Juhani Aho
Einsam
Juhani Aho

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III.

Am folgenden Morgen befinde ich mich auf dem Asphalttrottoir hinter der Kapelle, die südliche Esplanadenstraße hinabwandernd. Ich habe mich beim Kapitän erkundigt, wann der Dampfer abgeht, und er hat mir, nachdem er zuvor einige Befehle erteilt, über die Achsel zugerufen: »Ungefähr um neun Uhr.«

Jetzt ist es halb acht. Ich gehe am Runebergdenkmal vorüber und biege in die Boulevardstraße ein – es ist derselbe Weg, den ich gestern abend zurücklegte. In der Druckerei des Hauptstadtblattes sind die Maschinen in voller Tätigkeit, und die Papierlappen fliegen umher. Eine Reihe Schulmädchen geht an mir vorüber und biegt um die Ecke, wo der Weg nach der finnischen höheren Töchterschule führt.

Ich frage mich selber, was in aller Welt ich eigentlich hier tue. Und ich muß bekennen, daß ich noch einmal unter ihrem Fenster vorübergehen will. Ich sage mir selber, daß ich verrückt bin. Aber zu gleicher Zeit sagt eine andere Stimme:

»Sei ruhig, mehr als ruhig, wenn du auch verrückt bist.«

Die Läden sind schon geöffnet. Vor mir her fährt ein Lastwagen. Jedesmal, wenn die großen, schweren Räder von einem Pflasterstein auf den andern rollen, geht es mir wie ein schmerzhafter Ruck durch die Nerven. Ich habe schlecht geschlafen, ich bin sehr müde und schleppe die Füße nur mühsam weiter. Die heiße Sonne scheint mir so brennend in mein Antlitz.

Ich biege in die Friedrichstraße ein, und dort erblickte ich ihr Fenster. Das weiße Rouleau ist noch herabgelassen, und die Blumen, die dahinter stehen, zeichnen sich deutlich darauf ab. Sie schläft noch, also kommen sie nicht an den Dampfer.

Wenn sie die Absicht gehabt hätten, zu kommen, so würden sie gestern wohl davon gesagt haben. Und jetzt wird es mir plötzlich klar, weshalb die Stimmung gestern abend so gedrückt war. Die Mutter war ernsthafter als gewöhnlich, und der Bruder war so zerstreut. Anna hatte es natürlich nicht lassen können, darüber zu sprechen, daß sie einen Antrag gehabt habe.

Gerade als ich mich ihrem Fenster gegenüber auf der anderen Seite der Straße befinde, wird die Balkontür geöffnet. Ich erschrecke und fahre zusammen, als werde ich auf böser Tat ertappt. Und ich eile weiter, ohne mich umzuwenden. Soviel habe ich jedoch bemerkt, daß es eine Frauengestalt war, die heraustrat. Erst an der nächsten Straßenecke wage ich es, den Kopf umzuwenden. Ich sehe, daß es das Mädchen ist, das Decken klopft.

Zum erstenmal kommt mir meine Stellung lächerlich vor. Ich bin unbeschreiblich komisch. Ich alter Kerl, daß ich mich gebärde wie ein Schuljunge! Und ich wiederhole mehrmals, indem ich eine Bewegung mit der Hand mache: »Nein, das ist ja eine reine Torheit, das ist ja eine reine Torheit!«

Und über den Kasernenplatz, wo eine Kompagnie Gardisten exerziert und ein junger Leutnant sich brüstet, – ein »einfältiger Narr« scheint er mir – eile ich raschen Schrittes nach dem Dampfer hinab.

Während ich vom Verdeck aus die Vorbereitungen zur Reise, den Hafen und die dort herrschende Bewegung betrachte, überkommt mich plötzlich ein Gefühl, als habe ich das Ganze abgestreift und überwunden. Die Landschaft ist gleichsam reingewaschen nach dem Algen, und mein Inneres hat sich aufgeklärt.

