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Der Blinde am Wege.

Kaum hatten wir an einem herrlichen Sonnabende, Mitte Juli, den Reisewagen verlassen, als wir schon eine kleine Wanderung im Gebirgsthale unternahmen. Wir verfolgten einen schmalen Fußpfad, der sich zwischen einem ruhig dahinfließenden Bache und blumigen, saftiggrünen Wiesen dahinzog. Auf diesen war eine Heerde auserlesen schöner Kühe und Kälber gelagert, die, vom Hochgebirge kommend, ein wenig von den Reisestrapatzen ausrasteten. Malerisch nahm sich der sonnengebraunte Hirtenknabe in seinem mit Alpenrosen geschmückten Strohhute auf dem Heuschober aus, wo sich derselbe mit schwarzem Brod, Ziegenkäse und krystallhellem Wasser von der nahen Quelle labte.

Nachdem wir eine kurze Wegstrecke zurückgelegt hatten, erblickten wir einen armen Mann mit schneeweißem Haare, einen Rosenkranz zwischen den gefalteten Händen, vor einem Feldkreuze andächtig knieen. Obgleich ein blendender Sonnenstrahl in seine dunklen, weitgeöffneten Augen fiel, blieben doch diese, wie alle seine Gesichtszüge so unbeweglich, als wären sie in Marmor geformt.

Ach! es war ein Blinder!

Unbarmherzig wollte ich an demselben, ohne daß er mich bemerkte, vorübergehen, was mir auch leicht gelang. Nach einer Weile aber blieb ich stehen, mich in der Absicht umwendend, die mannigfaltig gezackten Bergspitzen zu betrachten, welche die untergehende Sonne gleichsam mit Gold und Purpur geschmückt hatte. Nicht ahnte ich, welch' eine wohlthätige Beschämung mich in diesem Augenblicke erwartete. Ein armer Soldat näherte sich barmherzig dem Blinden und legte, von freundlichen Worten begleitet, einen Pfennig in den alten, schwarzen Hut. Während der Blinde, dem Geber ein herzliches »Vergelt's Gott!« nachrufend, seinen Heimweg mühsam vermittelst seines Stabes suchte, eilte auch der Hirtenknabe herbei, um mit dem Hungrigen sein armseliges Vesperbrod zu theilen. O wie rührend ist die Barmherzigkeit und Dankbarkeit der Armen!

Noch tief ergriffen von ihrem schönen Beispiele, wendete auch ich mich endlich zu dem Blinden und erkundigte mich, wie lange er schon diese schwere Prüfung zu tragen habe?

»Ach, seit einigen Jahren,« erwiederte er und setzte bei: »aber die Erblindung ist nicht das schwerste Kreuz, das mich getroffen hat.«

»Was? – noch Schwereres!« rief ich bewegt und fuhr in meiner Rede mit erhöhtem Interesse fort: »Willst Du mir Deine Leidensschule anvertrauen? Gerne würde ich Dir zuhören, wenn Deine Schmerzen durch Mittheilung nicht noch mehr vermehrt werden.«

Der Blinde entgegnete: »O, ich kann Sie versichern, daß es mir leichter um's Herz wird, wenn ich von meinen Leiden reden darf, und daß mir theilnehmende Worte fast eben so willkommen sind als selbst das Almosen.«

Nach einer kurzen Pause begann er seine Erzählung. »Mein Vater war der beste Bergsteiger weit und breit in der ganzen Umgegend und verdiente sich im Sommer sein Brod als Führer und Wegweiser der Fremden.

Nun denken Sie sich das Unglück! Am Tage meiner Geburt stürzte mein Vater von einer schroffen Felswand herab, als er eben einem Fremden, den er begleitete, zu Hilfe kam. So verlor er sein Leben, während er das seines Nächsten retten wollte.

Wie man nun den todten Vater in's Haus brachte, war meine Mutter dermaßen von Schrecken und Schmerz überwältigt, daß sie nach wenigen Stunden ihm in die Ewigkeit folgte; ich aber lag als hilfloses Kind in der kleinen Wiege zwischen meinen todten Eltern.

Unsere gutherzige Nachbarin, eine dürftige Witwe, welche ihren einzigen Sohn verloren, erbarmte sich meiner, nahm mich an Kindesstatt an, hob mich mit einem armen Taglöhner über die Taufe und trug mich dann in ihre kleine, hölzerne Hütte, welche an einem Felsen lehnte und von einem Tannenbäumchen beschattet wurde.

