Paul Adler
Nämlich
Paul Adler

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Ich bin ein Mensch, dem einiges unklar ist, nicht bloß dort draußen in dem Lauf der Welt, wie man sagt. Vielmehr bin ich über mich selbst in einem bestimmten Punkte unklar. Ich habe das vierte Jahrzehnt meines Lebens schon begonnen. Etwas ist mir verloren gegangen, ich weiß selbst nicht von welcher Art. Etwas fehlt mir, ich kann es auch nicht aus der Ferne erraten. Das ist gewiß ein unerträglicher Zustand.

Ich kann es vielleicht durch mein Besinnen aufstöbern. Es liegt irgendwo im Zimmer, ich habe in meinem Zimmer so lange auf Ordnung gehalten. Meine Mutter stützt mich in jeder Ordnung. Es ist heute ein klarer Herbsttag. Auf dem Tisch der Strauß Astern: o mein Geburtstag! Es fehlt doch nichts an der Ordnung aller Tage.

Wie war das nur? Du wirst dich schon besinnen, Mensch. Nur alles ganz in der Ordnung. Also heute bist du einunddreißig Jahre alt. Vor einem Jahr warst du dreimal zehn Jahre alt, dann noch vor einem Jahr neunundzwanzig, davor achtundzwanzig Jahre. O wie doch die Zeit vergeht, und man wird so freundlich dabei, manchmal sogar heiter. Das macht auch die Sonne. Ich bin immer von der Sonne so abhängig. Da sitzt meine Mutter mir gegenüber auf Wolle unter der Sonne. Sie sitzt natürlich nur in meinen Gedanken da, aber das ist mir heute nicht unangenehm. In Wirklichkeit ist sie nämlich nach den Hallen und Märkten 10 gegangen, um Fleisch einzuholen. Man kann mich ganz ruhig mit meinen Erinnerungen allein lassen.

 

Ja, als ich genau achtundzwanzig Jahre alt war, an meinem Geburtstage, da sagte meine Mutter zu mir: »Paolo«. So nennt sie mich nämlich, weil sie von Geburt Italienerin ist, aus der Stadt Parma in der Lombardei. Dort heiratete sie mein Vater, als er einst in Parma den Zucker der Landschaft aufzukaufen gedachte. Ich heiße aber Paolo nach ihrem Bruder, dem klerikalen Abgeordneten eines Landkreises. Dieser Mann hat uns vor langer Zeit seinen italienischen Hausrat hinterlassen.

 

In der Kirche von San Salvatore (das ist zum heiligen Erlöser) in Parma befindet sich ein Gemälde von einem berühmten berüchtigten Maler, darauf Christus abgebildet ist, wie er den Teufel aus einem Besessenen austreibt. Von dieser Tafel hat meine Mutter eine Nachbildung an der Wand hängen, als einzige Erinnerung an ihre Vaterstadt, vermutlich, daß sie der klerikale Onkel einmal in der Heimat bestellt hat.

Das ist alles, was über uns an Besonderm hier ausgesagt werden kann. Mein Vater ist nämlich vor fünfzehn Jahren 11 nach San Francisco entflohn. Sein eigener Vater, von dem die Mutter nur ungern spricht, soll als Säufer gestorben sein. Ich habe keine Geschwister. Ich bin Violinspieler und wohl augenblicklich von unsrer kleinen Oper beurlaubt. Ich spiele auch nicht länger in Konzerten. Ja vormals, da wölbte sich noch und lud ein mein Bogen!

 

Meine Mutter sagte also zu mir: »Paolo, du bist viermal sieben Jahre alt, und du hast noch kein Mädchen angeschaut. Noch weniger hat eine bisher dein Herz bewegt.« So drückt sie sich immer etwas fremdartig und zierlich aus, was alle unsre Bekannten an ihr loben. Und mit der ihr ererbten Beweglichkeit der Rede begann sie, mich wegen meines groben Ungelenkes ein wenig auszuschelten, indem sie noch fortfuhr: »Bei uns in Parma si dice, wenn einer in solchen Jahren das Auge noch vor der Eva niederschlägt, daß an ihm gewiß nicht viel Gutes ist. Du bist ein bißchen einfältig, mein Lieber. Bei uns sind die Söhne ganz anders. Jesus und Maria, da muß man im Gegenteil auf die Töchter achten. Ich hätte dich auch schon gerne zum Oheim nach Parma geschickt. Doch du bist ja nicht von der Stelle zu bringen. Nun bist du bald dreißig, gleichst einem Sack Pflaumen, so voll und gerundet. Wohin man dich stellt, dort stehst du auch. Oder lüge ich vielleicht? Hast du nicht 12 in deiner Stellung dich um eine Zulage bewerben wollen, nachdem du jetzt schon weiß Gott wie viele Jahre dort fiedelst. Und schön. Dein Ensemble braucht dich, wie der Kopf die Narrheit braucht. Du bist der Narr in deinem Ensemble.«

