Freistätte ist. Lebend wollen wir jenen knechtischen Seelen eine Pest sein, und tot wollen wir sie uns nachziehen.«

Die erste Erwähnung Kotzebues in seinen Tagebüchern findet sich unterm 28. April 1816, wo er aus Wunsiedel schreibt: »Am Abend sah ich im Harmonietheater, wo das letzte Mal in diesem Winter gespielt wurde, die ›Silberne Hochzeit‹ von Kotzebue, und zwar recht schön; und ich kam dadurch auf keine bösen Gedanken.«

Am 24. November, nach dem Wartburgfest, schreibt er in Jena, und das ist in jenem langen Zwischenraum das erste Mal, daß Kotzebues Name in seinen Büchern sich wieder verzeichnet findet: »Dann ward auf dem Markte die neue giftige Schimpferei von Kotzebue sehr schön vorgelesen. O welche Wut gegen uns Deutschland liebende Burschen!«

Ein halbes Jahr später, unterm 5. Mai 1818, erscheint schon folgender bedeutungsvoller Ausspruch im Tagebuch: »Herr, mitunter wandelte mich heute wieder eine so wehmütige Bangigkeit an: aber fester Wille, feste Beschäftigung löst alles und hilft für alles, und das Vaterland schafft Freude und Tugend; unser Gottesmensch, Christus, unser Herr, er ist das Bild einer Menschlichkeit, die ewig schön und freudig sein muß. – Wenn ich sinne, so denke ich oft, es sollte doch einer mutig über sich nehmen, dem Kotzebue, oder sonst einem solchen Landesverräter, das Schwert ins Gekröse zu stoßen.«

Deutschland traf keine Anstalten zu den von der Wartburg aus verkündigten neuen Dingen. Es peinigte ihn, daß von der wirklichen Welt so gar nichts geschah, das Ideal ins Leben zu rufen, und so entstand der Drang in ihm, der schlafenden, trägen Welt ein Zeichen zum Aufstande zu geben.

In seinem Innern war eine Leere, weil es in Jena nichts zu tun gab, und der Haß fand bei dieser Leere Platz. Es drängte ihn, seine Theorie an einem Gegenstande zu erproben, zugleich aber auch durch eine recht große, gewaltige, welthistorische Tat seinen Genossen, vor denen er verschwand, zu zeigen, daß mehr in ihm sei, als er auf den Lippen trage und in Worten klarmachen könnte.

In Jena hatte er auf ein Blättchen geschrieben, das man unter seinen Papieren fand: »Wer wird mir's glauben, daß ich den Tod leiden will, wenn ich's nicht wirklich zeige!« Er schwelgte im Vorgefühl bei der Vorstellung, was seine Umgebung und seine Freunde zu einer solchen nicht geahnten und von ihm nicht erwarteten Tat sagen würden.

Am Ende des Jahres 1818 stand sein Entschluß fest. Als das Bulletin erschien, hatte er es klar, nach seinem gerichtlichen Geständnis, eingesehen, »daß so etwas geahndet werden müsse«. Der feste Entschluß zur Tat sei jedoch erst bei ihm begründet gewesen, als Kotzebue sich zum Verteidiger der v.-Stourdzaschen Schrift aufwarf. Hier begegnen wir einer neuen festgewurzelten Idee, worüber weniger seine Tagebücher als seine verschiedenen Aussagen vor Gericht Auskunft geben. In jener Schrift sei beabsichtigt, Deutschland in einen Zustand zu versetzen wie nach dem Westfälischen Frieden, nämlich abhängig von fremdem Einfluß, ohne Selbständigkeit, unter sich zerrissen und ohne politische Macht. Kotzebue habe wiederholt geschrieben, niemand dürfe sich unterstehen, dagegen zu schreiben, da sie die Gesinnung des russischen Kaisers ausdrücke.

Sands Tagebücher gehen bis zum letzten Tage des Jahres 1818. Seine Selbstprüfung war beendet, sein Werk fest beschlossen, wie wir es aus dem, was er am 31. Dezember zum Schluß eintrug, deutlich sehen, und seine übrige Zeit war den Vorbereitungen zur Tat gewidmet. Diese merkwürdige Stelle im Tagebuch lautet: »So begehe ich den letzten Tag dieses Jahres 1818 in ernster, feierlicher Stimmung und bin gefaßt, der letzte Christtag wird gewesen sein, den ich eben gefeiert habe. – Soll es etwas werden mit unserem Streben, soll die Sache der Menschheit aufkommen in unserm Vaterlande, soll in dieser wichtigen Zeit nicht alles wieder vergessen werden und die Begeisterung wieder aufleben im Lande, so muß der Schlechte, der Verräter und Verführer der Jugend, A. v. K., nieder – dies habe ich erkannt. Bis ich dies ausgeführt habe, habe ich nimmer Ruhe, und was soll mich trösten, bis ich weiß, daß ich mit ehrlichem Willen mein Leben darangesetzt habe? Gott, ich bitte dich um nichts als um die rechte Lauterkeit und den Mut der Seele, damit ich in jener höchsten Stunde mein Leben nicht verlasse.«

Vom 31. Dezember 1818 bis zum 9. März 1819 blieb Sand in Jena, mit den Vorbereitungen zu seiner Tat beschäftigt. Aus einem französischen Hirschfänger ließ er sich einen langen Dolch fertigen, wozu er das Modell vorher selbst in Wachs gebildet hatte. Es ist derselbe Dolch, der in Kotzebues Brust fuhr und den Sand sein »kleines Schwert« nannte.

Daß ihn während dieser Zeit der Vorbereitung, noch in Jena, Zweifel überschlichen, die ihn schwankend machten, ergibt sich aus seinen gerichtlichen Aussagen. Dann überkam ihn wohl auch der Gedanke, daß er zu etwas Besserem wert und geschickt sei, sowohl wegen seines weichen Gemütes als seiner erlangten Bildung. »Auch«, sagt er, »habe ich auf einen Dritten gewartet; denn ich hatte so gut das Recht, auf ihn zu warten, als ein Dritter auf mich. Oft habe ich gedacht, du könntest doch ruhig fortleben, wenn ein Dritter die Tat übernehme. Dieses Warten war also eigentlich ein Wunsch, daß mir ein Dritter zuvorkommen möge, übrigens kannte ich einen solchen Dritten nicht!«

Ende Februar schrieb er noch einen Brief an seine Mutter, in dem er mit der ihm möglichsten Ruhe und Klarheit ihr seinen Entschluß auseinandersetzt, nicht das Lehrfach zu ergreifen, sondern dem Predigtamt sich allein zu widmen, weil er sich nicht berufen und begabt genug fühle, in dem ersteren, wie es sein muß, sich auszuzeichnen. Nach dem Zeugnis seiner Freunde war er überhaupt in den letzten Wochen vor seiner Abreise ruhig und heiter. Nach seinem eigenen Geständnis hat er »acht Tage lang weniger an die Tat gedacht und Gott gebeten, er möge sie vorübergehen lassen«. Aber bei diesen inneren Kämpfen flüsterte ihm immer wieder die innere Stimme zu: »Du hast zuviel versprochen und noch nichts getan.«

Ein Zeitungsartikel, nach welchem Kotzebue Deutschland verlassen wollte, um nach Rußland zurückzukehren, rief den Entschluß wieder lebendig vor seine Seele. Zwar stellte es sich als ein Gerücht heraus, aber von nun an stand der Entschluß fest, und Sand wies alle inneren Winke und Mahnungen dagegen standhaft von sich.

Anfang März entwarf er mit großer Sorgfalt mehrere Schriften, die den Schlüssel zu seiner Tat für alle enthalten sollten, denen er eine Aufklärung darüber schuldig zu sein glaubte. Sand arbeitete langsam; auch im Schreiben scheint ihm die Geläufigkeit abgegangen zu sein, die ihn als Redner schwülstig und unbeholfen machte. Er korrigierte diese Schriften im Brouillon und fertigte alsdann die Reinschrift.

Das erste dieser Schreiben ist überschrieben: An alle die Meinigen. Es enthält einen Abschied an seine Familie, eine Rechtfertigung seiner Tat.

»Treue, ewig treue Seelen! Warum Euch den Schmerz noch lange mehren? dachte ich und schwankte, Euch hiervon zu schreiben. Aber bei plötzlicher Nachricht über meine Tat möchte Euch der harte Gram zwar leichter und schneller vorübergehen; doch die Liebestreue wäre dadurch verletzt, und ganz gebrochen kann ja der tiefe Schmerz nur dadurch werden, daß wir den ganzen Kelch von Wermut rein ausleeren und uns dabei fromm zu unserem Freunde halten, dem treuen, ewigen Vater im Himmel. Also heraus aus der umschlossenen, bangen Brust; hervor, du lange große Qual der letzten Rede, die aufrichtiger Art, einzig den Abschiedsschmerz versüßen kann.

