Juhani Aho
Einsam
Juhani Aho

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V.

Mehrere Wochen verbringe ich in dieser ruhigen Gemütsverfassung. Es ist etwas Neues in mein Leben gekommen, das mich aufrecht hält – ich hoffe. Ich glaube schon fester an die Möglichkeit, daß mein Brief einen guten Eindruck gemacht haben kann. Während der Tage, wo ich noch keine Antwort erwarten kann, fühle ich mich beinahe glücklich. Ich weiß, daß mein Brief unterwegs ist, daß es der letzte Versuch ist, daß der letzte Wendepunkt bevorsteht, und daß dann nichts mehr zu machen ist. Und ich versinke in die gleichgültige Sicherheit des Fatalisten.

Meine Arbeit, an die ich nun mit Ernst herangegangen bin, schreitet schnell vorwärts, und ich bringe fast den ganzen Tag in der Nationalbibliothek zu. Der tempelähnliche Friede, der dort herrscht, das durch das Dach fallende Licht, die gleichmäßige, milde Wärme, die ernsten Gelehrten mit ihren grübelnden Zügen, ihren vom Denken gefurchten Stirnen und ihrem grauen Haar – das alles erfüllt mich mit Sicherheit und Gemütsruhe, und die Hoffnungslosigkeit verkriecht sich in ihren Winkel.

Mag es kommen, wie es will, denke ich, ich muß mich in mein Schicksal finden. Mein Leben wird in Zukunft sehr einförmig werden, voraussichtlich ohne besondere Freude, aber auch ohne zehrenden Kummer. Und es scheint mir, als sei ich von den sonnigen Höhen meines Lebens hinabgestiegen.

Es ist jedenfalls eine nie erlöschende Hoffnung, die mir diese Ruhe eingeflößt hat. Denn je mehr Zeit vergeht, seit ich meinen Brief abgesandt habe, desto unruhiger und nervöser werde ich. Als zwei Wochen verflossen sind und keine Anwort gekommen ist, da ist es mit mir aus. Ich gehe nicht mehr so regelmäßig auf die Bibliothek, und ich kann mich nicht von meiner Wohnung entfernen, ehe der Briefträger seine Runde gemacht hat, was ungefähr um drei Uhr geschieht. Und geschieht es doch einmal, so lasse ich plötzlich alles stehen und liegen und kehre durch Wind und Regen und Schmutz schleunigst wieder heim.

Wenn ich komme, steht die Concierge gewöhnlich vor der Tür und betrachtet zum Zeitvertreib das Leben auf der Straße. Schon aus der Ferne suche ich aus ihren Augen zu lesen, ob sie etwas für mich hat. Ist dies der Fall, so muß sie ja, sobald sie mich sieht, in ihr Zimmer gehen. Aber vielleicht denkt sie nicht daran, und vielleicht ist doch ein Brief für mich da. Ich sage ihr mit meiner freundlichsten Stimme guten Tag. Sie beantwortet den Gruß ebenso freundlich, und ich schlüpfe an ihr vorüber in die Tür. Aber sie folgt mir nicht. Ich trockne meine Füße viel länger, als es nötig ist, auf der Matte ab. Ich steige zwei, drei Stufen hinauf. Ich kann nicht weiter! Ich muß Gewißheit haben. Außerdem habe ich ja gar nichts auf meinem Zimmer zu schaffen. Der ganze Tag geht mir verloren. Ich muß sie fragen.

»Rien, monsieur, rien!«

Jeden Tag dieselbe Antwort und dasselbe herzzerreißende, schnarrende »rien«, von dem sie nicht ahnt, wie schmerzlich es mich berührt. Es ist eine wohlwollende alte Frau, stets freundlich und artig. Aber trotzdem habe ich sie in Verdacht, daß sie mir ganz im geheimen einen Streich spielt. Wer weiß, ob sie nicht mit Absicht meinen Brief zurückhält? Vielleicht meint sie, daß ich ihr zu wenig Trinkgeld gegeben habe, und will deshalb nicht damit herausrücken. Und gelegentlich stecke ich ihr ein Fünffrankstück in die Hand.

Aber von dem Briefe höre ich trotzdem nichts. Stets dieselbe Antwort:

»Rien, monsieur, rien!«

Eines Tages komme ich vom Frühstück nach Hause. Ich habe es aufgegeben, den Brief zu erwarten, und frage nicht mehr danach. Ich bin schon im Begriff, die Treppe hinaufzusteigen, als die Concierge mir plötzlich nachruft:

»Voilà une lettre pour monsieur!«

Von Anna! – Ich fahre zusammen, als ich die Aufschrift erblicke. Sollte es möglich sein? Was hat dies zu bedeuten? Und der Gedanke jagt mich die Wendeltreppe hinauf, so daß ich das sechste Stockwerk in wenigen Sprüngen erreiche. Ich verliere den Atem, es schwindelt mir vor den Augen, so daß ich kaum den Schlüssel in das Schlüsselloch zu stecken vermag. Als ich endlich das Kuvert öffne und ein Stück des Briefes in der Eile mit abreiße, sehe ich, daß der Bruder ihn geschrieben hat, und als ich die Aufschrift genauer untersuche, erkenne ich die Hand der Mutter!