»Ich bitte dich«, so antwortete ich meiner guten Mutter, »bist du in deiner Ehe nicht genug unglücklich gewesen? Ich verheirate mich überhaupt nicht. Auch habe ich ja meine Mutter. Und die modernen Sachen spiele ich nicht gut genug. Du bist nicht sehr anspruchsvoll, du Mutter. Dir genügt es, wenn du die leichtern Weisen nur halbgerecht anhören kannst. Aber das gewährt noch keine Gehaltserhöhung und zu einer Frau erst recht keinen Boden . . .«

Ich habe noch nicht erzählen können, daß meine liebe Mutter eben wegen ihrer Herkunft einiges von Musik zu verstehn glaubt. So entgegnete sie mir denn, ein wenig schmollend, doch gutmütig: »Und kürzlich am Sonntag der Kapellmeister im Haus Ahorn, Herr Erdö, sagte mir, als du verschwunden warst, während einer Pause: ›Der Herr Sohn, bitte, spielt im Theater die beste Geige. Das macht, daß er eine italienische Mutter hat.‹ Und Fräulein Valentine . . .«

 

Als sie so weit kam, wurde ich gegen meine gute Mutter ungerecht, und ich unterbrach sie: »Du weißt es, ich 13 kann manche Namen nicht hören, ohne daß mir das Ohr rauscht.« Dies ist wahr. Mir verursachen seit meiner Kindheit einzelne Worte heftiges Ohrenklingen, wie es auch schon mein Großvater ähnlich hatte. Zu diesen Worten gehören seltsamerweise einige Namen aus meinem Religionsunterrichte, wie Belzebub, Belial und dann noch, obzwar ich diesen Frauennamen bis dahin kaum zweimal gehört hatte, der Name: Valentine.

Meine Mutter schenkte dem jedoch keine Beachtung. Sie sagte vielmehr: »Fräulein Valentine ist die Tochter des Ahorn. Das Mädchen gefällt mir sehr gut, und ich wünschte, sie gefiele meinem Sohne noch besser. Erhöhung oder nicht, wir können dank meinem Bruder auch zu dritt ausreichend leben. Und um es dir nur anzuvertraun, du Narr, das Mädchen scheint in dich heftig verliebt. Sie geht ja nur deinetwegen, um in dein Orchester hineinzusehn, in alle Opern. Geh und verliebe dich schleunig in sie. Ihr werdet glücklich sein. Über ihr Persönliches habe ich mich ausreichend erkundigt.«

Da war mir aber der mütterliche Ansturm zu heftig, und ich lief aus dem Hause. Meine kluge Mutter schüttelte hinter mir verdrießlich den Kopf. Dann setzte sie sich an den Tisch und schrieb an das Mädchen einen unverständigen Brief: den Brief, den nur eine kindische Mutter schreiben kann. 14

 

