Willibald Alexis
Isegrimm
Willibald Alexis

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Einundvierzigstes Kapitel.

Die Katastrophe.

Der Kandidat hatte das gelbe Fräulein gesehen. Ihre Erscheinung bedeutete nie etwas Gutes. Wer sie gesehen, verschwieg es gern, wenn sich, was unsere Nerven in Aufruhr bringt, verschweigen läßt. Einige strengten sich auch an, es vor sich selbst abzuleugnen und für eine Sinnentäuschung zu erklären, weil ihre Philosophie ihnen den Glauben daran verbot.

Die Philosophie des Kandidaten verbot dies nicht; er glaube, wenn auch nicht an Gespenster, die aus den Grüften aufsteigen, um uns zu schrecken und zu mahnen, doch an Fluida, Stimmen, welche Verbindung zwischen den Wesen aus der unsichtbaren Welt mit denen der sichtbaren unterhalten. Er glaubte, daß unsere Gedanken, unsere Wünsche, die unreinen wie die geläuterten, von Einfluß seien auf die Geisterwelt, ein magnetischer Hauch, der Anziehungskraft übt auf jene körperlosen Wesen.

Als er aus des Majors Zimmer trat, gaukelte ein liebliches Bild, ein verführerischer Wunsch um seine erhitzte Stirn. Die Güte des Majors, sein Händedruck, der warme Ton seiner Sprache, das verschluckte Wort hatten den Wunsch plötzlich in nie dagewesener Lebendigkeit hervorgerufen. Mit einem Male war der gute Vorsatz, seine Neigung zu bekämpfen, bis er ein Recht erworben. damit vorzutreten, bis das heiligste Ziel seiner Wünsche erreicht, das Vaterland gerettet sei, fortgeworfen. Ergreife den Augenblick, er kommt nicht wieder! rief verführerisch eine Stimme, und er wollte umkehren, Amaliens Vater alles gestehen, was sein Herz bewegte.

Da rauschte es im dunklen Gange, das gelbe Fräulein schwebte drüben an der Mauer vorüber. Einige Augenblicke stand er wie festgewurzelt. Er wandte den Kopf; sie war verschwunden. Als er bang atmend sein Zimmer erreicht, warf er sich zum Gebete auf die Knie. Es war das seltsamste Gebet: es hatte keinen Zusammenhang. Anfang und Ende widersprachen sich.

Der Schauer der Geisterwelt hatte ihn gestraft für den Bruch seines Gelöbnisses. Während er aber die Hände rang zum Bekenntnis seiner Reue darüber, irrlichtelierten ihm die Gedanken: ob der Ewige eine Verirrung so strafe? Ob denn die Gedankensünde so groß gewesen, daß der Allmächtige eine so unmittelbare Warnung und Rüge aussenden könne? Ob diese Furcht nicht wieder Sünde sei, die Geburt des aufgeregten Blutes? – Das Gebet ging in eine Kritik über. Jetzt glaubte er sich sagen zu können, daß er sich getäuscht habe; dann entsann er sich wieder so deutlich der einzelnen Merkmale. Ein Angstschweiß träufelte ihm von der Stirn, und der Schluß des Gebetes war: der ewige Geist des Lichtes möge die Verirrung seines Geistes in die Schächte der Finsternis und des Aberglaubens verzeihen, das pochende Bekenntnis, daß der Schöpfer aller Gaben uns Verstand und Vernunft nicht umsonst gegeben, sondern damit wie sie auch in den Dingen anstrengen, wo wir so gern geneigt sind, Winken und Eingebungen zu folgen, weil es so viel bequemer ist als das Forschen, Prüfen, Urteilen.

Wenn der Kandidat darin beruhigt aufstand, so war er doch sonst nichts weniger als ruhig; denn die Kritik, welche er angerufen, hatte ihm ein anderes Resultat geliefert, was auf seine Seele drückte. Eine Geistererscheinung war es nicht, was er eben gesehen, aber ebensowenig eine Sinnentäuschung. Er hatte das vom Schleier umhüllte Gesicht der Erscheinung nicht beobachtet, aber ihren stolzen Gang; es setzte nur eine im Schloß so die Zehenspitzen, es wiegte sich nur eine so in den Hüften. Als er am Zimmer des ältesten Fräuleins vorübergewankt, hatte ein leises Knarren sein Ohr getroffen; damals hatte er darauf nicht acht, jetzt entsann er sich, daß ein matter Lichtschein aus der nur angelehnten Tür gedrungen war. Der matte Lichtschein führte seine Sinne zu dem hellen Schein zurück, der aus der Stube der Einquartierung vorquoll. Als er sich an der Ecke des Korridors nach der Erscheinung umgeblickt, die verschwunden war, hatte er diesen nicht mehr gesehen; die Tür mußte inzwischen geschlossen sein.

Das waren nicht mehr Vermutungen, es waren bestimmte Inzichten, die Schlüsse auf Schlüsse erlaubten, forderten, und er stand vor einer Gewißheit.

Wenn ein Gespeist uns die Sinne benahm, und wir kommen zu uns und entdecken, daß bewaffnete Diebe hinter der Tapete rauschen, wechseln nur die Schauer. Was tun? – Schweigen, handeln! zu schweigen war gewiß das Klügste. Er hatte auch Rechtfertigungsgründe dafür. Welche Pflicht, welchen Auftrag, welchen Beruf hatte er, zu handeln? Jeder Schritt konnte das Uebel vergrößern, den Schaden unheilbar machen. Konnte er's übers Gewissen bringen, den Frieden der Familie als Angeber zu stören! Ja, wenn er zum Major zurückging mit der traurigen Botschaft, das Aufbrausen des tiefgekränkten Vaters würde er, und wenn der erste Zorn sich gegen ihn entlud, zu ertragen gewußt haben, aber auch den Verdacht, der auf seine Absicht zurückfiel? Er verriet die eine Tochter, um die andere für sich zu gewinnen. Hätte die Welt anders geurteilt?