Das Schiff wartet schon ungeduldig auf den Augenblick der Abreise. Es verschlingt wie ein Tier die letzten Bissen seiner Ladung. Die Hafenfuhrleute schleppen, mechanisch Hoiho rufend, verspätete Warenkollis auf das Deck, von wo der knarrende Luftkrahn sie in die dunkle Tiefe des Luftraumes versenkt. Der schwarze Kohlenrauch wälzt sich gleich einer dicken Molke aus dem breiten Schornstein, sich von Zeit zu Zeit vor die Sonne schiebend und einen eigentümlichen, gelben Schatten über den Kai und die Menschen auf demselben werfend.

Der Hafen liegt fast spiegelglatt da, aber in der Ferne, über den Blekholmssund hinweg, sieht man im Sonnenschein kleine Wellen auf dem unbegrenzten Meere glitzern. Zuweilen trägt ein Windhauch die feuchte Salzluft zu uns herüber. Es ist warm. Der Sonnenschein strömt zum Himmel herab, und das Auge wird geblendet von den weißen Wänden der Häuser und dem hoch emporragenden Nikolaikirchturm, der die umherliegenden Gebäude gleichsam krönt.

Auf dem Marktplatz wimmelt es von Käufern und Verkäufern. Hinter ihnen, von hier aus gesehen scheinbar über ihren Köpfen, rasselt ein roter Omnibus, dessen Glocke von Zeit zu Zeit klingelt. Im Hintergrunde wird das dichte Grün der Kapellenesplanade und das kolossale Grönquistsche Haus sichtbar, auf dessen Dach eine Flagge lustig weht. An dem Marktplatz entlang läuft, seine ganze Harmonie störend, eine Reihe neuer, weißer Pfähle, an deren Spitze ein dicker Draht befestigt ist, der von dem Sozietätsgebäude nach der Verkaufshalle läuft.

Ich will dies lichte Bild als Erinnerung an mein Vaterland mitnehmen. Ich zwinge es, sich in mein Gemüt einzuätzen, indem ich die am meisten in die Augen fallenden Züge unzählige Male betrachte. Ich will keine anderen Erinnerungen festhalten als diese eine. Alles übrige muß dahinter verschwinden, soll von diesen lebhaften Farben überdeckt werden.

Der Dampfer stößt langsam vom Kai ab. Schwerfällig wendet der Koloß mit Zuhilfenahme von Seil und Segel seinen Kurs dem Meere zu. Die Blicke des Zurückbleibenden und der Abreisenden begegnen sich, finden und suchen einander, verirren und vereinigen sich wieder. Je mehr das Schiff sich entfernt, desto mehr verschwinden die Umrisse, sie gleiten aneinander vorüber und finden keinen Vereinigungspunkt mehr. Die Taschentücher fangen an zu wehen, sie flammen auf wie Feuer, die zu einem letzten Lebewohl entzündet werden.

Die feinen Züge, das reine Profil und die ringelnde Locke am Ohr stehen plötzlich vor mir. Ich will sie in dieser Schar am Strande suchen, obwohl ich nur zu gut weiß, daß ich sie dort nicht finden werde. Aber ich ziehe die Landschaft vor das lockende Bild, ich will nichts anderes sehen als den Hafen, das Haus und den klaren Himmel.

Ich sehe das alles, und ich sehe die Segelboote und die Jachten, die spielende Furchen in den Wasserspiegel zeichnen. Wütend pfeifen die kleinen Dampfer im Hafen und umschwärmen den Vordersteven unseres Schiffes wie die Fliegen das Maul des unbehilflichen Ochsen.

Und der Ochse bläht seine Nasenlöcher, beschleunigt seine Fahrt und steuert durch den Langörnsund. Die einzelnen Fenster in den Häusern am Strande verschwinden und schmelzen zu drei langen, übereinanderliegenden Streifen zusammen. Der Lärm der Stadt ist nicht mehr vernehmbar, und das schwermütige, kräftige Geräusch der Maschine dringt zum erstenmal an mein Ohr. In voller Fahrt gleiten wir an Sveaborgs Wällen vorüber, von denen uns hohle, schwarze Kanonenluken anstarren.

