Juhani Aho
Einsam
Juhani Aho

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IV.

»C'est fini, monsieur?«

»Oui, madame.«

»Pas de café, pas de cognac?«

»S'il vous plaît, madame.«

»Vous avez l'air bien triste, monsieur.«

»Non, Madame, au contraire.«

Ich sitze in einem kleinen Restaurant am Boulevard de Clichy und habe soeben mein Diner beendet.

Der Raum ist länglich, und die Ausgangstür führt direkt auf den Boulevard. An der Tür steht ein Zinktisch, hinter dem der Wirt in Hemdsärmeln den Arbeitern und Droschkenkutschern, die kommen und gehen, unablässig kleine Gläser vollschenkt. An den andern Wänden stehen lederne Sofas und davor Marmortische mit eisernen Füßen, an denen sich Fuhrleute in roten Westen niedergelassen haben, kräftige, wettergebräunte Gestalten, die essen oder ein lautes, ununterbrochenes Gespräch bei ihren schwarzen Kaffeegläsern führen. Ihre blanken, lederbezogenen Zylinder hängen an den Riegeln über ihren Köpfen, und dort hängen auch ihre Paletots und Regenröcke. In einer Ecke ragt ein Bündel langer, dünner Peitschen auf.

Jedesmal, wenn sich die Tür öffnet und ein Kutscher, der die ganze Türöffnung einnimmt, hereintritt, bringt er eine Menge Boulevardlärm mit herein, dieses nimmer aufhörende Gebrause einer großen Stadt, die gellen Rufe der Straßenverkäufer, die Hufschläge der Pferde auf das Holzpflaster, das Knallen der Peitschen und den Ton aus den Hörnern der vorüberfahrenden Pferdebahnen.

Es ist ganz eigentümlich, wenn ich bedenke, daß ich jetzt hier sitze und dies alles höre und sehe, und daß dies alles neben mir und um mich herum lebt und vor sich geht. Ich? Ja, freilich, ich, der ich durch die Luft flog und ganz zufällig in dieser Ecke von Paris niederfiel und hier blieb.

Ich befinde mich in diesem Augenblick sogar sehr gut. Ich habe vollständige Ruhe, niemand stört mich oder redet mich an. Die fremden Gesichter der neuen Umgebungen, das ununterbrochene Gesumme der fremden Sprache – das alles hält mich doch so sehr in Atem, daß die Gedanken keine Zeit haben, vollständig zu erstarren. Ich bringe gewöhnlich zwei bis drei Stunden hier zu, meinen Kaffee und meinen Kognak schlürfend, langsam meine Zigarette rauchend und eine Zeitung lesend, um die Zeit totzuschlagen.

Aber sobald ich auf den Boulevard hinauskomme, wo sich ein ununterbrochener Strom von Menschen bewegt, wo frohe, melodische Frauenstimmen an mein Ohr dringen, und wo eine Kutsche nach der anderen in unaufhaltsamer Reihenfolge dahinrollt, im Schein der Gasflammen glänzend und mit den brennenden Wagenlaternen, die wie schimmernde Perlen auf einem rinnenden Flusse aussehen, da bemächtigt sich des Gemüts abermals dieser alte, ewige Kummer, der jeden Tag um dieselbe Zeit und an demselben Fleck wiederkehrt. Ich habe nicht einen einzigen Bekannten, zu dem ich gehen könnte, ich habe keine Lust, in meine Wohnung zurückzukehren, wo es noch einsamer ist, und da lande ich denn, gleichgültig vorwärts wandernd, in dem gewöhnlichen Café.

Dort verbringe ich einige Stunden, indem ich die Zeitungen durchblättere, den Billardspielern zuschaue und einen Brief schreibe.

Diesmal bin ich mit einem langen Brief an Annas Bruder beschäftigt, und ich habe bereits mehrere Seiten geschrieben.

