Juhani Aho
Einsam
Juhani Aho

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I.

Das Abendessen war beendet, man saß im Salon, und die Uhr ging auf zwölf. Man war den ganzen Abend einsilbig gewesen, und was gesagt wurde, war ohne Inhalt. Die Unterhaltung war mehr und mehr versiegt und drohte, ganz ins Stocken zu geraten. Wenn das Rollen einer auf der Straße vorüberfahrenden Droschke, das auf Minuten die Stille unterbrochen hatte, in der Ferne erklang, hörte man nichts mehr als den wehmütig singenden Ton der Lampenflamme.

Ich sah, wie Anna heimlich ein Gähnen hinter der Hand verbarg. Der Bruder, der mit langausgestreckten Beinen im Schaukelstuhl lag, gähnte ganz unverhohlen, – wir waren nämlich alte Freunde. Ich konnte nicht länger sitzenbleiben, obwohl ich meine Blicke gern noch eine Weile von meinem Platz unter dem Halbschatten eines Lampenschirmes dorthin gerichtet hätte, wo sie, von dem Licht der Lampe beschienen, über ihre Arbeit gebeugt saß. Jetzt legte sie das Nähzeug auf den Tisch und schien im Begriff, sich erheben zu wollen. Ich war ihr zuvorgekommen, nahm meinen Hut, der auf dem Klavier lag, und verbeugte mich vor der Mutter.

»Gehen Sie schon?« fragte diese, streckte aber doch ihre Hand aus.

»Es wird Zeit«, sagte ich, und ich besaß nicht Stolz genug, um den niedergeschlagenen Ton meiner Stimme zu dämpfen, obwohl ich fühlte, daß ich es hätte tun müssen.

»Nun, dann leben Sie wohl, und glückliche Reise!« Und dann wünschte sie mir noch Glück und Wohlergehen und hieß mich viele neue Gedanken mit heimbringen.

»Viele neue Gedanken – ja!« und ich bemühte mich, meiner Stimme einen halb bitteren, halb verächtlichen Ton zu geben.

»Lebe wohl, alter Bursche, und schreibe über alles mögliche, wie wir verabredet haben«, sagte der Bruder, die Trägheit abschüttelnd, die mich den ganzen Abend gepeinigt hatte.

Anna saß zwischen ihnen. Ich war an ihr vorbei, von der Mutter zum Bruder gegangen. Ich wollte, daß der Druck ihrer Hand der letzte vor meiner Abreise sein sollte.

»Adieu – – –«

»Adieu, glückliche Reise.«

Wie trocken, wie feierlich und wie kalt sie das sagte! Wie gleichgültig und gefühllos ihr Händedruck war!

Als die andern mich auf den Vorsaal hinausbegleiteten, blieb sie im Salon zurück und schloß das Klavier, an dem sie in der Dämmerstunde, als ich kam, saß und phantasierte. Ich hatte die Musik auf der Treppe gehört und hatte eine Weile hinter der Tür mit verhaltenem Atem und pochendem Herzen gelauscht. Ich sah sie jetzt die Lampe vom Tisch nehmen, und ich hoffte schon, daß sie vielleicht kommen, mir vielleicht die Treppe hinableuchten würde. Aber sie räumte nur die Noten auf, wandte sich dann ab, ging durch das Zimmer nach ihrer Schlafstubentür und schloß sie, wie es mir schien, erbarmungslos. Das letzte, was ich von ihr sah, war ihr feines Profil, ihre zarte Wange und eine ringelnde Locke über ihrem Ohr.

Nein, dachte ich, während ich die Treppe hinabging, wenn du nicht willst, so will ich auch nicht. Und ich stieß die Haustür auf, soweit die Feder nachgab. Mag sie knallen! Und sie knallte so, daß die Fensterscheiben klirrten und die lange, dunkle Diele erzürnt widerhallte.

Gott sei Dank, daß die Sache endlich klar wurde! Noch bis zum letzten Augenblick hatte ich mich mit Hoffnungen abgequält, – jetzt quält mich nichts mehr. Ich glich dem Wüstenwanderer, vor dessen Blicken die Fata Morgana plötzlich verschwindet, und der nichts als das endlose Sandmeer um sich her erblickt und weiß, daß er seinen Durst nicht löschen kann. Und die Resignation der Hoffnungslosigkeit erfüllte meine Sinne.