Wir sind draußen auf dem weiten Meere. Ich gehe in dem sanften Wind auf dem Deck auf und nieder. Helsingfors verschwindet mehr und mehr. Die Heimat versinkt in die See. Finnlands Strand ist ein schmaler Streif, und dann nur noch eine rotbraune Wolke. Jetzt sehe ich nichts mehr als den blauen Himmel und das noch blauere Meer. Hier und da, weit hinten auf den Wellen erglänzt ein weißes Scherensegel, und ich beachte jedes einzelne und suche zu ergründen, ob es auf Helsingfors zusegelt. Vor dem Vordersteven spiegelt sich die Sonne im Meer. Die Wellen zerstückeln, zersplittern den Schein, und dann entsteht dort eine breite Straße aus blendendem Licht.

Ich suche fortwährend etwas Neues in meiner Umgebung, was meinen Blick fesseln kann. Ich halte die Bilder fest, die mein Auge trifft, und ziehe sie wie einen Flor vor die Vergangenheit. Jede neue Aussicht ist gleichsam ein feiner Schleier. Und in dem Schmerz selber ist auch während dieses ersten Tages mein bisheriges Leben mit seinen Erinnerungen verschwunden wie ferne, formlose Schatten, kaum sichtbar durch den Nebel und den Sonnenglanz. Ich kenne sie nicht wieder, es sind nicht meine eigenen Erinnerungen, sie gehören nicht mir. Es sind irgendwelche alte, unklare Bilder.

Ich selber gehe wie in einer Betäubung umher, als träume ich, als wäre ich mir dessen bewußt, ohne aber erwachen zu wollen. Das Meer senkt eine müde, angenehme Ruhe auf mich herab und wiegt mich in schlaffe Gleichgültigkeit ein. Auch nicht ein neuer Gedanke entsteht in mir, und jedes Gefühl schläft in demselben Augenblicke ein, in dem es erwacht. Ich entbehre nichts, hoffe nichts.

Ich treffe mich bald in dieser, bald in jener Situation an. Auf dem Deck in einem bequemen Ruhestuhl ausgestreckt, eine einschläfernde, sinnenumnebelnde Zigarre rauchend. Das Auge sättigt sich an dem weiten Meer, dem wolkenlosen Himmel und den kleinen, plätschernden Wogen, die gegen den Bug des Schiffes schlagen, und von denen sich einige, wenn auch nur aus Versehen, in Schaum kleiden, gleichsam schlafbefangen und ohne die Kraft zu besitzen, das lange, schwere Schiff in die Höhe zu heben. Eine Menge Fahrzeuge sind am Horizont sichtbar. Diejenigen, die sich im Schatten befinden, heben sich wie große, schwarze Schmetterlinge gegen eine weiße Gardine ab. Auf der anderen Seite blitzen die Segel im vollen Licht, man kann ihre Rundung und hin und wieder auch die Rahen erkennen. Von dort gleitet der Blick zu unserem eigenen Fahrzeug zurück, klettert an den Strickleitern zu den Masten hinauf, betrachtet die Taue und Segel, bis der Schornstein einen wolligen Rauch entsendet, der gleich einem schwarzen Schweif hinter dem Dampfer herzieht und sich leicht auf den Wasserspiegel legt.

Ich treffe mich auf dem Deck auf und nieder wandernd an oder in das Kielwasser hinabstarrend, das immer unverändert ist mit denselben Blasen, demselben Schaum und denselben Wellen.