Wir beide haben gemeinsam viele Stimmungen und viele Gefühle durchlebt. Wir kennen die geringsten Wandlungen in unseren Charakteren. Der eine hat die Liebesgeschichten des anderen mit durchgemacht, und wir haben uns gegenseitig bei unseren Abenteuern geholfen. Wenn dann so etwas vorüber war, hatten wir die Schlußrechnung gezogen und den Gewinst geteilt, d. h. unsere psychologischen Bemerkungen und Erfahrungen. Bis ins geringste Detail suchten wir das Seelenphänomen in uns zu erforschen und bauten mit dessen Hilfe ein psychologisches System für die Liebe und das Leben überhaupt auf.

Ich schrieb ihm jetzt, um ihm eine kurze Schilderung meines Zustandes seit der Trennung zu geben. Vielleicht hatte ich auch noch einen anderen Grund zu meinem Schreiben. Wenn ich durchlas, was ich während der vorhergehenden Abende geschrieben hatte, erschien es mir, als sei es darauf berechnet, von anderen als von ihm allein gelesen zu werden.


»Ich hätte nie im Leben geglaubt, daß das Ausland den Eindruck auf mich machen würde, den es mir gemacht hat. Ganz anders hatte ich mir die Reise hierher, diese Stadt und mein Leben in derselben vorgestellt. Oder richtiger, ich hatte geglaubt, selber anders zu sein. Denn alles ist ja so, wie unsere Stimmung es macht.

Das Verhältnis zu dem anderen Geschlecht bestimmt, wie sich unsere Umgebung in unseren Augen ausnimmt. Selbst in den Zeiten, wo eine Art Waffenstillstand eingetreten ist, ein Interregnum in der Liebe, wo wir nicht unmittelbar unter ihrem Einfluß stehen, selbst da lenkt sie uns durch die Erinnerung an vergangene Ereignisse oder Hoffnungen für die Zukunft. Du entsinnst Dich wohl, wie in vergangenen Tagen, als wir noch glücklich, sorglos und sicher waren, wir uns trotzdem darauf ertappen konnten, daß wir in die Weite hinausstarrten, und daß dann der eine oder der andere einem plötzlich erwachten Gedanken Worte verlieh: ›Jetzt fehlt uns nichts mehr als ein Mädchen, in dessen Gesellschaft man diese herrliche Landschaft genießen könnte!‹ Und dann konnten wir beide in Gedanken versinken und lange schweigend dasitzen und unklaren, melancholischen Phantasien nachhängen. Wenn eine Frau auf diese Weise aus weiter Entfernung wirkt, um wieviel mehr muß das nicht der Fall sein, wenn man sich mit ihr verlobt hat! Da verleiht sie allem, was wir anschauen und worin wir leben, seine eigene Färbung. Für mich wenigstens gibt es keinen Zug, keinen Menschen, an dem nicht irgend etwas von der Frau hängt, die damals den Inhalt meines Lebens ausmachte. Wenn ich dieselben Menschen wiedersehe, sind sie mir sympathisch oder unsympathisch, erregen Freude oder Kummer in mir, je nachdem meine Gefühle waren, als ich sie das erstemal gesehen. Durch sich selbst und um ihrer selbst willen haben äußere Verhältnisse niemals Eindrücke auf mich gemacht, sondern nur in ihrer Eigenschaft als Zeugen der Freuden und Sorgen meines Herzens. So ist es bisher gewesen, und so ist es vielleicht in erhöhtem Grade jetzt. Der Eindruck, den das Ausland auf mich macht, ist nicht ein Produkt meiner eigenen, zufälligen Stimmung. Ich glaube, es wird Dich interessieren, wenn ich Dir das an einigen Einzelheiten erkläre.

