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Kerben der Rache

Auch die Höhlen der Eiszeit hatten ihre »Drahtlose«: Jäger treffen sich in der Steppe, belauschen sich am Jagdfeuer, Höhlenjünglinge gehen »fensterln« und plaudernd aus; Weiber und Mädchen ziehen tagelang auf die Beeren- und Pflanzensuche und sind nicht verschwiegener als – – – die Männer!

An den Lagerfeuern der Lößsteppe wird das Drama von der »Zunge des bösen Weibes« erzählt. Aber es ist nicht mehr rassenrein: »Historiker« sind bereits gekommen und haben erklärt: Geister sind aus der Gletscherspalte gestiegen und haben die Tochter Rahus geholt. Durch Nacht und Nebel sind sie mit ihr fortgeflogen.

Im Dunkel des grünen Feenpalastes halten Owinar und Raha von Chohor Geisterhochzeit!

In der Höhle von Hador sind alle um das Bratfeuer versammelt; das Wetter ist schlecht; es hat sogar noch einmal geschneit. Jedes ist bei einer Arbeit: die Weiber schneidern Fellkleider und die Männer rüsten Waffen und Jagdgeräte. In der Ecke sitzt ein kaum fünfjähriger Knabe und zeichnet mit einem Feuersteine hilflose Figuren auf ein Steinplättchen.

Da geht der Fellhang und herein tritt eine triefende, in Haarleder gehüllte Gestalt; wie sie die nasse Kopfumhüllung zurückschlägt, zeigt sich auf allen Gesichtern namenloses Erstaunen:

Howe von Arah!

»Ich sehe die Verwunderung eurer Gesichter und erwarte keinen Gruß; hier steht der Todfeind von Arah!« spricht er, wie es scheint, matt und gedrückt.

Kein Mund bewegt sich.

»Howe von Arah wußte,« fährt er fort, »daß die Rache von Hador ihn töten kann, doch die Liebe zu seinem toten Sohne hat ihn hergetrieben. Das heiße Blut von Arah trieb Howe zu einer Missetat! Ihr könnt sie ihm vergelten; erzählt mir erst die Mähr der Gletscherspalte!«

Harrar erhebt sich:

»Howe von Arah! Du bekennst dein Unrecht! Darum sei die Rache erloschen – – um deines Sohnes willen, der mein Freund war! Setze dich an das Herdfeuer von Hador. – Willst du essen?«

»Der Vater des Toten wird weder essen noch trinken, ehe er die Antwort auf seine Frage gehört hat: wer war der Tote in der Gletscherspalte?«

»Du sollst es hören!«

Der Ankömmling setzt sich, und Harrar erzählt. Lautlos hört der Alte zu. Wie Harrar geendet hat, kniet der Häuptling von Arah vor ihm nieder:

»Harrar, du hast ihn geliebt! Verzeihe seinem Vater!«

Harrar gibt ihm die Hand:

»Howe von Hador! Mein Haar ist ergraut in jener Nacht! Doch wollte ich jene Stunden segnen, wenn ich damit das Leben Owinars erkaufen könnte. Um seinetwillen sei die Rache ausgelöscht!«

»So spricht nur ein Jäger von Hador!«

»Was gedenkst du zu tun?«

»Zwei meiner Krieger haben Rahu mit den Seinen am Jägerfeuer belauscht. Rahu hat geprahlt, wie er den »Hund von Arah« auf dem Eise verfolgte und traf!«

»Ah! – Er hat es gestanden?«

»Vor seiner eigenen Sippe! Vor andern wird er es leugnen. Seit dem Tode seiner Tochter scheint dieser Meuchelmord sein einziger Trost und die Rache gegen Arah seine einzige Hoffnung zu sein. Zwischen Chohor und Arah werden nur noch die Kerben der Rache sprechen!«

»Du wirst Chohor überfallen!«

»Ja! Wenn ich's nicht tue, wird keines der Meinen seines Lebens mehr sicher sein. Jeden Augenblick müssen wir gewärtigen, daheim und auf der Jagd, daß er uns überfällt; darum wollen wir die Entscheidung suchen!«

»Dann wird Menschenblut die Steppe röten! Howe, du hast viel erlebt. – Willst du es mehren? Rahu wird das Kind im Mutterleibe nicht schonen!«

»Ich will ihm zuvorkommen!«

»Rahu ist ein schlauer Fuchs!«

»Wir sind in der Mehrzahl!«

»Aber gegen Chohor zu ehrlich, und zu heißblütig. – Rahu hat nichts zu verlieren; seine Blutskinder sind tot; er wird nach den deinen trachten!«

»Deshalb sollen dem alten Geier einmal die Fänge geschnitten werden! Vorher haben wir keine Ruhe!«

»Die Kerben der Rache werden noch unter den Kindeskindern wüten – Howe, ich habe einen Vorschlag, nein, eine Bitte!«

»Harrar spreche sie aus!« entgegnet der Alte düster.

»Howe möge an Rahu zwei Boten schicken, die ihm erklären, daß Arah auf die Rache verzichte, wenn er die Lößsteppe verlasse und gegen Westen fortziehe!«

Schwer atmet der Häuptling von Arah.

»Harrar! Rahu hat meinen Sohn gemeuchelt. – Harrar hat ihn gekannt, den Herzschlag meiner Seele.« –

Der Alte schluchzt stöhnend auf. –

»Harrar, du hast die Rache ausgelöscht um seinetwillen. – Um seinetwillen sei die Bitte gewährt! Ich will die Boten senden!«

»Howe, ich danke dir, um der Unschuldigen willen, die sterben müßten. – – Nun iß und trockne deine Kleider!«

Am folgenden Morgen geht der Gast wieder.

Das Wetter ist schön; am Nachmittage ziehen die Jäger von Hador aus, ihrer acht. Sie haben kein bestimmtes Ziel. – – – Hinaus auf die wildreiche Steppe, zur herrlichen Jagd! Noch traben aus dem Westen Heere von Herden heran Wie heute die Zugvögel ziehen, so zogen damals die Heere der Zugtiere, während die sogen. Standtiere: Eisfuchs, Bär, Hirsch, Gemse usw., blieben. Letzte Ausläufer solcher Ur-Wanderungen bildeten noch im letzten Jahrhundert die Frühlings- und Herbstzüge der amerikanischen Büffel und Mustangs. Der Verfasser..

Nicht weit vom Biberflusse liegt der »Weiße Felsen«, wo der Höhlenlöwe seinen Tod fand. Diese Anhöhe steigt von Westen her als sanftes Wiesenband an und fällt plötzlich senkrecht in die Tiefe. Dorthin ziehen unsere Jäger. Vor der ansteigenden Fläche des Höhenzuges legen sie mit Erlenstauden eine künstliche Hecke an; zwischen Grat und Fluß bleiben nur zwei; die andern sechs stellen sich in der Steppe draußen auf und warten einen ganzen Tag, bis sich im Westen eine nahende Pferdeherde zeigt. Die Jäger springen auf und verteilen sich; wie die Herde naht, wird sie durch Schreien und Hornen gegen den Fluß hin abgetrieben. Der Leithengst fegt wie der Wind daher und der Hecke entlang, die schiefe Ebene hinauf; der Jägertrupp schließt sich und jagt dem fliegenden Heere nach. Der Leithengst stutzt vor dem Abgrund – zu spät! Die hintern drängen wie Schleuderkugeln nach und – – – die Erde erzittert unter dem Sturze der herrlichen Tiere. Die zuckenden Pferdeleichen stauen sich unter der Felswand. Der Jäger will mit ihnen der Gottheit ein Opfer bringen Vergleiche die Funde von Solutré. Der Verfasser. …

Am Abend kauern und stehen die Jäger an einer Ausbuchtung des Biberflusses und beschäftigen, d. h. unterhalten sich mit Fischstechen. Kleine, scharfe Harpunen aus Elfenbein werden einzeln oder in Büscheln an Speerenden befestigt und die Fische mit Fackelschein angelockt. Hinter den Fischern am Nachtfeuer braten große Fleischstücke. Daneben liegt ein ganzer Haufen von Gewürzpflanzen, Wurzeln, Beeren und Knollen. Der Eiszeitjäger lebte nicht nur von Fleisch, sonst wäre er ausgestorben. Fleisch und Fische mit »Gemüse« hingegen ließen ihn gesund und stark bleiben.

Ruwo ist beim Fischen die Hauptperson. Schon liegt eine ganze Reihe köstlicher Forellen und Barsche am Ufer, da macht der »Kleine« mit seinem Vater eine Wette, welcher von beiden bis zum Aufstieg des Mondes mehr Fische gestochen haben würde. Ruwo geht weiter nach oben, Ahar bleibt am Platze; er ist günstig.

Vater Ahar leuchtet mit seiner Fackel in die Tiefe. Eine Trüsche kommt dahergeschwanzt, kehrt um, kommt wieder und – zisch! zappelt sie am Wurfspieße.

