Paul Adler
Nämlich
Paul Adler

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Ja, dort wohl – wo man wolle spinnt.

Flocken, immer Flocken.

Lauter Schlittschuhläufer.

In meinem Barte sitzt ein Kristall. Ich bin ja Gott-Vater.

Die weißen Englein spielen vor meinem Aug.

Ich bestelle: Drehorgler, Rauschverkäufer, ihr solltet mir einen Psalm orgeln!

 

Es ist nicht zu sagen, ein wie wunderbarer Gast er ist. Ich habe mich in der Christnacht zu sehr erregt. Man hat mich, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, ganz ermattet aufgefunden. Ich soll mich nicht so sehr erregen. Ich soll mich um seinetwillen, sagt er, gar nicht so aufregen. Er hat einen Zug unter Dampf stehn, blau angestrichen wie ein kaiserlicher Sonderzug. Damit soll er verreisen, zu den christlichen Abgeordneten. Der Wagen kann in der Bohémie ruhig einschneien, dort sind hundert Genien. Der Herr selbst will noch einige Zeit bei mir verbleiben. Ein rührender Freund. Und wenn ich dagegen bedenke, welchen heidnischen Gewinn mein Max damals verlangt hat. Glücklicherweise ist meine Lage jetzt auskömmlich, sonst könnte ich mich gewiß am besten an Ihn wenden. Er würde mich nicht ausnützen. Ob er wenigstens meinen Kaffee trinkt? Daß er mich nicht verarmen will, ja das weiß ich. 37

 

Ich kenne ihn nun schon seit so langer Zeit. Seit dem September, glaube ich, meiner Kindheit. Seitdem er die Parkwächterstelle an dem Gitter erhielt. Mit der kleinen, vom endlosen Niedersitzen seiner Vorgänger geglätteten Holzbank. Stundenlang konnte er in die Luft sehn. Sommer wie Winter, vor seinen Bäumen. Das dünne Männchen in dem dicken grauen Mantel. Drollig. Er ließ keinen vorbei, Liebende und Ammen, ohne sein gesetzmäßiges Auf und Nieder. Er saß immer. Nach einem Gerücht soll er einmal eine kleine Freiheitsstrafe abgesessen haben, die ihm alle die Bäume so lieb gemacht hat.

 

Einmal rettete er eine junge Katze, das Eigentum eines alten Weibes, vor Prügeln. Das war aber überhaupt ein andrer, und die Sache begab sich vielmehr in Sevilla.

Einmal erhob er vor mir seinen Finger. Das war erst neulich.

Gestern sah ich ihn auf der Warte, wo die Zahn- und Rachenkranken passieren. Verbundenen Mundes. Er heulte.

Er saß oben und winkte mir, daß ich mich nicht an den Ahorn hängen solle. In der Wolke sitzend zwischen Moses und Elias. Er sitzt wie aus Stein gegossen. Ich bin ruhelos zwischen diesen Wänden. 39

 

Er hat eine Haltung, die nicht von dieser Welt ist. Wo andre die Uhr tragen, auf seiner Brust trägt er eine ganz große Uhr aus massivem Golde mit einem Strahlenkranz. Sein Blick fällt auf mich mit einem Ausdruck, den ich in meinen Erinnerungen angestrengt suche. Wenn ich schlief, so kann es geschehn, daß ich beim Erwachen ihn plötzlich durch den Raum schwanken sehe, mit einem Umriß, wie – nun, wie des spukenden »Locarner Bettelweibes« Kreuz.

 

Er muß aber trotz allem verreisen. Er hat mir vorher noch Wichtigstes zu sagen. Er will vielleicht wahr sagen. Ich werde vielleicht fragen. Wir stehn gut miteinander. Er ißt mein Brot. Er trinkt mein Blut. Er ißt meinen Fisch. Warum soll ich Leute, die mein Brot und Fisch essen, nicht fragen, was sie eigentlich von mir wollen? Wer mich besucht, muß damit rechnen, daß ich ihn ausfrage. Als erregbarer Mensch fasse ich meinen Besucher vielleicht beim Knopfe. Ich drehe ihm den Knopf ab. Fresse ihn darum nicht. Ich sage jedem offen, was ich gerade denke. Jeder kann mir offen sagen, was er über mich denkt. Das Nächste ist auch das Beste . . . Aber da gehört freilich Gedankenflucht dazu. 40

 

Ich fragte ihn also geradezu: Herr, bist du mein Fisch? Er sagte: Vor allem andern dürfe ich nicht so schrein. Vielmehr müßte ich mich in meinen Äußerungen etwas mäßigen . . . Warum schreie ich eigentlich? Ich sehe dann, wie man sagt, so schrecklich aus. Wirklich, warum schreie ich? Niemand fügt mir doch ein Leid zu.