Obwohl wir nicht darüber gesprochen haben, wirst Du sicher wissen, in welchem Gemütszustand ich die Heimat verließ. Anna hat es Dir wohl erzählt. An und für sich liegt ja nichts Neues darin, daß ein Mann von meinem Alter sich in ein junges Mädchen von dem ihrigen verliebt. Aber ich wußte nicht im voraus, wozu sich diese meine Gefühle gestalten würden. Es sieht so aus, als wenn meine Gefühle, jetzt, wo ich ein gewisses Alter erreicht und alle Entwicklungsstadien durchgemacht habe, ihren Kreislauf aufs neue beginnen sollten, gleich dem Saft gewisser Bäume, die während eines langanhaltenden Herbstes gleichsam aus Versehen zweimal blühen. Während des letzten Sommers wallten in mir alle die scheuen, kindlichen Gefühle wieder auf, die ich abgestreift zu haben glaubte, als ich zum erstenmal verliebt gewesen war. Dies kleine Mädchen, das ich beinahe auf dem Schoß gehabt und auf meinen Armen getragen habe, und das ich bisher wie ein Kind behandelt hatte, – in ihrer Nähe war ich verschämt wie ein Schulknabe, der zum erstenmal vor seinem Ideal steht. Ich verliebte mich in sie, als wäre sie meine erste Liebe gewesen.

Ich glaubte, ich könnte meine Liebe abstreifen und sie in der Heimat zurücklassen, wie ich alles andere zurückließ. Aber sie kam mit, sie begleitete mich auf meiner Reise, und während der ersten Wochen meines Hierseins war ich vollkommen in ihrer Gewalt, wie Du bald sehen wirst. Ich versuchte dagegen zu kämpfen, weil sie mich so unsagbar peinigte, und die Luft des Auslandes trug mit ihren neuen Eindrücken auch das ihre dazu bei, meine Vergangenheit verdunsten zu lassen. Aber meine Gefühle setzten sich zur Wehr, und die Vergangenheit wollte nicht verdunsten. Deswegen ist fast jeder Ort, den ich besucht, jede neue Straße, die ich durchwandert, jedes Café, in dem ich gesessen habe, eine Erinnerung an diesen Kampf.

Wahrscheinlich ist es auch eine Folge dieses inneren Streites, daß ich alle diese Plätze so klar und scharf vor mir sehe, sie haben sich auch in mein Gemüt abgedrückt wie ein scharfes, neues Klischee auf ein weißes Stück Papier. Jedesmal, wenn sich ein neues, frisches Bild in meine Gedanken drängt, und durch seine Neuheit meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, glaube ich die Vergangenheit glücklich überwunden zu haben. Wenn sich dann aber die Stimmung plötzlich verändert, wenn das Licht aus einer anderen Richtung fällt und das Bild sich dem Tage zuwendet, so entdecke ich irgendwo auf dem Grunde ein klares Wasserzeichen, das durch alles andere hindurchschimmert. Das kann nicht verschwinden, kann nicht verblassen, nicht verfälscht werden. Es zeigt ihre Konturen, ein schönes, feines Profil und eine sich ringelnde Locke am Ohr. –

Wenn ich des Morgens meine Wohnung verlasse und die Straße hinabwandere, die zum Boulevard führt, so kann ich nicht umhin, mich für einen Augenblick von dem Leben um mich her angeregt zu fühlen. Die Kleinhändler haben ihre Warentische auf den Trottoirs aufgeschlagen, und zwischen den hohen Steinmauern sind Früchte und frische, eben angekommene Gemüse aufgestapelt gleich dem Schaum des Gießbaches, der zwischen engen Felswänden dahinbraust. Die Verkäufer schreien aus vollem Halse, und an ihnen vorüber strömen die Käufer, meistens Frauen im Morgenkostüm, barhäuptig, ein kleines Tuch über den Schultern. Auf der Schwelle seiner Tür steht der Schlächter mit seiner weißen Schürze, und im Fenster des Bäckers erblickt man einen ganzen Stapel prächtigen Weizenbrotes, lang und dick wie ein Scheit Birkenholz. Daneben schimmert durch das Fenster ein kleiner Zinktisch, und vor demselben steht eine Schar in Blusen gekleideter Männer, eine Reihe kleiner Gläser vor sich, aus welchen sie stehenden Fußes ihren gelblichgrünen Absinth trinken. Ein Haufen Schulknaben in Uniform, die Bücher unterm Arm, rufen und schreien um die Wette mit dem Kutscher eines großen Frachtwagens, dessen Pferde mit den Hufen Funken aus dem Pflaster schlagen und sich vergebens bemühen, die schwere Last in Bewegung zu setzen. Fast jeden Morgen begegnet mir ein blinder Greis, der, eine Büchse in der Hand, auf Almosen wartet und die Vorübergehenden mit erloschenen Augen anstarrt. Vor dem Fenster des Papierhändlers stehen stets Leute, welche die Witzblätter betrachten. Die Straße endet in einem kleinen Markt, auf dessen Mitte eine Statue steht, und auf dessen einer Seite eine lange Reihe von Droschken mit ihren glänzenden, schwarzen Verdecken hält. Die Hörner der Pferdebahn ertönen, und der mit zwei weißen Pferden bespannte Wagen drängt sich durch die Straßenmündung. Er ist auf dem Wege nach der Ausstellung; ich eile auf ihn zu, um noch einen Platz zu erhaschen.