Euch bringt dieses Blatt des Sohnes, des Bruders letzten Gruß zurück!

Gehegt, gewünscht habe ich immer viel; es ist an der Zeit, daß ich die Träumereien lasse, und die Not unseres Vaterlandes drängt zum Handeln. – Dies ist unstreitig der höchste Jammer in unserm Erdenleben, wenn die Sache Gottes durch unsere Schuld in ihrer regen Entwicklung Stillstand nimmt; dies für uns der entehrendste Schimpf, wenn all das Schöne, was von Tausenden kühn erstrebt wurde und wofür sich Tausende kühn geopfert haben, nun als ein Traumbild, ohne bleibende Folge, in trübem Mißmut wieder entschlafen, wenn die Reformation der alten, abgeleiteten Art jetzt auf halbem Wege verknöchern sollte ...

Viele der ruchlosesten Verführer treiben ungehindert, bis aufs völlige Verderben unseres Volkes hin, bei uns ihr Spiel. – Unter ihnen ist Kotzebue, der feinste und boshafteste, das wahre Sprachwerkzeug für alles Schlechte in unserer Zeit, und seine Stimme ist recht geeignet, uns Deutschen allen Trotz und Bitterkeit gegen die ungerechtesten Anmaßungen gar zu benehmen und uns einzuwiegen in den alten, faulen Schlummer. – Er treibt täglich argen Verrat am Vaterlande und stehet dennoch geschützt durch seine heuchlerischen Reden und Schmeichlerkünste und gehüllt in den Mantel eines großen Dichterruhms, trotz seiner Schlechtigkeit, da, als ein Abgott für die Hälfte Deutschlands, die, von ihm geblendet, gern das Gift einnimmt, das er in seinen halbrussischen Zeitschriften darreicht.

Soll nicht das ärgste Unglück über uns kommen, denn diese russischen Vorposten werden nichts Freies und Gutes aufkommen lassen oder zur Zeit der Gärung mit den Franzosen zugleich unter uns wüten; soll nicht die Geschichte unserer Tage mit ewiger Schmach behaftet sein, so muß er nieder.

...Mutter, Du wirst sagen: Warum habe ich einen Sohn großgezogen, den ich lieb hatte und der mich liebte, für den ich tausend Sorgen und steten Kummer litt, der durch mein Gebet empfänglich wurde für das Gute und von dem ich auf meiner müden Lebensbahn in den letzten Tagen kindliche Liebe verlangen konnte? – Warum verläßt er mich nun? – Teure Mutter, möchte nicht auch die Pflegerin irgendeines anderen so klagen, wenn er für das Vaterland hinginge; und wenn es keiner tun wollte, wo bliebe das Vaterland? Weit ist auch die Klage von Dir entfernt, und Du kennst solche Reden nicht, edle Frau. – Schon einmal habe ich Deinen Ruf vernommen, und wenn keiner hervortreten wollte für die deutsche Sache, so würdest Du mich auch diesmal selbst zum Kampfe voranschicken. Noch zwei Brüder und zwei Schwestern, alle rechtschaffen und edel, habe ich vor mir; sie bleiben Euch; ich folge meiner Pflicht, und an meiner Statt werden Euch alle Jünglinge, die es redlich meinen mit dem Vaterlande, als treue Kinder zugetan sein.«

Nachdem er die Teuren dem Schutze Gottes empfohlen und seinen Segen auf »die kampfrüstige Schar im deutschen Volke« heraberfleht, die die Sache der reinen Menschheit auf Erden zu fördern mutig entschlossen ist, schließt er mit den Versen:

»Das letzte Heil, das höchste, liegt im Schwerte,
Drück dir den Speer ins treue Herz hinein,
Der (deutschen) Freiheit eine Gasse!

Jena, Anfang März 1819
Euer in Liebe Euch ewig verbundener
Sohn und Bruder und Freund
Karl Ludwig Sand«

Um dieselbe Zeit richtete er an einen Schul- und Universitätsfreund einen Brief, in dem er es ihm zum Vorwurf macht, daß er sich von seinen Eltern hatte nach Heidelberg schicken lassen. In diesem Briefe heißt es: »Willst Du in Deinem künftigen Berufskreise nicht für die Einheit der Brüder und die Freiheit der Deutschen leben und dafür entweder siegen oder bis zum Tode kämpfen, so verdirbst Du Dir daraus nichts als Deine eigene Seligkeit...

Wenn wir nicht beizeiten auf den Gedanken kommen: von jedem unter uns hängt ebensoviel ab als von jedem anderen ... wenn wir nicht den ernstlichen Entschluß fassen: nächst dem gewöhnlichen Wirken auch nach jenen höheren vaterländischen Tugenden zu streben, so wird nie werden, was zu schaffen uns auferlegt ist.«

Das dritte Schreiben, adressiert: »Meinen Freunden deutschen Sinnes in Jena, zu übergeben durch Frd. Ausmis«, das den Hauptanlaß zur Untersuchung hinsichtlich seiner Komplizen gab, lautet im wesentlichen so: »Seit ich nach und nach über die Sache des Vaterlandes in mir klarer wurde, trachtete ich, mich gegen der Welt Halbheit öffentlich zu entscheiden, und ich kann nimmer ruhen, bis der Spottbube Kotzebue durch meine Hand seinen Lohn erhalten wird. Es wird mir dieses Werk unter allen das schwerste; seit ich also die Notwendigkeit desselben erkannt hatte, war es mir Höllenpein, bis ich erproben konnte, ob ich diese Tat auch zu vollführen vermöchte. Nun gehe ich hin, um diese Brandfackel ins ruhige Leben zu schleudern; möge der Erfolg für unser gemeinsames Streben segensreich werden.«

Ein viertes Schreiben ist an die deutsche Burschenschaft zu Jena gerichtet. Darin trägt er sein Begehren vor, aus der Verbindung entlassen zu werden, weil die Mitglieder Anstoß daran nehmen könnten, wenn er fürs Vaterland auf dem Rabensteine sterben sollte. Für das große Publikum aber erließ er fünftens eine Proklamation, überschrieben: »Todesstoß dem August von Kotzebue«, die die eigentliche Brandfackel sein sollte, die er ins deutsche Volk schleudern wollte, die aber wirkungslos bleiben mußte, weil das Volk weder diese Ideen begriff noch die Sprache verstand. Wir zitieren nur die wesentlichen Stellen:

*

»Ich hasse nichts mehr als die Feigheit und Faulheit der Gesinnung dieser Tage. Ein Zeichen muß ich Euch des geben, muß mich erklären gegen diese Schlaffheit – weiß nichts Edleres zu tun, als den Erzknecht und das Schutzbild dieser feilen Zeit – Dich Verderber und Verräter meines Volkes, August von Kotzebue – niederzustoßen.

Du, mein deutsches Volk, erhebe Dich zur hohen, sittlichen Würde der Menschheit – eine Gnadengabe hat der Mensch von Gott; sie – die höchste und einzige – ist die Gottähnlichkeit – des Menschen freier Geist und seine freie, schöpferische Kraft. Mein deutsches Volk, Du hast kein eigenes, kein edleres Besitztum, sie ist Dein höchstes Gut. – Erkenne, wahre Dir diesen Glauben, diese Deine Liebe zu Gott.«

Zum Schluß heißt es: »Die Reformation muß vollendet werden! Brüder verlasset einander nicht im Drange der Zeiten; Trägheit und Verrat straft mit Knechtschaft die Geschichte – Ihr habt sie vor Euch! Auf, ich schaue den großen Tag der Freiheit! Auf, mein Volk, besinne Dich, ermanne, befreie Dich!«

Dieses Schreiben ist von Sand mit besonderem Fleiße ausgearbeitet worden, er hat daran die letzten drei Monate seines Aufenthalts in Jena geschrieben und den ursprünglichen Entwurf vielfach durchkorrigiert. Ursprünglich sollte es als Brief an Kotzebue übergeben werden – daß es geschehen wäre, behauptete das Gerücht auch noch lange nach seinem Tode –, dann überarbeitete er es zum Aufruf an das gesamte Volk. Er fertigte mehrere Abschriften an; eine davon wollte er bei Kotzebues Ermordung benutzen. Dieses Exemplar war auf einem ganzen Foliobogen feinen Papiers, an dem unten noch ein Streifen des gleichen Papiers angeklebt war, sauber und korrekt geschrieben.