Auch verlangt er, ich solle gegen meine Mutter etwas milder sein. Sie ist eine alte Frau. Sie wird sich nicht mehr ändern, in diesem Leben. Gewiß nicht . . . Ob es ein anderes Leben gibt? Ein anderes Leben? Ein besseres Leben?

 

Wenn es ein anderes Leben gibt, o Herr, mach es selig. In einem seligen Leben müssen die Fische süß Fleisch sein, und sie müssen mit Flossen ihre Fischer im Schlamm aufgreifen. Versteht sich, um Menschenseelen zu fischen. In einem andern Leben müssen die Ungeheuer unter den Seelenvögeln gütiger sein als der gute Apotheker, der mir unlängst seinen Gehilfen mit meinem überzahlten Gelde nachsandte. Es gibt noch Wunder: das Opium ist gar nicht so teuer. Warum sollte es keinen Lohn der Tugend geben? Das ist kein natürlicher Gedanke. Ich will ihn danach fragen. Er sagte mir, ich hätte Recht. Manchmal müßte ich aber . . . vielmehr . . . wie bin ich doch fehlervoll! 41

Das mit der Mutter geht mir nun doch im Kopf herum. Schließlich habe ich sie doch einmal herzlich gern gehabt. Schließlich hat sie mich doch immer äußerst gern gehabt. Und tut es noch.

 

Gedicht zum sechzigsten
Mutters Geburtstag

(Laetari ad 1910)

Liebe Mutter. Heute ist dein sechzigster Geburtstag.

Laetari. Frohlocke. Mutter des Menschen.

Freue dich. Sieh, dein König kommt.

Auf einem Esulein.

Und muß hinaus ins feindliche Leben.

Und waltet weise im häuslichen Kreise.

. . . O Mutter, Mutter, ich sag Euch, dieses ist Euer Sohn nicht,

Vielmehr der gewaltige Ringer Christus ist es. So seid Ihr wahrhaftig seine Mutter?

Dann backt Matzkuchen und lasset uns fröhlich sein.

Aber wenn Avorun kommt, sprecht, wir wollen ihn nicht länger. 42

 

Rückfälle in das Verlorene

Hollah, ihr seid mir zu viele! Es gibt ja einen Himmelsgarten, sagt ihr, darin sitzt ihr zu Zehntausenden auf einer Nadelspitze. Das ist mir eine schöne Blattlausordnung. Es gibt eine Hölle, dort drängt ihr euch alle in ein borstiges Regenwurmglied. Das da ist ein Engerling, das dort ist ein Falter. Ich kenne euch. Ich will solches Zeug nicht wieder lesen. Die Augen brennen einem nur davon, besonders bei dem schlechten Licht, das man an diesem Orte hat. Die Ohren sind heute das reine Läutewerk. Stampferin, lebwohl. Wohin geht die Fahrt? Die Fahrt geht ganz nahe, nach Sommers Avalun. Brücken, wenige Bäume, Halden, Torfstechereien, dann Wälder, immer dicker. Ein Wirtshaus dick und heiß, für den Zweifler aufgebaut. »Fünfzig Minuten zu der Satansklamm.« Gott behüte, als ob der Mensch dorthin nicht allein fände. »Tanz am Abend. Feines Publikum. Kinder nur unter Aufsicht von Erwachsenen.«

Der Weg ist verrückt, was läuft er mir vor den Füßen? Gedanken und böse Wege wären an die Leine zu legen. Nerv, besinne dich: Maikäfer und Bier. Ein Kreuzweg wirft sich mir an den Hals, wie dem Herakles. »Gelbe Marke, Wanderer, nicht die rote!« Ich wähle das Laster, die rote, wie alle Weggenossen. Richtig, ein Kressengarten. Soldaten, geile Panther, in jeder Pratze etwas Bekleidetes, Rundes. Es 43 schleicht eine Katze. Wie weit ist es noch zu der Klamm? Es wird ein Gewitter kommen. Ob ich noch trocken anlange und heil? Und wie mir der Schweiß läuft. Wohin führt mich dieser Weg der Verdammnis? Mütterlein in den Wolken, deine rote Spindel! Es donnert leise . . .