Während wir uns vorwärts bewegen, sehe ich durch das Fenster eine Pariser Ansicht nach der andern an mir vorüberfliegen. Cafés, in deren Fenstern und großen Wandspiegeln die Straße mit den Menschen, die Pferdebahn und das Treiben des Boulevards sich abspiegelt. Wände, mit Riesenbuchstaben bedeckt. Bunte Zeitungskioske. Die Pferdebahnhaltestelle, wo ein schwarzer Haufe von Menschen wartet, die alle mitwollen. Der ernsthafte Schutzmann, der an der Ecke auf Wache steht. Ein neuer, offener Platz und in dessen Mitte ein Springbrunnen. Plötzlich ein neuer Boulevard, schwarz von Menschen und Fuhrwerken, die in einer fernen Perspektive rasseln und verschwinden. Und überall diese gewaltigen steinernen Häuser, gleich in einen Berg gehauenen Tempeln emporragend, einfach und ehrfurchtgebietend, mit eisernen Balkons geschmückt, einer graugekleideten Frau ähnelnd, die einen durchbrochenen Schleier um die Achseln trägt.

Mir gerade gegenüber sitzt eine Pariserin, graziös und gemächlich. Sie ist wie ein Spielzeug, das aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen und mit seinem schärfsten Messer geschnitten ist; das Material ist von seinem saftigsten, frischesten Holz genommen. Neben ihr sitzt ein älterer Herr, das Band der Ehrenlegion im Knopfloch und einen glänzenden Zylinder auf dem Kopf. Wie geschickt sie sich durch den schmalen Gang bewegt, an den Knien der anderen vorüber. Sie erscheint mir wie ein Vogel, der durch das Laubwerk schlüpft, ohne auch nur eine Feder in Unordnung zu bringen. Ich machte ihr Platz, indem ich meine Füße zurückziehe, und als Dank dafür ertönt von ihren Lippen ein leises »pardon«. Sie hüpft auf die Straße hinab, steigt auf das Asphalttrottoir, spannt ihren Sonnenschirm auf und steckt ihre behandschuhte Hand unter den Arm ihres Mannes.

Und mehr bedarf es nicht. Wie mit einem Schlage steht alles vor meiner Seele, ich werde trübe und traurig gestimmt. Und so geht es fast jeden Tag infolge irgendeiner Veranlassung.