»Ruwo!« ruft Ahar nach oben.

»He?«

»Ich habe einen!«

»Ich auch!«

Das Spiel geht weiter. Nach einer Weile hat der Alte einen kleinen Ahlet am Spieße.

»Ruwo!«

»Heh?«

»Ich habe wieder einen!«

»Ich zwei!«

Schon schimmert die Mondhelle am östlichen Horizonte, da kann Vater Ahar melden:

»Ruwo!«

»Heh?«

»Ich habe wieder einen!«

»Ich zwei!«

Da steigt der Mond auf. Noch im letzten Augenblicke macht Vater Ahar einen Fang.

»Ruwo!«

»Heeeh?«

»Wieder einen!«

»Pah! Ich drei!«

»Komm her mit deinen acht Fischen!«

Ruwo hat acht Fische in seiner Felltasche; aber niemand hat gesehen, wie er beim Weggange von den schon vorhandenen einpackte.

Ahar zählt seine vier Fische vor. Ruwo seine acht – –!

»Wirklich acht!« gesteht der Vater – »jener dort ist besonders schön – ah!« Er nimmt ihn zur Land und bricht mit seinen Jägern in ein höhnisches Lachen aus.

»Plagt euch der Weisheitszahn?« fragt der »Kleine«.

»Ruwo! Seit wann schwimmen – – geschabte Fische in diesem alten Flusse herum?«

»Ge – –?«

»– – – schabte, ja! Sieh mal her! Gorn hat sie geschabt, ohne daß du es achtetest, und dort – hahahaaah! Unter deinen Fischen sind vier ausgeweidet!«

»Kann ich das Schaben und Ausweiden nicht selbst besorgt haben?«

»Wollen wir einmal nach Schuppen suchen?«

»Die sind bereits im Flusse!«

»Und du in der Falle – – Schwindelfuchs! Aha! Die kann man nicht beim Schwänze fassen und auf ihnen herumreiten!«

»Ihr habt alle Ursache, über jene Jagd stille zu sein!«

»Ah? – Auch noch?«

»Gewiß, lieber Vater! Ich bin wenigstens nicht nur dem Schwanze nachgesprungen!«

»Nicht? – – – Nachgesprungen bist du! – Dem Schwanze!«

»Während gewisse Helden das Viehzeug mit ihrem Geschrei verscheuchten!«

»Ruwo! Wer hat vor uns so erbärmlich geheult? – – Das junge Rhinozeros?«

»Ja, Vater! Das Zunge hat geheult, weil es vom ›Alten‹ im Stich gelassen wurde!«

»Kleiner! Das muß man dir lassen: du bist gefährlich wie ein Mammut; der Rüssel ist deine stärkste Waffe!«

»Gewiß! Aber – – meine Großmutter ist dir auch verwandt, nicht, Vater?«

»Warum – – deine Großmutter? Warum soll die entscheiden?«

»Weil ich von ihr den Rüssel habe! Sie hat ihn weitergegeben! Hast du nichts davon – gemerkt, Vater?«

»Wenn du einmal Großvater bist – –«

»Werde ich meine Söhne gut erziehen!«

»Man merkt es – –!«

»Daß meine Großmutter leichtsinnig gewesen ist!«

»Allerdings! Sonst hätte sie dich belehren sollen, daß man Nashörner nicht am Schwanze fängt! Wenn wir wieder – – –«

Das Wortgefecht wird unterbrochen. Aus dem Dunkel des nahen Gesträuches tritt ein Mann ans Licht, der den Eindruck völliger Erschöpfung macht. An seiner Schläfe und Wange klebt trockenes Blut. Ahar kennt ihn sofort:

»Wehar von Arah! Wie siehst du aus! Woher kommst du?«

»Von Chohor!«

»Ah, mir ahnt – – ihr waret zu zweit?«

»Hagurn war bei mir.«

»Wo ist er?«

»Tot!«

»Tot? Ein Bote, ein Gesandter?«

»Wir hatten uns kaum ausgesprochen, als Rahu meinen Gefährten mit einem Rinderknochen niederschlug. Auch ich wurde überfallen, konnte mich losreißen und in die Nacht hinein entfliehen. Ein junger, schnellfüßiger Krieger Rahus verfolgte mich bis fast hierher – hier ist sein Dolch!«

»Ah! Du hast mit ihm gekämpft?«

»Als ich sah, daß er mir allein folgte, habe ich ihn erwartet – – hier auf dem Dolchgriff ist seine Kerbe!«

»Nun wird der Gott des Todes richten zwischen Arah und Chohor! Auch wir müssen uns vorsehen, Harrar!«

»Stellt Wachen aus!« befiehlt Ahar.

»Hoffentlich kommt er bald, der Alte von Chohor!«

»Wir werden dich begleiten, bis du in Sicherheit bist!« versichert Ahar dem Angekommenen.

»Ich bilde die Nachhut!« erklärt Ruwo. – Wenn ich mich etwas verspäten sollte, so macht ein Feuer an: ich bringe Knochen nach!«

»Du wirst nicht unnötig auf die Verfolger warten!« warnt Vater Ahar. – »Wir müssen uns für alle Fälle bereit halten! – Löscht das Feuer, wir brechen auf!«

Das fröhliche Lagerleben ist jäh abgebrochen. Kaum einige Augenblicke, und ein nächtlicher Zug bewegt sich dem Biberflusse entlang. Ruwo bleibt zurück und folgt erst nach einiger Zeit – als Deckung. Gegen Morgen hört er das Rauschen eines Wasserfalles. Es ist der von niedrigem Gesträuch umgebene Biberfall, so benannt, weil man in jenem weiten, vom stürzenden Wasser tief ausgefressenen Becken Biberkolonien trifft. Ruwo kennt sie; er schleicht sie an; er will die possierlichen Tierchen, seine Lieblinge, wieder einmal sehen. Ja, sie sind an der Arbeit, die fleißigen Kerle: armdicke Stämme werden rund durchnagt und in die Wohnung eingefügt, die sich am seitlichen Ufer hügelartig erhebt. Jede Familie hat in dieser Burg ihre gesonderte Wohnung mit Eingang über dem Wasserspiegel und mit Ausgang unter dem Wasser. Wie sie mit dem Holzbestande aufräumen, zeigt die Lichtung im jenseitigen Birkenwäldchen. Wie mit Menschenverstand arbeiten die instinktfeinen Tierchen. Die Lücken des Palastes werden mit Rasenstücken und Aesten verschlossen. Am Ausflusse des Beckens haben sie eine Stauwehr angebracht, die ebenfalls eine Wohnung darstellt. Auf dem jenseitigen Baue sitzt ein großer, dunkelbrauner Kerl und verfolgt die Arbeit seiner Untergebenen. Sie scheint ihm zu langsam vorwärts zu gehen; er wendet sich dem Wäldchen zu, um Material zu beschaffen für seine Taglöhner. Kaum hat er das Ufer betreten, so schnellt ein Luchs auf und hat ihn mit Fauchen am Nacken gepackt. Ein Schrei, und alle Tempelbauer sind vor dem Angreifer verschwunden. Der arme Kerl dort wehrt sich mit dem Rasen der Verzweiflung: fauchend und quietschend schnellen die Kämpfenden auf und nieder, hin und her; das Raubtier hat sich fest verbissen. Ruwo kommt seinem Liebling zu Hilfe, nicht aus Mitleid, sondern wegen des schönen Felles mit den niedlichen Haarbüscheln an den Ohren. Lautlos legt er den Speer auf die Wurfstange, zielt, und – – der Räuber schnellt wie eine Katze in die Luft, diesmal allein. Der Bibervater schleppt sich mit schiefem Kopfe und blutigem Halse ins Wasser. Drüben wälzt sich der Luchs am Speer wie eine Forelle an der Angel; er kommt nicht los; Ruwo hatte glücklicherweise eine Harpune eingesetzt, und diese arbeitet sich bei jeder Bewegung in den Leib hinein; endlich zuckt er ausblutend am Boden.

Ruwo sieht sich nach einem günstigen Uebergange über den Flußlauf um. Bei dieser Gelegenheit wirft er einen Blick nach abwärts in die Steppe hinein und stößt einen unterdrückten Ruf aus. Dort kommt ein grauer, riesiger Mensch daher, ein raubtierhaft gebücktes Knochengerüst mit fliegenden Haarsträhnen. In der Rechten hält er eine gewaltige Keule, die Linke führt Speer und Wurfstange.

Rahu!

Mit weit vorgestrecktem Kopfe zieht er daher. Ein inneres Feuer scheint ihn zu jagen: Die Rache! Ruwos Speer liegt im jenseitigen Gebüsche! Zu spät ihn zu holen! Er wirft sich nieder. Doch der alte Wolf läßt nicht von der Fährte! Wie ein Satan der Steppe schleicht er durch die Büsche, stutzt, wie Ahour, und schleicht lautlos näher.