Ich stand auf, als die Glocke tönte, und ich ging in unser Vorderzimmer hinüber, dessen Fenster auf den breiten Fluß hinaus gerichtet sind. Da saß meine Mutter bereits mit Valentine, meiner Frau, die der Herr verfluchen möge. Ich nannte diese schon meine Frau, denn sie war es bereits nach Gottes und meiner Mutter Ratschluß. Meine Unschuld spielte dabei nur die Rolle der großen Pauke. Meine Mutter vermag ich darum nicht loszusprechen; ich kann nur sagen: sie wußte nicht, was sie tat. Sie büßt es heut schmerzlich, doch nicht so schmerzlich, wie ich Unschuldiger es büße. Valentine, die Geliebte des Teufels, hatte ihr Auge nur deshalb auf mich geworfen, weil ich ihr, ähnlich wie meiner Mutter, als der Sack erschien, dem sie einen Platz nach ihrem Willen anweisen konnte. Sie hatte den Geldmann, ihren Freund, damals bereits im Hintergrund. Mit ihm traf sie sich schon als Mädchen bei den ordinären Redouten, im »Stern« und andernorts, wo es hoch hergeht. Daß doch, o Gott, gerade mir solches geschehn mußte! Ich verliebte mich, noch überstürzter als es meine Mutter wünschte, noch auf demselben Sofa, auf dem das Weib saß, in ihre Füße, in ihre Hände, in ihre tollen, unter dem Kleid strolchenden Brüste. Ich war wehrlos wie unser kleiner Hund vor ihrem Schoße. Ich war niemals aufgefordert worden, einen Schoß so nahe vor mir zu haben, mit der Betrachtung, daß ich als Mann von ihm Besitz nehmen 15 sollte. Und wie sie lachte, als ihr der Hund ohne weitere Umstände sofort hineinsprang! Ich bin überzeugt, daß sie mit dem einen schrägen Blick den Mann zugleich und das Tier durchschaute. Denn sie errötete wie ich, lachte aber dazu. Und dabei saß meine bejahrte Mutter, eine ehrbare Frau. Welche Dinge doch in einem guten Menschen miteinander Raum haben! Ich werde es auch meiner Mutter niemals vergessen. Ich werde meine eigene Mutter nie wieder achten können. Ich will nur lieber hier abbrechen, um meine Mutter nicht zu verfluchen.

 

Verflucht, verflucht, dreimal verflucht aber sei die Hure, die mit meinem unbescholtenen Namen umherreisende, ob sie nun lustig oder von ihren Freunden wieder verlassen ist, ja ob sie überhaupt noch lebt oder schon tot ist. Ich gebe unsre zwei Brauhausaktien dem Manne, der mir nachweist, daß sie in Berlin an ihrer Art Schicksal verstorben ist. Er muß mir aber den Schein beibringen, und dann kann er von mir alles erhalten, was er will, und wenn er außer diesem mein ärgster Feind wäre. Ich gebe ihm alles und auch mein Leben, das für mich keinen Wert hat. Alles und auch meine Mutter? Alles und auch das Leben meiner Mutter. Sie ist ja alt. 16

 

Ich werde dir nicht nachweinen, Mensch! Ich werde mich nicht nach dir sehnen, jede Nacht, bis der Morgen kommt. Diese Genugtuung sollst du nicht haben. Ich werde um dich weder sterben noch verrückt werden.

Ich werde dir immer nachweinen, meine Valentine, jede Nacht nach dir mich sehnen, und meine Nacht wird schon beginnen, wenn es Morgen ist. Ich werde um dich sterben oder ganz gewiß verrückt werden!

 

Meine Mutter weiß, hinter ihrer dünnen Tür neben mir nächtigend, doch nicht, wie vielmals in solchen schlaflosen Nächten ich umherwandere und hinüber über den Fluß horche, wo die Nachtzüge kreischen. Ich kenne alle Züge, die in der Stadt anhalten. Mag sie mit ihrem jetzigen Liebhaber kommen; ich werde sie bei mir aufnehmen. Sie können in unserm breiten Bett schlafen, wie sie es früher taten. Ich werde inzwischen am Flusse auf- und abgehn, und ich werde geduckt, wie in meiner Ehe, die Treppe wieder hinaufschleichen, um weiter unglücklich sein zu dürfen.

Auch weiß meine Mutter nicht, daß ich seit kurzem in Großvaters Art schlage. Lustig! Kann eine Mutter ihren Sohn vor schlechten Freunden schützen? Das kann keine Mutter, ihren Sohn gegen Gottes Willen vor sich bewahren. Liebe Mutter, mamma mia, ehe du es von dem Papagei 17 hörst: Dein Kind trinkt. Beve il maestro, il genio, l'ubbriaco. Beve. Liquori e tutto.

Auch weiß meine liebe Mutter nicht, daß ich jetzt zur Nacht mich gar selbst erheitere. Vormals war es nicht so. Nun weiß ich mir nicht zu helfen.