Die Ausstellung macht immer wieder einen großartigen Eindruck auf mich, sobald ich von den Trocadero-Kolonnaden das Marsfeld überschaue. In der Mitte erhebt sich der Eiffelturm wie eine Wüstentanne mit einem Büschel an der Spitze, im Sonnenschein glänzen die vergoldeten Kuppeln der Ausstellungsgebäude, von jubelnd aufwärtsstrebenden Statuen gekrönt. Unwillkürlich fängt das Blut an, schneller durch die Adern zu fließen, wenn man auf die eiserne Brücke herabkommt, unter der die Seine dahinfließt, und durch deren Brückenbogen kleine Dampfboote voller Menschen gleich Schwalben hindurchgleiten. Und als ich mich unter dem Eiffelturm, zwischen den Beinen dieses eisernen Riesen befinde, habe ich in dem Augenblick keinen Gedanken für etwas anderes, als zu sehen und zu bewundern. Wenn ich dann später in den Straßen und Gängen dieser Wunderstadt umherwandere, von Palast zu Palast, deren Giebel vollständige Kunstwerke, deren Tore Skulpturen, deren Wände Gemälde sind, während die Kostbarkeiten aller Erdteile die Räume anfüllen, so löse ich mich vollständig los von meinem eigenen Ich und kann kaum glauben, daß ich es bin, der hier umherwandert, den ein jeder Schritt in einen neuen Weltteil versetzt. Oder wenn ich mich in der Maschinenhalle befinde, unter deren himmelhohem Glasdach man sich wie in einer Schmiede befindet, wo alle Arme des Jahrhunderts sich spannen, wo alle diese Hämmer pochen, wo uns Dampf, Gas und Elektrizität umströmen, da werde ich ganz verwirrt, ganz betäubt von diesem Getöse, das gleichsam unter der Erde entsteht, mich durchdringt und jede Ader in mir elektrisiert. Eine eigentümliche Unruhe bemächtigt sich des Körpers, als ob in jedem Nerv ein elektrischer Funke säße. Wenn dann bei Hereinbruch des Abends die beleuchteten Springbrunnen ihre Farbensinfonien zu spielen beginnen und der ganze Eiffelturm zu einer einzigen roten Feuersäule wird, so ergreift auch mich der allgemeine Jubel, und ich stimme mit ein in die Hurrarufe, die vor diesem Opferaltar erschallen, der angezündet zu sein scheint, um den Göttern zu trotzen und die Kraft der Menschen zu verherrlichen.

Aber dann brauche ich nur in einer etwas entlegenen Ecke eines der vielen Cafés an einem einsamen, kleinen Tisch zu stranden. Das Getöse von dem Zentrum des Ausstellungsplatzes dringt nur schwach bis hierher, und das Licht, das ihm entströmt, liegt gleich einem leuchtenden Nebel über den Baumwipfeln. Hier ist freilich auch illuminiert, an den Zweigen der Bäume wachsen runde, rote Laternen gleich großen Kirschen, und von Zeit zu Zeit werden bengalische Flammen in den Büschen abgebrannt, bald einen gelben, bald einen blauen Schein über das Laubwerk, über die Wände des Pavillons und über die Menschen werfend, die auf den grünen Rasenplätzen lustwandeln. Es liegt etwas Ländliches über dem Ganzen, etwas, das an die Volksfeste daheim erinnert. Und Melancholie und Mißstimmung steigen in mir auf, und mein Gemütszustand ist wieder ganz der alte. Ich habe alles satt, was ich gesehen, und es hat alles keinen Wert mehr für mich. Dieser Turm ist ein unnützes Gaukelbild, das von dem Streben der Menschen zeugt, und alle diese Einrichtungen sind Spielzeuge für große Kinder. Diese Zehntausende von Menschen, die an den leuchtenden Fontänen um Stühle kämpfen, sind alle miteinander Narren. Ich betrachte ihren Enthusiasmus ungefähr von demselben Standpunkt, von dem aus die Pietisten alle weltlichen Vergnügungen beurteilen. Alles ist vergänglich, nach wenigen Monaten ist von all diesem nichts mehr übrig als ein grinsender Steinhaufen. Und deswegen hat man die ganze Welt in Bewegung gesetzt! Die Gegenwart ist Humbug, nichts als Humbug! – Aber ich fühle, daß mein Urteil ganz anders ausfallen würde, wenn sie hier wäre, wenn ich sie überall hinführen könnte, wenn wir gemeinsam alles beschauen könnten: Da wollte ich genießen, bewundern, mich begeistern!