»Was tust du hier?« donnert seine hohle Stimme.

»Ich fange Mäuse!«

»Wozu?«

»Ich habe zu viel gefr… Jetzt schicke ich einige Mäuse nach, daß sie das Zeug zernagen!«

»Wo hast du sie – – die gefangenen?«

»Verschluckt!«

»Zeig' mal dein Gesicht, Mäusefänger!«

»Hier hast du es! – So schön wie das deinige ist es nicht!«

»Ah! Das ist ja der verfluchte Köter von Hador. – Was tust du hier?«

»Ich mause!«

»Steh' auf!«

»Ich lade dich ein, neben mir zu liegen!«

»Auf, Köter! – oder – ich trete dir ins Gesicht – willst du?« – –

Kaum hat der alte Knochenriese seinen Fuß erhoben, so hebt der »Kleine« diesen noch höher und – der Alte liegt auf dem Rücken. Wie der Luchs schnellt er wieder hoch, Ruwo auch!

»Köter von Hador! Ich schlage dich nieder!«

Ruwo schnellt wie eine Katze bis zum äußersten Uferrande zurück. Ämter ihm, um eine Mannshöhe tiefer, liegt das Wasserbecken, dem er den Rücken zukehrt. Er ist nicht im mindesten aufgeregt, der tollverwegene »Kleine«.

»Das wirst du nicht tun!« sagt er ruhig.

»Nicht tun? Warum nicht?«

»Weil du ein gutes Herz hast!«

»Ich – ein – –? Was willst du sagen, Köter?«

»Daß du den alten – – Howe auch nicht niedergeschlagen!«

Ein Ruck geht durch den Knochenleib. Das Auge des alten Riesen brennt.

»Hah! Du willst mich verhöhnen! Du sollst nicht einmal mehr Zeit haben zum Winseln! Noch eine Frage: hast du keinen Mann gesehen?«

»Doch, ich habe einen Mann gesehen!«

»Ah, wann?«

»Vor wenigen Tagen! Er hat seine Tochter für einen Igel gehalten und sie angespießt!«

»Satan! – hier!«

Der gewandte »Kleine« beugt aus wie ein Wiesel, schnellt herum, und der wütende Alte haut mit solcher Kraft – daneben, daß er das Gleichgewicht verliert. Mit einem Stoße von der Seite hilft Ruwo nach und Rahu stürzt kopfüber in die Fluten. Mit unglaublicher Behendigkeit hat der »Kleine« seinen Lasso gelöst, und wie der triefende Graukopf emportaucht, hat er die Schlinge um den Hals. Ruwo zieht den verzweifelt Schwimmenden an die Wand heran, doch so, daß er nicht erstickt. Dem »Kleinen« graut vor diesem Alten.

»Rahu! Bin ich ein Köter?«

»Hhhmmm – phrrrh – prrrh – nein! laß los, Hund!« gurgelt er.

»Sag' schön: ich bitte dich, tapferer Jäger von Hador!«

»Ichchch – – biiichchchtte – diiichchchch – tapf – pffffeerrrerrr – Jägchchchch –«

»Brav, mein Sohn! – Noch eine Frage: du hast Owinar ermordet?«

»Nein! – – Ja! – Jahhh – ööchchchscht.«

»Dich mag die Gottheit des Todes richten! Mir graut vor dir, Rahu … mach die Schlinge los!«

Der Alte tut es krampfhaft.

»Rahu von Chohor,« ruft Ruwo dem abwärts Schwimmenden nach, »das nächste Mal wird der ›Köter von Sador‹ deine Kaumuskeln durchschneiden, daß du dein großes Maul nicht mehr zubringst!«

Rahu landet im Gebüsch und verschwindet. Ruwo durchschwimmt den Fluß und nähert sich vorsichtig, mit gezogenem Dolche der Stelle, wo der angeschossene Luchs liegen muß. Die Vorsicht war nicht überflüssig; der verwundete Räuber faucht und beißt wie rasend um sich; der »Kleine« weiß sich zu helfen: er zwängt einen Ast los und schlägt auf das Raubtier ein. Welch ein zähes Leben der Luchs besitzt, zeigt sich hier: sein Schädel ist blutig zerschmettert, das eine Auge hängt heraus, und noch schnellt er auf, um endlich die Glieder zu – strecken. Ruwo zieht ihm das schöne Fell aus und wirft es über die Schulter. Nun fort! Den andern nach! Jeder Augenblick kann zum Verhängnis werden. Wie von Geistern gejagt, fliegt der »Kleine« den kürzesten Weg über die Steppe und erreicht die Jäger noch herwärts von Arah.

»Was bringst du?« fragt sein Vater Ahar.

»Sie kommen!«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe ihn gesehen, den alten Vielfraß!«

»Wo?«

»Am Biberfall.«

»War er allein?«

»Ja; wohl als Vorhut!«

»Was tat er?«

»Er wollte mich wie einen Pfahl in den Boden hineinschlagen!«

»Hast du mit ihm gekämpft?«

»Nein! Er war mir zu schmutzig! Ich habe ihn gebadet!«

»Erzähle!«

Ruwo tut es.

Wie er geendet hat, schüttelt der verwundete Wehar seinen blutigen Kopf:

»Ruwo! Du bist mutig wie ein Adler, pfiffig wie der Eisfuchs, stark und gewandt wie Ahour, aber heute warst du so gescheit wie der Lemming, wenn er den Tod sucht. Warum hast du das alte Raubtier nicht erlegt, wenn es in deiner Hand war? Das wäre eine Tat gewesen wie die Vernichtung Ahours, des Satans!«

»Wehar! Ich konnte nicht! Mir graute vor dem blutigen Auge und vor seinen grauen Haaren!«

»Wenn wir nur für dein Mädchenherz nicht büßen müssen, Ruwo! Er hätte deiner nicht geschont!«

»Du magst recht haben!«

Wehar sollte – – recht bekommen!

Ahar schickt einen Boten nach Hador, der melden soll, daß Chohor wegen Verletzung des Gesandtenrechtes unter Blutrache stehe. Die andern alle ziehen in Arah zur Beratung ein. Unbeschreiblich ist die Wut über das blutige Verbrechen von Chohor. Die Jäger von Hador sind einverstanden, den Treubruch zu rächen. Man ist um das Höhlenfeuer versammelt. Bratengeruch regt zu Taten an. Der heißblütige Howe will sofort gegen den Feind aufbrechen, zum Kampfe auf Leben und Tod. Ahar warnt ihn:

»Howe würde in sein Verderben rennen! Wir müssen die Höhle besetzt halten und auskundschaften, wo der Feind sich befindet. In unserer Abwesenheit würde der alte Räuber die Deinen überfallen. Er lauert vielleicht irgendwo in der Nähe!«

»Ahars Worte mögen gut sein, aber – ich schicke die Meinen heute nacht in die Dachsenhöhle; dort sind sie sicher. Wir können alsdann ausziehen!«

»Ich möchte Howe warnen! Zu allererst müssen wir über den Stand des Feindes klar sehen. Schicke Späher aus, nach allen Seiten, und wenn sie die von Chohor entdeckt haben, führt Howe die Seinen unter sicherem Geleite nach der Dachsenhöhle; wir dürfen sie nicht aufs Geratewohl hin von jedem Schutze entblößen!«

»Wir machen es so: wir bringen die Greise, Frauen und Kinder gesamthaft nach der Dachsenhöhle, lasten zur Vorsicht eine Wache zurück und sind frei für den Kampf!«

»Gut, mein Bruder Howe hat zu bestimmen, aber – – auch zu verantworten! Er möge tun, was er für gut hält. Ich für meinen Teil wollte erst wissen, wo Rahu mit den Seinen steckt und was sie vorhaben!«

»Wenn wir die Unsern in Sicherheit gebracht haben, werden unsere Späher das bald sagen können – – – nehmt all das Notwendigste zusammen und folgt uns nach dem Mahle!« wendet Howe sich an die Frauen.

Während des Mahles sitzt Ruwo neben der schönen Howelin und erzählt ihr von seinen Abenteuern: von der Nashornjagd, vom Kampfe mit dem alten Rahu. Howelin hört schweigend, mit glänzenden Augen zu; der »Kleine« ist ein ausgezeichneter Erzähler und kein Freund von allzu großer Bescheidenheit. An das Knie Howelins lehnt sich ein vierjähriges, wunderschönes Kind: Welia, das Jüngste Howes, Howelins Schwesterchen. Gespannt lauscht es auf die Erzählung des fremden Jägers und schaut unter seiner herrlichen Lockenfülle verstohlen zu dem großen Manne empor, der den bösen Rahu besiegt hat. Ruwo sieht das rege Interesse der Kleinen, hebt sie flugs empor und gibt ihr einen feurigen Kuß!