Aber auf der andern Seite – war er nicht jetzt schon als Teil der Familie betrachtet? Hatte nicht der Vater, nicht jedes Mitglied ihn mit Aufträgen geehrt, die das vollste Vertrauen voraussetzten? Hin war jene Zeit, wo der stolze Edelmann ihn nur als Instrument brauchte. Wie tief hatte er ihn in seine Verhältnisse blicken lassen, wie oft seinen Rat gehört: Wenn er auch hochmütig lächelte, ihn anfuhr, das war eben nur seine Manier, Mauritz wußte, daß darunter ein wohlwollendes Herz für ihn schlug. Daß, wenn der taube Faßbinder stürbe oder emeritiert würde, ihm die Pfarre zugeteilt werden solle, war wie eine Sache besprochen, die sich von selbst versteht. Wie hatten alle ihre Freude ausgedrückt, daß sie dann zusammenblieben. Die gnädige Frau hatte gesagt: »Dann können wir auch wieder ins Pfarrhaus zum Besuch gehen,« und der Major schmunzelnd hinzugesetzt: »Und Mutter wird auch nicht die magersten Martinsgänse aussuchen, wenn wir den Dezem schicken.« – »Ja, das kommt auf die Frau Pfarrerin an,« hatte die gute Frau von Ilitz erwidert. »Die sind manchmal ganz besonderer Art, und die fettesten Gänse sind nicht fett genug. Na, mit der künftigen Frau Pfarrerin hoffe ich, daß wir auskommen werden.« – War da nicht ein besonderer Blick auf Malchen gefallen? Genau hatte er nicht gesehen, aber Malchen war errötet.

So innig verwachsen mit ihnen in allen Beziehungen, die das Leben bilden und adeln, und er sollte in einer Angelegenheit, von der Wohl und Wehe, der künftige Friede der Familie abhing, den stummen Mitwisser von etwas abgeben, das diesen Frieden vernichtete! War das nicht Verrat? Wenn es herauskam, mit welchen Augen sollte er den Vater, die Mutter wieder ansehen? Er hätte sich noch einen Vorwurf machen können. Erfuhr er denn jetzt erst das Mysterium? Hatte er nicht schon seit längerer Zeit es geahnt, war nicht in der vergangenen Nacht ein Blitzstrahl vor ihm niedergeschossen? Aber gerade in diesem Umstande fand er Rechtfertigung für sich. Damals war es seine Pflicht, zu beobachten, er durfte nicht eher sprechen, ehe er nicht wußte. Seit gestern nacht war er vor den anderen Dingen, die ihn in Anspruch nahmen, nicht zu Atem gekommen. Hatte er nicht eine zweite Tochter des Hauses gerettet? Das war im ehrenvollen Auftrage aller Familienglieder geschehen, von allen war es dankbar anerkannt worden. Sollte er dieses Fest stören, in diese Freude als Rabe hineinschreien: »Aber freut Euch nicht zu sehr, dafür ist Euch die andere Tochter verloren gegangen!« Unmöglich. Ja, wenn ihn noch einer gefragt hätte? Sollte er den beschäftigten Vater, die Mutter in den Winkel ziehen, dem von der Wechselschuld, den Kontributionssorgen gedrückten Major gerade an diesem Tage, unter dem Lärm ausgelassener Gäste, einen Stachel ins Herz drücken? Der einzige Mann, den er hätte aufsuchen, dem er die moralische Pistole auf die Brust halten können, war den Tag über verschwunden. Karoline war krank.

Es war alles Handeln unmöglich gewesen. So sprach sein innerer Advokat, und setzte hinzu, wo es Pflicht gewesen, vorher alles aufzubieten, um zu verhindern, werde ein Einschreiten nachher zur Torheit, zum Vergehen. Und noch ein anderer Gedanke schmeichelte sich als Vermittler um seine Stirn: Der Major stand in letzter Zeit mit dem Kolonel auf dem besten Fuße. War es nicht denkbar, daß er, um der Persönlichkeit des Mannes willen, sein Vorurteil gegen seine Nation und seinen Rock aufgegeben, daß er heimlicher Mitwisser des Mysteriums war, daß dieses einen anderen, geheiligteren Charakter trug, als der Schein war? Dem widersprach auch die Heimlichkeit nicht. Der Major von der Quarbitz durfte, konnte das nicht öffentlich gutheißen, wozu das Vaterherz ja sagte. Sollte, durfte der Kandidat den Schleier zerreißen, der einen geheimen Ehebund verhüllte, und wie konnte er es je gutmachen, wenn er den väterlichen Freund der Welt und sich selbst bloßstellte?