Meine gute Pflegemutter arbeitete, sparte und sorgte für mich, als wäre ich ihr eigenes Kind gewesen. Sobald ich nur zu stammeln vermochte, lehrte sie mich den Namen Jesu aussprechen und erweckte in meinem Herzen für unsern Heiland die innigste Liebe.

Als ich das sechste Mal den heiligen Weihnachtsabend erlebte, bereitete sie mir eine besondere unvergeßliche Freude. Kaum funkelten die Sterne am dunkelblauen Himmel, so führte sie mich unter die geöffnete Hausthüre. Da erblickte ich unser Tannenbäumchen mit glitzernden Lichtern, Lebkuchen, rothbackigen Aepfeln und vergoldeten Nüssen geschmückt. Kein leiser Luftzug löschte ein Lichtlein; ich trat aber näher mit gefalteten Händen und entdeckte am höchsten Gipfel des Bäumchens ein wächsernes Jesuskindlein.

Anfangs blieb ich vor Entzücken wie versteinert stehen und vermochte kein Wort des Dankes hervorzubringen. Mein Glück ward noch erhöht, als mir die gute Pflegemutter erlaubte, meine Schulkameraden herbeizurufen, welche dann mit mir vereint, singend und laut aufjauchzend, um den Christbaum herumsprangen. Wie viele Nächte hindurch mag meine Pflegemutter gearbeitet haben und hungrig zu Bette gegangen sein, um mir diese außergewöhnliche Christbescherung bereiten zu können!

Wie gerne denke ich zurück an die stillen Winterabende! Denn nach dem Schulbesuche durfte ich mich, wenn ich die Zufriedenheit meines Lehrers geärntet hatte, auf einem Schemelchen zu dem Spinnrade meiner emsigen Pflegemutter setzen und auf deren Erzählungen aus der biblischen Geschichte horchen. Besonders verweilte sie bei dem Knaben Jesus, der seinen Eltern unterthan gewesen war. Oftmals bat ich auch die fromme Witwe, mir aus ihrem vergilbten Gebetbuche das schöne Bildchen zu erklären, welches den Heiland darstellte, wie er die Kinder zu sich kommen läßt und sie segnet.

So waren die Jahre meiner Kindheit friedlich dahingeflossen und ich mußte eine Standeswahl treffen. Ich wünschte ein Müller zu werden und ein alter Hausfreund meiner verstorbenen Eltern nahm mich unentgeltlich in die Lehre.

Als dieselbe vollendet war und ehe ich die Wanderung antrat, gab mir die Pflegemutter mit bewegter Stimme ihren Segen, ermahnte mich, stets mein Tagewerk mit Gott zu beginnen und mit Gott zu vollenden; dann legte sie als Erinnerung, ihn niemals aus den Augen zu verlieren, ein kleines, hölzernes Cruzifix, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, in mein, mit allem Nöthigen versehenes Felleisen.

Den Wanderstab in der Hand und das Ränzchen auf dem Rücken, befand ich mich bald in früher Morgenstunde allein auf der öden Landstraße. Anfangs fühlte ich mich einsam und verlassen; aber dann empfahl ich Gott meine Wege und überließ mich getrost seiner väterlichen Fürsorge. Bald war das nahe Dörfchen erreicht, wo ich mich einige Monate aufhielt und es mir ziemlich gut ging; hierauf kam ich in die Mühle unseres Marktfleckens und verblieb daselbst ein halbes Jahr. Mein dritter Platz war in der Nähe eines Städtchens, den ich leider wegen eingetretenem Wassermangel bald wieder verlor.

Abermal ergriff ich den Wanderstab und zog in eine große Stadt, wohin mich mein letzter, menschenfreundlicher Meister gut empfohlen hatte. Doch kaum war ich daselbst angelangt, als mich eine heftige Krankheit überfiel. In ein Spital gebracht, genoß ich die Pflege der barmherzigen Schwestern, deren liebreiche Sorgfalt ich nicht genug zu loben vermag.

Genesen und aus dem Krankenhause entlassen, war ich doch noch zu matt, um schwere Arbeit verrichten zu können und sah noch so elend aus, daß mich kein Meister aufnehmen wollte. Endlich nach langem Suchen fand ich eine sehr gute Stelle in einer Kunstmühle, deren Inhaber ein ausgezeichnet geachteter und zugleich wohlwollender Mann war.

Nach einiger Zeit stieg der sehnliche Wunsch in mir auf, meine alte Pflegemutter wieder zu sehen. Ich nahm also meinen Abschied und packte mein Felleisen – als ich – o Schrecken, meinen mühsam ersparten Marienthaler vermißte.