Zuweilen hebt sich ein Streifen Landes aus dem Meere empor, mehr und mehr anwachsend, bis wir in unserer nächsten Nähe ein hohes Festland erblicken. Da sind Kirchen, Städte und Berge, deren Gipfel grünende Wälder bedecken. Auch dort gibt es Menschen, die leben und streben. Ich denke, wie es dort wohl sein mag. – Ein Fischer legt mit seinem Segelboot an der Seite unseres Fahrzeuges an. Wenn ich jetzt in sein Boot spränge, ans Land ruderte und dort bliebe, mitten im Meere auf einer Oase in der Wüste, ohne die geringste Spur zu hinterlassen? Wenn ich mir dort für den Rest meines Lebens eine neue Umgebung schüfe? Es scheint mir, als müßte sich das leicht ausführen lassen. Ich will es dort versuchen, wohin ich reise. Je weiter fort, desto besser.

Aber wir lassen das Land weit hinter uns, es verschwindet und wird vergessen. Ich erblicke wiederum nichts als das Schiff und die Segel am Horizont, die stets dieselben zu sein scheinen.

Die Sonne neigt sich zum Untergang. Gleich einer roten Kugel versinkt sie hinter dem Wasserrand. Sie berührt das Meer und taucht in die Fluten hinab, wie jemand, der Anstalten zum Schwimmen macht und erst die Zehenspitze ins Wasser steckt, dann bis an die Taille hineingeht und schließlich kopfüber in die Tiefe hinabtaucht und verschwindet.

Es dunkelt. Der Gesichtskreis wird begrenzter, und der Horizont rückt uns näher. Die Bläue des Himmels und des Meeres wird grün, und die Nebel steigen auf. Aber durch die Dämmerung schimmern ferne Lichter. Sie zeigen uns den Weg, sie entstrahlen den Leuchttürmen, die teils ununterbrochen scheinen, teils in regelmäßigen Zwischenräumen kommen und gehen. Und dazwischen hindurch sucht sich das Fahrzeug seinen Weg, den Kurs von einem Leuchtturm nach dem andern richtend. Unter dem Deck dröhnt die Maschine, sie scheint sich ihrer Stellung, ihrer Bedeutung wohl bewußt zu sein. Als alle zur Ruhe gegangen sind und nur ich allein noch auf dem Deck wache, ist es mir, als ob das ganze Schiff Leben annähme, als ob das Murmeln des Wassers am Kiel seine eigene, geheimnisvolle Sprache sei, deren Bedeutung es allein so recht versteht, während ich den Sinn nur ahnen kann.

Aber allmählich gewöhnen sich meine Sinne an die Umgebung, der Einfluß des Meeres verliert seine Kraft, und der versperrte Strom früherer Gedanken und früherer Gefühle erschließt sich aufs neue.

Als ich am Morgen des dritten Tages auf das Deck hinaufkomme, halb geblendet vom Sonnenlicht, sehe ich den Kapitän einen Dampfer beobachten, der rechts von mir qualmt und uns zu überholen droht. Dem Steuermann das Fernrohr reichend, sagt er: »Es ist die ›Capella‹.«

Es ist die »Capella«, die im Hafen hinter uns zurückblieb und die Heimat einige Stunden später verlassen sollte. Man meint, daß sie Travemünde kurz vor uns erreichen wird.

Mich über die Brüstung lehnend und mit den Augen das schöne Fahrzeug betrachtend, überkommt mich plötzlich eine Traumphantasie:

Sie befindet sich auf der Reise, sie, Anna, dort auf der »Capella«: Sie ist am Abend abgereist, nachdem ich am Morgen die Heimat verlassen habe. Sie liebt mich dennoch, wie auch ich sie liebe. Als sie mich niedergeschlagen und unglücklich fortgehen sah, wachte sie die ganze Nacht, und der Gedanke an mich wollte ihr nicht aus dem Sinn. Sie gedachte unserer Sommerfahrten, und sie hatte Mitleid mit mir und fühlte, daß sie mich liebte. Am Morgen eilte sie an den Hafen hinab, aber der Dampfer war bereits abgefahren. Sie fand keine Ruhe, ehe sie auf dem Deck der »Capella« stand – auch sie war auf der Reise ins Ausland begriffen. Sie gab Mutter und Bruder auf und folgte mir. Jetzt fährt sie dort, eine Strecke von mir entfernt, und kommt vor mir an, und die erste, die mir auf dem Kai in Lübeck entgegentritt, das ist sie. Wir setzen unsere Reise gemeinsam fort, sie ist meine Frau, und wir trennen uns nie mehr. All das andere ist nur ein böser Traum gewesen.