 

Holla, meine gute Mutter, da stehst du in deinem Nachthemd in der Tür, wie eine alte Jungfer, und dein dünnes Altenzöpfchen pendelt erschrocken in mein spätes Gepolter. Wäre nicht mein lieber Vater uns durchgegangen, ich könnte ihm jetzt für dein Ohr die unflätige Geschichte erzählen, die ich vor einer Stunde von meinem Freund angehört habe. Es scheint, er wollte mich erheitern. So wie ich dich erheitern will. So wie du mich erheitert hast. Also vernimm: Ein Ehemann kehrt nach Hause. Was findet er? Laß du dirs doch erfinden. Hurra, liebe Mutter! – Alte Kupplerin!

 

Beethoventag. Aufführung des Fidelio im Theater. Heute sind es drei (oder vielleicht erst zwei) Jahre, daß ich so schlecht in der Ouverture gespielt habe. So viel schlaffe, schlaffe Saiten. 18

 

Merkwürdig, was wieder in meinem Ohr vorgeht. Ich höre förmlich die Glocken läuten. Was hat das zu bedeuten? Es sind jetzt, wie viele Jahre her, daß ich verheiratet wurde. Vier Monate nach meinem Geburtstag. Nun wieder um ein Jahr älter. Und am Ende läßt man sichs gar zu Herzen gehn.

Wie er mich nun ansieht von seinem beblümten Tapetengrund!

 

Damals schon begann ihre Verschwörung gegen mich. Meine Mutter ist nicht so liebevoll, wie sie gerne scheinen möchte. Sie hat es gern mit angesehn, wie man mich betrog. Auch sie ist eine Vettel. Auch sie war vor vielen Jahren ein Weib. Er sieht mich an. Immer wieder sieht er mich an. Wäre er doch an der Kirchenwand in Parma geblieben!

 

Ich weiß wirklich nicht, warum ich seit einiger Zeit so abgerissen in meinen Niederschriften bin. Mein Gedächtnis leidet zusehends. Ich merk es auch schon beim Geigen mir bekannter Stücke. Und doch trinke ich jetzt überhaupt nicht mehr. Ich bin mir selbst schon vollkommen mysteriös. Ich will es gestehn, ich war gestern sogar bei einem Arzt. Für tadellos gesund erklärte er mich. Als er hörte, daß ich 19 nicht mehr trinke, lobte er mich ausnehmend. Er lud mich auch ein, später einmal wiederzukommen. Denn vorläufig brauche ich niemand.

Es ist aber etwas auf meinem Grunde, was nicht den Arzt, sondern vielleicht einen Zauberer verlangt. Es rauscht in mir wie in der Muschel fern von dem Meere. Aber Zauberer gibt es doch seit Hoffmann nicht mehr . . .

 

Ob es trotzdem einen Gott gibt? Die Fremden, von denen ich mütterlicherseits abstamme, waren alle fromme Katholiken. Meine Mutter öffnete vordem den Mund nicht zweimal, ohne ihn mindestens einmal mit dem Namen eines heimischen Heiligen zu schließen. – Ob ich gegen meine Mutter wieder milder bin? Es fällt mir sehr schwer.

 

Es steht da. Ich war gestern als erwachsener Mensch, und ungenötigt, in einer Kirche; ich glaub, in einer protestantischen. Es zog mich an. Man geht auch in ein Zugstück. Der Mann oben über den Zuhörern las einiges, vermutlich aus den Evangelien. Dann erklärte er das Wort: Selig sind die Armen im Geiste. Hinter mir ein junger Mann, der in diesen Dingen erfahren schien, erklärte einem andern leise, die alten Mönche hätten diese Stelle besser verstanden, 20 nämlich: Selig sind, die geistig, nämlich freiwillig, arm sind. Vielleicht ist es so. Aber wenn ein Gott ist, tut man wohl daran, nicht allzu klug zu sein. Man sang dann noch einige Lieder, doch die Orgel war schlecht. Wie bedrückend alle die zahllosen Menschen!

 

Angst, ich habe schreckliche Angst vor dir! Angst! Angst! Mann in dem Bilde! Willst du mich nicht loslassen mit deinem Blicke? und weißt, daß man so über Schwächere Gewalt erhält! Ich bin keiner von deinen Besessenen, Pfarrer, du bist keiner von meinen Seminaristen. Graue Vorzeit. Was hast du für einen Saugeist dort neben dir stehn? A. N. R.? – Da malt einer in Farben ein Bild, und einer nimmt es auf, und sie halten es für bloßes Spiel. Angst, mein Gott! Buchstaben und Bilder!