Sei zufrieden so, wie es ist, sage ich zu mir selber. Weshalb wallt deine Brust, weshalb stöhnt dein Herz?

Ein schläfriger Droschkenkutscher humpelt mit seiner Droschke um die Straßenecke im Schein einer flackernden Gaslaterne.

Die belaubten Bäume der Boulevards ragen gleich einem dunklen Gewölbe über meinem Kopf empor. Über den Friedhof an der alten Kirche schleicht ein Bursche mit seiner Liebsten.

Eine einsame Frauengestalt mit einem Tuch über dem Kopf mäßigt ihre Schritte und gleitet zögernd an mir vorüber. Sie hat so demütige, flehende Augen. Du hättest sie mit dir nehmen können, sie wäre dir so dankbar gewesen, sie erwartete dich vielleicht, sie stand ja beinahe dort unter der Laterne still: Morgen würde sie dich dann an den Dampfer begleitet haben, würde dich aus der Volksmenge angesehen und dir heimlich einen Gruß mit dem Taschentuch zugewinkt haben. Weshalb ließest du sie gehen?

Anna kann ja nicht kommen. Sie würde gern kommen, aber sie kann nicht. Nimm dir das nicht so zu Herzen, Geliebte, du kannst ja nicht! Weine nicht, meine Kleine, stirb nicht vor Schmerz! Versuche, froh zu sein! In ein paar Jahren komme ich wieder und bringe so viele, viele neue Gedanken mit heim.

Plötzlich hallt der ganze Marktplatz von einem lauten Wagengerassel wider, und von Trekanten herab kommt eine Droschke mit flotten Studenten, die soeben in der Stadt angekommen sind.

Sie sind jung, sie jauchzen und rufen Hurra! Sie können noch genießen, und ihnen liegt die Welt offen.

Aber bin ich denn ganz von Sinnen? Bitter und mißgünstig bin ich gegen diese jungen Leute, die sie wahrscheinlich gar nicht kennen und die sich nichts aus ihr machen, wie auch sie sich nichts aus ihnen macht! Und nur aus dem einen Grunde, weil sie hier zurückbleiben! Aber einer von ihnen, derjenige, der mir zunächst saß, hatte seine weiße Mütze so keck und sorglos auf das eine Ohr gesetzt. Er hatte so kräftige Schultern und so schwarzes, lockiges Haar. Ich gehe mit einem Zylinderhut wie ein alter Herr, und ich bin dick und schwerfällig und unbeholfen.

Ich zwinge mich zu einem überlegenen Hohnlächeln bei diesem Vergleich, beschleunige meine Schritte und gehe über die Esplanade nach Kämps Hotel, über dessen Tür eine elektrische Lampe ihr bläuliches Licht verbreitet.

Welch angenehmes Gefühl, in seine Wohnung, sein Hotel, seine Nummer hinaufzusteigen. In der Türspalte steckt die Rechnung, die »um Irrtümer zu vermeiden«, jeden Tag hingelegt wird, so freundlich ihre Hand aus. Welch heimischer Duft in diesem Zimmer! Von welch einer vorzüglichen Ordnung zeugen nicht diese ungebrannten Lichter, beide gleich lang, die zu beiden Seiten des Spiegels stehen, und dann der Aschbecher, auf dessen Boden ich mechanisch lese: »Nordisches Aussteuermagazin in Helsingfors. – Großes Lager von Wirtschaftsgeräten für Privatfamilien und Gasthäuser.«

Weshalb sagt man: »unpersönlich wie ein Hotelzimmer?« Vielleicht weil es nicht den eigenen Stempel der Person trägt, weil es keine Erinnerungen an Ereignisse in unserem Leben erweckt. Aber ich habe ja mein halbes Leben im Hotel zugebracht. Diese stummen Stühle, Sofas und Tische, die einander alle gleichen, sind für mich gleichsam alte Erbstücke. Und da steht ja mein Koffer weit geöffnet vor dem Alkoven. Als ich ihn vor einer Woche bei meiner Abreise vom Lande packte, waren wir noch gute Freunde. Sie brachte mir meine frischgebügelte Wäsche, ganz rot von wirtschaftlicher Anstrengung. Ihr war der Atem ausgegangen, als sie die hohe Bodentreppe hinaufgesprungen war, und um Luft zu schöpfen, setzte sie sich auf einen Stuhl und ließ die Hände in den Schoß sinken.