Endlich fertigte Sand zugleich mit diesem »Todesstoß« noch ein Todesurteil an, das nicht zu den Untersuchungsakten gekommen ist, dessen Inhalt er selbst aber dahin angibt: Kotzebue sei der Verführer der deutschen Jugend und der Verderber der deutschen Geschichte gewesen, und da so viele erhabene Stimmen nicht gehört worden seien und kein Gericht sich gegen ihn gewandt habe, so trete er im Volksgefühle gegen ihn auf, um das Gesetz des Volkes und des Reichs an ihm zu vollziehen. Dann habe er dem deutschen Volk gesagt, daß, wenn es nicht das Schicksal der Griechen teilen wollte, welche ungeachtet der herrlichen Schlachten von Salamis und Platia unter die Herrschaft des Philippus gekommen seien, so müsse es sich gegen den Verrat wehren.

Es gewinnt den Anschein, als ob Sand die Mehrzahl dieser Schriften in einer sonst unbegreiflichen Sorglosigkeit in Jena nur deshalb unverschlossen zurückgelassen habe, damit die beabsichtigte Tat vor ihrer Ausführung ans Tageslicht komme und er, verraten und gehindert, dadurch der furchtbaren Pflicht, zu der er sich selbst das Wort gab, enthoben würde.

Der Unglückliche selbst hat darüber nichts bekannt, aber mehrere seiner Äußerungen, zusammengehalten mit den Umständen, machen es aufs höchste wahrscheinlich, daß er diese letzte Selbsttäuschung beging und, das Werk noch einmal einer Art Gottesurteil übergebend, die Ausführung davon abhängen ließ.

Sand will drei Pakete zu besorgender Schriften gefertigt haben, wovon die zwei ersten, sein Tagebuch und andere Briefe enthaltend, richtig an seine Mutter gelangt sind. Das dritte aber habe enthalten einen Brief an seine Eltern, einen Brief an die Bamberger und zwei an die Bremer und Speiersche Zeitungsredaktion, die Urschrift des »Todesstoßes« und das nur in einem Exemplar vorhandene »Todesurteil«. Dieses dritte Paket ist verschwunden, von seinem Inhalt ist nichts zum Vorschein gekommen als eine Abschrift des Briefes an die Eltern. Sand hat sich in Widersprüche darüber verwickelt, wem und wie er es zur Besorgung überlassen habe. Seine Freunde Ausmis und Doktor Karl Follenius bestreiten beide, es empfangen zu haben, und es ist nur Vermutung, daß einer oder beide beim ersten Schrecken nach Eröffnung des Pakets dasselbe vernichtet haben könnten, um allen Verdacht von sich abzulenken. Ebensowenig will einer der genannten Zeitungsredakteure ein Schreiben von Sand erhalten haben, das, nach dessen Angabe, ungefähr folgendermaßen gelautet haben solle: »Ich ersuche Sie, die beikommenden Sachen, ›Todesstoß‹ und ›Todesurteil‹, in Ihrer Zeitung abzudrucken, aber nicht eher, als bis Sie die Nachricht erhalten, daß A. v. K. durch meine Hand gefallen sei; komme ich durch für eine andere Tat für das Vaterland, so verschweigen Sie meinen Namen.«

Das Schicksal dieses Pakets mag sein, wie es will, fest steht soviel, daß Sand in seinem Pulte ein Verzeichnis seiner Schulden, die seine Eltern bezahlen, eine Verfügung, daß seine Effekten in seine Heimat geschickt werden sollten, und die Schreiben an die deutsche Burschenschaft in Jena und an seine Freunde deutschen Sinnes zurückließ. Sie befanden sich in einem blauen Umschlage, der, versiegelt mit seinem Petschaft, die Aufschrift trug: »Briefe zu besorgen«. Ja, er erinnert sich nicht einmal, diese verfänglichen Schreiben in das unverschlossene Pult gelegt zu haben, er ließ sie seiner Meinung nach in dem unaufgeräumten Zimmer zurück, in der Erwartung, daß die Hausleute oder Freunde, die Bücher zu suchen kämen, sie finden und an die Vorsteher der Burschenschaft bringen würden. Diese Sorglosigkeit wäre verständlich gewesen, hätte Kotzebue noch in Weimar gelebt. Sand hätte sein Opfer in einem Morgengange erreicht. Aber Kotzebue wohnte in Mannheim, vierzig Meilen von Jena. Sand mußte eine große Reise dahin unternehmen und brachte auf dieser Reise, indem er unterwegs auf vielen Stationen verweilte, volle vierzehn Tage zu! Was konnte bei diesem unbegreiflichen Zaudern, nach einem so festen Entschlusse, seine Absicht sein, als daß inzwischen irgend etwas einträte, was ihn der furchtbaren Arbeit enthöbe? Er selbst gesteht, »von Frankfurt aus sei er in das Zaudern gekommen, bis er sich endlich gewaltsam losgerissen und zur Ausführung der Tat bestimmt habe. Die Bangigkeit vor der Tat mit ihren Folgen habe zum Zaudern beigetragen und einen fortwährenden Kampf verursacht.«

Sand berichtete in jenen Briefen den näheren Freunden, in welcher Absicht er fortgehe. Er meldete sein Vorhaben der Burschenschaft. Er mußte annehmen, daß, nach dem natürlichen Gange der Dinge, bald, vielleicht schon am Abend desselben Tages seiner Abreise, ihr Zweck ruchbar werden würde. Was die Burschenschaft erführe, davon mußte auch der Senat Kenntnis erhalten, und das erste, was dieser tun mußte, wäre, Stafetten nach Mannheim zu senden, um das Verbrechen zu verhindern.

Wie immer die Geschichte mit jenem Pakete sich verhielte, genug, auch darin hatte Sand gewissen Personen sein Vorhaben vertraut, er hatte es sogar an drei ihm persönlich völlig unbekannte Zeitungsredakteure gemeldet. Seiner eigenen Angabe und Berechnung nach durften und mußten sie es früher erfahren, als die Tat vollführt war. Konnte er denken, daß diese drei Männer schweigen und durch ihr Schweigen sich zu Komplizen der Tat machen würden? Im Gegenteil war zu erwarten, daß, wenn sie es nicht für eine grobe Mystifikation hielten, sie augenblicklich davon Anzeige machen müßten. Auch wenn der in dem Paket befindliche Brief an Sands Eltern zu rechter Zeit in deren Hände kam, war nicht alle Wahrscheinlichkeit gegeben, daß sie mit Kurierpferden eilen würden, um den geliebten Sohn von einer Mordtat abzubringen, die ihn auf das Schaffot bringen mußte?

Und dennoch zauderte Sand auf seiner Reise dermaßen, daß er erst am fünfzehnten Tage in Mannheim eintraf!

Kotzebues tragisches Ende schien beschlossen; das Unwahrscheinliche trat ein, das scheinbar Unmögliche wurde wirklich. Vierzehn Tage und länger kam niemand in sein verlassenes Zimmer oder fand die Briefe. Erst als die Estafette aus Mannheim dem akademischen Senate die Nachricht von der Mordtat überbrachte und man von Gerichts wegen in seiner Wohnung nachsuchte, fand man die Schriften!

Am vorletzten Abend seines Aufenthaltes in Jena, dem 7. März, hatte Sand seine Freunde zu sich geladen. Sie bemerkten keine Umwandlung an ihm. Auch am letzten Abende äußerte er nichts, was auf den Zweck seiner Reise hätte schließen lassen. Er antwortete jedem, »er gehe in die Heimat«, und lehnte die übliche Begleitung oder das Comitat seiner Genossen ab. Jedoch erinnerten sich die Freunde später, daß er mit besonderer Feierlichkeit von ihnen Abschied genommen habe. Bei seinen Hausleuten hatte er die Miete auf das Sommerhalbjahr verlängert, um den Verdacht abzuwenden.

Morgens um vier Uhr, am 9. März, verließ er Jena zu Fuß, auf dem Wege nach Erfurt. Sein Anzug war ein schwärzlicher deutscher Rock, darunter eine rote wollene Weste und schwarze, lange Tuchbeinkleider; die Füße in Schnürstiefeln, auf dem Kopf eine schwarzsamtene Kappe mit Schirm. Gewöhnlich trug er über dem Rocke eine blaue Bluse. In seinen Taschen war ein Kompaß in einer zinnernen Kapsel, eine Karte von Schwaben und eine vom Neckarlauf. Von Büchern führte er mit sich ein abgerissenes Stück aus dem Neuen Testament, Körners »Leier und Schwert« und ein geschriebenes Gedicht: »Abendmahlsfeier«, wie Sand angab, von Friedrich Rückert, wie aber ermittelt wurde, von Doktor Follenius.