Und als ich erst einmal den Anfang gemacht habe, kann nichts meine Phantasie mehr im Zaum halten. Ich hole sie zu mir auf das Schiff, auf dies Deck, hierher, an meine Seite! Am Tage sitzen wir hier auf dem Hinterdeck im Schatten des Segels. Ich sehe sie so unheimlich deutlich vor mir – die kleinsten Züge, die feinsten Veränderungen in ihrem Ausdruck, ihren Augen – daß mir plötzlich ganz bange vor mir selber wird und ich das Bild mit Gewalt verjagen, mich abwenden und sie mit einer bestimmten, abweisenden Gebärde abschütteln muß. Aber sie ist gleich wieder da. Am Abend, als die Leuchtfeuer angezündet werden und die Laternen auf den Schiffen, die in der Finsternis umherirren, wie rote oder grüne Sterne schimmern, ziehen wir uns in einen der vielen Schlupfwinkel des Schiffes zurück, an den Fuß des Mastes oder an die äußerste Spitze des Vorderdeckes, wir sprechen leise miteinander, sind in denselben warmen Schal gehüllt, ich halte ihre Hand unter meinem Arm, sie drückt ihn zuweilen sanft, und ich antworte auf dieselbe Weise.

Ich lebe mich in dem Grade in meine Phantasiewelt ein, daß das Flimmern der Sterne mich melancholisch macht und der Anblick der dem Schornstein entsprühenden Funken mich bewegt, melancholische Volkslieder vor mich hinzusummen.

Ich weiß sehr wohl, daß dies alles ganz wahnsinnig ist, aber ich habe den Mut nicht, diese Stimmung zu verscheuchen. Ich habe nicht den Mut, mich selber auszulachen.

Voller Mitleid denke ich, daß mir ja nichts anderes übriggeblieben ist. Ich bin ungefähr in derselben Lage wie jemand, der trinkt, um seinen Kummer zu betäuben, und der doch jedesmal, wenn er trinkt, das Bewußtsein hat, daß er es tut, weil er nicht wieder zur Wirklichkeit erwachen will. Er schreit, lärmt und tobt, bemüht, seinen Kummer zu vergessen, aber sobald er das Glas zum Munde führt, erinnert er sich, wenn auch nur dunkel, des Grundes, weshalb er trinkt. Wenn er des Morgens erwacht, quält ihn die Orgie des vergangenen Tages, aber auch die Veranlassung dazu. Denn der Kummer ist nicht verschwunden, er ist im Gegenteil noch schwerer und hoffnungsloser als bisher.

Auch ich erwachte am Morgen gleichsam in einem geistigen Katzenjammer.

Während der letzten Nacht meiner Reise träume ich von ihr – gleichsam als Fortsetzung der Phantasien des Tages. Ich durchlebe nochmals die schönsten Stunden dort auf dem Lande, in denen ich mit ihr fischte und mit ihr segelte. Mein Schlaf ist leicht und unruhig und wird oft unterbrochen, aber ich bohre den Kopf in die Kissen, und es gelingt mir stets, den zerrissenen Faden wieder anzuknüpfen. Aber schließlich wird der Lärm da draußen und das Geräusch auf dem Schiffe zu arg. Ich höre die Signalpfeife ertönen, sie läßt mich nicht schlafen, ihr aufscheuchender, angsteinflößender, schriller Laut tönt mir in den Ohren, erst aus der Ferne, jetzt gerade über meinem Kopf.