Sie wollte sehen, wie man einen Koffer packe, wenn man ins Ausland reisen wolle. »Ach was, Sie kennen ja nicht einmal die ersten Anfänge, Sie alter Knabe! Fort mit Ihnen!« Und sie schob mich beiseite, wendete den Koffer um und fing an, alles von neuem einzupacken. Sie lag auf den Knien am Boden, das Haar in entzückender Unordnung. Ich mußte ihr die Sachen zureichen. Die weiße Wäsche glitt durch ihre Hände und wurde im Koffer so hübsch und glatt aufeinandergestapelt und der kleinste Zwischenraum mit Kragen und Taschentüchern ausgefüllt.

Ich stand da, unbeholfen und bezaubert. Das würde sie nicht tun, wenn sie mich nicht liebte. Morgen sollte ich reisen, jetzt war der rechte Moment gekommen. Und ich sprach aus, was mir den ganzen Sommer auf der Zunge geschwebt hatte – daß ich sie liebe.

Ihr Antlitz kann ich nicht sehen. Aber ich sehe ihren Nacken erröten, sie legt noch ein paar Taschentücher hinein, wirft dann den ganzen Stapel auf den Fußboden, und ich höre schnelle Schritte die Treppe hinabeilen und über die Diele in ihr Zimmer huschen, dessen Tür ins Schloß fällt.

Ohne daß mich jemand bemerkt – die Mutter ist in der Küche beschäftigt –, gelange ich ins Freie, schweife über Berge und Hügel, und als ich zurückkehre, an den Eisenbahnschienen entlang, kaum des mir entgegenbrausenden Zuges achtend, und wieder zu Hause anlange, ist ihre Tür noch verschlossen. Aber in meinem Zimmer, oben auf meiner Wäsche liegt ein Zettel auf ihrer Hand. Sie hat mich wie einen Freund betrachtet, wie einen älteren Bruder, fast wie ein Onkel. Von etwas anderem kann gar nicht die Rede sein. Hat weder der Mutter noch dem Bruder das geringste gesagt. Und bittet, daß auch ich es nicht tun möge, denn sie ›will nicht‹.

Sie kam nicht zum Abendbrot. Ich sah sie nicht vor dem nächsten Morgen, kurz ehe der Zug abging. Das leichte Sommergewand war verschwunden, sie trug ein ernstes Promenadenkleid. Aus einem ausgelassenen, mutwilligen Mädchen, das ich noch gestern auf Grund unserer alten Bekanntschaft in den Arm genommen und herumgeschwenkt, hatte sie sich in eine würdevolle Dame verwandelt.

Finden sich da nicht Erinnerungen und teure, liebe Gegenstände in diesem Zimmer? Der Koffer trägt noch die Spuren ihrer Hände. Weshalb sagt man, daß es einem Hotelzimmer an Persönlichkeit gebricht und daß man nicht betrübt ist, wenn man es verlassen soll?

Und wohl hätte er etwas zu berichten, dieser Alkoven, in dem ich die schlaflosen Nächte dieser meiner Marterwoche verbracht habe, und wo ich – ein ausgewachsener Mann – weinend das Kopfkissen an mich gepreßt habe, in dessen einer Ecke sich der Namenstempel des Hotels befand.

Und wie kann ich es denn über mich gewinnen, dich zu verlassen, dich, die meines Herzens größte Freude war! Aber es mußte ja sein! Fort, fort! Alles unter Schloß und Riegel! Meine ganze Vergangenheit unters Schloß und den Schlüssel in die Tasche! Und auf den Knien liegend, drückte ich schonungslos das Schloß des Koffers fest, als wollte ich etwas Totes hineinpressen.

Die elektrische Klingel, die dort am Ende des Korridors ertönte, war wohl von mir in Bewegung gesetzt worden?

Ach ja, der Kellner! »Wollen Sie, bitte, dafür Sorge tragen, daß meine Sachen nach dem Dampfer hinabbefördert werden?«

So leb' denn wohl, mein Zimmer! und halblaut frage ich mich, ob es mir nicht schwer wird, meine Heimat zu verlassen! Wirf am Tor eine letzte Kußhand zurück nach den Hallen deiner Väter, aus deren Fenstern dir die erlöschende Abendglut einen Abschiedsgruß entgegenstrahlt.