Auf dem Rücken trug er einen Tornister, den er jedoch nur bis Darmstadt mit sich nahm, wo er ihn einem Freunde übergab, der ihn nach Wunsiedel senden sollte. Sein wichtigstes Gut, das er am sorgfältigsten zu hüten suchte, waren seine zwei Dolche. Der eine, »das kleine Schwert«, dem er vergeblich in Jena mit Scheidewasser seine Lieblingsstelle aus Körner: »Drück dir den Speer ins treue Herz hinein« einzuätzen versucht hatte, sollte an einem Loche in seinem Brustlatze hängen. Doch trug er ihn, der Bequemlichkeit wegen, lieber in ein Tuch gewickelt auf dem Tornister, solange er diesen bei sich hatte. Den kleinen Dolch, eigentlich ein großes Vorlege- oder Jagdmesser, trug er im Tornister oder in seinem linken Rockärmel. Später steckte er ihn in die Tasche.

In Erfurt blieb Sand beim Turnlehrer S. bis zum 11., wo er nachts elf Uhr die Post nach Frankfurt bestieg. Mittags, während der Rast in Eisenach, überredete er die beiden Passagiere, mit ihm auf die Wartburg zu steigen und dort das Mittagsmahl einzunehmen. Hier schrieb er in das Stammbuch für Studenten: »Was sollen Euch die alten Schlafmützen schaffen? Vertrauet Euch selbst und bauet im eigenen Herzen Gott und dem Vaterlande einen Altar auf! – Drück Dir den Speer ins treue Herz hinein, der Freiheit eine Gasse.«

In der Nacht zum 14. gelangte er ohne weiteren Aufenthalt nach Frankfurt a. M. Hier stieg er im »Schwan« ab, suchte aber schon am nächsten Morgen einen Landsmann und Bekannten W., einen ehemaligen preußischen Offizier, auf, bei dem er bis zum 17. März wohnte. Er brachte diese Zeit mit älteren Bekannten teils in Privathäusern, teils auf Spaziergängen»« zu. Am 17. früh reiste er weiter nach Darmstadt, fragte hier einen Studenten nach einem Wirtshause, ging aber nicht in den »Darmstädter Hof«, der ihm genannt wurde, sondern zum Advokaten H. Er nahm aber bei diesem die ihm angebotene Wohnung nicht an, sondern wurde von seinen Freunden bei einem Kameralpraktikanten untergebracht, »weil er hier, nach seinem Wunsche, für sich unbemerkt leben konnte«. Sein Umgang beschränkte sich auch wirklich auf vier bis fünf Befreundete, von denen zwei ihn am 22. März auf dem Weg nach Mannheim begleiteten. Als der eine umgekehrt war, begleitete ihn der andere bis zu den sogenannten Bickenbacher Tannen und schnitt ihm hier, auf sein Bitten, die langen Haare ab, die ihn, wenn er später die Flucht versuchte, ja leicht kenntlich gemacht hätten. Schon um drei Uhr nachmittags machte er, nur noch sechs Stunden von Mannheim entfernt, in dem Städtchen Lorsch Rast und bestellte einen Wagen, der ihn, aber erst am nächsten Morgen, bis Mannheim fahren sollte.

Endlich, die letzte bange Nacht war verstrichen, der verhängisvolle Morgen angebrochen, er stählte die Nerven und gab ihm Kraft. In einem gemieteten Wagen fuhr er um sechs Uhr nach Mannheim ab. Um neun Uhr dreißig stieg er an der Mannheimer Neckarbrücke ab, ließ sich vom Fuhrmann abstäuben, gab ihm ein Trinkgeld und entließ ihn mit dem Versprechen, wenn er wieder durch Lorsch käme, ihn abermals anzunehmen.

Im Gasthofe »Zum Weinberg« trank Sand einen Schoppen Wein. Der Wirt will durchaus keine Gemütsaufregung an ihm bemerkt haben. Er nahm dann einen Lohnbedienten, der ihn nach Kotzebues Wohnung führen sollte. Nach ein paar Schritten kehrte er indessen wieder zurück, um sich die Kleider abbürsten zu lassen und ein Halstuch umzubinden. Wie er angab, war es ihm mit offener Brust zu kalt, aber er hatte so die ganze Reise gemacht; wahrscheinlich geschah es, um bei Kotzebue leichter Zutritt zu erhalten, vielleicht auch, um sich zur Flucht vorzubereiten.

Nachdem der Lohnbediente Sand die Wohnung gezeigt hatte, gab dieser ihm ein Trinkgeld, winkte ihm, sich zu entfernen, und klingelte. Kotzebue war nicht zu Hause. Die Magd, der er sich Heinrichs aus Mietau nannte, bestellte ihn auf den Nachmittag zwischen fünf und sechs Uhr wieder. Sand eilte hierauf dem Lohnbedienten nach, um sich von ihm ins Naturalienkabinett und in die Jesuitenkirche führen zu lassen. Beide aber waren verschlossen. Sand ließ sich nun in den Schloßgarten führen und den Rhein zeigen.

Um ein Uhr war er wieder im Gasthofe, entließ abermals den Lohndiener und sagte ihm, er werde abends ins Theater gehen. An der Table d'hôte saß er zwischen zwei Geistlichen vom Unterrhein und sprach mit ihnen über geschichtliche Gegenstände, über Luther und die Reformation. Er aß mit gutem Appetit, aber mäßig, und trank nur einen Schoppen Wein. Auf des Wirts Frage, ob er den Herrn von Kotzebue angetroffen, antwortete er trocken »Nein!« und sagte dem einen Geistlichen, er müsse dem Herrn von Kotzebue noch einen Besuch machen. Nur beim Schlusse der Mahlzeit will einer der Tischgäste eine große Zerstreuung an ihm bemerkt haben.

Nach Tisch schrieb er sich unter dem Namen Heinrichs in das Fremdenbuch, bezahlte die Zeche, unterhielt sich noch bis gegen fünf Uhr und verlor sich dann, ohne Abschied zu nehmen.

Um fünf Uhr stand er wieder vor Kotzebues Tür. Der Bediente führte ihn, ohne daß er noch einmal seinen Namen nannte, die Treppe hinauf und meldete ihn. Drei Damen, die Frau von Kotzebue besuchen wollten, gingen auf der Treppe an ihm vorüber. Er grüßte sie höflich, und der Bediente rief ihm zu: »Sie können herauf!« Das Folgende beruht allein auf Sands Äußerungen.

Der Bediente brachte einige Minuten mit Hinundherlaufen oder Reden zu; dann rief er ihn herein, blieb aber noch unter der Tür stehen und sprach leise nach dem Innern des Zimmers. Endlich wurde er in das Wohnzimmer der Familie gelassen. Kotzebue trat aus der Tür links herein. Sand grüßte ihn und »wendete sich gegen ihn auf die Seite des Eingangs herum«. Ihm war, wie er sagt, das Schrecklichste, daß er sich verstellen mußte. Er sagte ihm, daß er ihn auf seiner Durchreise besuchen wolle. »Sie sind aus Mietau?« fragte Kotzebue. Sand hatte sich des Namens bedient, weil er nicht glaubte, daß Kotzebue ihn, wenn er sich für einen geborenen Deutschen ausgäbe, vorlassen würde; leichter würde dies unter dem Namen eines Kurländers sein. Nach einigem Hinundherreden trat Sand vor. »Ich rühme mich« – zog dann den Dolch aus dem linken Rockärmel – »Ihrer gar nicht. Hier du Verräter des Vaterlandes!« und versetzte ihm einige Stiche in die linke Seite. Wieviel Stiche er ihm gegeben hatte, und welchen zuerst, weiß er nicht: »Es war geschwind geschehen.« Kotzebue hatte kein Wort während des Angriffs gesprochen, sondern nur ein bloßes Gewimmer hervorgebracht, auch als er schon sah, daß Sand mit aufgehobenem Arm auf ihn loskam. Er hielt nur die Hände vor und fiel am Eingang des Zimmers, linker Hand, zusammen. Den Dolch hielt Sand so, daß die Schärfe oberhalb des Daumens und der Faust war.