»So, Welia! Bring diesen Kuß deiner Schwester!«

Welia klettert empor und richtet den Auftrag aus. Howelin wird rot bis an den schönen Hals, herzt und küßt die Kleine nichtsdestoweniger so heiß und so innig, daß der »Kleine« an den alten Rahu denken muß, wie er mit den Zähnen den Beckenknochen eines alten Büffels bearbeitet.

»Welia!« sagt der kleine Schwerenöter, ohne eine Miene zu verziehen. – »Bin ich auch lieb?«

»Lieb!« lallt die Kleine beherzt.

»Sag' mal der Howelin, ich sei auch so lieb wie Welia!«

»Lieb – Welia!«

Da legt der »Kleine« wie von ungefähr den Arm um Howelin und neigt sich – scheinbar – zum Kinde hin. Howelin tut, als sähe sie es nicht und küßt die Kleine mit den furchtbaren Worten: »Ruwo bös!«

»Ist's wahr, Howelin?« fragt dieser keck.

»Ja!«

»Warum?«

»Weil – weil du – deine Großmutter nicht lieb hast!«

»So wirst du ihr helfen, meiner Großmutter!«

»Ja! Ich werde sie in Schutz nehmen!«

»Wann, Howelin?«

»Immer!«

»Mein ganzes Leben lang, nicht wahr, Howelin?«

»– – – Ja!«

»Das genügt! Sieh zu, daß es dir nicht geht wie ihr, wenn du mich meistern willst!«

»Wie denn?«

»Das sage ich dir nach der – Hochzeit!«

Er erhält eins auf den Mund und – sie auch!« Da schleicht die kleine Welia zu ihrem Vater hin und zupft ihn weinerlich am Fellkleide.

»Was hast du, Kleine?«

»Welia nicht mehr lieb!« – – –

Nicht alle sind so unbekümmert und guter Dinge wie Ruwo von Hador, dem die Abenteuer als Würze des Lebens erscheinen. –

Aus bangen Augen leuchtet stumme Sorge; die Taten Rahus von Chohor haben in Sage und Erzählung ihren Nimbus des Grauens erhalten …

Das Notwendigste wird in Eile zusammengerafft und zu Fellbündeln zusammengeschnürt. Alles andere wird in Spalten und Erdlöchern verborgen. Nach diesen Vorbereitungen ziehen alle aus. Ein nächtlicher Zug bewegt sich langsam und ohne Licht dem Wildbach entlang gegen das Waldgebirge. Ruwo trägt die kleine Welia, die, unbekümmert um Menschenstreit und Rache, lustig auf ihn einplaudert, und der tolle Jäger von Hador ist so entzückt von dem lieben Geplapper des kleinen Engels, daß er sogar zeitweise Howelin vergißt, die – natürlich wegen der Kleinen! – hart an seiner Seite geht.

Wilde Wolkenfetzen jagen am sternbesäten Himmel dahin, die unheimliche Schlucht, in die die Ziehenden geraten sind, bald verdunkelnd, bald zauberhaft beleuchtend. Entgegen der Meinung Ahars läßt Howe mehrere Steinlampen eines in Felsen verborgenen Lichtherdes anzünden. Die Jäger gehen voraus und hintennach, zwischen ihnen die Schützlinge an ausgezogenen Lassos. Gegen Morgen kommen sie in einem eigentlichen Steinlabyrinth an. Hier liegt eine nicht tiefe, sehr breite und geräumige Höhle, die Dachsenhöhle, so benannt, weil unter den Steinen dieses Trümmerfeldes nicht selten Dachse sich eingraben. Nach einem kalten Morgenmahl bestimmt Howe zwei Wächter zum Schutze der Seinen und zieht mit der ganzen waffenfähigen Mannschaft von Arah und Hador – etwa siebzehn Mann – auf dem Wege zurück, den sie gekommen sind. Er brennt darauf, mit dem alten Raubgesellen von Chohor abzurechnen. Ahar und die Seinen verurteilen diese kopflose Hast; dem Frieden zuliebe wollen sie dem Alten vor den Seinen nicht entgegentreten. Wie der Morgen graut, machen sie kurze Rast.

»Was gedenkt Howe zu tun?« fragt Ahar den alten Howe.

»Ahar glaubt, daß Rahu gegen Arah zieht?«

»Sicher!«

»Gut! Da können wir ihm entgegenziehen oder ihn in Chohor erwarten. Welches von beiden scheint meinem Bruder besser zu sein?«

»Das letztere, vorausgesetzt, daß …«

»… Daß? – Was meint Ahar?«

»Vorausgesetzt, daß er nicht schon dort ist und – uns erwartet!«

»Wohl kaum! Unsere Späher hätten ihn bemerken müssen!«

»Rahu ist ein sehr listiger Krieger, und wenn er auf der Fährte seiner Rache ist, so stellt er manchen Jungen in den Schatten!«

»Vater, darf ich etwas sagen?« meldet sich Ruwo bescheiden.

»Sprich!«

»Wenn ich der alte Fuchs wäre, so hätte ich euch längst im Sacke!«

»Du sprichst sehr keck!« erwidert sein Vater verweisend.

»Vater! Wir sind auf dem Kriegspfade, wo das Leben wie ein dürres Blatt am Baume hängt! Ich weiß, du denkst wie ich; der größte Fehler ist geschehen; wir hätten Arah nie verlassen sollen!«

»Warum nicht?« fragt der alte Howe gereizt. – »Die Unsern sind in Sicherheit und wir haben freie Land!«

»Das heißt: wir schieben uns hin und her und wissen nicht, was wir tun sollen!«

»Das weiß ich genau!«

»Howe will gegen Rahu ziehen! Wo ist er?«

»Ich werde ihn zu finden wissen, heute noch, junger Krieger!«

»Der ›junge Krieger‹ ist der Ansicht, daß der alte Rahu uns bereits gefunden hat!«

»Woraus schließest du das?«

»Aus der Zeit! Er badet wohl nicht mehr im Biberfalle, Vater Howe!«

»Hättest du ihn nicht entweichen lassen, falls, falls …«

»Wie meint Vater Howe?«

»… falls du ihn in der Hand hattest!«

»Ah, Vater Howe meint, der ›Kleine‹ von Hador habe ein Märchen erzählt?«

»Das nicht, aber – warum hast du ihn nicht unschädlich gemacht?«

»Ich konnte es nicht über mich bringen, den alten Mann zu töten. – Vielleicht wäre es ja besser gewesen, aber – – ich bin jetzt noch so froh, daß ich ihn lausen ließ; er hat wohl das Recht der Gesandtschaft verletzt, aber bin ich es, der ›junge Krieger‹, der es zu rächen hat? Er soll sich vor einem Jägergerichte verantworten. – Howe und mein Vater sollen das Urteil fällen!«

»Gewiß, Ruwo, und deshalb beraten wir jetzt, wir zwei!«

»Gut! Beratet also!«

»Wir ziehen erst nach der Höhle von Arah, und von dort …«

»Halt!« ruft Harrar plötzlich und beschattet seine Augen. – »Kommt dort nicht jemand?«

»Wo?«

»Den Felspfad herunter, den wir eben gekommen sind!«

»Ja!« ruft Ahar verwundert. – »Dort kommt jemand, und wie es scheint, ein Weib!«

»Howelin!« schreit Ruwo heraus. – »Da muß etwas nicht stimmen!«

Ja, es ist Howelin, die schöne Tochter Howes. Man sieht von weitem, daß sie erschöpft sein muß; ihr Gang ist trotz der fliegenden Hast wankend, stolpernd; ihr reiches Haar fliegt wild um Stirne und Schulter, und der blühende Mund ist vor Atemnot halb geöffnet; an einem abgebrochenen Erlenstocke arbeitet sie sich vorwärts. Man hört ihren keuchenden Atem.

»Was bringst du, Howelin?« ruft ihr der alte Howe mit leise bebender Stimme entgegen.

Die Fliehende macht mit einem jähen Rucke halt und preßt die Rechte an ihre Schläfe; die Linke hängt wie gelähmt herunter und blutet.

»Wir … sind … überfallen … Rahu …,« stöhnt sie hervor.

»Das dachte ich mir!« knirscht der »Kleine« vor sich hin und geht auf die Wankende zu, um sie zu stützen.

»Wie kam das?« fragt Howe.

Er ist totenblaß geworden!

»… Plötzlich! … Ihr wäret … kaum fort!«

»Was … was ist gegangen …, Howelin?«

Howelin kämpft mit einem Schwächeanfall. Ruwo läßt sie sanft aufs Gras niedergleiten.

»Holt ihr einen Becher Wasser!« ruft er unwirsch. Harrar geht an den Bach; Howe drängt weiter:

»Was wollte er von euch – Rahu? Ah, du blutest! – – – Sprich doch!«

»Laß sie zu Atem kommen! Zum Fragen bleibt Zeit genug!« knurrt der »Kleine«.