Ich sehe, daß wir mitten in einem undurchdringlichen Nebel vor Anker liegen. Wir befinden uns in einem schmalen Fluß, sagt man, aber trotzdem ist es unmöglich, die Ufer zu sehen. Einige Klafter von uns entfernt scheinen die Umrisse eines anderen großen Fahrzeuges durch die Nebel. Ich entziffere den Namen »Capella«, aber das macht nicht mehr denselben Eindruck auf mich wie gestern. Ich zittere vor innerer und äußerer Kälte. Meine Sinne sind leer, von allen Phantasien des gestrigen Tages und allen Träumen der Nacht ist nichts zurückgeblieben als die rauhe Morgenwirklichkeit. Der ganze poetische Duft, auch der falsche Duft von gestern ist verschwunden. Klagend ertönt die Signalpfeife, und in der Ferne im Nebel antworten die andern Schiffe, unheimlich, gefahrahnend, gleich Vögeln, die einander vor einem Raubtier warnen, das ihnen irgendwo auflauert. Das vermehrt meine Verzweiflung und nimmt mir alles, was mir noch an Mut und Widerstandskraft geblieben.

Ich weiß, daß hinter der Nebelwand dahinten, nur wenige Klafter von uns entfernt, die Fremde sich ausdehnt, weit, groß, unbekannt, gefühllos. Ich befinde mich bereits in ihrem Schlund. Ich muß ein neues Leben beginnen, muß mich in neue Verhältnisse umpflanzen, obwohl die Wurzeln noch in der alten Erde haften: Ich wollte, daß das Schiff gleich wieder in die Heimat zurückkehrte!

Diese Schwäche peinigt mich; ich wollte, ich könnte sie überwinden. Aber während der Eisenbahnfahrt wird sie nur immer größer. Dieselbe trostlose Wirklichkeit überall. Ich gleiche einem Span, der vom Winde hin und her getrieben wird. Unendlich klein und unbedeutend. Daheim war ich doch etwas: wenigstens doch ein Rad in der Maschinerie. Hier komme ich mir vor wie ein überzähliger, der jederzeit, ohne vermißt zu werden, am Wegesrande zurückbleiben kann.

Allmählich erschlaffe ich und versinke in eine völlige Gleichgültigkeit, willenlos folgt mein Körper den stoßenden Bewegungen des Zuges. Die Landschaft, Städte und Dörfer fliegen an mir vorüber, erregen aber nicht die geringste Neugier in mir. Sie sind gar nicht da für mich. Ich denke weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft. Ich lasse mich wie ein Untersuchungsgefangener von einem Gerichtsort zum andern führen. Und ich erwache während der ganzen Reise nur ein paarmal zu anderen Gefühlen. Das erstemal in Köln, wo ich mit den anderen Reisenden den Dom besichtige.

Aus dem Eisenbahnlärm, dem ohrenzerreißenden Pfeifen der Lokomotive, aus dem Staub des Waggons und dem Sonnenschein, der die müden Augen blendet, sehe ich mich plötzlich in die dämmrige Wölbung versetzt, wo das Licht gedämpft und matt ist, wo die Menschen fromm und vorsichtig auf den Zehen umherschleichen, und wo von irgendeinem unsichtbaren Orte her, ich weiß nicht, ob vom Dache oder von den Wänden, eine stille, schwermütige Musik herabtönt. Zwischen den Pfeilern hindurch erblickt man tiefe Perspektiven, und an deren Ende stehen Altäre mit kleinen, brennenden Lichtern, die einen milden, warmen Schein verbreiten. In einer Seitenkapelle liegt eine schwarzgekleidete, verschleierte, bleiche Frau auf den Knien und schluchzt. Ich gehe auf den Zehenspitzen an ihr vorüber, und sowohl ich als auch die anderen Touristen fühlen, daß wir hier etwas Feines, Heiliges stören. Ich, der ich bisher stets behauptet habe, daß die religiösen Gefühle nichts sind als ein ekstatischer Zustand bei schwachen Naturen, ich schmelze wie Wachs. Ich habe Lust, mich auf die Knie zu werfen und zu beten, und ich wünsche, daß ich glauben, daß ich mich daran halten könnte. Mag der Zug abfahren, mag die Welt ihren Gang gehen, sich weiter abmühen! Ich bleibe hier in dieser stillen Wölbung. Und wie gut verstehe ich jetzt nicht diese Eremiten und Mönche und Nonnen, die, lebensmüde und in ihren Hoffnungen getäuscht, sich in ein Kloster einschlossen und Vergessen in der Einsamkeit der Wüste suchten. Das ist etwas anderes, als Vergessen in der Arbeit suchen und sich in dem Strudel der Welt zu betäuben.