Der Ermordete fiel zum Sitzen zusammen. »Dann sah ich ihm noch einmal in die Augen«, fährt Sand fort, »um zu sehen, wie es mit ihm stehe; ich wollte wissen, was mein Angriff für Folgen gehabt habe, und ihm überhaupt noch einmal in das Gesicht sehen. Ich glaube, er hat noch mit den Augenwimpern immer gezwinkert, so, daß man bald das Weiße der Augen, bald nichts sah.«

Beim Umdrehen, nachdem Kotzebue zusammengesunken, bemerkte Sand ein kleines Kind, das während der Tat zur Tür links vom Eingang hereinsprang. Es war Alexander von Kotzebue, der vierjährige Sohn des Ermordeten, der an der offenen Tür die Mordszene mit angesehen zu haben schien. Das Kind glaubte, wie es nachher geäußert haben soll, »der fremde Mann wolle mit seinem Vater Krieg spielen«. Er schrie auf und weckte den Mörder aus seinem Starrsinn. Es war der Bote der Nemesis, der der Sache eine ganz andere Wendung gab, indem, ohne dies Zwischenspiel, Sand wahrscheinlich aus dem Hause entkommen wäre. Er kehrte im augenblicklichen Impulse den Dolch gegen die eigne Brust. »Sein Schreien«, sagte Sand aus, »hat mich in der Stimmung von so vermischten Gefühlen dazu bewogen, ihm gleichsam zum Ersatze, mir einen Stoß mit dem kleinen Schwert zu geben.« Der Stoß ging aber nur einige Zoll tief in die linke Brust; er zog den Stahl selbst wieder heraus, und die Wirkung war nur ein momentaner Blutverlust.

Die Zeugenaussagen über den Auftritt selbst, soweit sie davon Kunde geben können, und über das Nächstfolgende stimmen im wesentlichen überein. Die geringen Umstände, über die sie voneinander abweichen, sind unerheblich und erklärt durch die allgemeine Bestürzung, von der jeder einen anderen Eindruck auffaßte. Die Amme im Nebenzimmer hörte einzelne Worte des Gesprächs zwischen Kotzebue und dem Fremden. Der Bediente und Kotzebues Tochter Emmy stürzten fast zu gleicher Zeit in das Mordzimmer. Sie hoben den Verwundeten auf. Er hatte noch so viel Kraft, sich langsam in das nächste Zimmer führen zu lassen, gab aber nur unartikulierte Töne von sich. Dort sank er vier Schritte vor der Tür zusammen und starb nach wenigen Minuten in seiner Tochter Schoß. Emmy selbst wurde bewußtlos in ein anderes Zimmer gebracht.

Der Bediente und das Fräulein von Kotzebue sagten beide aus, als sie in das Mordzimmer traten, habe ihr Herr und Vater auf der einen, auf der andern Seite aber der Fremde ganz ausgestreckt gelegen, die rechte Hand auf der linken Brust haltend. Dies will Sand nicht zugeben: Er erinnert sich durchaus nicht, daß er auf der Erde gelegen, und könne keinesfalls die rechte Hand auf der linken Brust gehalten haben, weil das kleine Schwert darin steckte. Möglich, daß er nicht eingestehen wollte, aus Anlaß einer so geringfügigen Wunde auf die Erde gestürzt zu sein; es ist aber ebenso wahrscheinlich, daß er sich nicht aller Bewegungen und Worte jenes furchtbaren Moments entsinnt. Er will mit den Personen, die zuerst hinzutraten, Worte gewechselt und ihnen etwa erklärt haben, daß er kein gemeiner Mörder aus Feindschaft sei, sondern um einer Idee willen gehandelt habe!

Weder die Tochter noch der Bediente wissen davon und werden auch schwerlich, wenn dergleichen gesprochen worden wäre, in ihrer Lage es gehört oder begriffen haben. Dagegen sagen beide, Sand habe sich aufgerichtet, den Dolch aus der Brust gezogen und sei ihnen »mit starken Schritten« nachgeeilt, als sie den Ermordeten ins Nebenzimmer geführt hätten. Der Bediente habe rasch die Tür zugehalten, »denn er habe eine Bewegung daran gemerkt, als wenn etwas daran rappele«. Sand leugnet den Umstand. Es ist kaum denkbar, daß wieder ein unmotivierter Blutdurst in ihm erwacht und er dem Opfer nachgestürzt sei, um noch einmal darüber herzufallen. Es wäre möglich, daß Gewissensangst ihn hingetrieben, daß er in seiner Art sich mit den Angehörigen verständigen, ihnen seinen Ruf habe aufdringen wollen, daß er nur aus Vaterlandsliebe handele usw.; aber wir müssen diese Erklärung fallenlassen, da sie durch keine positive Andeutung gehalten wird. Allein es ist ebenso möglich als wahrscheinlich, daß die Angst das Fräulein und den Bedienten etwas sehen und hören ließ, was in der Wirklichkeit nicht existierte.

Im Hause war Aufruhr und Verwirrung. Hier waren sie um den Sterbenden, dort um die Anwesenden beschäftigt, Kotzebues Gattin und jüngere Tochter davon abzuhalten, daß sie zu dem Ermordeten stürzten. Sand war allein, an ihn dachte im ersten Schrecken niemand. Die drei Türen des Zimmers standen offen. Er stürzte hinaus, um zu entfliehen. Auf dem oberen Flur begegneten ihm die Köchin und das Stubenmädchen, aber sie wichen entsetzt vor seinem blutigen Dolch zurück, den er »in Fechterlage vor sich hielt«. Doch folgte ihm die Köchin und schrie um Hilfe, als er die Treppe hinunter war.

Zu gleicher Zeit riefen die Damen oben am Fenster hinunter: »Haltet den Mörder fest!« Die Leute auf der Straße liefen zusammen. Sand, indem er aus dem Hause trat, erkannte, daß die Flucht unmöglich geworden. Er nahm das Papier, auf dem der »Todesstoß für August von Kotzebue« geschrieben stand, aus der Brusttasche des jetzt offenen Rocks, entfaltete es und überreichte dasselbe dem Kotzebueschen Bedienten, der eben aus dem Hause ging, um die Wache zu holen, mit den Worten: »Da, nimm es.« Bekanntlich war seine Absicht gewesen, das Papier mit dem kleinen Dolch als Femezeichen an eine Tür zu heften. Dazu fehlte ihm aber das Messer und die Zeit; jenes war ihm im Zimmer während des Mordanfalls aus der Hand gefallen, diese drängte ihn zur raschen Tat.

Er rief zu den hilfesuchenden Damen oben am Fenster: »Ja, ich habe es getan. So müssen alle Verräter sterben.« Später hat er die Worte wieder in Abrede gestellt. Dann wandte er sich zum Volke und redete einige Worte, die verschieden aufgefaßt wurden. Er will gesagt haben: »Hoch lebe mein deutsches Vaterland und im deutschen Volke alle, die den Zustand der reinen Menschheit zu fördern streben!« – Zwei Dienstmägde aus dem Kotzebueschen Hause haben so gehört: »Gottlob, es ist vollbracht; wer will mir etwas darauf tun?«, indem er auf das Papier deutete. »Es lebe mein deutsches Vaterland; ich streite für mein Vaterland!« Die Köchin will noch als Zusatz gehört haben: »Und die ganze Universität!« Sie beschied sich aber nachher dahin, daß sie sich wohl geirrt haben könne.

Dann, unangefochten von der jetzt versammelten Menge, die in dumpfer Bestürzung anfangs nur stumm dem unerwarteten Schauspiel zugaffend dagestanden zu haben schien, ließ er sich auf ein Knie nieder, murmelte die Worte: »Ich danke dir, Gott« – vielleicht auch: »für diesen Sieg« – und setzte dann den Dolch an seine linke Brust, indem er ihn langsam in gerader Richtung hineinstieß, bis er festsaß. Als er die Hände losließ, sank er rechts nach vorwärts um. Jetzt erst sprang man hinzu. Ein Schustergeselle zog ihm den Dolch, der in der Brust emporstand, heraus. Eine Hebamme riß ihm die Weste auf und wusch ihm mit Essig, den man aus dem Kotzebueschen Hause gebracht, Brust und Kopf, worauf Sand wieder Zeichen des Lebens von sich gab. Jetzt erschien die Wache, und er wurde auf eine Tragbahre gebracht.

Was von hier ab bis zum Augenblick seiner Hinrichtung geschehen war, darüber ruhte lange Zeit ein tiefer Schleier des Geheimnisses. Gefangenenwärter, Ärzte, Geistliche und Richter waren zu besonderem Schweigen verpflichtet, dermaßen, daß sie jeder Erwähnung des Namens des Verbrechers vor dem Publikum sich enthalten, ja nicht einmal verraten sollten, ob er noch lebe oder schon gestorben sei. Für so wichtig erachteten die deutschen Regierungen den Fall, denn er war Angelegenheit des Deutschen Bundes, der europäischen Politik geworden.