»Nein! … Ich muß unbedingt wissen … Was tat er? Ist jemand …?«

»Da kommt Wasser!« ruft der »Kleine«, nimmt den Lederbecher Harrars und hebt ihn der Erschöpften an die Lippen. Sie erholt sich mit den ersten Zügen.

Wie Stöhnen kommt es von ihrem Munde:

»Er hat Welia geraubt und mich … wollte er … töten!«

Es ist still geworden wie Mitternacht. Der alte Howe muß sich an eine Föhre stützen.

»Und die Wächter?« keucht er mit fliegender Last.

»… Sind tot!«

»Und die andern?«

»Sind unverletzt! … Nach mir hat Rahu seinen Speer geworfen; ich konnte ausbeugen und fliehen; die Waffe hat mich nur gestreift … hier!«

Sie wickelt einen Fellfetzen vom linken Arme.

Er zeigt eine tiefe Muskelwunde im Oberarme.

»Er will mein Blut vernichten, mein Fleisch und Blut!« knirscht der Alte stöhnend. – »Auf! Auf, zur Dachsenhöhle!«

»Halt!« ruft der Häuptling von Hador. – »Wir dürfen zum ersten Fehler nicht noch einen größeren begehen!«

»Fort! Fort!« ruft Howe mit kopfloser Last.

»Wohin, Howe?« fragt Ahar ruhig und entschlossen.

»Ahar fragt! Ist Ahar irrsinnig? Welia ist geraubt! – Meine arme, kleine Welia!«

»Wo ist sie, Howe? Noch in der Dachsenhöhle?«

»Wir müssen dort die Spur aufnehmen. – Mir nach!«

»Howe, komm' zu dir! Für die Deinen in der Dachsenhöhle droht jetzt keine Gefahr mehr, und Welia ist nicht dort!«

»Keine Gefahr mehr?«

»Nein! Wenn er ihnen hätte schaden wollen, hätte er es getan! – Ja, wir müssen nach der Dachsenhöhle, aber auf einem andern Wege! Ich müßte mich sehr täuschen, wenn der alte Geier uns nicht beobachten ließe oder uns gar auflauerte!«

»Einen Umweg, wo jeder Augenblick so kostbar ist?«

»Ja, einen Umweg! – Kannst du gehen, Howelin?«

»Ja!«

»Folgt mir!«

Ohne Widerspruch folgen sie den erfahrenen Jägern auf verborgenen Pfaden.

Der »Kleine« drängt sich an den Vater heran: »Soll ich nicht auf dem alten Wege zurück?«

»Ah, du denkst an einen Wachtposten? Gut! Geh' mit Harrar!«

»Vor zweien wird ein Posten eher ausreißen als vor mir allein!«

»So geh'! Aber nimm dich in acht! Der ganze Kriegertrupp könnte den Weg besetzt halten!«

»Hoffentlich! Dann hat der arme Teufel seinen letzten Knochen abgenagt!« knirscht der »Kleine« in namenloser Wut. – »Ich bin schuld, daß er die Kleine geraubt hat! Vater! Wenn er das Kind tötet – – bei allen Dämonen der Geisterschlucht! – Dann soll er … hörst du, Vater, dann soll er blind durchs Leben gehen, oder ich will als Feigling verflucht sein!«

Der »Kleine« geht!

Auf dem Wege bricht er einen Stock los, kehrt sein Fellkleid um und bemalt sich mit Ocker, nach Art der alten Weiber. Am Stocke wankt und hinkt er dahin wie ein gebrochener Greis – den Speer hat er einem Kameraden übergeben. Nicht weit von der Felsenhalde der Dachsenhöhle läßt er sich ächzend auf einen Stein nieder und hält verstohlen Umschau. Er sieht und hört nichts als den grellen Ruf der Bergfalken. Aber er hat das unbestimmte Gefühl, als ob er beobachtet sei. Deshalb legt er sich an der Sonne – zum Schlafe nieder.

Lange ist es still.

Schleicht dort ein Fuchs? Am nahen Gebüsche hat etwas gestreift! – – Es kommt etwas, oder – jemand! Wieder ist es still! Der Schläfer fühlt, daß verstohlene Augen auf ihn schauen. Er regt sich nicht! Doch weiß er zu gut, daß sein Leben jetzt ein fliegendes Blatt ist. Wenn der Mann dort ihn erkennt, so kann der Jäger von Hador hier liegen bleiben, bis zum Jüngsten Tage!

Leise Schritte! Jemand hustet! Er »hört« nichts. Das fremde Etwas kommt vorsichtig näher:

»Heil deinem Pfade, Fremdling! Wer bist du?«

Wie aus dem tiefsten Schlafe geschreckt, fährt der »Kleine« auf und beschattet seine Augen nach dem Rufer hin, um den obern Teil seines Gesichtes zu verhüllen. Ja, dort steht ein Krieger von Chohor; Ruwo kennt ihn genau. Unauffällig hält der seinen Speer wurfbereit.

»Wer bist du?« fragt er wieder. Der »Kleine« steht auf, mit verzerrtem Gesichte, die Hand gegen den Horizont ausstreckend:

»Wenn der heulende Mond aufsteigt, zur Jagd auf die unzähligen Lichter des nächtlichen Tages, tanzen über die glühende Steppe des Winters die Seelengerippe künftiger Ahnen!«

»Bist du verr…«

»Es sinken empor die himmlischen Geister der Unterwelt, sündenbefleckt wie der Greis an der Mutterbrust!« Der Krieger von Chohor senkt seine Waffe; er steht vor einem armen Irrsinnigen, der wohl seinem Stamme davonlief oder ausgestoßen wurde.

»Siehst du dort – dort – den dunklen Strahl der Sonne? – Siehst du sie, die fliegenden Hunde des Weltalls?«

»Schrei nicht so!«

»Stopf ihm den Mund!« Ein zweiter Krieger ist im Gebüsch aufgetaucht. Der »Kleine« brüllt, daß es an den Wänden herumklingt:

»Grabesnacht! Erleuchte meinen Geist, auf daß ich schaue und erkenne den toten Schutzgeist aller Teufel, wenn er brüllend daherfährt im brausenden Lößsturm der stillen Frühlingsnacht! – – Fluch dir, du Mörder des Todes! – Fluch dir, du Rächer des Guten! – Ewiger Tod dir, du niegeborener Erzeuger blühender Greise und alternder Säuglinge! – Ruft sie empor aus der Unterwelt, die ungestorbenen Seelen der heulenden Leichen …«

»Ganar! Mach' Schluß! Wir dürfen ihn nicht so schreien lassen; sie können jeden Augenblick erscheinen, die Hunde von Hador und Arah. – Bei allen Geistern! – Wir sind allein!«

Der »Kleine« strafft sich:

»Ah – schön! Das wollte ich wissen, ihr Kinderräuber von Chohor. – Hier!« Ein furchtbarer Schrei schlägt an die Felswände. Hochauf spritzt ein Blutstrom aus der Brust des stürzenden Wächters und – Ruwo ist im Gebüsch verschwunden! Totenblaß starrt der andere ins Leere:

»Ganar! – Ganar, mein Bruder! Das war …«

»… Ruwo von Hador! Nieder mit dir!«

Eine Schlinge zischt, der zweite stürzt und Ruwo kniet auf seiner Brust. Der Ueberfallene wehrt sich rasend; Ruwo erhält einen Stich in die Wange, da hat er seinem Gegner die Sehnen des Handgelenkes durchschnitten. Im Nu ist der Gelähmte gebunden.

»Auf mit mir – nach der Dachsenhöhle!«

»Keinen Schritt – lieber sterben!«

»Ganar! Ihr habt ein unschuldiges Kind geraubt! Ihr seid keine Krieger mehr! Wenn du nicht gutwillig gehst, prügle ich dich bis auf die Knochen und dann schleppe ich dich mit dem Lasso an deiner Wadensehne nach der Höhle!«

Der Besiegte gibt seinen Widerstand auf und geht stumm am Lasso vor ihm her.

Ruwo ist nicht erstaunt, seine Genossen bereits in der Dachsenhöhle vorzufinden; sein Abenteuer hat ihn einige Zeit aufgehalten. Wie der alte Howe des Gefangenen ansichtig wird, stürzt er wie wahnsinnig auf ihn los:

»Raubtier von Chohor, Kinderräuber – nieder mit dir!«

Ehe Ruwo es verhindern kann, sinkt der Gefangene unter dem Dolche des Alten zusammen; er hat ihm die Luftröhre durchschnitten. Unwillig schüttelt Ahar das Haupt und bemerkt nicht ohne bittern Tadel:

»Howe! Du hast dein Gehirn verloren! Das war der zweite, noch größere Fehler!«

»Soll das Raubgesindel von Chohor geschont werden!« brüllt der Alte in seiner Wut.