Es mußten Advokatengründe gewesen sein, sie ließen ihn nicht schlafen, und im Halbschlaf quälte er sich, sie zu widerlegen oder zu verstärken. Er war der angeklagte Kolonel, er beteuerte seine Unschuld, man wollte ihm nicht glauben. Man wollte ihn aus dem Hause reißen, stoßen; er wollte nicht fort, weil er nicht konnte, seine Sohlen klebten fest am Boden. Er riß seine Brust auf und rief ihnen zu, sie sollten darauf zielen. Wer denn? – gewiß die wilde Jagd, die im Hause war. Oder nein, sie zog aus mit Fackeln und Hunden, mit Jodeln und Geschrei. Aber ihr Lärmen über seinem Kopf zerriß auch den leichten Traumschleier. Es waren Katzen oder Marder, die sich auf dem Boden jagten. Da krähte der erste Hahn, und er sprang aus dem Bette, um sich zurechtzufinden. Der Hahn krähte noch immer, und er fand, daß er sich in der Zerstreuung und Aufregung nur halb entkleidet niedergelegt hatte. –

Es war nicht still im Hause, aber es war wie ein Geräusch, das sich hütete, laut zu werden. Im Korridor der Widerhall von Tritten, die nicht gehört sein wollten, im Hofe ein Geflüster. Eine Angst trieb ihn, zu hören, zu sehen. Er warf sich das erste Kleidungsstück um, das ihm in die Hände fiel. Er stülpte einen Hut auf, den ersten, den er vom Brette griff. Es konnte Gefahr, es konnten Diebe sein, er riß deshalb einen der alten Degen, die an der Wand hingen, herab. Die Bodentreppe war er hinunter, ohne daß er etwas wahrgenommen. Das Geflüster kam deutlich aus den Ställen. Er schlich über den Korridor, um von der Hintertreppe an dem rasierten Turm in den Hof hinabzusteigen. Dort war das Tor; einst vielleicht die Pforte zu Ausfällen, jetzt weiter gemacht, das eigentliche Tor für Tiere und Gefährte. Vom Fenster aus schien es geöffnet.

Mit angehaltenem Atem schlich der Nachtwandler den langen Weg. Mit dem Morgengrauen hatte der Wind wieder angefangen; durch den Korridor fegend, schlug er die schlecht schließenden Türen gegen ihre Pfosten. Karolinens Türe schien ihm noch offen zu stehen, als er von der Treppe herabkam; der Wind mußte sie zugeworfen haben, als er vorüberging, es kam kein Lichtschein heraus.

Plötzlich blitzte sein Schwert hellrot vor ihm auf, um ebenso schnell in dem Dunkel, das alle Gegenwände verhüllte, zu verschwinden. Es war das letzte Aufflackern der Lampe gewesen, die ein Windstoß vollends verlöscht hatte. Beim Weiterschreiten wollte es ihn bedünken, als ob ein warmer Hauch aus der Stube des Majors kam; auch ein Ton. Es konnte ein Stöhnen sein, aber auch ein Schnarchen. Der Major hatte die Gewohnheit, zuweilen die Tür seines Schlafzimmers aufzustoßen, wenn ihm die Luft zu drückend wurde.

Jetzt war er neben dem Stalle auf einem Treppenabsatz. Es war ein altes Gemäuer, vielleicht die am Turm gelegene Wachtstube, spätere Besitzer hatten hier eine Brauerei angelegt, deren Bottiche und Röhren, seit einem Jahrhundert unbenutzt und auch zu Ruinen geworden, den Aufenthalt auch bei Tage unheimlich machten. Für den Kandidaten knüpfte sich daran noch eine andere schmerzliche Erinnerung. In einer tiefen Blende war die Turmtür angebracht, durch welche er vor nicht langer Zeit einen Gefangenen besucht, er war mit ihm hier herausgetreten, als Theodor seinen letzten Gang antrat! Daran zu denken, war nicht der Augenblick. Er hörte im Stalle behutsam Pferde hinausführen; man schien ihnen die Hufe umwickelt zu haben. Er konnte in dem Moment nichts anderes denken, als an Diebe, und ging mit sich zu Rate, ob er Lärm machen und in den Hof springen solle. Da hörte er andere Tritte hastig die Treppe herabkommen. Es galt Vorsicht, wo ihrer mehrere und Gefahr war, er allein, in ihre Mitte zu geraten; es galt mit Augen sehen, wo er bis da nur nach dem Gehör Schlüsse gezogen. Leise stellte er sich als Schildwacht in die Blende.

Im Mantel verhüllt, kam hastig und doch zögernd eine hohe Gestalt die Treppe herab. Der Bau hatte eine große Rundöffnung, die nach dem Hofe ging, der Blende gerade gegenüber, die so viel Licht, Sterne oder Mondenlicht, vielleicht schon Tagesgrauen, hereinließ, um die Kontur des Mannes zu erkennen. Es war der Kolonel.

An der Oeffnung blieb er stehen und schaute nach den oberen Räumen zurück. Wer las die Gedanken, wer schrieb sie auf, die in ihm kreisten, während er sich, wie von Frost geschüttelt, in seinen Mantel hüllte! Adieu, adieu! klang es wie eine süße Romanzenweise aus einer sentimentalen Oper, der noch ein anderer Schluß folgen könnte, als er, den Arm plötzlich ausstreckend, wie gekräftigt durch einen Entschluß und in einem veränderten Ton laut hinaufrief:

»Adieu pour jamais, jamais

Er wollte mit rascher Wendung die letzten Stufen hinab, als eine unsichtbare Hand seine Schulter schon berührt hatte und eine Stimme aus dem Grabe ihm fragend zurief: »pour jamais!«

Aus dem Grabe? – Wo konnte sie anders her sein? Da stand der Geist des Hauses, der schwarze Wolf, die Reiherfeder auf dem Hut, das Schwert in der Hand – und die Hand aus dem Grabe hatte ihn berührt.