Ich gehe in die Restauration hinab. Ich kann mich ja nicht wie ein Ausreißer aus dem Staube machen. Dies ist ja ein selten feierlicher Augenblick! Und zu dessen Ehre muß man wohl einen Abschiedstrunk trinken.

Als ich die Treppe hinuntergehe, auf deren teppichbelegten Stufen nur ein leiser Widerhall meiner Schritte hörbar ist, erblicke ich mit Genugtuung im Spiegel das Bild eines Mannes, der die Augenbrauen satirisch in die Höhe gezogen hat und dessen Mundwinkel Verachtung ausdrücken. Ich schwelge förmlich in diesem meinem Hohn, in dem Trotz meines eigenen Gemüts, den ich plötzlich, nach langer Zeit, wieder in mir aufsteigen fühle. Und ich will diese Empfindung aufrechterhalten.

Aber ich fühle, daß der Boden gleichsam gesprungen ist und daß der Hohn und der Trotz mit großer Schnelligkeit sinken.

Im Vorsaal der Restauration fühle ich eine harte Matte von Lindenbast unter meinen Füßen. Mein Überrock fällt mir von den Schultern in die Hände des Kellners. – – – Dort vor dem Spiegel stand sie im Frühling und ordnete ihr Haar und ihren Hut. – – – Der große Speisesaal ist erleuchtet wie zu einer Hochzeit. Aus dem Nebenzimmer ertönen Stimmen, man sieht Damenhüte, Offiziersepauletten und eine weiße Hemdbrust. – – – Dort hatten wir einmal mit der ganzen Familie zu Abend gegessen, ehe sie aufs Land reisten. Der Saal ist jetzt fast leer. Vor der Tür, mitten im Zimmer, steht ein runder Sofatisch. Um denselben herum bewegt sich ein kleiner, kahlköpfiger Herr, der an einer Kruste knabbert und eine Gabel in der rechten Hand hält. Ein paar andere Herren im Frack, Senatskanzlisten, die anscheinend von einer Sitzung kommen, sitzen weiterhin im Saal, jeder auf einer Seite eines kleinen, runden Tisches, sich mit den Stirnen fast berührend, in lebhafter Unterhaltung begriffen.

Ich gehe durch den ganzen Raum bis an die äußerste Ecke des Zimmers. Ein Kellner hat sich von seinem Observationsposten an der entgegengesetzten Wand in Bewegung gesetzt.

Ich weiß nicht, was ich bestellen soll, etwa einen Grog!

Aber als ich das Gewünschte bekomme und anfange, meinen Trank zu mischen, begreife ich nicht, warum in aller Welt ich hier bin, einsam, mitten in der Nacht mir einen Grog brauend. Wie mit einem Schlage erschlafft meine Spannkraft, und ich falle zusammen wie ein Bündel. Ich bin nicht mehr imstande, den Kopf aufrecht zu halten, und der Hohn und der Trotz stürzen von ihrer künstlich aufgebauten Höhe herab.

Denn das Ganze ist ja entsetzlich hoffnungslos und traurig. Sie war meine letzte Hoffnung gewesen. Sie hatte mich wieder aufgerichtet, mich, der ich schon hoffnungslos, geistig leblos dalag. Ich wollte ein neues Leben beginnen, wollte arbeiten, wirken, mich anstrengen. Ich hatte mich schon darauf vorbereitet. Und nun war alles wieder wie vorher. Ich saß hier in dieser Restauration wie an einem öden Strand, von dem ich auf immer Abschied genommen zu haben glaubte. Ich fühlte mich oft älter und kraftloser als vorher. Nichts in mir war zerrissen, ich fühlte weder Schmerzen noch Beklemmungen. Aber meine ganze Kraft war erlahmt. Ich war wie ein alter, abgearbeiteter Ackergaul.

Während der letzten Nächte hatte ich ausgetobt, ausgeklagt. Jetzt fühlte ich, daß ich nicht mehr klagen, nicht einmal mehr trauern konnte. Ich wäre froh gewesen, wenn ich die Erinnerungen hätte von mir stoßen können. Aber sie hatten sich nun einmal daran gewöhnt, um diese Zeit des Nachts zu kommen. Sie kamen in demselben Fahrwasser daher, das sie immer zu durchfurchen pflegten. Ebenso hell – wenn auch vielleicht ein wenig bleicher und farbloser als bisher.


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