Einmal kam ich in der Ausstellung zu einer ungarischen Restauration, wo ein Streichorchester spielt und wo echter Steppenwein geschenkt wird. In der Musik ist Glut und südländische Sonne und im Wein ein Geschmack von unverfälschten Trauben. Die Musikanten tragen Nationalkostüme, es sind schwarzäugige Männer mit dicken, aufwärts gestrichenen Schnurrbärten. Der Dirigent spielt mit und steht, während er spielt. Die Töne, die sein Bogen dem Instrument entlockt, steigen und fallen leidenschaftlich, er biegt den Körper zurück, und die Perlen an seinem Gewande flimmern. Seine Augen glänzen in dem elektrischen Licht, und scherzend wirft er bald dieser, bald jener Dame, die in seiner Nähe sitzt, herausfordernde Blicke zu. Man wirft ihm Blumen auf die Estrade; das Publikum folgt seinem Spiel und vertieft sich in die Gefühle, denen die Violinen Ausdruck verleihen.

Hier und da streckt sich eine Hand aus, ein Kopf und ein Fuß wiegen sich im Takt mit der Musik. Auch ich begeistere mich, mir wird leicht und froh ums Herz. Aber plötzlich verstummen die Violinen, und die Musik hört auf. Nur vom andern Ende des Saales ertönt das Geklirr von Münzen, die der Kellner einem der Gäste in die Hand fallen läßt. Der Bogen des Dirigenten hat mitten im Spiel innegehalten, die Spitze ist hoch erhoben, und die Hand berührt das Ohr. Und als er sie langsam, kaum sichtbar, herabgleiten läßt, da hat der Ton der Violine sich verändert. Er ist tieftraurig geworden; erst klagt er, dann weint er, gleich einem vergessenen Sehnen, das jetzt wieder in der Erinnerung erwacht ist. Seine Züge sind ernsthaft geworden, sein Blick schweift jetzt über die Köpfe der Menge hinweg, an einer Linie entlang, die vielleicht bis zu der Laterne dort über der Tür führt, die mir aber weithinaus zu schweben scheint, über die weite Steppe nach einem fernen Horizont, hinter dem die Abendsonne seines eigenen Landes untergeht.

Weit, weit weg, dort in der Ferne liegt auch meines melancholischen Vaterlandes Horizont, der Nordwind legt sich zur Ruh, die Wellen plätschern gegen die Seiten des Bootes, das Segel hängt schlaff herab, und Anna sitzt im Vordersteven, den Rücken mir zugewandt, leise eine Melodie vor sich hinsummend.


Hier hörte ich gestern auf. Ich will nicht mehr über die stets einförmigen Wandlungen meiner Stimmungen reden. Wenn man eine Welle gesehen hat, kennt man die folgende. Bald spiegeln sie das tiefe Blau des Himmels wider, bald sind ihre Kämme von weißem Schaum gekrönt. Sie schwellen eine Weile an, lassen dann nach, wenn der Wind sich legt, und begeben sich schließlich ganz zur Ruhe.

Ich glaube, ja, ich bin ganz sicher, daß der Wogenschwall meines Herzens sich bald zur Ruhe legen wird. Ich habe angefangen, in der Bibliothek zu arbeiten, und habe nicht mehr so viel Zeit, mich selber zu beobachten, wie im Anfang. Und dazu kommt, daß die Umgebung, dieser Pariser Himmel sich tiefer in meine Sinne einprägt, neue Wünsche, neues Sehnen mit sich bringend. Wenn ich zum Beispiel des Abends an den großen Boulevards entlang wandere, wo alle Welt so sorglos durcheinanderströmt, heiter und leichtsinnig, als sei das ganze Leben ein Spiel, so bekomme auch ich Lust, mich den anderen zuzugesellen. Was sollte mich auch im Grunde hindern, so einen der leichten, flatternden Straßenschmetterlinge unter den Arm zu nehmen, die in Samt und Seide strotzen und mit einer fast unschuldigen Miene den Kopf in den Nacken werfen und alle Vorurteile der Welt verlachen: Sollte nicht ein solches Wesen imstande sein, mich die Vergangenheit vergessen zu machen, alle die alten Wunden zu heilen? Sollte es nicht das Wasserzeichen verdunkeln können, indem es selber an seine Stelle träte? Weshalb lasse ich mich nicht von demselben Wirbel mit fortreißen? Weshalb setze ich mich nicht in eines dieser Cafés, wo sich die schwarzen Zylinderhüte der Herren und die hellen Kleider der Damen miteinander vermischen?