»Le spectre!« Mehr hatte d'Espignac nicht gesprochen. Die Kehle war ihm vertrocknet. Mit zwei Sätzen war er die Stufen hinab. Die Hähne krähten. Er schnappte nach der kalten Morgenluft. Im nächsten Momente saß er auf seinem Pferde, im folgenden war er zum Tore hinausgesprengt. Sein Kammerdiener erzählte nachher unter den Leuten, sein Herr habe, als er auf den Hof stürzte, ein Kreuz vor der Brust geschlagen. Man wollte es ihm nicht glauben. Wie sollte der Kammerdiener es in der Dunkelheit gesehen haben! Wie schickte es sich für einen Kavallerieoffizier des französischen Kaisers!

Wie aber kam es? Nicht daß der Kandidat, der seine Hand auf die Schulter des Kolonel gelegt, diesem als der Hausgeist erschien? Bei d'Espignacs Aufregung hätte er ihn, er hätte jedes lebendige Wesen, das ihm entgegentrat, für ein Gespenst gehalten, auch wenn der Erwachte nicht schlaftrunken den alten Waffenrock umgeworfen, nicht den breitkrempigen Hut mit der staubzerfressenen Feder auf den Kopf gesetzt hätte. Aber wie kam es, daß Mauritz aus der Blende gesprungen, die Hand nach dem Flüchtling ausgestreckt, daß er seine Worte wiederholt? Wollte er ihn festhalten, warnen, strafen? Er wußte es so wenig, als er sich Rechenschaft geben konnte, warum er ihn doch nicht festhielt, warum er ihm nicht nachsprang, sondern wie in einem Starrkrampf an dem dunklen Orte stehen blieb, bis das letzte Getrappel der davoneilenden Reiter in seinem Ohr verklang, bis ein anderes durchdringendes Geräusch Ohr und Herz traf? Es war alles Impuls, Traum, dämonisch. –

Wie kam es, daß auch der Major so unruhig in der Nacht schlief? Lag es in der Luft, die einen Alp auf alle Schloßbewohner niedersenkte? Wirklich hatte er schon nach Mitternacht die Tür aufgestoßen, er glaubte zu ersticken. Angekleidet hatte er sich halb im Traum, um draußen freie Luft zu schöpfen. Der frische Windzug hatte ihn erweckt und wieder aufs Bett zurückgetrieben, wo er bald fester einschlief. Aber es gibt einen festen Schlaf, der unsere Kräfte aufreibt – der Alp, der vampyrisch saugt und tausend Bilden, eines erschreckender als das andere, erschreckend auf uns senkte Er zaubert sie nicht aus dem fernen Morgenrot, sie kommen nicht geflogen auf dem Regenbogen, er knüpft seine Phantasmagorien wie ein geschickter Künstler an die wirklichen nächstliegenden Ereignisse. Es war der Bankerott über ihn ausgebrochen, die Gerichtsexekutoren hatten die eine Tür besetzt, die Landstände, die Ritterschaft, drangen von der anderen ein und forderten die Zinsen der Pfandbriefe. Da näherte sich der Baron Eppenstein und wollte ihm ein Beutel Geld in die Hand stecken. Er geriet in Wut und brannte vor Lust, ihn am Hals zu packen; aber er fühlte sich gefesselt auf ein Torturbrett, Arm und Beine, Leib und Seele. Sie zuckten mitleidig die Achseln, sie wandten ihm den Rücken: »Dem ist nicht mehr zu helfen!« Aber in der äußersten Angst folterte er selbst die Seele und sann auf Hilfe. Da saß in einem Winkel weinend die schöne Karoline, mit aufgelöstem Haar, die nackten Arme nach jemand ausgestreckt, den er nicht gleich erkannte; aber die Nebel lösten sich und das Bild ward deutlich, es ward der Reichsgraf Waltron. Er stand auf seinen Degen gelehnt und sagte nicht ja und nicht nein. Karoline bat ihn so sehr, sie sank nieder und umfaßte seine Knie. Nun hatte der Reichsgraf wieder seine Pfeife im Munde und sprach: »Wenn's denn nicht anders geht, so will ich Dich heiraten.« – Und nun war sie verheiratet und fuhr stolz geputzt in einem wappenbedeckten Wagen, zwei Jäger hinten und ein Vorreiter. Sie neigte sich freundlich zum Vater heraus und' lud ihn mit einer Handbewegung ein, auch einzusteigen. Aber er konnte und wollte nicht, er war ja gefesselt. Oder fürchtete er sich vor dem Militärfederbusch, der ihr zur Seite saß, und er konnte ihn nicht erkennen?