Keine von Sands Wunden war tödlich. Bis zum Abend des Tages blieb er bewußtlos, der Atem war schwach, der Puls kaum fühlbar, die Lippen blau, das Gesicht totenblaß, Hände und Füße kalt und steif. Jedoch hatte er sich schon gegen 8 Uhr, nach Einflößung etwas warmen Weines, so weit erholt, daß eine Art Verhör mit ihm angestellt werden konnte. Er antwortete durch Zeichen. Auf die Frage, ob er Kotzebue ermordet habe, richtete er den Kopf in die Höhe, riß die Augen weit auf und nickte kräftig und schnell mit dem Kopfe. Dann verlangte er Papier und schrieb mit Bleistift die Worte: »A. v. Kotzebue ist der Verführer unserer Jugend, der Schänder unserer Volksgeschichte und der russische Spion unseres Vaterlandes.«

In der folgenden Nacht hatte er viel Schmerzen; er gab durch Zeichen seinen Wunsch zu verstehen, daß der Aufseher Violine oder Gitarre spielen möchte. Dann ließ er sich aus Kohlrauschs deutscher Geschichte die Schlacht von Sempach vorlesen.

Das Wundfieber war am siebenten Tage behoben; nach vierzehn Tagen waren die Wunden geheilt. Aber es hatte sich in der linken Brusthöhle ein Extravasat gebildet. Die Heilung konnte nur durch eine Operation bewirkt werden.

Seine Gemütsstimmung war in den ersten Tagen nach der Tat aufgeregt, später ruhig und ernst. Als ihm angekündigt wurde, daß er, mehr der Sicherheit wegen, aus dem Hospital ins Zuchthaus gebracht werden müsse, vergoß er Tränen; schämte sich aber bald der, wie er sagte, unmännlichen Regung. Man verschonte ihn mit Ketten und wies ihm im Zuchthaus ein bequemes, von den anderen Sträflingen abgesondertes Zimmer an; doch wurde er mit der größten Strenge bewacht, und es scheinen ihm während seiner ganzen Haft keine anderen Mitteilungen zugekommen zu sein als solche, die durch die Hände seiner Richter gingen.

Anfänglich ließ man Sand seine langen Antworten zu Protokoll diktieren, um desto buchstäblichere Aussagen von ihm zu bekommen. Als dies Verfahren die Untersuchung, zu der extra in Mannheim eine Kommission gebildet worden war, bedeutend verzögerte und er sich später zu sehr davon ermüdet erklärte, ging man in das gewöhnliche Verfahren über.

Der Tatbestand des zunächst vorliegenden Verbrechens war ohne Schwierigkeit festgestellt. Kotzebue war schon gestorben, als die Ärzte herbeieilten. Er hatte drei Wunden erhalten. Eine im Gesicht war nicht von Bedeutung, die andere in der Mitte der Brust hatte die Lunge nur oberflächlich verletzt und wurde nicht für tödlich erkannt. Die dritte, auf der linken Brustseite, hatte den gemeinschaftlichen Stamm der Lungenarterien durchschnitten.

Die Untersuchung richtete sich zunächst, da Sand hinsichtlich des vorliegenden Mordes und seiner Motive die bestimmtesten und bejahende Antworten gab, auf die Ermittlung seiner möglichen Komplizen. Daß man keine auffand, ist schon gesagt. Wo das Verbrechen in die sogenannten hochverräterischen Umtriebe, die durch ganz Deutschland gesucht wurden, überging, trat die inzwischen von seiten des Bundestages errichtete Zentral-Untersuchungskommission in Mainz als Richterin auf.

Aber während man von seiten der Richter nichts unversucht ließ, ihn zum Geständnis seiner Mitwissenden oder Teilnehmer zu bringen, operierte Sand dagegen, indem er nicht nur die Wahrheit verschwieg, sondern sich offenbar Lügen erlaubte, die ihm später nachgewiesen wurden oder die er, durch sich selbst überführt, endlich bekennen mußte. Das geschah nicht, um seine Tat zu bestreiten oder vor dem Richter ein milderes Licht darauf zu werfen, sondern meistens im Glauben, seiner Sache zu dienen und diejenigen, von denen er das meiste dafür erwartete, vor Nachforschungen zu sichern.

In der Überzeugung, eine Pflicht gegenüber seinem Vaterland erfüllt zu haben, starb er nach vierzehn Monaten, ohne daß Richter, Geistliche, Freunde oder die Briefe seiner Eltern andere Gefühle in ihm zu erwecken imstande gewesen waren. Im Februar 1820 protestierte er gegen das die Untersuchung führende Gericht, er erklärte: »Als junger Deutscher und Bekenner Christi« könne er sich nicht einem Gericht unterwerfen, das nicht nach Gesetzen des Volkes richte. Sein Verbrechen bestehe einzig und allein darin, daß er den jetzt Gewalthabenden als einzelner entgegengetreten sei. Er unterwerfe sich geduldig dem Recht des Stärkeren. Er erkenne alle Maximen der Politik als gegen sich erlaubt, da er, als ein Feind der alten Ordnung und im Begriffe, sie umzustürzen, von seinen offenen Feinden ergriffen sei; nur müsse ihn niemand dadurch zum Toren machen wollen, daß man von ihm »unbestechliche Pflichttreue« fordere, die nur von einem Gerichte, das das gesamte Volk vorstellt, billig gefordert werden könne!

Nach der badenschen Verfassung erstatten die Hofgerichte in Kriminalsachen, wenn die gesetzliche Strafe zehnjähriges Zuchthaus erreicht, nur ein Gutachten an das Oberhofgericht. Dieses spricht das Urteil. Alle zwölf Stimmen des begutachtenden Gerichts gingen auf Enthauptung. Auf die Frage, ob ein Antrag auf Begnadigung zu stellen sei, übergingen fünf einen solchen stillschweigend, zwei wollten die Beurteilung dem urteilenden Richter überlassen, drei verneinten, nur zwei bejahten die Frage, indem Gründe vorhanden seien, die Todesstrafe im Wege der Gnade zu umgehen. Unterm 5.Mai 1820 fällte das Oberhofgericht sein Urteil dahin, »daß Inquisit Karl Ludwig Sand aus Wunsiedel des an dem kaiserlich-russischen Staatsrat von Kotzebue verübten Meuchelmordes für schuldig und geständig zu erklären, daher derselbe – ihm zur gerechten Strafe, anderen aber zum abschreckenden Beispiele – mit dem Schwerte vom Leben zum Tode zu bringen sei«.

Am 17. Mai wurde das vom Großherzog von Baden bestätigte Urteil Sand bekanntgegeben. Das Urteil hörte er ruhig an und gab zu Protokoll: »Es erscheine ihm diese Stunde und der verehrliche Richter mit der endlichen Entscheidung willkommen; in der Kraft seines Gottes wolle er sich fassen; denn er habe schon oft und deutlich an den Tag gegeben, daß unter menschlichen Leiden ihm keines diesem gleich dünke, als das ist: zu leben, ohne dem Vaterlande und den höchsten Zwecken der Menschheit leben zu können; er sterbe gern, wo er nicht in seiner Liebe wirken dürfe für die Idee, wo er nicht könne frei sein ... Er nähre die Hoffnung, durch seinen Tod denjenigen zu genügen, die ihn hassen, und wiederum die zu befriedigen, mit denen er die Gesinnung teile und deren Liebe mit seiner Erdenseligkeit eins sei. Willkommen erscheine ihm der Tod, da er noch die nötigen Kräfte in sich fühle, um mit Gottes Kraft so sterben zu können, wie man solle.«

In dem 1821 in Stuttgart herausgegebenen »Nachtrag zur ausführlichen Darstellung von Karl Ludwig Sands letzten Tagen und Augenblicken« findet sich ein Bericht über ein Gespräch Sands mit einem jungen Künstler und Handwerker. Der Zuchthausverwalter Kiefer, der Sand mit besonderer Zuneigung behandelt zu haben scheint, und diese Neigung wurde erwidert, führte ihm morgens um sieben Uhr einen jungen Künstler zu, der ihn zu malen wünschte. Sand hieß den letzteren freundlich willkommen, als Freund seines treusten Freundes, er glaubte ihn schon öfter aus dem Fenster im Garten des Verwalters gesehen zu haben. Der Gefangene hatte einen frischen Blumenstrauß vor sich. Kiefer bemerkte, daß nun bald auch die Rosen wieder da wären: »Sie blühen und verwelken.« Sand nahm den Gegenstand auf: »Ich habe neulich Gelegenheit gehabt, Betrachtungen darüber anzustellen, wie in der Natur das Schöne vergehen muß, wenn es sich zeigen und entfalten will. Der Oberzuchtmeister Kloster brachte mir eine Rose, eine sogenannte Monatsrose. Die war so schön. – Ich war an ihrem Anblick recht erfreut. Die Nacht darauf war kalt und daher etwas Feuer im Ofen. Da sah ich die Rose völlig aufgegangen. Sie sah schwächlich aus und kam mir in ihrer blassen Schönheit wie eine erst entbundene Mutter vor. In ihrer Mitte war ein weißer Streif, vom Biß eines Wurms verursacht.«