Ich darf nicht mit mir allein sein. Ich fliehe. – Und blühst du doch wieder, Ahorn? 21

 

Palmarum. Ich weiß es nicht anders auszudrücken. Mir ist so seltsam zumut. Ich glaube, mit mir geht etwas vor . . .

 

Alles um mich herum und alles in mir selbst ist mir gleichmäßig widerlich. Trotzdem schaue ich großartig aus. Jedermann sagt es mir. Nur die Kleidung, die Kleidung nicht so vernachlässigen!

 

Mein Name ist Sauler . . . Wünscht der Herr mich zu sprechen? 22

 

Ich will es gestehn: ich liebe das Mädchen nur deshalb, weil sie genau die baumbraunen Brustwarzen meiner ersten Valentine hat. Außerdem aber kann ich, wegen des Ahorns, sie gewiß nicht bei ihrem Ehemann besuchen. Und zuhause wieder schläft meine alte Mutter. Ach was, laß meine groteske Amme zuhaus schlafen oder wachen. Ich verrate ihr nichts, sie darf sich aber sattsehn, wenn es sie jückt, an meiner – Schändung der Leiche Valentinens. Mond und emporene Gasflamme halten beide gute Laterne mir. Ich ersuche dich, Mond. Bei deiner Begabung, zu verdunkeln.

 

In dem Rasen: diese Glöckchen, die zuerst geschmeidig scheinen und dann vor dir fliehn. Hat mich Valentine schon so deutlich gezeichnet, daß mein Anblick nur abstoßend ist? Meine Haare umfangen mein Haupt. Ich brauche eure gemeine Liebe nicht, ihr Mannliebsten. Ich werde mich an eine von euch heranschleichen. Abends, wenn du von deinem Tag ermüdet bist, will ich dich überreden, dich für meine Befreiung heranziehn, zu meiner Freude, zu deinem Unglück. Du willst nicht? Ich werde es verstehn, mir aus eigenem Sinn ein Glück zu verschaffen. Ich schwöre es dir, mein Geschöpf! 23

 

»Eröffne sie! schäl sie auf! Das Messer an den reizenden Krokus!«

Nein, ich sitze nicht zu Tisch mit deinen Gästen, ich bin kein Schlemmer. Geh du deinen gelben Weg nicht mit mir  . . . Avorun!

 

Ihr Wälder, ihr Wälder, ihr Felder, ihr Wälder! Ihr Blumen, ihr Erden, ihr Weiber, ihr Männer! Ich sag es nicht, ihr Wälder, was ich in euch erlebt.

Ich sag es nicht, ich habe etwas erlebt dort oben. Ich hab es erlebt, doch ich sag es nicht. Ich bin nicht einfältig. Nicht, nicht, ich sag es niemand.

 

Was erlebte ich? Ich ging in dem Walde, schon hatte ich Ahorun überstiegen. Da begegnete mir ein Mensch und erhob gegen mich seinen Finger. Ein umflossener Mensch war er, aber doch nicht ganz ohne, wie man in meinen Augen gern glauben möchte. Da stand er vor mir – wie am Weg ein Pfahl. Ich bin auch kein Sack, ich will gern stehn. Ich machte auf ihn den folgenden Vers. Ich habe aber in meinem Leben vor diesem noch keinen Vers gemacht. 24

 

      Kehr wieder

Ich ging in Wäldern, in Wäldern
                  Nämlich

In Wäldern.     Nämlich.

Da kam ein guter Mensch.
                  Nämlich

Im Walde erhub er seinen Finger.
                  Nämlich

Ich war in den Wald gegangen, um mich dort in einigen Zweigen zu verwildern.

Da erhob der fremde Wilderer seinen Finger, damit ich mich nicht als Mensch an einen Ahorn hänge.

Dann geleitete er mich zurück.

Kehr wieder.

 

Dann habe ich übrigens noch ein zweites Gedicht gemacht, aber erst als ich heimkam, beim Schlafengehn. Das lautete so:

Müde bin ich, geh zur Ruh,
Schließe meine Äuglein zu,
Vater, laß die Augen dein,
Über meinem Bette sein.

Das habe ich meiner Mutter säuberlich abgeschrieben und es ihr, noch während sie schlief, auf das Bett gelegt. Wie wird sie sich doch beim Erwachen darüber gefreut haben! 25

 

Ahorun

Ahorun ist eine Stelle im Walde. Ahorun ist ein klatschiger Weg. Ahorun sind Brombeeren. Ahorun ist eine Spinne. Ahorun sind junge Bäume.