Ueber die Anstrengung, ihn zu erkennen, erwachte er, wenn das Erwachen genannt werden kann, wo wir die Gedanken des Traums im Wachen fortsetzen, um wieder ins Träumen zu verfallen. Der Traum war ein angenehmer. Karoline und der Reichsgraf ein Paar. Warum war das nicht möglich? Der Reichsgraf war ein alter Junggeselle, aber er hatte niemals eine Abneigung gegen das Heiraten ausgesprochen Er galt nur für einen Mann, der die Bequemlichkeit liebte, und die Zeiten waren nicht zum Heiraten angetan gewesen. Er war freundlich gegen alle, er schien sich wie zu Hause zu fühlen, namentlich aber glaubte der Gutsherr sich zu entsinnen, daß er gegen die schöne Karoline besonders aufmerksam gewesen. Ein Reichsgraf Waltron-Alledeese ins Haus derer von der Quarbitz! Unmöglich war ja in diesen Zeiten nichts. Sein Herz hob sich. Hätte er nur im Wachen den Gedanken weiter denken können, aber seine Augen fielen wieder zu. Der Reichsgraf und seine Tochter saßen im Wagen, aber es ging über Stock und Block, er wollte hinein, es ging nicht mehr. Er faßte an, sie zogen ihn mit. Er wollte loslassen, aber statt dessen packte er immer fester; er schrie um Hilfe. Wachend hatte der Major nie um Hilfe gerufen. Dieselbe Not und dieselben Personen, die, um ihn zu befreien, zusprangen, der Baron Eppenstein, Benjamin Schlochauer. »Die verfluchten Juden!« rief er, als er jetzt den Kolonel erkannte. Ja, nach dessen Hand griff er, er hatte sie schon gefaßt, da war sie von Gummielastikum; er hielt noch, und der Mann war schon meilenweit vom Sturmwind fortgezogen.

Da tippte eine andere Hand auf seine: »Erwache, nimm Dich zusammen, Wolf! Reiße Dich los, Dir steht etwas Schreckliches bevor. Ich bin's.« Er wußte ja, daß er träumte er konnte sich aber nicht losreißen, er mochte auch nicht das gelbe Fräulein ansehen. Aber sie ging nicht, sie tippte immer stärker, daß er sie ansehen sollte. Wie er das Auge aufschlug, wies sie nach der Tür; dann sank sie zusammen, als er aufsprang – Nebelflecke in die Dielen.

Aber er sah – mit aufgerissenen Augen sah er es – das rotflammende Schwert, die geknickte Feder auf dem breitkrämpigen Hute – das war nicht mehr Traum, Täuschung der Sinne – der schwarze Wolf! stöhnte er zusammen, und indem er die Augen krampfhaft fest zusammendrückte, schien ein Licht durch seine Seele zu zünden, ein Licht, das eiskalt auf das heiße, träge Blut, auf die brennenden Gehirnsnerven fiel. Er suchte – nicht nach einem Kleid, nach einer Waffe.

Und doch zauderte er noch, als der elfenbeinerne Griff des Jagdmessers von seiner Hand gepreßt ward, daß er stöhnen müssen, wenn Leben drin gewesen. Dann riß er noch das Fenster auf, um Luft zu kosten. Da führten sie die Pferde aus dem Stall, die Stimme des Flüchtlings ließ durch die Nacht das: Adieu pour jamais! erschallen. – Er war die halbe Treppe hinab, als er innehielt. Verfolgen! Wen denn? Untersuchen! – Was denn? – Die Tür des Kolonels hatte, halb angelehnt, offen gestanden. Warum entsann er sich das jetzt erst? Ein Lichtschein war herausgequollen. Warum haben wir oft erst jemand erkannt, wenn wir zehn Schritt davon? Damals wollte er uns grüßen und wir starrten ihn an, den alten guten Bekannten, als eine fremd gewordene Erinnerung. Jetzt schoß das Blut dem Major zu Kopf. Die Stirnader schwoll zum Springen; so schnell als das Blut war er die Treppe hinauf. Mit dem Fuß hatte er die Tür aufgestoßen, und da dröhnte durch das alte Gebäude der herzzerreißende Schrei, welcher den Kandidaten unten in der Brauerei aus seinem Starrkrampf erweckte. Ein Schrei, nicht ein Ton, wie wenn Luft oder Wasser durch eine verrostete, lang verstopfte Röhre sich bricht, ein Heulen, Sausen, Pfeifen. Ein Stampfen auf den Dielen, wie unregelmäßige Schläge einer Walkmühle, und dann erst ein Wimmern und Schreien, das ins Herz schnitt. Man sprach nachher ungern davon und nur heimlich. Niemand wollte eine Wissenschaft haben, aber es ist zu glauben, daß nicht ein Ohr im Hause gewesen, das nicht den Lärm gehört.

Er mußte sie an den Haaren vom Lager gerissen, am Boden geschleift haben. Sie blutete etwas. Ihre langen Flechten noch um seine Hand geschlungen und, wie erschöpft von dem Entsetzlichen selbst niedergesunken, saß er halb über sie gebeugt; seine Lippen bebten, seine Zähne klappten. Wie sollte sie, was sein Mund wie ein Uhrwerk ihr zurief: »Bete, bete!« Im Schmerz umkrallt von den Griffen eines Rasenden, der das blanke Messer auf uns hält, der uns nicht hört, nicht sieht, wird das Gebet ein mechanisches Geplapper. Er vernahm nicht ihr Wimmern, er schien selbst zu weinen, als er die Stahlspitze auf ihre nackte Schulter setzte: »Um des barmherzigen Gottes willen, bereue, bete, bereue, mein Kind, daß Du nicht reuelos zur Hölle fährst.« Da schien sie sich selbst aufzugeben, und, wie die letzte Flamme des ersterbenden Feuers, schrie sie, zu ihm wild aufschauend: »Er ist mein Gatte vor Gott und den Sternen.«

Die Hand, die den Stoß auf die Tochter zückte, ward aufgefangen. Ein kräftiger Arm hatte ihn unterfaßt, im selben Momente drückte und entwand ihm rasch der Kandidat das Messer. Es war mehr als zweifelhaft, ob der Stahl ihr Herz getroffen hätte; die Wut war durch Karolinens Worte allerdings neu aufgeregt, aber der erste Paroxysmus hatte die Kraft verzehrt, das Messer hätte in der zitternden Hand geirrt und würde nur eine Wunde beigebracht haben, aber wer berechnete ihre Wirkung! »Unseliger, es ist Ihre Tochter! Gott gab Ihnen das Kind –«

»Zur Metze!« stöhnte der Major. Es war ein fürchterliches Röcheln, ein Lachkrampf, der durch die schaumbedeckten Lippen sich Luft machte.