 

Nichts, glücklicherweise. Nichts.

*

Ihr sagt, ich müßte das wissen. Ich muß mit euch gehn. Was wissen, weshalb gehn, wohin wissen? Das hier ist Staub. Das dort ist eine dicke Spinne. Rühret, Dienerinnen, nicht an diesen Staub!

Da sind wieder Mauern, dazwischen ist Raum genug für das Unbekannte. Und Häuser, zwischen ihren Stirnen ist Raum für Droschken und Narrenzüge. Da ist die Nürnberger Straße, das die Regensburger Straße und hier die von Eger. Hier oder dort? Im König von Ungarn oder von Polen? Und welcher Art Gespenst? Ein Laken oder ein Albdruck? Oder das Tier mit den zwei süßen Rosenschnautzen? Ich bin schlaflos wie ein Wärter mit seiner ungeheuern Verantwortung. Wehe, wenn es ausbricht. Warum laufen sie nur zusammen? Warum gucken sie mich an? Hier, Pöbel, sieh meine Zunge, eine rote Fahne. 44

Einer hält mich am Rockärmel. Guter Max! Ich folge dir. Ich weiß ja: alles, was du anordnest, geschieht doch. Ich kenne diese Straße nicht einmal. Ja doch, es ist die Lange Hure.

Dahinter kommt das Stift, dann die verfallenden Gasthöfe. Im König von Spanien oder in dem von Portugal?

Majestät Emanuel. Sie sind mein Haremswächter. Was haben sie mir zu verbergen? »Nichts, Gott sei Dank, nichts.«

Da will ich mich doch selbst überzeugen. Sie sehn gut aus mit ihren gemalten drei Kronen, Herr König. Wie alt jetzt? »Hier wohnte Goethe im Jahre 1795.« O Goethe, meine Hochachtung, der Mann vom Faust! Sie haben sich sehr verändert, Herr König von Portugal, seit Goethen. Die schönen Tage von Aranjuez sind wohl vorüber. Geben Sie Gedankenfreiheit? Schau, Sie haben da einen recht dunklen Torweg, heben Sie ihn auf! Ich wollte sagen, heben Sie Ihre alten Privilegien auf, Sire, nur die Spinnen wissen Ihnen Dank dafür. Und führen Sie doch, milder Fürst, ihre ausgetretene Wendeltreppe ordentlich in die Höhe. Zeigen Sie, wer diese bewohnt. Der Mann am Kreuz über seinem Öllämpchen? Bei Ihren Geschäften? Erleuchtet er solche dunkeln Pfade? Gold, wie viel nehmen Sie, Majestät? Bei Ihrem Zepter, lassen sie mich erraten, was Sie da abwärts von ihrem vermauerten Bauch haben? Fischangel? Zug des Herzens? Ein Glockenzeichen? Nun endlich. Spreizen Sie 45 mir Ihre beiden Korridore recht für meine zwei Silbermark! Lauter verschmitzte verschmutzte Türen.

»Kämmerchen, mein Herr, und recht fröhlich die Kämmerchen für ihr hohes Alter.« – Wie, Max, du wolltest hier durchsehn können? – »Gewiß doch, folge mir, Narr, und überzeuge dich selbst einmal.« – ›Zu Hilfe, ihr guten Wirte, zu Hilfe gegen meinen Mann!‹ – Fliehe, fliehe, Avorun bricht die Türe.

Wer faßte mich da an meinen Schultern, wer hielt meinen schweren Kopf?

 

Nichts, glücklicherweise nichts.

 

Das Bett, sagte Max, war voll Wanzen, darum ekelte er sich so sehr.