O wie hatte ich mich auf den Augenblick gefreut, wo ich denselben meiner Pflegemutter, die mir in meiner Kindheit so viele Opfer gebracht, schenken könnte. Nach langem, vergeblichem Suchen klagte ich den Mitgesellen meinen Verlust. Versenkt in diesen Kummer hatte ich vergessen, mein gewohntes Nachtgebet zu verrichten.

Schon war ich im Begriff in's Bett zu steigen, als mir noch die letzte Ermahnung meiner frommen Pflegemutter einfiel. Während ich im Vaterunser die Worte sprach: »Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern«, siehe, da schlich sich ein junger Geselle zu meinem Ränzchen und legte etwas in dasselbe und zwar so geräuschlos, als nur möglich. Am andern Morgen fand ich darin meinen schmerzlich vermißten Thaler wieder. – Mit dankerfülltem Herzen begann ich nun meine Wanderung und langte bald bei der trauten Pflegemutter an, die sich herzlich freute, mich zu sehen.

Sie weinte vor Rührung, als ich ihr den Marienthaler gab und ihr erzählte, wie ich ihn verloren und wieder erhalten hatte.

Schon am folgenden Tage trat ich als Müllerknecht bei meinem ehemaligen Lehrmeister ein, wodurch ich nicht nur meine Wohlthäterin zu unterstützen vermochte, sondern auch in ihrer Nähe blieb, bis ich ihr die Augen schloß.

Vor ihrem Hinscheiden gab sie mir noch ihren letzten Segen und legte mir an's Herz, niemals zu verzagen, stets felsenfest auf Gott zu vertrauen und ihm mit gleicher Treue in Freud und Leid, in Kreuz und Versuchung zu dienen.

Nachdem die erste Trauerzeit vorüber war, fühlte ich mich im hölzernen Häuschen, welches ich ererbt hatte, so einsam, daß ich mich leider mit einem schönen, jungen Mädchen, der Tochter eines ehemaligen Schulkameraden, trauen ließ; ich sage leider, denn bald bemerkte ich an ihr große Putz- und Vergnügungssucht, was mich tief betrübte und die Ehe zu keiner glücklichen machte.

Schon hatte ich in sehr gedrückter Gemüthsstimmung mein sechzigstes Lebensjahr zurückgelegt, als wir uns an einem schwülen Sonntagsmorgen in eine nachbarliche Kirche begaben, um dem Kirchweihfeste beizuwohnen.

Während des heiligen Hochamtes verfinsterte sich plötzlich der Himmel und bald begann der Regen aus den schwarzen Wolken herabzuströmen. Ungeachtet des wohlbesetzten Chores und der Orgeltöne, mit denen sich jene der Violine, der Flöte, Baßgeige, Pauke und Trompete vereinten, vernahm man doch deutlich das Klirren der hohen Fensterscheiben, das unheimliche Rauschen des Sturmes, das schauerliche Rollen des Donners, der immer näher und näher kam.

Ich entsinne mich noch, daß ein feuriger Blitzstrahl auf mich herabzuckte, ein nie empfundener Schmerz meinen Körper durchdrang, meine Füße zu wanken begannen und ich zu Boden stürzte. Wie lange ich ohnmächtig dagelegen, weiß ich nicht zu sagen. Als ich nach und nach erwachte, hörte ich wohl die Kirchenmusik wieder, aber umsonst öffnete ich meine schweren Augenlider, denn ich vermochte nichts mehr zu sehen: ach, der Blitzstrahl hatte mich meines Augenlichtes beraubt.

Ich empfand hierüber einen namenlosen Schmerz, der an Verzweiflung grenzte.

Man hatte mich nach Hause gebracht und meine Frau suchte mich zu trösten. Da es ihr aber nicht gelang, überließ sie mich bald meinen trüben Gedanken. Meine Schwermuth steigerte sich von Tag zu Tag, bis ich in einen unheimlichen Trübsinn verfiel. In einem Anfalle von Geisteskrankheit soll ich sogar meine Frau mit einem Messer verfolgt haben. Diese fürchtete sich dermaßen vor mir, daß sie mich, nachdem sie meine Ersparnisse verschwendet hatte, verließ und niemals wiederkehrte; ich hörte seitdem, daß sie gestorben sei. Mir war als hilflosem Kranken baldigst die Wohlthat zu Theil, in eine menschenfreundlich geleitete Irrenanstalt gebracht zu werden. Gott segnete sichtbar die weise, ärztliche Behandlung, denn bald begann es in meinem Geiste wieder zu tagen und nach mehreren Monaten erfolgte schon die Genesung.