»Fliehen Sie, schnell – er ist noch rasend. Die Kräfte eines Rasenden sind unberechenbar.«

Karoline floh nicht. Halb saß, halb lag sie, ihm die Knie umschlingend, den Kopf gesenkt, wie ein Wesen, das über die Hoffnung, auch über die Verzweiflung und die Rücksicht hinaus ist. Nur das Haar, welches aus der geöffneten Hand sich losgemacht, bedeckte ihre entblößten Schultern. »Ich bin sein Weib vor Gott!«

Sekunden, es wurden Minuten eines fürchterlichen Schweigens. Die Augen des Vaters rollten umher. Jetzt fixierten sie den Kandidaten, und die Erinnerungen schienen, wie Lichter in einem Brennspiegel, sich zu sammeln. Den Degen und Federhut hatte er abgeworfen, aber der alte Rock hing noch um seinen Leib.

»Sie – ich kenne Sie. – Treiben Sie Maskenspiel, wo – Gott im Himmel, es soll sich niemand in das Trauerspiel zwischen Vater und Tochter drängen, niemand! hinaus!«

Er wollte aufspringen; mit dem Aufwand aller Kraft umfaßte, halb bittend, halb mit drohenden Blicken, der junge Mann den älteren: »Gott sandte mich her, um einen Mord zu hindern! Preis ihm und Ehre, daß er mich gesandt. Nun weiche ich niemand, bis der Mörder entwaffnet ist.«

Der Major war trotz seiner Jahre, Wunden und Krankheit ein Mann von nicht gewöhnlicher Stärke; sie mußte auch physisch durch die vorgängige Szene erschöpft sein. Er saß zurückgelehnt im Stuhle; nur ein heiseres Gelächter rieselte über die Lippen.

Es gibt Naturen, die, gereizt, wie ein Vulkan den lang aufgespeicherten und zurückgedrängten Stoff des Zorns mit einem Male ausspeien. Je schreckensvoller die Explosion, so schneller tritt darauf Ruhe ein, sie werden mild und weich, und in ihrem Tun und Sein spricht sich fast die Reue über das Geschehene aus. Andere überkommt es auch, aber Schmerz und Wut sind zu groß, sie können, mögen nicht alles aussprechen, und schon wähnt man, daß mit ihrer Kraft ihr Wille gebrochen, wenn sie beschwichtigenden Worten zu horchen scheinen, bis ein hingeworfenes, oder die eingetretene Ruhe selbst, wie stilles, inneres Feuer in ihnen brennt, um wieder aufzulodern. Das sind Charaktere, die wie Stahl sich biegen lassen, um unversehens nur starrer aufzuschnellen. Schmerz und Wut waren im Major zu groß gewesen, um beide in Worten auszugießen, er hatte, halb wie ein Kind, halb wie ein Barbar getobt. Ausgetobt hatte seine Wut nicht; nur überkam ihn vielleicht schon ein Schamgefühl, eine Reue über die Art, wie, und es ist bei Charakteren, wie seiner, daß sie vor Wiederholungen eine angeborene Scheu tragen. Er war ein Rasender gewesen, in seinem Zorn, er ward darauf kühl, eiskalt, er übergab seinen ätzenden Schmerz dem bitteren Verstande als sichersten Advokaten.

Noch war er aber im zweiten Stadium, als der Kandidat Worte und Gründe aus Himmel und Erde griff, um dem Vater das Gebot: Du sollst nicht töten! ins Herz zu brennen. Es war keine Predigt, es war der lebendige Abdruck einer Stimmung, die ihn selbst beben machte. Er faßte zum Schluß die Hand des Majors: »Sie werden Gott danken, inbrünstig still in Ihrer angstgepeitschten Seele, daß er es so gefügt, daß er das Gräßliche abwandte, eine Blutschuld, die nicht abzuwaschen geht, das Kainszeichen, den Fluch, daß Sie Ihr Kind ermordet.«

Der Major schien vorhin in völliger Apathie kaum gefaßt zu haben, was der andere sprach, er sprach selbst wie irre. »Der Reichsgraf nimmt sie nun nicht – ein so guter Mann – der Kinder Liebe ist der Eltern Segen.«

Die letzten Worte des Kandidaten hatten ihn erweckt. Er stand auf. Er machte sein Knie los von Karolinens Händen: »O fürchten Sie nichts. Ich bin kein Mörder. Das schickt sich ja nicht für unsere philanthropische Zeit. Die Kainszeichen sind aus der Mode – aber die Flecken bürsten wir aus unsern Kleidern. Wir wollen rein scheinen; darauf kommt es allein au. Weiter nichts. – interessieren Sie sich für das Fräulein?« –

»Herr von Quarbitz, Sie sind ihr Vater. Dies Band löst nichts, nicht Blut, nicht Schande.«

»Ich hatt's vergessen, Herr, vergessen. In – Namen! heben Sie sie auf. Ohne Umstände. Schnell, schnell mit ihr zu ihrem Buhlen. Noch holen Sie ihn ein. Er nimmt sie zu sich aufs Pferd – eine Entführung. Das ist ja romantisch. Was will sie mehr! Ich will nichts Romantisches in meinem Hause.«