 

Ein unermeßliches Unglück ist die Welt, unzählige Unruhe, nach allen Seiten bangend, hängt in ganz Avorun, der Schöpfung eines bösen Allmächtigen. Alles zittert, alles bangt, allem droht unmittelbar das Grab ohne jeden Ausweg. Kein Ton, keine Hilfe von keiner Seite. Eine Kette ohne Ende bildet das Böse und eine Kette, an die alle Geschöpfe, schuldige und unschuldige, geschlossen sind. Gibt 46 es Liebe in der heillosen Hölle: sie verzweifelt, sie muß das entsetzliche Werk tun. Wenn es Eines gäbe, ein nur nicht ganz Böses, ein nicht ganz Ohnmächtiges, ein noch so geringes und zitterndes Ding, das der Welt Widerstand leisten könnte: hier müßte es sich zeigen, jetzt und hier wird seine Erscheinung erwartet.

Und siehe, es bleibt nicht aus. Nicht schwächlich und klein meldet es sich an wie eines Schafhirten Flöte, sondern kraftvoll über die Erwartung hinaus ist es schon da, das Heil der Gerechtigkeit. Das Horn in der Fülle seines höhern und wohlgefälligern Alters. Und nun wird es mächtig, Schritt für Schritt, zum Verlornen hinuntersteigen, es wird die verriegelte Türe zerbrechen, die endlose Kette wird es aufschneiden, und es wird eine der edelsten Gestalten im Dunkel belohnen, die verkleidete Gattentreue. Heil dir Treue, welche Taten könnten geschehn, wenn du in dem Sumpf, in der Unterwelt Grund zu fassen vermöchtest! Weh dir, Untreue: Ungezücht, das seinen guten Herrn schlägt. Du bist Schlange, du bist Herzgift.

 

Da sagte mir nämlich im Wirtshause der Dirigent: »Sie spielten heute recht nervös.« Ich weiß nicht, ob das ein Tadel sein sollte. Aber ich sagte zu ihm: ›Herr Dirigent, bitte, soll das vielleicht ein Tadel sein?‹ Darauf sagte er: 47 »Nein, das soll durchaus kein Tadel sein. Aber vielleicht sehn Sie sich doch nächstens die Hörner im Fidelio besser an.« Das ist nämlich das Motiv, das ich danach auf der Geige verstümpert hatte. Aber unser vorzüglicher Cellist sagte noch darauf: »Nun Wolfens Statthalter war auch gerade keine Erlösung.«

Da goß mir noch Wolf beständig Rotwein nach. Ich glaube, dieser Wein stammte noch von dem Saugeist, dem »Ahorn«. Dann muß ich jedoch etwas gesagt haben, wie: »Meine Herren, ich war heute leider durch Umstände sehr betrübt.« Darauf wurden Wolf und Weber beide sehr verlegen. Doch warum, das weiß ich nicht. Mutter, sage doch, was war das damals mit dem Kapellmeister, dem Ungarn? Sie ist nicht daneben? Das Licht brennt einsam?

*

Ihr seid mir immer noch viel zu Viele. Wozu habe ich von euch ein Dutzend entlassen? Ihr vornen seid hürnene starke Recken, andre ziehn auf dem Regenbogen in die helle Kugel. Unter ihnen ist eine gläserne Linse, sie tropft dunkel wie der Gral. Blut? Und der Fischer fängt in sein Netz . . .

Hinter dünner Wand toben eure Brüder mit dem Hammer. Auf den Ambos, und einer sticht, aufrechtstehend in seinem Steigbügel. Ich lehne aus dem runden Fenster, 48 aus dem ovalen Ochsenauge in mich hinausgebeugt. Das Labyrinth: leise treiben die Knöchelchen. Was tut die Muschel? Sie strudelt . . .

Von euch, schleimigen Wänden, rede ich nicht; euch peinigt der Polyp. Die Qualle in euerm Innern ist strahlend, glitschig wie die letzte Tiefe. Sie wechselt Salz, trägt Höcker, Fangarme und Spiralen. Ich habe sie in einem Fenster abgebildet gesehn, halb angeschnitten und mit erklärenden Buchstaben. Ich versuchte, mich darin zurecht zu finden. Nichts glücklicherweise. Nichts.

 

Nichts. Nichts. Nichts. Es ist nichts auf der Welt. 49



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