Das Frühstück unterbrach hier die Unterhaltung. Sand trank, liegend auf dem Bette, drei kleine Tassen Kaffee mit Wohlbehagen und noch eine Schale Milch. Der Künstler nahm währenddessen Sands Gesicht scharf ins Auge und bemerkte, daß das Porträt des Malers Mosbrucker Sand zwar in den Formen ähnlich aufgefaßt habe, doch sei es kleinlich und ohne Ausdruck. Sand erklärte, er sei damals noch sehr krank gewesen: »Ich meine, wenn ich mir hier ein Urteil erlauben darf, er hat mich zu studentenmäßig aufgefaßt, und den Arm so im Rock, den Dolch ziehend – dies sagte mir nicht zu.«

Nachdem noch einige Worte über Malerei gewechselt waren, äußerte Sand: »Unsere größte Glückseligkeit ist eben diese Ruhe, die wir hier in der Unruhe finden. Ich kann daher auch diejenigen nicht leiden, welche diesen Drang nicht haben, die sich an nichts stoßen, denen alles recht ist. Der Mensch muß etwas liebgewinnen. Was er einmal als recht und gut erkannt hat, muß er als sein Höchstes sich erwählen und festhalten; daß er unter keinem Verhältnis davon lasse, muß er bereit sein, seinem höchsten, heiligsten Gute jedes Opfer zu bringen. Dieses kann nur die Liebe. Die Liebe muß lebendig in uns sein, und diese Liebe kann selbst rein bei denjenigen sein und bleiben, die sonst mit manchen menschlichen Flecken behaftet sind ... Mir gefallen die, welche dasjenige, was sie einmal liebgewinnen, beharrlich verfolgen und die man so gewöhnlich die Unruhigen nennt. Auch ich bin von Jugend auf daran gewöhnt worden, um der Wahrheit mich zu stoßen.«

Inzwischen wurde ein junger Mann gemeldet, der Sand zu sprechen wünsche. Es war ein Schuhmachergesell aus Wunsiedel, ein ehemaliger Schulkamerad Sands namens Bietenfried. Sand freute sich, denn Bietenfried sei ein gutgearteter Mensch gewesen. Er reichte dem Eintretenden die Hand und sagte: »Grüß dich Gott, lieber Bietenfried. Sei herzlich willkommen. Ich kenne dich noch; es freut mich, daß du meiner gedenkst.« Bietenfried fragte: »Wie geht es dir, Sand?« – »Mir geht es gut. Wie geht es denn dir?« Bietenfried: »Auch gut, wenn es dir gut geht.« Sand hub wieder an: »Wir sind aus einer schönen Gegend, die ist der natürliche Mittelpunkt des lieben Vaterlandes. Unserem Urgebirg entströmen viele schiffbare Flüsse nach allen Richtungen desselben; es ist der Vaterlandsaltar, auf den man jedes Opfer gern legen muß. Freue dich dessen, wenn du zurückkehrst ins Urgebirge, und trage auch du zum Wohle des Vaterlandes bei, was du kannst, und wenn's auch noch sowenig wäre. Soll das Ganze gut werden, so muß jeder einzelne es sein und nach Kräften dazu beitragen. Und nun lebe wohl, recht herzlich wohl.« – »Du auch«, sprach Bietenfried. Sand reichte ihm die Hand und wandte sich dann wieder zum Künstler.

»Wir sind unterbrochen worden, und ich rede so gern von der Kunst. In ihr zeigt sich der Sinn des Volks, und ich hoffe mit Zuversicht, daß es im Vaterland besser und so werden wird, daß unsere neue Bildnerei eigen und groß sich zeigen kann. Das Gute, was gesäet ist, geht nicht verloren, und kommt es auch jetzt noch nicht zur Reife, so ist die Zeit seiner nicht wert; aber wir wollen ein besseres Vertrauen zu ihm haben. Auch das Turnen läßt vieles für die Jugend hoffen. Die Gebrauchskraft, wie Jahn sie nennt, wird dadurch entwickelt, und gibt es, wie er sich ausdrückt, auch jetzt in Deutschland allenthalben Großigkeiten, aber doch noch keine selbständige Größe, so wird doch die Hilfe Gottes kommen und dann unsere Kunst groß werden.« Da bat der Geistliche, Sand möge sich nicht zu sehr anstrengen; der Künstler, dessen Hand in der des Gefangenen ruhte, wollte aufbrechen. »Wenn wir Menschen treffen«, schloß Sand mit tiefer, innerer Bewegung, »die unsere Gesinnungen verstehen und teilen, so bekommen wir sie lieb; und sich seine Gefühle wechselseitig zu äußern ist ja ein so seltnes Glück.« Dabei entflossen ihm Tränen. »Wir haben es gefühlt und drücken uns die Hände, und dies sei zum Abschied unser Lebewohl.«

Der badensche Oberst von Holzungen, der Sand mit verhaftet hatte, besuchte ihn und fragte, ob er ihn noch kenne. Sand erkannte ihn und wußte sich noch aller Umstände zu erinnern. Als die Rede auf den Tod kam, dem er so jung entgegengehe, äußerte er: »Es ist nur der Unterschied zwischen Ihnen und mir, daß ich für meine Meinung sterbe. Sie aber, wenn Sie den Tod finden, für eine fremde.«

Sand hatte gewünscht, den Scharfrichter vorher zu sprechen. Widmann aus Heidelberg kam am 19. in Mannheim an. Als er in Sands Zimmer trat und der Zuchthausverwalter, der neben ihm am Bette saß, Sand den Namen des Eintretenden nannte, soll sich sein Gesicht plötzlich erheitert haben. Er richtete sich auf, faßte den Scharfrichter bei der Hand, ließ ihn neben sich setzen und hielt ihm während der ganzen Unterhaltung die Hand. Oft drückte er sie herzlich. Widmann war niedergeschlagen und konnte seine tiefe Bewegung nicht unterdrücken. Sand mußte ihn ermutigen. Überwältigt von dem Auftritt, wußte er nachher wenig davon zu erzählen. Nur erinnerte er sich, daß Sand unter anderem gesagt habe: »Bleiben Sie nur standhaft; an mir soll es nicht fehlen. Ich werde nicht zucken. Und wenn auch zwei oder drei Hiebe erforderlich sind, so sollen Sie darum die Fassung nicht verlieren.« Auch bat er ihn, sich Zeit zu nehmen, und fragte, wie er sich verhalten solle, und dankte ihm im voraus für seine Mühe. »Denn nachher«, soll er hinzugefügt haben, »werde ich Ihnen nicht mehr danken können.«

Am Morgen des 18. Mai ließ er seine langen, dunkelbraunen Haare ordnen und den ganzen Körper waschen. Er bemerkte dabei, daß es die Völker des Altertums auch so gemacht hätten, ehe sie ins Treffen gingen. Nach dem Zeugnis seiner Freunde blieb er in diesen letzten Tagen ruhig und sanft, freundlich und ermutigend gegen jedermann. Nicht als der Trostbedürftige erschien er, sondern als der Trostgebende für alle, die schluchzend und weinend von ihm schieden.

Die Begleitung durch einen Geistlichen auf den Richtplatz hatte er schon früher entschieden abgelehnt, weil er darin eine Entwürdigung der Religion erblickte. Dagegen unterhielt er sich mit drei Geistlichen am Abend des 19. über Religionsgegenstände. Der eine derselben, der mehrere Stunden bei ihm blieb, nahm ihm, im Auftrag, das Versprechen ab, nicht zum Volke zu reden. Sand versprach es, indem er hinzusetzte, wenn er auch wolle, würde seine Stimme doch zu schwach sein. Er legte sich an diesem Abend erst nach elf Uhr zur Ruhe und schlief so fest, daß er vor vier Uhr geweckt werden mußte. Um vier Uhr kamen die drei Geistlichen wieder, und man eröffnete ihm, daß die Hinrichtung, statt um elf Uhr wegen des gefürchteten Volksandranges schon um fünf Uhr vor sich gehen solle, falls er dazu vorbereitet sei. »Das bin ich in diesem Augenblicke«, erwiderte Sand. Er nutzte die übrige Zeit, sich mit den Geistlichen zu unterhalten, und bat sie, leise mit ihm zu beten. Nachdem dies geschehen, sprach er Körners Worte: »Alles Ird'sche ist vollendet, und das Himmlische geht auf.«

Am 20. Mai, am Sonnabend vor dem Pfingstfest, war der Tag der Hinrichtung. Zum Richtplatz war eine Wiese vor dem Heidelberger Tore erwählt. Das Schafott, das man dort errichtet hatte, war fünf bis sechs Fuß hoch. Aber die Nachricht von dem bevorstehenden Ereignis hatte sich sehr schnell verbreitet, daß eine Menschenmasse von allen Seiten, auch viel Studenten aus Heidelberg (in der Burschenschaft hatte man sich verabredet, in stiller Trauer daheim zu bleiben), nach Mannheim strömte. Die meisten übernachteten auf den Dörfern. Zur Vermeidung jeder möglichen unruhigen Bewegung hatte man deshalb die Hinrichtungsstunde vorgezogen. Von den Studenten kamen daher die meisten erst an, nachdem das blutige Schauspiel schon geschlossen war. Auch waren alle möglichen Vorsichtsmaßregeln durch Verstärkung der Gefängniswachen getroffen worden. Das Militär, aus 1200 Mann Infanterie bestehend, umgab im Karree das Schafott, 350 Mann Kavallerie wurden zur Eskorte aus dem Gefängnis verwendet, und selbst ein Detachement Artillerie stand unter Waffen.