Karoline saß bewegungslos in ihrer Stellung. Auch wie ein Uhrwerk stammelte sie das vorige: »Er ist mein Gatte vor Gott und den Sternen.«

»Sie hören's. Diese Dame hat die Sterne zu Brautjungfern gebeten: sie ist mir zu vornehm; sie gehört nicht in mein schlichtes Haus.«

»Werfen Sie sich auf Ihre Knie, beten Sie inbrünstig, Herr von Quarbitz. Gott wird einen Strahl in Ihre Seele senken, einen Strahl seines ewigen Lichtes.«

»Damit die Schande meines Hauses noch schwärzer, scheußlicher aussieht! Ich will nichts mehr sehen, ich sah genug. – Ich zähle bis zwölf – eine halbe Stunde – bis die Sonne mein Dach anscheint. Packen Sie des Fräuleins nötigste Sachen – Sie sehen, ich bin ruhig, ganz ruhige – Fort. Wenn Sie mit wollen, desto besser. Ich will nichts sehen, niemand begegnen der meine Schande sah, mich an sie mahnt. Es ist mein Ernst, Herr, es ist mein fürchterlicher Ernst.«

»Es ist nicht Ihr Ernst. Das Fräulein in diesem Zustande kann das Haus nicht verlassen. Der Ernst Ihrer Leidenschaft ist es, nicht der des Christen, des vernünftigen Mannes. Der Christ läßt der Reue und Buße  –«

»Reue!« rief der Vater mit fieberhaft geschütteltem Arme zur Knieenden halb umgewandt. »Hören Sie doch. Sie lügt in die Sterne.« –

Sie strich das niedergefallene Haar aus dem Gesicht: »Ich bereue, daß ich meinem Vater Kummer gemacht, ich bereue, daß ich sein weißes Haar gekränkt, daß ich Sorge und Angst in meine Familie bringe; ich habe gefehlt, daß meine Ehe anfing vor dem Glockengeläut der Kirche, vor des Priesters Segen, aber meine Ehe bereue ich nicht. Ich bin glückselig, er liebt mich, der edelste, herrlichste Mann; ich fühle mich geehrt, daß er mich gewählt, ich wäre glückselig, ich wäre hochgeehrt, auch wenn die Glocken niemals läuteten, er war mein Gatte, darum ist er, wird er mein Gatte bleiben, auch wenn nie des Priesters Segen darüber kommt. So wie ich ihn von ganzer Seele liebe, wünsche ich ihm von ganzer Seele Glück und langes Leben, und wenn Ihr Messer mich durchbohrt hätte, mein Vater, so wäre Ihre Tochter in Seligkeit dahingefahren.«

»Hören Sie, Mann Gottes! – Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser. Für diese ist kein Haus unter den Sternen. Haben Sie für die Christin noch ein Wort?«

»Sie wollen Ihre Tochter verstoßen?«

»Sie ist verstoßen.«

»Aus Ihrem Herzen; darüber sind Sie allein Richter. Sie werden vielleicht später anders richten. Sie wollen sie aus Ihrem Hause weisen?«

»Sie ist's. Wenn Sie, wenn wer sie noch hier sieht, ich sehe sie nicht.«

»Gut, so drücken Sie Ihr Auge zu, bis wir Mittel finden, die Unglückliche ohne öffentliches Aufsehen zu entfernen, in irgend ein Asyl, wo sie mit Gott und sich über ihr Tun sich rechtfertigt.«

»Paziszieren mit der Schande! Wo in der Welt Schande und Lüge herrschen, muß der wahre Edelmann doch sein Haus rein erhalten. Wo ist denn sonst ein Fleck auf Gottes Erde, wo man mit Anstand und Ehre sein Haupt hinlegt?«

»Gewiß!« sprach mit bewegter Stimme der Kandidat. Daß der Major nicht im Affekt, daß er in sich zusammenzitternd, das Schluchzen kaum bekämpfend, die letzten Worte sprach, schien ihm die erste Taubenbotschaft des gebrochenen Sinnes. Er zitierte das gelbe Fräulein, er ließ den schwarzen Wolf erscheinen. »Der hat gehandelt, wie er es seinem Hause und seinen Ahnen zu schulden glaubte. Wer hat es ihm gedankt! Daß er noch vor seinem Tode geäußert haben soll: was er in raschem Blut getan, würde er bei kaltem wieder tun, rief einen solchen Schauder selbst in der rohen Generation jener Tage hervor, daß man ihm keine Ruhe im Grabe gegönnt. Darum lassen sie ihn rastlos umirren. Er wollte nur die Schande seines Hauses vertilgt, und das Blut aus der Brust der schönen Sünderin quoll heraus aus der Nacht an den Tag, es klebt noch heut an den Steinen dieses Hauses, kein Schwamm wäscht es ab. Das wollen Sie nicht, die Schande soll nur in die Erde sinken und das Haus morgen so rein scheinen wie heute. Wer zündet dann die Fackel an, wer stürmt in die Hausglocke, wenn er den Flecken über Nacht abwaschen will!«

»Ueber Nacht, über Nacht!« wiederholte gedankenlos der Major, mit dem Gesicht sich auf die Arme lehnend. »Wenn's ein Traum wäre, und ich erwachte!«

»Der Paroxysmus geht vorüber,« stand auf dem Gesicht des Kandidaten, das sich erheiterte.

