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Der jagende Tod

Jahre sind vergangen!

Die Sippe von Chohor ist verschwunden. Niemand fragt nach ihr. Wieder rasen die ersten Wildherden über die Steppe; es ist Frühling. Noch sind die Gletscher des Südens mit Schnee bedeckt; aber die Schmelzwasser rauschen wie Sturmgebraus ins Vorland hinaus, ganze Tundrengürtel überschwemmend, die Steppenflüsse in fahrende Seen umwandelnd.

Ein warmer Föhn jauchzt über die Steppe wie ein siegestrunkener Jäger, und vor ihm flieht sein Wild nach Norden: der Eiswinter. Ein glanzvoller Sternenhimmel leuchtet nieder auf die greifbar nahen Eisberge des Südens. – – – –

In einem Wäldchen am Biberflusse lagert eine Jagdgesellschaft um ihr Wachtfeuer. Große Stücke eines erlegten Urstieres lassen ihr glänzendes Fett in die Flammen tropfen. Der Schein des flackernden Feuers erhellt die Gesichter: Ahar von Hador, Harrar, Ruwo …, Howe, Owinar – –! Gespenstergeschichten, Sagen und Abenteuer umschweben mit dem Bratendufte das fröhliche Lagerleben. – Sie sind einem gewaltigen Höhlenbär auf der Fährte. – – – In der »Geisterschlucht« hat er seine Höhle. Aber nicht dieser gewaltige Brummer bildet das Thema der Unterhaltung.

»Merkwürdig, was du da erzählst!« sagt Harrar. – »Ich habe so oft von ihm gehört, aber nie etwas von ihm bemerkt!«

»Vom jagenden Tod? Du zweifelst?« fragt Howe verwundert. – – »Im letzten Herbste sah ich ihn durch die Geisterschlucht fahren und über die Steppe fliegen, mitten im Brausen des Lößsturmes!«

»Hast du ihn gesehen?«

»Auge in Auge, wie ich jetzt dich schaue! Ich hatte mich von meinen Jägern getrennt, um einer angeschossenen Gemse zu folgen. Sie entwischte mir, und ich mußte unter einem Felsen am Wildbache nächtigen. Der Lößsturm donnerte über die Steppe, riß in den Felsen Steine los und wälzte gebrochene Waldbäume über die Steinhalden. Um Mitternacht, kam er, der jagende Tod: brüllend, wie ein Bison, stürmte er heran. Tannenbart wehte um seine Stirne, in deren Mitte ein einziges Auge glühte. Er hat kein Fleisch an den Knochen; man hört seine Gebeine klappern. Mit einer Riesenkeule auf der Schulter fuhr er an mir vorbei ins Tal hinaus. Noch lange hörte ich sein Gebrüll durch den rasenden Sturm; es klang wie ›Tarahuuuh – Rahatarahu – rahaaahuuh‹! – – –«

»Ich glaube, – – weißt du, was ich glaube?«

»Nun?«

»Es ist der Geist der Gletscherspalte! Die Toten dort finden keine Ruhe, weil sie vom eigenen Vater ermordet wurden!«

»Möglich – horch!«

Die furchtlosen Jäger fahren zusammen.

»Das ist er! – Der jagende Tod!« schreit Ahar mit starren Augen. Alle sind totenblaß geworden; durch das Brausen des Föhnwindes klingt ein ferner Ton:

»Tara – huuu – rahaaah – huuu –!«

Im Sturme geht der Ton unter.

Keiner wagt diese Nacht zu schlafen; der jagende Tod hält alle wach; bei jedem Windstoße schrecken sie auf und glauben ihn zu hören, wie er durch die Büsche fährt.

Wie Erlösung leuchtet ihnen das Morgenrot. Die Fährte des gewaltigen Brummers ist gefunden. Ein Blutsverwandter des heute noch lebenden, nordamerikanischen Grisly. Der Verfasser. In einer tiefen Höhlenspalte verlieren sich seine Fußabdrücke.

»Wer geht hinein?« fragt Ahar lachend.

»Ich!« meldet sich – – der »Kleine«.

»Ich glaube gar, du wärest wahnsinnig genug! – Wir räuchern ihn aus; Holz her!«

Bald ist ein ganzer Stoß vor und in der Spalte aufgeschichtet; Harrar reibt ein Feuer an, und hoch fahren die Rauchschwaden des grünen Reisig am Felsen empor. Alle sind bereit mit Speer und Schlinge. Ruwo hat seinen Lasso an einem Föhrenstämmchen befestigt und wartet wie die Wildkatze auf den Lemming.

Ein tiefes Brummen, wie aus dem Innern der Erde – jetzt muß er kommen!

Er kommt nicht!

Das Feuer brennt nieder, und – er kommt nicht!

Ratlos schauen die Jäger einander an. So etwas ist niemals dagewesen! Ruwo faßt seinen Speer und nähert sich der Spalte.

»Halt! Um keinen Preis – halt!«

Schon ist der »Kleine« hineingeschlüpft! In der Angst um seinen Liebling faßt Ahar seinen Speer und will ihm nach; die andern tun ebenso. Im Innern hören sie Ruwos fröhliches Lachen!

Er kommt wieder und lacht, daß es ihn krümmt.

»Was hast du?« fragt sein Vater kopfschüttelnd.

»Wollen wir hier warten, bis er kommt, Vater?«

»Natürlich! Wir machen ein größeres Feuer!«

»Vater! Alter Jäger! Laß dir etwas ins Ohr sagen; der Bär ist heller als wir alle zusammen!«

»Wieso?«

»Kinderchen von Hador! Die Höhle hat einen – zweiten Ausgang!«

Die Gesichter!

Man rennt durch die Höhle, die auf der andern Seite des Felsens kaminartig endet. Hier ist eine herrliche Fernsicht: auf der Steppe draußen trottet der Bär gemütlich gegen Westen. Die Jäger verfolgen ihn bis über Chohor hinaus. Dort geht der alte Schlauling in die hochangeschwollenen Wasser der Tundra. – – Sie verlieren seine Fährte …

Auf dem Rückwege gehen sie über die »Zunge des bösen Weibes«. Sie sind fröhlich und guter Dinge; die Bärenjagd hat ihnen Abenteuer gebracht, und – – – mehr verlangen sie nicht; Wild zum Unterhalte gibt es in Fülle.

Wie sie sich der Todeswand nähern, hält der voranschreitende Harrar plötzlich inne:

»Eine Hyäne! – – Nein! – Was ist das?«

»Ein Mensch!«

»Nein! Es ist der … ah!«

Dort, hart an der Gletscherspalte sitzt ein Gerippe, die knochigen Finger an die Schläfen gepreßt. Wilde, graue Strähnen hängen über sein Totenschädelgesicht. Das eine Auge ist leer; das andere schaut in Totenstarre nach der furchtbaren Schlucht. Die Knochenhaut scheint eingefroren zu sein; die Tränen seiner Augen sind über Nacht zu Eis geworden. – – –

Ein Grauen faßt die Jäger:

»Der jagende Tod!«

Stumm ziehen sie vorüber.

Ende.


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