Ich kann mich nicht entschließen, den Brief zu lesen. Ich wünsche fast, daß er noch nicht angekommen wäre, denn ich fürchte, daß er mich ganz aus meiner sicheren Bahn bringen wird. Eine unsichere, schwankende Hoffnung ist auf alle Fälle besser als eine vernichtete. Jetzt, wo ich den Brief einmal bekommen habe, könnte ich die Lektüre desselben bis morgen verschieben, ja bis auf weiteres.

Wie ist die Aufschrift der Mutter auf das Kuvert gekommen? Es ließe sich wohl so erklären, daß der Bruder seiner Gewohnheit gemäß den Brief abzugeben vergessen hatte. Er erwacht am Morgen, ist aber zu träge, um aufzustehen, und die Mutter sendet den Brief zur Post. Und daher trägt das Kuvert ihre Handschrift, die derjenigen der Tochter ähnelt.

Aber einmal muß ich den Brief ja doch lesen. Vielleicht steht gar nichts über die ganze Angelegenheit darin.

Der Bruder spricht die Hoffnung aus, daß ich es nicht übelnehmen werde, daß er der Mutter und Anna meinen Brief gezeigt hat. Die Mutter hätte Mitleid mit mir gehabt. Anna habe, nachdem sie den Brief gelesen, ihn, ohne ein Wort zu sagen, zurückgegeben, und seitdem wäre nicht mehr die Rede davon gewesen.

»Du möchtest sicher wissen, welchen Eindruck der Brief auf sie gemacht hat, und ich würde es Dir gern mitteilen, wenn ich es nur selber wüßte. Ich glaube auf alle Fälle, daß Du nichts dadurch verloren hast, wenn Du auch nichts gewonnen hast.

Übrigens kann man ja niemals aus den Frauen klug werden. Und, um aufrichtig zu sein, will ich Dir nur sagen, daß Anna einen Anbeter hat. Natürlich ist es ein Student, ein Grünschnabel. Sie haben sich auf dem Studentenball kennen gelernt, er hat sie aus dem Theater nach Hause begleitet, sie haben Kostümtänze miteinander eingeübt und getanzt, und in mondhellen Nächten hat er ihr Serenaden gebracht. Natürlich ist sie sehr angenehm dadurch berührt. Wie tief ihre ›Gefühle‹ gehen, kann ich wirklich nicht sagen. Es ist möglich, daß es zu einer Verlobung kommt, aber ebenso möglich ist es auch, daß nichts daraus wird.

Vielleicht kann ich mich nicht ganz auf Deinen Standpunkt stellen, aber ganz unter uns gesagt, wundert es mich wirklich, daß Du Deine Liebe zu ihr so ernsthaft genommen hast. Deine Gefühle an und für sich kann ich sehr wohl verstehen. Es ist diese allgemeine Sehnsucht, diese Leere, die in unserem Alter so schwer, ja fast unmöglich zu ertragen ist. Sie treibt uns, Liebe und Hingebung als die einzige Möglichkeit des Lebens zu suchen. Und je schneller man die Zeit unter den Füßen verrinnen fühlt, desto eifriger wird die Begier, auf einen festen Stein am Strande zu springen. Aber obwohl Anna ein prächtiges Mädchen ist, – vielleicht eins der besten, die ich kenne –, so ist sie ja doch nicht die einzige in der Welt. Ich glaube durchaus nicht, daß es mit Dir aus ist, wenn Du sie nicht bekommst. Du sagst, daß so eine alte Junggesellenliebe der ersten Verliebtheit gleicht. Aber die Ähnlichkeit zeigt sich auch darin, daß man jedesmal glaubt, es sei die letzte Neigung, obwohl dies keineswegs der Fall ist. Eines schönen Tages triffst Du ein ebenso angenehmes, vielleicht noch viel angenehmeres Mädchen. Männer, die auf unserm Entwicklungsstandpunkt stehen, müssen stets von ihren Forderungen ablassen, und wenn wir das tun, so gibt es schon Frauen genug für uns in der Welt.