»Gott hat's geschickt! Ob's nun Sünde ist zu wünschen, daß in Traum und Nebel verginge, was von ihm kam!«

»Er redet mit sich, benutzen Sie den günstigen Augenblick,« flüsterte Mauritz Karolinen zu. »Auf, auf, verschwinden Sie in Ihr Zimmer, bis – Er sieht nicht, er hört Sie nicht, er hört Sie nicht –« setzte er hinzu, als auch sie nicht sah und hörte.

Er wollte sie am Arm fassen. Sie stieß ihn fort mit einem wilden Blick; es war nichts von Dankbarkeit darin. War es Entsetzen, Haß, Verachtung?

*           *
*

Es war um einige Stunden später. Das graue Tageslicht dämmerte durch die Scheiben. Es beschien nichts Erfreulicheres. Im Hofe ward ein Pferd gesattelt. Sonst war es noch still im Hause. Fast schien es eine künstlich gemachte Stille als scheue jeder Schläfer den Kopf aus der Decke zu stecken, um nicht zu sehen, was die Nacht gebracht.

Der Major stand gestiefelt und gespornt reisefertig im Zimmer; über die Armeeuniform zog er den Mantel. Allerhand Papiere lagen umher.

»Verbrennen Sie die Lügen.« Der Kandidat hielt den einen eröffneten Brief zaudernd in der Hand: »Dieser Abschiedsbrief an das Fräulein könnte ein Beweisstück abgeben. Ich bin nicht Jurist, aber die Worte umschließen ein Eheversprechen.«

Höhnisch lächelnd entriß ihm der Gutsherr das Papier, zerknillte es, trat es mit Füßen: »Wenn es zum Prozeß zwischen mir und ihm kommt, sind die meine Advokaten.« Er wog die beiden wuchtigen Reiterpistolen, die ihn auf dem Ritt begleiten sollten. »Da werde ich nicht erschrecken, Kandidat, vor keiner Vision, und kein Helfer in der Not soll sie mir aus der Hand reißen.«

Mit einem Händedruck war er zur Tür, aber er kehrte noch einmal um.

»Vor einer Reise, die so lang werden kann – doch noch ein Wort mit dem Beichtvater. – Ich bin ein Sünder, weil ich ein Mensch bin, aber, vor meinem Herrn, in einem stand ich aufrecht. Stolz konnte ich sagen: in meinem ganzen Leben ist kein Fältchen, worin eine Unwahrheit sich verbarg. Nun werd' ich die Augen niederschlagen müssen.«

»Hat denn die Welt ein Recht zu wissen, was Sie ihr nicht sagen?«

»Das genügt mir nicht. Das sind Sophismen. Was ich ihr nicht sage, verberge ich ihr auch, und indem ich es verberge, vollziehe ich eine Täuschung. Alles das, wozu ich mich von Ihnen überreden ließ – nein, wozu ich mich selbst überredete, ist ein Komplott, eine Veranstaltung, daß, was wir wissen und tun, vor den Leuten anders erscheine. Der alte Wolf Quarbitz spielt Komödie!«

»Der Vater für sein Kind. Im Konflikt der Pflichten gehorchen Sie der, welche Ihrem Herzen die heiligste ist. Das wird auch vor dem höchsten Richter als Entschuldigung gelten.«

»Wenn ich aber mein Recht, wenn ich vor ihm gerechtfertigt dastehen will!«

»So kann die Richterstimme rufen: Kreatur, wo ist Dein Recht vor Deinem Schöpfer! Waren Sie im Recht, als Sie nach seinem Richteramt griffen? Sie standen aufrecht vor dem Herrn und sprechen stolz: mein Leben ist Wahrheit. Der Herr kann lächeln: Geschöpf, was bist Du vor mir! Der Wurm, der im Wassertropfen dem Auge des Trinkers verschwindet. Du siehst den Schimmer vom Schimmer, und sprichst von Wahrheit! Wie nun, wenn dieser Stolz gerade Ihre Sünde vor ihm wäre? War es Gott oder der Versucher, der zu Ihnen trat und Sie lehrte, vor ihm zu sprechen: darin bin ich ohne Fehl! Wie nun, wenn Sie da fielen – und seine Strafe ist über Sie gekommen.«

»Wie der Herr will!« murmelte der Major, die Hände faltend.

Es war doch schon geschieden, und wie viel schien noch nicht entschieden.

»Und die Unglückliche?« fragte Mauritz, die letzten Papiere in den Ofen werfend.

»Mag in ihrer Täuschung bleiben,« rief der Major. »Nichts ihr von dem Briefe, nicht von dem pour jamais! Sie ist mein Kind, Gott wird ihr gnädig sein. Die Lüge will ich vor ihm vertreten, auch wenn – die Kugel des Buben mich vor seinen Thron ruft.«

Auf dem Flur, ehe er sich aufs Pferd schwang, schloß er den Kandidaten an seine Brust: »Sie hatten den Mut, die Wahrheit zu sprechen; mehr noch, Sie hatten den Mut, recht zu handeln. Gott lohn' es Ihnen, daß ich kein Kindesmörder bin.« –

Von der Familie hatte der Major nicht Abschied genommen, als der Torflügel sich schloß.

Er war verreist. Seine Freunde zuckten bedauernd die Achseln: daß der edle, unglückliche Mann um einer Wechselschuld willen Haus und Hof verlassen mußte. Aber es werde sich inzwischen alles zu seiner Ehre reparieren lassen.


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