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Jäger und Künstler

Bevor sich Harrar der Höhle nähert, läßt er seinen Jagdruf ertönen:

»Wiuuuh!« d. h. so viel wie etwa: Achtung! Aufgepaßt!

Sich ohne Anruf nächtlicherweile einer Jägersiedlung zu nähern, könnte gefährlich werden, weil dort meist eine Wache steht oder herumschleicht. Harrar ist gar nicht überrascht, daß er aus der Nähe angesprochen wird.

»Rehoooh! – Wer?«

»Harrar von Hador!« entgegnet der Ankömmling.

»Gruß! – Geh hinein!« ruft der Wächter.

»Komm mit!«

»Warum?«

»Du wirst es sogleich hören!«

Aus den Föhrenknüppeln löst sich eine dunkle Gestalt los und bietet dem späten Gaste die Hand:

»Was gibt's, Harrar von Hador?«

»Kennt mein Bruder von Chohor seine neueste Nachbarschaft?«

»Nein! – Wer ist angekommen?«

»Ahour – – –!«

Harrar fühlt instinktiv, wie der andere zusammenfährt; jener bleibt unwillkürlich einen Moment zurück und sieht sich scheu um, als ob ihm etwas folgte. Sogleich kommt er mit einer gewissen Hast nach und faßt den Arm Harrars:

»Hat Harrar ihn – ihn – gesehen, den – – den Satan?«

»Nein! – Aber seine Fährte!«

Sie sind an der Felsenhöhle. Mit Stämmchen und Fellen ist am Eingang eine Art Vorhalle oder Windschutz errichtet, durch dessen Lücken und Spalten der flackernde Schein eines Feuers dringt. Dieser »Vorbau« ist bei gutem Wetter viel trockener und gesünder als der Aufenthalt im feuchten Felseninnern. Der Wächter zieht ein Fell zur Seite und sie treten ein:

Um das Feuer ist eine ganze Familienverwandtschaft versammelt: Alte, Junge, Frauen, Mädchen und Kinder. Ueber dem Feuer dreht ein wilder Geselle den Schenkel eines Bisons; ein junges, wildhübsches Mädchen läßt aus einer Muschelschale heißes Fett darauf niederträufeln.

»Gruß für Chohor von Hador!« spricht Harrar.

»Willkommen!« antwortet der Chor halblaut und mit neugierigen Blicken.

»Was will Harrar?« frägt der Aelteste, kurz und hart.

»Rast für heute! – Das heißt: wenn der Gast willkommen ist?«

Die grelle Frage hat den abgehärteten Jäger gestochen. Er will sehen, ob er auch ohne wichtige Kunde willkommen wäre.

Der Alte antwortet nicht!

An seiner Stelle spricht das Mädchen am Feuer: »Jeder Gast von Hador ist willkommen! Harrar wird mit uns essen und ein gutes Lager finden!«

Harrar dankt und betrachtet eine Zeitlang den alten Wildgesellen; auf einem fellbedeckten Steine sitzt er und schabt an einer Lanzenspitze aus Mammutzahn.

Es ist der alte Rahu!

Seine riesige Knochengestalt ist gebeugt, sein sehniger Nacken verbrannt, und wie Eichenknorren dringen seine Knie unter dem Fellkleide hervor. Lange halbgraue Strähne fallen ihm auf die Schultern und über das Gesicht, sein linkes Auge verdeckend. Das hat er sich so angewöhnt; dieses Auge ist ja ausgelaufen; dafür sprüht das andere zwischen den Strähnen hervor wie das Leuchten des Wanderfalken, wenn er sich auf den Lemming stürzt.

Wie eine Harpune richtet es sich auf den Wächter:

»Warum hast du deinen Posten verlassen?«

»Um euch den Gast zu bringen und – und –«

»Dann geh' wieder!«

»Vater – Ahour ist im Land!«

Wie jähes Erschrecken fährt es durch die Gruppe. Große, starre Augen richten sich auf den Sprecher. Die Weiber fangen zu heulen an und die Kinder fallen in ihr Wehklagen ein. Da erhebt sich der alte Rahu in seiner ganzen Größe und geht auf Harrar zu.

»Still!« gebietet er mit seiner unheimlichen Höhlenstimme und – – – still ist's!

»Jäger von Hador, hast du die Nachricht gebracht?« fragt der Riese seinen Gast.

»Ja, Vater Rahu! Deshalb bin ich gekommen!« Er fängt dabei einen Blick der schönen Raha auf und wird rot wie ein Mädchen über seine halbe Lüge.