Hierauf zog ich zu meiner älteren Schwester, die ich, sonderbarer Weise, nie in meinem Leben vorher gesehen hatte, denn diese war vor meiner Geburt in ihrem zehnten Lebensjahre als Ausgeherin in den Dienst eines sehr entfernten Klosters eingetreten und erst kürzlich kam sie nach sechzigjähriger, treuer Dienstzeit mit einem Gnadengehalte und etwas Erspartem in ihre Heimat zurück. Meine gute Schwester pflegte mich, bereitete mir gesunde Kost, besorgte meine Wäsche, Kleidung und wachte über mir Tag und Nacht, wodurch mein Leiden sehr erleichtert ward. Aber was geschah mir Unerwartetes an einem Sonntagsmorgen?

Kaum hatte ich wie gewöhnlich am Fuße des Feldkreuzes mein Gebet vollendet, als ich von einem fremden Prinzen angesprochen wurde, der mit herzlichem Erbarmen frug, ob es mir nicht tröstlich wäre, meine Augen von einem geschickten Arzte in der Nähe seines Landgutes untersuchen zu lassen? Der gute Fürst wollte in diesem Falle gerne sämmtliche Ausgaben übernehmen.

Begreiflicher Weise stimmte ich mit dankbarem Herzen ein und schon am folgenden Tage trat ich mit meiner Schwester die ersehnte Reise an. Wie pochte mein Herz bald in freudiger Hoffnung, bald in banger Erwartung!

Nach glücklich zurückgelegter Reise wurden meine Augen vom Arzte sorgfältig geprüft.

Hierauf rieth derselbe zu einer Operation, die nach wenigen Tagen vollzogen wurde. Und o, welche Freude! ich sah zum ersten Male meine Schwester! dann ward eine Binde um die Augen gelegt, und ich mußte Tage lang fast unbeweglich liegen bleiben. Aber wie viele Dankgebete stiegen in dieser Zeit zum barmherzigen Gott empor, der mir das schmerzlich entbehrte Augenlicht wieder geschenkt hatte. Gott vergelte dem fremden Prinzen ewiglich alle dem armen Blinden am Wege erwiesene Barmherzigkeit!

Beim ersten Ausgange erschienen mir der blaue Himmel, die blumenreichen Wiesen, besonders die Berge schöner als je und ich bewunderte in der Schöpfung die Liebe und Allmacht des Schöpfers.

Gott sei Dank! ich konnte ein ganzes Jahr lang sehen, arbeiten und auch lesen. Aber dann begann es leider wieder vor meinen Augen zu dunkeln. Ach, da erinnerte ich mich, daß mir bereits der Augenarzt diese Befürchtung mitgetheilt hatte. Noch immer hoffte ich, das Unglück nicht zum zweiten Male erleben zu müssen; aber bald konnte ich nur mehr Tag und Nacht unterscheiden, bis endlich auch der letzte Schein verschwand. Da überfiel mich eine tiefe Betrübniß, aber Gott bewahrte doch meinen Geist vor abermaliger Verwirrung, sandte mir Trost im Gebete und ich flehte beständig, daß mich seine Gnade nicht verlassen möge. Der Herr stärkte mich auch mit wohlthätigem Schlafe und sandte mir frohe Träume. In der Nacht fühlte ich mich oft ganz glücklich, ich wähnte die Mehlsäcke zu füllen, diese auf den großen Müllerwagen zu laden, um mit demselben auf den belebten Markt zu fahren.

Aber wenn ich Morgens erwache und mich wieder meiner Blindheit bewußt werde, dann erneut sich mein Schmerz, denn die Unthätigkeit ist mir doch das Schwerste von Allem; es war mir immer meine höchste Lust, recht tüchtig zu arbeiten.

Heute hatte ich einen besonders schweren Tag, da ich genau vor sechs Jahren erblindete. Aber da erinnerte ich mich der alten gottesfürchtigen Freundin meiner seligen Pflegemutter, die oft zu sagen pflegte:

»Die Leiden dieser Erd',
Sind wohl des Himmels werth.«

Gott verlieh mir schon auf dieser Erde einen großen Trost. Seit meine leiblichen Augen geschlossen sind, ist es klarer vor meinen geistigen Augen geworden. Auch hoffe ich zuversichtlich, daß diese Erblindung dazu beitragen möge, einstens mit meinen verstorbenen Lieben und allen Heiligen und Seligen vereint, Gott ewig sehen, anbeten, danken und lobpreisen zu können.«


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