Von den gebildeten Bewohnern Mannheims, die eine während des Prozesses vielfach an den Tag gelegte und auch später noch lange ausdauernde Teilnahme für Sand bezeigt hatten, ließ sich niemand außer seinem Hause sehen. Viele hatten sogar die Stadt verlassen. Dennoch wimmelten die Straßen von Neugierigen und Patrouillen; aber es ging alles ruhig ab. Noch wurde am Morgen selbst eine Stunde lang am Schafott gehämmert. Als es fertig war, erschien der Scharfrichter mit seinen Helfern, alle schwarz gekleidet; er trug über dem Rocke einen Schanzläufer von Biber, das Richtschwert darunter. Die Henkersknechte sollen auf dem Blutgerüste ihr Frühstück verzehrt und ihre Pfeifen geraucht haben!

Im verschlossenen Hofe des Zuchthauses wurde Sand in eine niedrige offene Chaise gehoben, die man zu diesem Zwecke hatte kaufen müssen, denn in ganz Mannheim hatte niemand seinen Wagen dazu hergeben wollen. Er grüßte rings umherschauend und stillschweigend die Gefangenen, die an den Fenstern lagen und weinten. Sie sollen während der Untersuchung, wenn sie an seinem Fenster vorübergeführt wurden, ihre Ketten in die Höhe gehoben haben, um ihn nicht durch das Klirren zu beunruhigen. Als das Hoftor aufging und die versammelte Menge den Verurteilten erblickte, soll ein lautes Schluchzen allgemein geworden sein. Sand bat darauf den Oberzuchtmeister, der auf seine Bitte neben ihm saß, wenn er etwas Schwächliches an ihm bemerke, ihm seinen Namen zuzurufen.

Der Richtplatz war kaum 800 Schritte vom Gefängnis entfernt. Der Zug ging langsam. Zu Seiten der Chaise gingen zwei Zuchtmeister mit Trauerfloren. Ein zweiter Wagen mit Stadtbeamten folgte. Die Glocken wurden nicht geläutet. Nur einzelne Stimmen »Sand, lebe wohl!« unterbrachen die allgemeine Stille. Es hatte geregnet, die Luft war kalt. Sand war zu schwach, um aufrecht sitzen zu bleiben. Er saß, halb zurückgelehnt, im Arm des Oberzuchtmeisters. Sein Gesicht war leidend, die Stirn offen und frei. Die Züge waren interessant, ohne schön zu sein. Alles Jugendliche war daraus fort. Er trug nicht, wie fast aller Orten gedruckt ist, einen schwarzen, altdeutschen Rock, sondern einen dunkelgrünen Überrock, weißleinene Beinkleider und Schnürstiefel. Der Kopf war unbedeckt.

Auf die Schultern zweier Zuchtmeister gelehnt, bestieg Sand das Blutgerüst. Er blickte noch einmal nach Mannheim und auf das versammelte Volk zurück, dann einmal, so schien es, auf die Natur im Frühlingskleide, ein Schauspiel, das ihm vierzehn Monate verschlossen geblieben war. Nach allen aktenmäßigen Darstellungen hat Sand nichts zum Publikum gesprochen. Nach den Berichten seiner Freunde fing er mit lauter Stimme an zu sprechen: »Ich sterbe im Vertrauen auf Gott«, als ihn jemand unterbrach: »Sand, Was haben Sie versprochen!«, worauf er schwieg, die Rechte feierlich, wie zum Schwur, in die Höhe hob und leise fortfuhr: »Ich nehme Gott zum Zeugen, daß ich für Deutschlands Freiheit sterbe.«

Nach dem kommissarischen Bericht sprach Sand für sich nur folgende Worte mit kaum hörbarer Stimme: »Gott gibt mir in meinem Tode viel Freudigkeit – es ist vollbracht, ich sterbe in der Gnade meines Gottes.« Nachdem der Aktuar das Todesurteil mit lauter Stimme vorgelesen hatte, wurden dem Delinquenten die Hände und der Leib an den Pfahl festgebunden. Er bat dabei leise die Scharfrichterknechte, ihn nicht so fest zu binden, weil ihn die Wunde schmerze. Man band ihm darauf die Hände statt auf der Brust, weil sie ihm dort das Atmen erschwerten, auf dem Schoße. Auch bat er, die Binde vor den Augen so zu schieben, daß ihm das Licht nicht ganz entzogen werde. Als er eine Schere am Nacken fühlte, bat er, ihm das Haar zu lassen. Der Nachrichter flüsterte ihm zu, es sei für seine Mutter bestimmt. Sand nickte dazu. Man schnitt ihm nur wenige Haare ab und band die übrigen in die Höhe.

Schon der erste Hieb war tödlich. Der Kopf wurde vom Rumpfe getrennt; nur blieb derselbe an einigen Fleischteilen des Vorderhalses haften. Übrigens geschah die Hinrichtung in der größten Ordnung. Feierlicher Ernst und tiefes Schweigen herrschten umher. Nur im Augenblick des Kopfabschlagens selbst durchzuckte unwillkürlich die Versammelten das Mitleid.

Aber kaum war es geschehen, so drängten, nach den Berichten seiner Freunde, alle Umstehenden an das Gerüst. Das Blut wurde mit Tüchern aufgewischt, der Richtstuhl durch einen Knaben vom Schafott geworfen, zerschlagen und in kleinen Stücken verteilt, und wer davon nichts habhaft werden konnte, schnitt sich wenigstens einen blutigen Splitter vom Gerüste ab. Nach anderen Berichten hatte ein Gutsbesitzer den ganzen Stuhl käuflich vom Scharfrichter an sich gebracht. Dies wird aber dahin berichtigt, daß der Gutsbesitzer den Stuhl vom Scharfrichter geschenkt erhalten und ihn selbst vom Schafott bis auf sein Landgut, eineinhalb Stunden von Heidelberg, getragen habe. Auch mit einzelnen Haaren soll Handel getrieben worden sein, doch protestiert der Scharfrichter dagegen, »etwas verkauft zu haben«, vielmehr scheint es, daß Spekulanten vorrätiges Haar, als von Sand herrührend, an den Mann gebracht hätten.

Körper und Haupt wurden sofort in den Sarg getan, den man auf der Stelle zunagelte. Nachdem er unter militärischer Eskorte wieder ins Zuchthaus zurückgebracht und später noch einmal vom Oberzuchtmeister untersucht worden war, um sich über die Identität des Leichnams zu versichern, wurde er, nachts um elf Uhr, in einer Ecke des benachbarten lutherischen Kirchhofs, wo auch Kotzebue ruht, unter Begleitung mehrerer Personen nach den gewöhnlichen Gebeten eingesenkt. Das Grab aber wurde sofort mit dem ausgehobenen Rasen wieder überdeckt und eben gemacht. Ein Wachtposten sollte dort stehen, bis der Verwesungsprozeß erfolgt wäre. Nach anderen Aussagen war es derselbe Posten, der das Zuchthaus bewacht. Er sei aber so gestellt worden, daß nur die niedrige Kirchhofsmauer ihn von der Grabstätte Sands trennte. Der Platz soll nicht schwer zu finden sein, wenn man links vom Eingangstor die Mauer bis zur Ecke verfolgt. Die übrigen Gräber sind entfernt. Ein Pflaumenstämmchen grünte rechts nach unten hin vom Grabe. Wein rankte sich an der Mauer auf. Der Platz war mit ewigem Klee und Vergißmeinnicht eingesät. Mannheims Einwohner wallfahrteten häufig dahin, und des Morgens fand man oft Blumen und Trauerweiden daraufgestreut.

Das Volk habe – schreiben die Freunde 1821 – die Wiese, worauf die Hinrichtung erfolgte, Sands Himmelfahrtswieschen genannt.


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