Der ergrimmte »Kleine« nimmt ihn beim Arme und spricht:

»Vater Howe! Setz' dich nieder – hier! Ich habe mit dir zu reden!«

»Du – – –?«

»Ich!«

»Und?«

»Vater Howe, wenn ich das nächste Mal zur Wildeseljagd gehe, komme ich zu dir!«

»Was soll das? – Hüte dich, Knabe!«

»Der ›Knabe‹ braucht sich vor dir nicht zu schämen! Glaubst du, ich hätte den Gefangenen deshalb so weit geschleppt, um ihn hier einfach zu töten?«

»Weshalb sonst?«

»Howe! Du fragst den ›Knaben‹, und der Knabe gibt dir Antwort: dieser zuckende Jäger dort wußte genau, wo Rahu und die kleine Welia zu treffen wären! Nun ist er stumm!«

Der heißblütige Alte senkt den Kopf:

»Er würde es mir nicht gesagt haben!« murrt er wie zur Entschuldigung.

»Aber mir!« spricht der »Kleine« mit Nachdruck. – »Ich hatte ihn heute schon einmal zum Gehorsam gebracht – deshalb habe ich ihn leben lassen, während ich den – andern niederstach!«

»Den – – andern?«

»Schweigen wir! Uns bleibt keine Spur mehr von der Verschwundenen als die Fährte der Räuber, da möchte ich dich um etwas bitten, Vater Howe!«

»Sprich!«

»Laß mich euch vorangehen!«

»Du traust mir nicht zu, den alten Rahu zu fangen?«

»Offen gestanden – nein!«

Der Alte braust wieder auf: »Bube! Wenn du dich den Befehlen nicht fügen willst, so gehe heim!«

Ruwo gibt seinem Vater einen verstohlenen Blick und ergreift sofort seine Waffen:

»Howe, leb' wohl! – – Mit Buben und Knaben fängst du den alten Rahu nicht. In Hador mag man mich finden.«

Ohne der erschrockenen Howelin einen Blick zu gönnen, verläßt er die Höhle. Stumm stehen die Männer von Hador und Arah einander gegenüber.

»Vater! Was hast du getan!« schluchzt Howelin herzzerbrechend.

»Laß ihn doch, den Feigling! – Oder eile ihm nach!« brüllt der Alte auf sie ein.

Ahar tritt vor:

»Howe! In Hador gibt es keinen Feigling! Entweder nimmt Howe sein Wort zurück, oder wir gehen – wir alle von Hador!«

Das klang ruhig, eisigkalt.

Der alte Hitzkopf kämpft einen Riesenkampf mit sich selbst.

»Vater! Um der Welia willen!« ruft Howelin voller Angst.

Die starke Gestalt beugt sich:

»Um des Kindes willen – verzeiht!«

Ahar reicht ihm die Hand:

»Ich weiß, Howe hat in der Hitze gesprochen! – Ruwo ging mit meinem Einverständnis; er hat einen wichtigen Auftrag! Nun auf die Spur der Hunde! Was habt ihr noch von Rahu vernommen?« wendet er sich an die heulenden Weiber. Da meldet sich eine:

»Er hat uns zugebrüllt, daß er das Kind verbrennen werde! Er will es seinen Göttern opfern!«

Eine kalte Stille ist eingetreten. Howe scheint einsinken zu wollen; ein Kind verbrennen, sein Kind!

»Nehmt Proviant für viele Tage und den Räubern nach!« ruft Ahar mit einer Stimme, der sich der alte Howe mit stummer Ergebenheit fügt. Sie ziehen aus und haben die Fährte bald gefunden. Sie zeigt in die ungefähre Richtung von Chohor.

Daß die Jäger der Eiszeit geübte Fährtenleser waren, ist bei ihrer Lebensweise selbstverständlich!

Kurz vor dem Abend teilt sich die Fährte: die eine weist aus fünf, die andere auf zwei Personen. Ahar und sein Sohn Harrar untersuchen diese letztere peinlich genau, messen sogar die Fußstapfen, und geben sich verständnisvolle Blicke.

»Wir folgen den zweien!« erklärt der Alte von Hador.

In der Nacht fegt ein Sturm über die Steppe, der die leiseste Spur von einer Spur vernichten muß. Unter einem überhängenden Felsen nächtigen die Verfolger ohne Nachtfeuer. Der alte Howe gebärdet sich wie verzweifelt.

»Alles ist verloren! – Mein armes Kind!«

»Nichts ist verloren!« erklärt Ahar. – »Wir ziehen morgen in eiligem Lauf nach Chohor! Von dort wird sich eine Spur aufnehmen lassen!«

»Dann ist mein Kind tot!«

»Nein!«

»Warum nicht?«

»In drei Tagen erst haben wir Sonnenfest. Rahu wird sein Opfer auf diesen Tag sparen, wenn er das Kind verbrennen will!«

»Zweifelt Ahar daran?«

»Ja!« –

»Warum, Ahar?«

»Weil er es gesagt hat! Er hat etwas anderes vor!«

»Was wohl?«

»Wir werden es erfahren!«

»Wann? – Wo?«

»Das weiß ich nicht! Schlafe ein wenig!«

»Schlafen? – Schlafen! Oh – – oh Welia!«

»Howe, ich hätte eine Bitte!«

»Sprich!«

»Hält Howe mich für eitel?«

»Warum diese Frage? – Nie!«

»Howe, überlasse mir die Führung!«

»Ahar glaubt wohl, der alte Howe sei nicht fähig dazu, er sei wieder in die Kindheit gekommen?«

»Keineswegs ist das meine Meinung! Ich kenne Howes Tapferkeit und Erfahrung; aber der Schmerz hat die Augen seiner Seele geblendet. Er kann nicht ruhig überlegen!«

»Gut! Führe uns, Ahar!«

Am folgenden Nachmittage nähern die Krieger sich der Höhle von Chohor. Ahar sendet zwei Späher voran. Diese melden, daß die Höhle verlassen sei. Harrar stellt vier Sicherheitsposten aus und zieht mit den übrigen in die Höhle ein. Bald sinkt die Nacht. Sie machen im Innern ein Feuer an, das von außen nicht gesehen werden kann. Lange sitzen sie um das gespensterhaft flackernde Feuer; Mutlosigkeit und lähmende Ermattung scheint über alle gekommen zu sein. Keine Spur, keinen Anhaltspunkt! – Sie sind am Ende! Was tun? Jeder Pulsschlag ist Zeitverlust, doch: wo anfangen?

Geistlos starrt der alte Howe ins Feuer:

»Welia ist verloren – – Welia! – Aber ich werde nicht sterben, ehe der alte Rahu, ihr Räuber, in den Flammen heult! – – Nicht nur einmal, tausendmal soll ihr Mörder den Tod erleiden!«

»Noch ist nicht alles verloren! Warten wir den Morgen ab!« versucht Ahar zu trösten.

Sie ahnten nicht, was ihnen die Nacht bringen sollte!

Harrar sitzt auf dem nämlichen Steine, wie damals, als Owinar für Raha das Renntier schnitzte. Wie die Bilder an den flackernden Wänden schweben die Ereignisse jener Nacht um seine Seele. Die Bilder! An der Wand giert der fleischlose Kopf Ahours im Zauberlichte des lohenden Feuers. Ja, so kam er daher, der Satan der Steppe, so hob er wartend, schleichend seine Pfote, so … was ist das dort?

Harrar steht langsam auf, langsam, wie im Traume, beschattet seine Augen und starrt nach der Wand hin; täuschen ihn seine Sinne?

Das Bild ist vollendet!

Hat eine Bubenhand von Chohor das Kunstwerk des verstorbenen Künstlers verpfuscht? Er nimmt einen brennenden Ast und beleuchtet die Wand: nein! Das Bild ist herrlich gelungen!

»Howe! – Schau her!«

»Was will Harrar? – Ah! Das Bild Owinars; man hat mir davon erzählt!«

»Vater Howe! Das Bild ist vollendet, und die Linien des hintern Teiles sind noch frisch – wer mag diese Züge gezogen haben – und diese Schattierung in der Hinterpranke?«

Lange betrachtet der alte Künstler das Bild. Er scheint tief erschüttert zu sein.

»Du sagst, Harrar, es war nicht vollendet?«

»Bis auf die Schulterhöhe war der Vorderteil ausgezogen!«

»Und die Linien des Hinterteils?«

»Sind frisch!«

»Harrar! Du täuschest dich! Du mußt dich damals getäuscht haben: jede Linie ist von Owinar!«

»Unmöglich! Ich habe das letztemal darauf geachtet – – ich konnte es nicht genug betrachten!«

»Ja! Owinar hat seinen Meister besiegt!«

»Was sagst du dazu, Howe?«

»Wozu?«

»Daß das Bild – vollendet ist?«

»Er wird die Verhältnisse des ganzen Körpers vorgezogen haben – mit leichten Linien – und irgendein Hund von Chohor ist nachgefahren!«

»Nein! – Bei meiner Seele nein! Howe! Wenn … wenn …!«

»Wenn … was?«

»Wenn der Tote in der Gletscherspalte nicht …«

»Harrar! … Sprich es nicht aus!« schreit der Alte.