So denke ich, aber trotzdem stehe ich da und bleibe ganz der alte, der ich immer gewesen. Ich mache nicht die geringste Abweichung, sondern wandere stets dieselben Straßen heimwärts, und ich freue mich, daß ich es getan habe.


Als ich den Brief in das Kuvert steckte, hatte ich ein Gefühl, daß was ich über das baldige Ende meiner Liebe gesagt hatte, nicht ganz wahr sei. Während die Feder über das Papier glitt, war es mir freilich selber so vorgekommen, aber diesen Gedanken kreuzte ein anderer. Ich glaubte, es sei nur eine zufällige Stimmung, die jeden, Augenblick mit einer anderen vertauscht werden könne. Und das geschah auch so bald, daß ich schon im selben Augenblick die Hoffnung faßte, daß aus meinem Brief gerade das hervorgehen würde, was ich hatte verbergen wollen. Wenn Annas Bruder den Brief liest, wird er zweifelsohne zu seiner Mutter sagen: »Man sieht deutlich, daß er noch nicht frei ist, daß er sie noch immer liebt.« Was aber wird Anna sagen? Natürlich wird der Bruder es so einrichten, daß sie den Brief liest. Und wenn sie ihn liest, welchen Eindruck wird er auf sie machen?

Als ich über dies alles nachdachte, begann die Hoffnung wieder in mir zu keimen. Gleich den Strahlen einer aufgehenden Sonne schien mir die eine Möglichkeit nach der anderen am Horizont zu erglühen, und ich fing an, mir einzubilden, daß mein Brief möglicherweise noch alles würde verändern können. Wenn ich mir die Sache recht überlegte, mußte ich zu dem Resultat kommen, daß ja Anna die wirkliche Tiefe meiner Gefühle noch nicht kannte. Das Ganze war so plötzlich über sie gekommen. Ich hatte ja nicht einmal ernsthaft und ruhig mit ihr gesprochen. Nach meiner Abreise hatte sie vielleicht angefangen zu grübeln, meiner mit wärmeren Gefühlen zu gedenken. Mit der ganzen Erbärmlichkeit eines Verliebten ließ ich sogar ihr Mitleid nicht aus meiner Berechnung und – das konnte ich mir nicht verhehlen, – den Einfluß der Mutter und des Bruders. Hauptsächlich aber vertraute ich auf meinen Brief. Sie sollte daraus ersehen, wie bodenlos tief meine Liebe war, wie ich litt, wie unglücklich ich mich fühlte.

Mit ganz eigenartigen Empfindungen betrachtete ich den Brief, der dort vor mir auf dem Tische lag. Das Kuvert war von feinstem französischen Papier. Es schien mir zu leben, es glich einem bleichen, samtbeschwingten Schmetterling, der sich unbeweglich auf einem Blatte festgesetzt hat. Er bebt nicht einmal, aber sobald du dich näherst, fliegt er auf.

Ich kann es nicht übers Herz bringen, den Brief in die Tasche zu stecken, wo er zerknittert werden könnte. Ich lasse ihn vor mir liegen, bis ich mein Bier getrunken habe und meine Zigarette dazu geraucht habe. Im Nebenzimmer knallen die Billardkugeln. Die Kassiererin klirrt hinter dem Schenktisch mit dem Silber. In den Wandspiegeln schimmert eine lange Reihe von Gasflammen. Draußen auf dem Boulevard, an den Glastüren vorüber, eilen unaufhörlich Spaziergänger, Wagen und Pferde.

Ich gehe hinaus. Vorsichtig halte ich den Brief in meiner Hand, und als ich ihn auf den Boden des Briefkastens fallen höre, zucke ich zusammen. Dann gehe ich langsam auf dem Asphalttrottoir nach Hause. Alle Cafés erstrahlen in hellem Lichterglanz, aus den Konzertlokalen tönt Musik und Gesang. Durch die geöffneten Türen und den blauen Tabaksqualm erblicke ich im Hintergrunde des Saales tanzende Damen in durchsichtigen Florgewändern. Ich beschleunige meinen Gang und sehe gerade vor mich hin, um den mir auf jeden Schritt begegnenden Frauen auszuweichen.