Ahorun zittert im Winde. Ahorun nickt mit Blättern. Ahorun nickt mit Blüten. Ahorun nickt mit dem Halse.

Ahorun frißt schmähliche junge Fliegen. Ein Kreuz zeichnet Ahoruns Rücken. Ahorun hält ein gräßliches Schild, eine gräßliche Kinnlade.

Ahorun spinnt. Ahorun spinnt . . .

Fliehe, fliehe! Avorun kommt.

Die Keulen eines roten Hirsches sieden in Avorun. 26

 

Ich bin stark und erhaben. Wenn mein großer Schritt bei Nacht im Hause ertönt, verstecken sich in den Ritzen die schmutzigen Nachtfalter, die Stimmen der Nachbarn, und meine Mutter weint. Meine Mutter zittert vor mir in ihrem Bette. O erster Triumph, Triumph eines Herzens, das in seiner Größe keinen Triumph mehr kennt. Meine Mutter soll ruhig weinen. Sie soll sich die Augen ausweinen. Ich habe keine Ahnung davon, warum sie es tut, und also habe ich auch keinen Teil an ihrem mütterlichen Weinen. Nimmermehr.

 

Ich stand auf wie sonst, weil ich schlaflos war. Es rauschte in meinem Ohr, aber nicht mehr wie die ausgenommene Muschel, nein, wie der Fluß, der sich unten vor meinem Fenster den Weg in sein Meer sucht. Ich habe das Fenster jetzt im Herbst offen gelassen. Ich kann mich auch erkälten. Ich kann auch sterben. Jetzt, da ich meinen großen Sieg erlebt habe! Worüber habe ich nur gesiegt? Sei es was immer! Satan oder eine Grille. Einerlei, ich hätte nicht so vollständig gesiegt, wenn ich mich noch auf etwas besinnen könnte. Also Triumph! Muschel. Avalun.

. . . Was rauscht draußen aber immer noch stärker? oder drinnen? Einerlei: draußen oder drinnen. Jetzt hämmert es, jetzt klingt es, jetzt läutet es wie Glocken läuten. Bei 27 wem hörte ich doch nur dieses Glockenläuten? Er kommt? Nein, er kommt noch nicht. Kommt er in mir? kommt er draußen vor dem Fenster? Einerlei: drinnen wie draußen. Da war er schon.

. . . Er hat dich nur gerufen. Nun ruft er wieder über das Wasser. Das macht er so, der Träufelmann bei Nacht und über den Fluß. Und, still, bei den Verdrehten. Was schreit er? »Paulus!?«

Ich höre. Warum so feierlich? Das ist gar lateinisch. Ich bin nicht lateinisch. Ich bin kein Paulus. Und auch kein Saulus.

Wiederum ganz deutlich: Paule! Also weiter so hochtrabend. Nun meinetwegen soll es bei der toten Verständigung bleiben . . . »Paule!«

O, herein!

 

Da ist er. Da sitzt er. Da geht er nicht von der Stelle. Da kann ich mit ihm reden. Da kann ich seine Hand ergreifen, wenn ich an ihn glaube. Wie er jetzt abermals den Finger hebt! Da ist er zu mir gekommen, er, der freundliche Mann vom Walde. Doch ist er naß, sein Bart ist umflossen, und so das Haar. Es sind keine Wasserpfeilblüten darin, es blüht der Herbstlöwenzahn, und die Säfte stocken schon. Es klatscht, der Fisch reist ins Schilfmeer wie das alte Israel. 28

Ei, mein werter Herr, wie schön ist es, daß Sie zu mir gekommen sind. Daß Sie meine Wohnung in der Stadt ausfindig gemacht haben. In dieser Vorstadt, bei so zahlreichen Werkstätten. Und nun gar durchs Fenster stiegen Sie ein? Wie zu Ihrem Bauernmädchen. Oder doch durch die Türe? Einerlei: ob Fenster oder Türe. Wenn nur der Empfang herzlich ist.