»Wenn der Tote nicht – Owinar wäre!«

»Der alte Satan hat es ja selbst gestanden, daß er ihn getötet hat!«

»Ja, allerdings! – Welch ein furchtbares Geheimnis!«

»Ich denke nur an Welia. – An meinen Sohn darf ich nicht denken, sonst regt sich der Dolch in meinem Gürtel. Aber ich will nicht sterben, bis sie gerächt sind, die Meinen!«

Lange steht Harrar vor dem Bilde, stumm in sich versunken.

Eines kann er nicht begreifen: das Bild war unvollendet; der Künstler starb, und nun zeigt die Vollendung – seine Linien! Nie würde ein Jäger von Chohor diese Verhältnisse, diesen Schwung des Lebens getroffen haben!

Wie abwesend setzt er sich ans Feuer; er hört nicht die Beratung seiner Gefährten; er denkt nur an den Toten – an den Toten?

»Was gedenkt Ahar morgen zu tun?« unterbricht Howe die momentane Stille.

»Wir durchsuchen erst die Strecke von hier zum Biberflusse nach Spuren, und wenn dies ohne Erfolg bleibt, so … horch! – Was war das?«

Draußen hat eine Wache angerufen und jetzt ertönt ein jäher Schreckensschrei:

»Zu den Waffen!«

Der Fellhang fliegt beiseite, und – – die am Feuer schreien laut auf! Mit weitgeöffneten Augen starren sie nach dem Eingange:

»Der Geist! – – Der Tote – – Er geht um! – Dort! Dort! – Ah! Seine Seele!«

Von Grauen gelähmt, halten die wilden Jäger einander umklammert, wie erschreckte Kinder.

Am Eingang steht ein schlanker Jäger mit herrlichen tiefen Augen und wehender Lockenfülle:

Owinar, der Künstler von Arah!

Wie damals, so steht er heute dort, verwundert, staunend, mit einem glücklichen Lächeln um den feingezogenen Mund:

»Vater! Ich habe gehört, daß du meine Unschuld erkannt hast: darf ich kommen?«

Der Geisterbann scheint gebrochen zu sein. Langsam steht Howe, sein Vater, auf, wankt wie im Traume auf ihn zu, erreicht ihn aber nicht. Mit einem stöhnenden Schrei:

»Owinar!« sinkt er ein. Der junge Jäger hebt ihn auf:

»Vater, du glaubtest mich tot?«

»Tot? – Du bist nicht tot? – Du lebst? – Owinar!« Eine Welt von Wonne liegt in dem einen Worte. Wie ein Kind betastet der Alte die Hände seines Sohnes, fährt über seine Wange, greift in seine Lockenfülle:

»Owinar! Du lebst!«

Da kommt auch ein anderer und schließt ihn mit zitterndem Entzücken in die Arme: Harrar, der Athlet von Hador. Er weint wie ein Kind:

»Owinar! Ich hab's geahnt, und nicht gewagt, zu glauben! Wie kam das?«

»Laßt euch erzählen!« Sie gehen zum Feuer. Sie starren ihn an wie einen Geist.

Owinar erzählt:

»Als ich damals die ›Zunge des bösen Weibes‹ betreten hatte, kam der Lößsturm, und ich beeilte mich, über die gefährlichsten Stellen hinwegzukommen. Wie ich mich im eingetretenen Halbdunkel nach dem nahenden Wetter umsehe, bemerke ich, daß mir ein Mann folgt. Ich ahne Gefahr und drücke mich bei einer Biegung des Weges in eine Nische von Eistrümmern. Der Verfolger glaubt mich vor sich; er zieht an meinem Verstecke vorüber. Es ist Tarahu, der Sohn Rahus. Ich will ihm nach, um ihn zur Rede zu stellen, da hemme ich meinen Fuß und horche; hinter mir kommt ein zweiter, keuchend, und mit geschwungenem Speere: der alte Rahu! Mir wird plötzlich klar: das gilt dir! Wie ein Unhold der Hölle zieht der Alte an meinem Verstecke vorüber! Er muß, wie sein Sohn, aus der Ferne beobachtet haben, daß ich den Gletscher betrat. Ich freute mich im stillen, was die zwei Meuchler für Gesichter machen würden, wenn sie auf der andern Seite der Zunge erfolglos landeten. Es ist finster geworden, und der Sturm naht mit Donnerbrausen. Ich höre durch das Getöse vom Lauerwege her, wo die Eisspalten sich öffnen, einen gräßlichen Schrei und das triumphierende Geheul des Alten. Mein Herz wird kalt wie die Gletscherwand. Mit furchtbarer Gewißheit wird es mir klar: Rahu hat in der Dunkelheit seinen Sohn für mich gehalten und von der Eiswand hinuntergestürzt!«

So berichtet Owinar!

Fröstelnd hüllen sich die abgewetterten Gestalten in ihre Felle. Eine Stille des Grauens liegt über ihnen.

»Der Gott des Todes hat gerichtet!« flüstert Ahar mit zitternden Lippen.

»Beide – beide seine Kinder liegen in der Spalte! – Beide von ihm selbst getötet!« ruft Harrar schaudernd – »das ist der Fluch des Hasses! Er vernichtet den Hasser! Der Alte ist vom Gott des Todes verflucht wie Kainar in der alten Sage!«

Der alte Howe hält wortlos die Hand seines Sohnes gefaßt. Wie ein Kind schaut er zu ihm herauf, der hoch und schlank neben ihm steht.

»Was tut ihr hier?« fragt der Wiedergefundene.

Ahar erzählt ihm die letzten Ereignisse. Während des Berichtes spannen sich die Züge Owinars. Wie der Alte geendet hat, fährt sich der Künstler über die Stirn:

»Ich sah heute nachmittag auf der Gazellenjagd eine Fährte von sechs Jägern!«

Wie von einer Feder geschnellt, springt Ahar auf:

»Das sind sie! – Bei allen Dämonen der Unterwelt! – Das sind die Kinderräuber von Chohor! Auf! Wo ist diese Fährte?«

»Sie führt vom Ebermoore gegen das Gazellenwäldchen hin!«

»Ah!« fährt Harrar auf. – »Das ist die Richtung gegen die ›Zunge des bösen Weibes‹ hin! Mir ahnt etwas!«

»Fort!« kommandiert Ahar. – »Beim Morgengrauen müssen wir auf der Fährte sein.«

Durch die nächtliche Steppe bewegt sich ein Zug dunkler Gestalten. Aus weiter Ferne dringt das Heulen eines Wolfes, und hinter ihnen folgt das Gekläffe der Hyänen.

Sie wittern Jäger. Diesmal sind's Menschenjäger!

Plötzlich steht der voranschreitende Harrar still.

»Vater! Wäre es nicht möglich, daß sie im Gazellenwäldchen nächtigten? Es ist die letzte günstige Stelle vor dem Lauerwege!«

»Du magst recht haben! Nimm Richtung dahin!«

Kaum graut der Tag!

Die Gletscherriesen des Südens leuchten unter dem glanzvollen Sternenhimmel in verhaltener Herrlichkeit. In jenen Sternen steht ein furchtbares Schicksal geschrieben – – –.

Sie umgehen das Gazellenwäldchen und nähern sich ihm von der entgegengesetzten Seite. Auf einem hohen Wipfel verkündet ein Totenkäuzchen seinen einsam-schwermütigen Totenruf: Uuuh – huuuh – uuu – – –

Im Osten glänzt ein blutiger Schein; im Gebüsche schnuppert ein herrlicher Hirsch dem erwachenden Morgen entgegen. Heute ist er sicher – heute gilt die Jagd seinem Jäger, dem Menschen!

Harrar winkt und alle werfen sich in Deckung nieder. Er allein geht auf Kundschaft. Bald kommt er wieder:

»Macht die Waffen frei und folgt mir nach!«

Auf einer Blöße schlafen vier Menschen; der fünfte wacht. Plötzlich stößt er einen Warnungsruf aus – zu spät: Schlingen zischen, Speere schwirren; Aechzen und Todesschreie durchzittern das dämmernde Dunkel. Die Uebermacht siegt – – vier Menschen wälzen sich in ihrem Blute – – Kerben der Rache! Der Fünfte ist leicht verwundet. – Rahu ist nicht bei ihnen! Auch das Kind fehlt. Da zieht der alte Howe seinen Elfenbeindolch und tritt vor den noch Lebenden hin:

»Kinderräuber von Chohor! Du kannst dein Leben retten: wo ist Rahu mit dem Kinde?«

»Vor Morgengrauen hat er uns verlassen.«

»Mit dem Kinde?«

»Ja!«

»Wohin will er?«

»Ich – weiß es nicht Er hat uns befohlen, hier zu warten.«

»Welche Richtung nahm er?«

»Gegen den Lauerweg.«

»Er hat sich wohl geschämt, euch sein Vorhaben wissen zu lassen. Weißt du, was er will?«

»Ich – – glaube es zu wissen – – er wird das Kind Howes dem Geiste seiner Tochter opfern wollen.«

»Wie? – Wie denkst du dir – – dieses ›Opfern‹?«

»Er wird es – – erlaßt mir die Antwort! Es ist meine Vermutung!«

»Sprich oder stirb augenblicklich!« Howes Stimme zittert leise.