Was mich selber anbetrifft, so stehe ich im Begriff, in den Winterhafen des Familienlebens einzulaufen. Denk Dir, daß ich seit einigen Tagen verlobt bin! Sie heißt Helmi und ist die Tochter eines Kaufmanns aus Uldaborg, nicht emanzipiert, nicht besonders kenntnisreich, blond, stark gebaut, frisch und blühend, eine praktische Ostbottnierin, besucht keinen Fortbildungskursus, will nicht studieren, ist aber gewandt in Handarbeit und kam hierher, um eine Kochschule durchzumachen. Mein scharfes Auge entdeckte ihre lange, blonde Flechte auf dem Studentenball, ich ließ mich ihr vorstellen und tanzte eine Française mit ihr. Wie Du weißt, bin ich sehr interessant mit meinem schmalen Schnurrbart und meinem leicht blasierten Äußern. Alle Grünschnäbel sind augenblicklich aus dem Felde geschlagen. Sie hat den vernünftigen Einfall, sich in mich zu verlieben, und ich erfahre das durch Anna, mit der sie plötzlich intime Freundschaft schließt. Sie wird zu uns eingeladen, sie singt ein wenig, und ich begleite sie. Ich bringe sie nach Hause usw. Mit einem Wort, diese Details sind ja stets dieselben und sind ja schon Tausende von Malen erlebt, – also nichts mehr darüber. Von meiner Seite ist natürlich nicht mehr die Rede von dem, was ich früher unter Liebe verstand. Das kam und ging mit ihr – Du weißt ja. Aber wo in aller Welt, lieber Freund, begegnen wir diesen großen und tiefen Frauennaturen, von denen wir glaubten, daß sie allein uns befriedigen und verstehen könnten! Wenn ich einmal das Bedürfnis nach feinerer, geistiger Gesellschaft habe, nach einer sogenannten Seelensympathie, so suche ich den Kreis der Kameraden auf, tausche (bei einem Glase Grog) Ansichten mit ihnen aus, und begebe mich dann in mein friedliches Heim, wo alles in schönster Ordnung ist, und wo mich Gemütlichkeit und Zärtlichkeit umgeben.

Im übrigen bin ich fest überzeugt, daß sie sich über nichts wird zu beklagen haben. Ich werde ein guter Vater für ihre Kinder werden – ich sehne mich nach Kindern – und ein treuer Gatte. Das wird mir auch nicht schwer werden. Ich habe, ebenso wie Du, alle die wechselnden Tonarten des Gefühlslebens durchgemacht, und ich glaube, daß ich mir jetzt an der einfachen Melodie werde genügen lassen, die den Rest meines Lebens ausfüllen wird, – ›am häuslichen Herd‹. Ich sehne mich nach Ruhe, nach ungestörter, nervenstärkender Ruhe.– Oblomoff! wirst Du sagen. Ja, gewissermaßen Oblomoff. Nach der Richtung hin habe ich mich entwickelt.

Und Du solltest es versuchen, Dich nach derselben Richtung hin zu entwickeln. Hole der Teufel alle Deine Sorgen! Es verlohnt sich nicht der Mühe, sein ganzes Leben wie ein Ritter von der traurigen Gestalt umherzugehen. Insonderheit nicht in Paris um einer kleinen, finnischen Schönheit willen. An Deiner Stelle würde ich mich vom Strom fortführen lassen, da Du doch einmal am Ufer stehst. Löse Dein Boot und fahre den Strom hinab! Wenn Du nicht ganz ungeschickt steuerst, was in unserem Alter ja nicht mehr zu befürchten ist, so gleitest Du ganz allmählich in die stillen Wasser Deines Lebens. Ich stehe bereit und erwarte Dich und werde Dir helfen, Dein Boot auf einen vernünftigen ehelichen Strand zu ziehen. Wenn Anna sich nichts aus Dir macht, was übrigens nicht gesagt ist – um so schlimmer für sie. Ich will auf alle Fälle mein Bestes tun, und Mama scheint dieselbe Absicht zu haben. Vielleicht läßt sich alles nach Wunsch ordnen, wenn nicht, so kannst Du sicher sein, daß ich, mitsamt meiner künftigen Alten, – die Dich übrigens grüßen läßt – uns alle mögliche Mühe geben werden, ein tugendsames Pfarrerstöchterchen für Dich zu finden, das nicht zu weise und nicht zu ›hervorragend‹ ist, aber natürlichen Verstand besitzt.« – – –

Der Brief übt einen wohltuenden Einfluß auf mich aus. Nicht daß ich die Theorien meines Freundes und seine Ansichten über die Ehe gebilligt hätte; aber er läßt mir doch noch einen schwachen Hoffnungsschimmer. Ich freue mich, daß noch nicht alles endgültig entschieden ist. Ich stürze mich mit erneutem Eifer auf meine Arbeit. Ich lebe wie ein Eremit, und meines Freundes Ermahnung, mich in den Strudel des Lebens zu stürzen, verklingt ungehört. Jetzt mehr denn je will ich meinem Ideal treu sein, will ich meine Grundsätze verwirklichen.


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