. . . Was du zu mir sagst? Du sagst, du habest mich aufgesucht, weil es mir in der letzten Zeit so besonders schlecht gegangen ist. Ohren, Kopf und Herz. Und Augenflimmern auch beständig. Nun, ich rede mit Ihnen nicht gern davon; ich denke nicht mehr daran. Gut vor allem, daß Sie da sind: ob deshalb oder anderswegen. Setzen Sie sich doch. Legen Sie ab. Verzehren Sie nicht? Darf ich Sie nicht meiner Mutter vorstellen, Herr . . .? Ach so. Sie sagen, es geht ihr nicht ganz so schlecht. Gut geht es wirklich nirgends, Herr Nämlich.

Meine Mutter ist aus dem Süden: dort haben Sie gute Freunde. Meinen Oheim kannten Sie gewiß, den Abgeordneten Niccolò, er besaß einen päpstlichen Orden. Ein großer Mann mein Onkel, aber kann er Ihnen, Herr Nämlich, imponieren? Nein, nein, ich erzähle Ihnen lieber etwas ganz anderes.

. . . Wissen Sie, daß Avoruns Großmutter den Avorun betrügt? Sie wissen es, doch Sie reden nicht gern davon. Nun 29 bist du auch schon verschwunden. Kommst du nicht ein andersmal? Kommst du nicht ein andersmal?
 

Das ist aber unerhört und lächerlich, diese Mutter immer an der Türe. Was weinst du eigentlich, blöde Mutter, darüber, daß ich hier laut mit meinem Besuch rede? Du solltest dich freuen, frohlocken solltest du, Weib, daß der Herr Christus mich so öffentlich wie einen Freund besucht. So, nun ist es heraus und wird nicht mehr zurückgenommen. Ich fürchte euch nicht, und wenn ihr die ganze Stadt zusammenriefet. 30

 

Ich protestiere: »Ein Herr Stadtarzt.« Ich speie auf den Stadtarzt. »Nein«, sagt er, »von der königlichen Regierung.« Ich speie auch auf die Regierung. Vielmehr: »vom Amtsgericht« – Ich weine. Wehe dem Amt und weh dem Gericht!

Hinaus! Hört es! Hier steh ich, so wahr keiner von euch hilft, und kann nichts als protestieren.

 

Mutter, höre, wenn du mir noch einmal eine von diesen Schlangen ins Haus läßt, wo du doch siehst, wen ich beherberge, so weiß ich nicht, wozu ich gegen dich fähig werde. Ich habe mich noch kaum mit dir ausgesöhnt. Ich tue niemand etwas, sag es ihnen. Ich verlange von niemand etwas. Niemand soll etwas von mir verlangen. Ich habe mit niemand mehr etwas gemein.

Bewahre dies: Du hast mit niemand mehr etwas gemein!

 

Nicht an meinem Pelzrock, Motten! Motten sind Schmetterlinge. Es wird Winter, was geschieht mit den Schmetterlingen Avaluns? Die Fee frißt sie. 31

 

Kennt sich jemand in den Herzen aus? Sie hilft dem Herrn nicht den Überrock ablegen, nicht einmal in ihrem eigenen Haus. Die will ihr Fleisch und Blut lieben! Die behauptet, sie wolle das Glück ihres Kindes! Die sagt, sie hat jede Nacht heimlich vor Gott auf den Knieen gelegen. Und dabei nimmt sie dem Herrn nicht einmal die Last des Schnees von den ewigen Schultern. Damit er sich von der Mutter verletzt fühlt. Damit er nicht länger zu mir kommt. Damit er mich wieder dort sitzen läßt, wo ich schon einmal gesessen habe: Allein am Weltmeer entgegen dem Alten.  . . .

Der Pelikan nährt seine Jungen!

 

Das kannst du: Nach Petrum gehn, nachts im Schneegestöber, die Stiefel anziehn, vorher gucken, ob der Fisch gar ist. Dreimal weinen, ein wenig um den Sohn, ein wenig um den Erlöser, ein wenig, wenig wegen der Zwiebeln. Wozu gehst du eigentlich in die Kirche, suchst dort mit Kerzen, was du am lichten Tage bei dir haben kannst? Glaubst du, der Pfarrer versteht was von dem Herrn? Glaubst du, er liebt ihn? Glaubst du, er hat ihn einmal gesehn? Wie kann er an ihn glauben, wenn er gar noch niemals von ihm besucht wurde? 32

 

Nichts ist schöner als kalte Weihnachten in Avorun. Ich will hingehn und den Schnee von dem grünen Brombeerlaub schlagen wie von seinen Schultern.