»Er wird es – in die – – Gletscherspalte werfen – wo seine Tochter schläft!«

Die wilden Jäger stehen da, wie von plötzlicher Kälte versteinert.

»Zwei bleiben hier! Die andern mir nach!« gebietet kurz Harrar, und keuchend durcheilt die Jägerkolonne die vom Dämmerschein erleuchtete Tundra.

Nach einer Stunde brennt die Morgensonne auf die hochgestaute Riesenmasse des Gletschers. Der voranstürmende Harrar hält mit einem plötzlichen Ruck inne und beschattet seine Augen:

»Dort! – Seht dort!«

Hoch droben auf dem Gletscher geht ein Mensch; er scheint ein Bündel zu tragen!

»Zu spät!« stöhnt der alte Howe. Die Jäger knirschen.

»Versuchen wir das Menschenmögliche!« ruft Harrar und stürmt weiter – dem Gletscher zu.

Sie sind auf dem Eise. An einer Biegung des Lauerweges blickt sich der Mann um und sieht seine Verfolger. Er hebt die Hand mit dem »Bündel« hoch, und durch die Luft zittert ein ferner Ton wie Ahours Donnerstimme, wenn er ein Wild geschlagen hat.

Die Jäger rasen weiter, gewinnen Raum, – bald muß die Todeswand kommen. Ihr Atem geht laut, stöhnend vor Wut und Anstrengung. An jenen klaffenden Eisschluchten vorbei, und die Verfolger stehen vor der Eiswand, wo Rahu versank. Alle hemmen den Fuß; dort an der steilen Wand steht hoch und hager der Alte von Chohor, das wimmernde Kind im Arm!

»Beim ersten weitern Schritte fliegt es hinunter!« brüllt er höhnisch triumphierend. Keiner wagt mehr einen Schritt! So nahe und nicht helfen können! Der alte Howe wimmert leise. Harrar ruft mit Donnerstimme:

»Rahu! Wenn du das Kind hinunterwirfst, so bist du der Letzte deines Stammes! Wir werden deine Sippe aufstöbern und verbrennen wie ein Wespennest!«

»Prahler von Hador! Du wirst keines von ihnen finden! Sie sind gegen Westen gezogen, nach Ulianti, wo sie bei einem großen Volke Gastrecht genießen werden!«

Harrar versucht das Letzte:

»Rahu! Wenn das Kind stirbt, so wirst du geblendet werden und mit gebrochenen Gliedern Howes, deines Todfeindes, Sklave sein!«

»Immerhin! Diese Stunde wird mir Trost sein, und – – noch habt ihr mich nicht!«

»Rahu! Ich biete dir Frieden!« ruft Howe in seiner Todesangst.

»Ah! – Aaah! – – Dieses Wort! Welche Wonne für meine alte Brust! Wie hab' ich gewartet auf diese Stunde! – Ein Menschenleben lang!«

»Rahu! Ich biete dir eine größere Rache: nimm mich! Ich will waffenlos zu dir kommen!«

»Wenn dich der Tod dieses Gezüchtes da mehr würgt als dein eigener Untergang, so verzichte ich auf dich!« – – Das Kind streckt seine Händchen nach dem Vater hinüber. Das gibt dem gequälten Alten einen Stich:

»Beim Grabe jener, die du einst geliebt, Rahu, sei ein Mensch!«

»Haah! Du erinnerst mich richtig! Weißt du Howe, Schuft von Arah, was an dieser Stelle sich ereignet hat? Sieh' mein leeres Auge! Es sieht die Rache nicht mehr – die Rache für jene Stunde! Ein Leben lang wartete es in der Finsternis auf diesen Augenblick, wie die Nacht auf den ersten Morgenstrahl. – Winter war es ein Leben lang; nun taut sie auf, die harte Steppe; der Frühling kommt, und die toten Blumen erwachen – – – schau', Howe von Arah – schau her. Ich halte dein Kind über den Abgrund! Dort unten in schauerlicher Tiefe schläft Raha, die schöne Königin von Chohor! Ohne ein Kind an ihre Brust gedrückt zu haben, ging sie ins Totenreich. – Heute – wird ihr ein Kind geboren – – –«

Hoch hält der alte Räuber die kleine Welia über die steile Wand hinaus.

Ein plötzliches Aufzucken geht durch die Reihe der Jäger: auf einem Felsblocke hinter dem Kinderräuber erhebt sich eine Gestalt:

Ruwo von Hador!

Die wilden Krieger, hintereinander aufgestellt, sind zu Eis erstarrt; es ist einen Augenblick so still, als ob die fürchterlichen Eisschluchten ihren Atem anhielten – – – –

– – »Howe! Schuft von Arah!« brüllt der Alte herüber. »Wenn ich dreimal sterben muß – wenn mein einziges Auge auch noch erblinden sollte – – – schau' her – – – –«

Da fällt Ruwos Schlinge.

Wie ein gefällter Büffel stürzt Rahu mit dem Kinde rückwärts auf das Eis, ohne auszugleiten, die Kleine entfällt ihm – langsam rutscht sie mit ihrem Fellkleidchen über die Wand – – dem Abgrunde zu – – ein einziger Wehschrei erfüllt die Luft – – – schauerlich geben die gähnenden Gletscherspalten das Echo wieder – – jetzt – jetzt ist sie an der Kante – – schwebt nicht ein unsichtbarer Engel hernieder? – – – Ist es die Hand der toten Mutter? – – – An der äußersten Zinne der furchtbaren Gletscherspalte, wo Ruwo damals eine breite Kerbe zum Knien ausgemeißelt, bleibt sie hängen! – –

Wie ein Eisfuchs gleitet Ruwo von seiner Gletscherkanzel herunter – der kauernde Alte greift nach ihm – erhält aber einen Faustschlag auf sein gesundes Auge.

Mehr gleitend als steigend kriecht der »Kleine« über die Wand – jetzt hat er das Aermchen der Kleinen erfaßt. – – Da hat Rahu seine Schleuder losgemacht – – –

Ein Augenblick der Hölle!

Aus der Reihe der Jäger drängt sich einer nach der Eiswand vor, Owinar:

»Mörder von Chohor!« ruft er mit blitzenden Augen. – – – »Rahu! Wenn du deinen Arm erhebst …«

Er kommt nicht weiter: bei seinem Anblick steht der Alte wie von Geistern gebannt. Eisiger Todesschrecken malt sich auf seinem Knochengesichte; er zittert wie in Angstlähmung; die Schleuder entfällt seiner Hand, und der geladene Kiesel poltert mit hohlem Tone in die Tiefe. Aus seinem geweiteten Auge leuchtet es wie Wahnsinn:

»Der Tote!« schreit er auf. – »Seine Seele! – Hah! – Du kommst aus der Gletscherspalte. – Geist des Todes! – Wehe, ich bin verflucht – –!«

»Rahu! Ich bin kein Geist! Höre, was dir der Totgeglaubte und Wiedergefundene kündet: du hast in jener Nacht des Fluches deinen eigenen Sohn verfolgt und zu Tode getroffen – unten schläft er, von seinem Vater ermordet!«

Der Rachenmund des Alten öffnet sich wie zu einem gewaltigen Brüllen!

Es kommt nur ein Röcheln, ein wehes, wimmerndes Röcheln: zitternd wie ein getroffenes Wild sinkt er ein und starrt geistlos in die Gletscherspalte – – – –

Ruwo steigt mit der Kleinen die Stufen empor – weiter über die gehauenen Stapfen der Todeswand. – –

Bei seinen Jägern sinkt er mit ihr ohnmächtig nieder. Sein Vater kniet bei ihm nieder und küßt ihn auf die Stirne. Solche, die noch nie geweint, bedecken ihre Augen und wenden sich stumm zur Seite.

Ein Gedanke durchzittert ihre Seele: Ruwo von Hador!

Man reibt ihn mit Eis.

Wie vom Schlafe erwachend schlägt er seine Augen auf:

»Wo ist sie?«

»Hier!«

Ein kleines Kinderhändchen fährt wie zagend über seine Wange.

»Wo ist Rahu?« fragt plötzlich Harrar.

»Ja, wo ist Rahu?«

»Er ist fort! Fiel er in die Spalte?«

Niemand hat seiner geachtet. Er ist verschwunden. – – –


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