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Eine Bergparthie.

Gleichniß.

Diese Bergparthie, welche ich zu schildern versuche, bietet ein treues Bild von manchem Erdenleben dar.

Bald nach Sonnenaufgang tritt der Reisende aus der gastfreundlichen Hütte, in welcher er die Nacht zugebracht hatte, um den steilsten Felsen der Umgegend zu erklimmen. Vor Allem führt ihn der Weg durch eine blumige Wiese, auf deren elastischen Grashalmen sich bunte Schmetterlinge fröhlich wiegen. Indem sich der Wanderer bückt, um einige hübsche Pflanzen zu pflücken, stechen kleine Insekten die unvorsichtige Hand.

So bieten sich dem Kinde, wenn es die enge Wiege verläßt, eine Reihe unschuldiger Freuden, die jedoch durch kleine Kümmernisse und Krankheiten getrübt werden, welche kein Alter verschonen.

Die Wiese grenzt an Gehölze und Wälder. Während der Reisende dieselben durchwandert, beobachtet und studiert er aufmerksam die verschiedenen Baumgattungen; – doch indem er sich in den dunklen, dichten Wald vertieft, verwundet er sich öfters an den Dornen der Gesträuche, welche die Wurzeln der alten Bäume überwuchern. Den frohen Jahren der Kindheit folgen jene ernsteren, die dem Studium tiefer Wissenschaften gewidmet sind. Diesem eifrigen Forschen und Ringen nach Klarheit folgt oft manche schmerzliche Erfahrung.

Bald nachdem der Wanderer den Wald verläßt, erblickt er eine reizende, von Myrthen- und Orangen-Hainen umgebene Villa. Seinen begeisterten Blick auf diesen entzückenden Punkt heftend, beschleunigt er seine Schritte, in der Hoffnung, denselben noch vor Sonnenuntergang erreichen zu können; denn er ahnt nicht, daß die Dunkelheit der Nacht und die feurige Morgenröthe sich noch am Horizonte ablösen werden, bevor er alle Hindernisse, welche sich ihm bald zur Rechten, bald zur Linken des Weges darbieten, überwältigt haben wird.

Im Voranschreiten entdeckt er bald eine goldschimmernde Rose, welche er sehnlichst zu pflücken wünscht. Doch während er sich derselben nähert, sinkt schon sein Fuß in den nahen, durch Wasserpflanzen verborgenen Sumpf. Daselbst würde er sicher den Tod gefunden haben, wenn er nicht bald, der schönen Blume entsagend, gesucht hätte, auf den rechten Weg zurückzukehren.

Nun lächelt ihm eine purpurne Nelke am Rande eines Abgrundes entgegen. Wie er sich zu derselben hinabbeugt, ergreift ihn plötzlich ein unheimlicher Schwindel, wodurch er beinahe in den tiefen See des Thales gestürzt wäre. Er vermag nur der schauerlich drohenden Lebensgefahr zu entrinnen, indem er rasch sein geblendetes Auge von der verführerisch schönen Blume abwendet. Nun will er einen Fluß überschreiten; aber dessen Brücke ist zerstört; er wird zu einem weiten, beschwerlichen Umwege genöthigt, und dieß veranlaßt eine große Verspätung. In Folge so bedeutender Anstrengungen fast erschöpft, erreicht er mühsam die ersehnte Villa, umgeben vom reichsten Frühlingsschmucke.

Das ist der Zeitpunkt, wo der Jüngling sein lange gehegtes Ideal zu erblicken wähnt, dessen Keim schon im Kinderherzen schlummerte. Dieses begnügte sich, davon zu träumen, während der Jüngling in sich die Kraft und den Muth fühlt, alle Hindernisse zu überwinden, um die Verwirklichung des Ideales zu erreichen.

Erst nach einer Reihe von Jahren, die er theils hoffend, theils fürchtend zurückgelegt, und nach vielen schweren Prüfungen und nach bitteren Enttäuschungen wird ihm die Freude zu Theil, seine innigsten Wünsche, sein irdisches Glück betreffend, erfüllt zu sehen.

Sobald der Reisende bei der schönen Villa angelangt war, welche beim bläulichen, geheimnißvollen Schein des Mondes einen unaussprechlichen Reiz darbot, ward er vom sehnlichen Wunsche erfüllt, noch den steilsten, hoch über die Villa emporragenden Felsen zu erklimmen, der mit einem ehernen Kreuze gekrönt ist.

Endlich erreichte der Wanderer glücklich sein Ziel, nachdem er den schmalen, jähen Pfad verfolgt hatte, welcher an Wasserfällen und drohenden Abgründen vorüberführt.

Während er auf dem sammtartigen Moose ausruht, betrachtet er den theils lieblichen, theils gefährlichen Weg, welchen er zurücklegen mußte, um den Gipfel zu ersteigen, der sich ebensowenig mit der reizenden Villa vergleichen läßt, als wie der Lichtfunke des Johanniskäfers mit den Sonnenstrahlen, welche das ganze Weltall erleuchten.

In gleicher Weise geht es dem Menschen. – Während der Erdenbewohner endlich die Erfüllung seines ersehnten Ideals genießt, fühlt sich seine Seele nur erfreut, aber nicht befriedigt; gemäß seiner hohen Bestimmung, ein vollkommenes Glück zu empfinden, vermag ihm das unvollkommene nicht zu genügen.

Erst als der schwergeprüfte Erdenbewohner den schmalen Pfad der Tugend treu verfolgt, viele Leiden standhaft erduldet, mannigfaltige Versuchungen siegreich bekämpft und sein irdisches Leben vollbracht hat: vermag er das höchste wahre Glück zu erreichen, das er hienieden umsonst gesucht und erstrebt hatte. – Nunmehr sein vergangenes Leben betrachtend, wird er Gott danken für alle mühseligen, in Thränen und Seufzern verlebten Tage, weil diese für die Ewigkeit die kostbarsten und fruchtbarsten waren.


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