Aber die Menschen kommen und gehen, und jedesmal, wenn die Tür geöffnet wird, dringt das Geräusch der Außenwelt, das Gerassel der Wagen, das Wiehern der Pferde von der nahegelegenen Eisenbahnstation bis zu mir herein. Vor mir geht ein Mann, in dem ich einen meiner Mitpassagiere erkenne; er sieht nach seiner Uhr, und ich eile mit ihm hinaus, besorgt, zu spät zu kommen.

Gleich einem wilden Tier, das aus seinem Käfig ausgebrochen ist, braust der Zug aus Köln heraus. Als der Abend dämmert, nähern wir uns dem Ziel unserer Reise, und ich erwache abermals aus dem Zustand der Betäubung, an den ich mich allmählich gewöhnt habe.

Der Zug hat sich verspätet und will die versäumte Zeit wieder einholen. Er braust mit einer so unheimlichen Fahrt dahin, daß unser Wagen förmlich in die Höhe hüpft. Ich will aufstehen, taumle aber auf meinen Platz zurück. Ein Zug, der uns auf dem anderen Gleise entgegenbraust, reißt mich, so scheint es mir wenigstens, in zwei Teile. Ich stehe im Begriff, zu zerbröckeln, in kleine Stücke zu zerfallen. Ist das nur körperliche Müdigkeit, Mangel an Schlaf und Ruhe? Ich suche es dahin zu erklären und überwinde mich selber. Weshalb kann ich nicht sein wie die andern, die ihre Sachen ruhig zusammenpacken und nichts Besonderes zu empfinden scheinen? Bin ich aus loserem Stoff gemacht oder ist die Arbeit selbst geringer? Was habe ich für Not? Warum in aller Welt bin ich nur so unruhig? – Aber ich bemühe mich vergebens, meine Sinne zu beruhigen. Ja, nun ist es wieder da. Abermals überkommt sie mich, diese grenzenlose, herzzerreißende Sehnsucht nach Liebe, dieser Mangel an Zärtlichkeit, der ein schmerzhaftes Empfinden in jedem Nerv erregt. Und ich habe keine Hoffnung, daß es jemals kommen wird – und ich bin ganz allein. Und deshalb habe ich jetzt ein Gefühl, als stürzte ich meinem Untergang entgegen. Die Fahrt wird immer wilder, ganze Strecken entlang pfeift die Lokomotive, sich nur einen kurzen Augenblick unterbrechend. Aus einem Tunnel heraus und in einen anderen hinein. Brücken, Kurven, kleine Stationen, an denen wir nicht haltmachen. Es scheint, als sei es nicht mehr möglich, den Zug zum Stehen zu bringen, als läge vor uns ein Magnetberg, der das eiserne Fahrzeug an sich söge, das keinem Steuer mehr gehorcht. Je näher man kommt, desto gieriger zieht er uns an. Schließlich erfaßt diese heimliche Kraft das Fahrzeug ganz und gar, alle Nägel fallen heraus, der Rumpf löst sich aus seinen Fugen, und das Schiff zerschellt an der felsigen Seite des schwarzen Wunders.

Plötzlich befinden wir uns unter einer Glaswölbung, die Fahrt läßt nach, und ruhig gleitet der Zug in den Bahnsteig ein. Ich finde mich als Glied in der langen Kette der Menschen wieder, deren eines Ende sich noch auf dem Bahnsteig befindet, während Paris das andere schon in seinem Rachen verschlungen hat.


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