 

Vor der Kirche

Das könnt ihr: Domine. Vobiscum. Scum Scum. Bim Bum. Pst Scum. In Excelsis. Nämlich.

Das könnt ihr:
Knieen. Was?
Füß abbeißen. Was?
Wasser sprengen. Was?
Wort verschütten. Was?
Geist verschütten. Was?
Blut verschütten. Was?
Katholiken, Lutheraner und Juden. Scum Scum.
Stütze du meine Sünden, Herr!

Was tut ihr?
Wasser abschlagen? Alle.
Bitten abschlagen? Alle.
Kügelchen abschlagen? Alle.
Bäumchen abschlagen? Alle.
Köpfe abschlagen? Hähnchen und Männern? Alle. Alle. Scum Scum.

Was sollt ihr? 33
Speisung der Armen? Immer.
Verzehrung der Armen? Nimmermehr.
Kleidung der Nackten? Immer.
Verkleidung der Herzen. Nimmermehr.
Befreiung der Gefangenen? Immer.
Kränkung der Gefangenen, Verurteilung des Worts, das der Herr zu Gebeugtem spricht? Nimmermehr. Bewahre mich, Herr!

Worum betest du?
Gesundung der Wunden? Für dich.
Verwundung der Gesunden? Für andre.
Stützung der Hinfälligen? Für dich.
Hinfallen der Stütze? Für andre.
Aufrichtung der Gebeugten? Für dich.
Aufrichtung von elektrischen Menschenstuhlhäusern im Großbetrieb? Für andre. Gentibus.
Ite . . . Nämlich.

 

Weihnachten, und ich steh draußen. O daß alle Frommen ein einziges Haupt hätten!

 

Alle Frommen haben ein Haupt, das Haupt, auf das sie die dreifache Krone gesetzt haben. Es ist Christnacht, der 34 Herr aller Gläubigen sitzt im weißen Gewand auf dem Thron von Sankt Peter. Er sitzt bei den Scharen der Scharen, über den Scharen des neuen Israel aus aller Welt. Da tret ich allein herzu, ein Elender, die fremden Götter zu rächen. Kein Heiliger tritt mir in den Weg: sie sind alle von Stein gleich allen Engeln. Da werfe ich den Dolch freiwillig weg, mein Herz schmilzt, das Sakrament ereignete sich des heiligsten Blutes. »Wer ist dieser reuige Sünder?« fragt der müde heilige Vater, »ich löse ihn.« Da falle ich nieder zu seinen Füßen. Ich küsse seine rührenden gelben Füße. Ich weine auf die kupfernen Füße des Apostels, auf seinen Marmorstuhl. Ich sage: »Hier bringe ich freiwillig, ich kettete ihn, den Herrn Avorun.«

Da läuten alle Glocken Roms. Alle die uralten Glocken ohn Wartung beginnen von innen zu läuten. Scum Scum. Am Abend freut sich meine gute Mutter mit mir. »Wenn du nicht so verrückt wärst, mein Sohn,« jammert sie.

 

Konzert

Gemeines Volk, Börsenmänner aus Avorun singen:
»Vom Himmel hoch, da komm ich her,
Ich bring euch eine gute Mär,
Der guten Mär bring ich gar viel,
Davon ich singen und sagen will. Scum Scum.« 35

Andre, heller Gekleidete, mit Harfen und Zehnsait:
»Nun singet und seid froh–o–o!
Jauchzt und jubelt soo-o!«

Immer Neue, mit Fingern und Stäben:
»Singt ihr hohen Himmelschöre,
Singt zu unsers Gottes Ehre.«

Mit Brüsten und Kehlen:
»Und du, Erde, nimms zu Ohren.«

Mit Zungen und Zähnen:
»Gottes Sohn ist Mensch geboren.«

Mit Worten und Weinen:
»Gottes Sohn  . . .«

Mit Jubeln und Schauen:
»Gottes Sohn . . .«

Mit Hörnern und Klauen, einfallend und zerfleischend:
»Gottes Sohn ist Narr geworden.«

 

Zehntausend mit Krallen. Zehntausend mit Fledermaushäuten. Hunderttausend mit leuchtenden Birnen in den bronzenen Stirnen.

Da kam aus seinem Feuer hervor der Herr mit seinen Engeln und drohte mir mit dem Finger: Du Musiker, Müßiggänger, wann einmal werden sie dich hinter Stäbe setzen? 36



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