»Monsieur! dites donc, monsieur! Voulez-vous, monsieur?«

Ich schüttle sie unsanft von meinem Rockärmel ab und biege in meine eigene Straße ein. Dort ist es friedlich und still. Die Läden sind geschlossen, und nur noch der Kastanienverkäufer an der Straßenecke röstet seine Ware auf der knatternden Pfanne. Und vor mir her wandelt, mit seiner Laterne am Boden suchend, der »Chiffonier«, der Lumpensammler, dieser nächtliche Schakal von Paris, der alles, was andere in den Rinnsteinen hinterlassen haben, in den Kehrichtkorb auf seinem Rücken wirft.

Ich schelle, rufe dem Türhüter meinen Namen zu und klettere nach meinem kleinen Zimmer im sechsten Stockwerk hinauf. Ich schließe mein Fenster und suche mit dem Blick die Finsternis zu durchdringen. Ganz Paris liegt dort vor mir in die Dämmerung der Nacht gehüllt. Ich kann es jetzt nicht sehen, aber an dem Schein des elektrischen Lichts auf den Boulevards und an den in ungleicher Entfernung schimmernden Lichtern kann ich die Größe der Stadt ahnen. In meiner nächsten Umgebung ist nicht das geringste Geräusch zu vernehmen. Aber dort weiterhin ertönt eine ununterbrochene, warnende Stimme, gleichsam aus einem fernen Wasserfall aufsteigend, dessen Gebrause beim Herannahen des Abends durch die Tiefe der Wälder bis zu den auf den Höhen gelegenen Dörfern dringt. Es siedet, es kracht, es brüllt und wimmert, als wenn dort irgend etwas von einem unaufhörlichen Schmerz gemartert würde. Ich höre diese Töne jeden Abend, ich kann nicht erklären, woher sie stammen. Einige freilich glaube ich wiedererkennen zu können. Das ist der Zug, der bei seiner Ankunft auf der nächsten Station pfeift. Das sind Menschenstimmen. Dort singt jemand!

Lange, lange weit nach Mitternacht hinaus, liege ich noch wach. Ich vergesse, wo ich mich befinde, und bilde mir ein, daß ich daheim bin, in meines Vaters Haus, in der alten Giebelstube auf dem hohen Hügel, dort, wo ich in vergangenen Zeiten die Nächte bei meinen Büchern verbrachte und mich zum Examen vorbereitete. Meine Phantasie war voller Illusionen und Zukunftshoffnungen. Ich liebte und glaubte mich geliebt. Von meinem Fenster aus hatte ich, ebenso wie hier, eine weite Aussicht über eine Waldlandschaft, wo ich in der Ferne auf den Gipfeln der andern Höhen Feuer blinken sah. Im Hause war man zur Ruhe gegangen, und der Schall der letzten Schritte war verklungen. Aber die öde Heide hatte nicht aufgehört zu leben. Sie wachte die Nacht hindurch und entsandte stets dasselbe stille Sausen, dieselben nächtlichen Stimmen.

Ich entkleidete mich und begab mich zur Ruhe. Und in der Phantasie meiner Träume will es mir scheinen, als sei die Dunkelheit unter dem Fenster ein Wald, als sei es nur die Heide dort in der Heimat, die sauste.

Die ganze Zeit, die zwischen diesen beiden Stunden liegt, scheint mir verschwunden zu sein. Ich bin jetzt noch derselbe, der ich damals war. Als Ziel meines Strebens erblicke ich dieselbe Hoffnung, und wie von einer sicheren Möglichkeit träume ich von Zukunft, Heim und Glück. Und ich kann nicht mehr glauben, daß ich, so wie ich noch vor kurzem befürchtete, wirklich dazu verurteilt sein soll, beständig ein einsames, freudenloses Leben zu leben.


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