»Harrar hat ihn gesehen, den großen Fresser?«

»Nein, aber seine Fährte!«

»Harrar allein?«

»Nein! Mein Vater Ahar und vier Brüder waren dabei.«

»Dann ist kein Zweifel mehr! Ahar ist der zweitgrößte Jäger der Tundra. – Wo vermutet er ihn?«

»In den Felsgängen des Weißgrates!«

Der Alte fährt auf, daß sein hohles Auge einen Augenblick sichtbar wird. Hastig faßt er Harrar am Arme:

»Harrar! Das ist nicht weit von Howes Nest in Arah! Weiß Howe, der Schuft, von Ahours Anwesenheit?«

»Ich glaube nicht!«

»Harrar hat ihm nichts gesagt?«

»Nein!«

»Harrar! Du bleibst einige Tage bei uns! – Raha! Zerschneide das Fleisch und lege dem Gaste vor! Er bleibt bei uns, bis – bis –«

»Bis ihm die Zeit zu lang!« vollendet Raha mit einem Schelmenblick auf Harrar, der wieder bis an die Ohren errötet und sich verlegen über die schöngewellten Locken fährt.

Raha verfügt, wie es scheint, über ein rasches Mundwerk und schreckt nicht einmal vor einem Wortwechsel mit Vater Rahu zurück, der sein Töchterchen gründlich verzogen zu haben scheint. Nun zerlegt sie gewandt den saftigen Bisonschenkel und legt erst dem Gaste ein gewaltiges Stück und dann dem Alten doppelt soviel vor. Dann nimmt sie für sich und gibt die Fleischmasse einfach weiter.

Nun fängt's in der Höhle zu schmatzen und zu knacken an.

Zwei kleine Kerle nagen zu gleicher Zeit an einem riesigen Schenkelknochen. Der eine glaubt sich benachteiligt, schiebt seinen Gegner beiseite, bringt den eroberten Knochen in einer sandigen Ecke in Sicherheit und sitzt darauf. Der andere geht sogleich vor, eins – zwei ist der Kampf entbrannt und Kämpfer und Knochen kollern über den Boden hin!

»Halt!« fährt da der Alte dazwischen – ah! Er ist mit seiner Löwenportion fertig! – faßt den einen der Beiden und wirft ihn dorthin, schiebt den andern mit dem Fuße zur Seite und – greift nach dem Knochen! Den schabt er mit seinem Elfenbeindolche vom gröbsten Sande rein und setzt sein herrliches Gebiß an die Fasern. Selbst die Gelenkköpfe krachen unter seinen Zähnen zusammen und den Röhrenknochen zerschlägt er mit einem Steine, um zum leckeren Marke zu kommen.

Die andern sitzen und kauern noch stumm beim Mahle. Wie ein Bann lastet die Nachricht von dem unheimlichen Wesen über ihnen, das der Aberglaube der Jäger mit einem Nimbus des Schreckens umwoben hat. Rahu schleudert die Knochenreste ins Innere der Höhle:

»So möge Ahour dem Howe, dem Schuft – das Mark aus den Knochen fressen!«

Die Weiber fahren zusammen, ob diesem schrecklichen Fluche.

»Vater!« ruft Raha vorwurfsvoll.

»Weißt du, Katze, was er mir getan hat?« knirscht der Alte ihr entgegen.

»Nein! Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht? Hab ich's dir noch nie erzählt?«

»Schon mehr als hundertmal!«

»Und du weißt es nicht? – Was Howe, der Schuft, mir angetan hat?«

»Nein! Ich weiß es nicht!«

»Warum nicht?« fragt lauernd der Alte.

»Weil ich – – nicht dabei war!«

Der alte Rahu erfaßt eine Keule:

»Du glaubst, daß ich lüge?« schreit er und hoch über ihrem Haupte droht die aufgezogene Keule.

Raha verzieht keine Miene; sie weiß, daß ihr »Pa« seinem »Herzblättchen« nicht ein Härchen krümmt.

»Hm, hm« – mault sie behaglich – »du erzählst es jedesmal anders, und da kann ich doch nicht wissen, welche von diesen Geschichten die wahre ist!«

Der Alte nimmt seine Keule weg, als ob nichts geschehen wäre, und wendet sich zu Harrar:

»Kennt Harrar die Geschichte von mir und dem alten Howe, dem Schuft?«

»Ja!« erwidert dieser ahnungslos.

»Was? Wie? Harrar, du – weißt es? – Weißt es genau?«

»Nein! Ich weiß nichts Sicheres!« verbessert sich der Jäger von Hador, als er das mißtrauisch glühende Auge auf sich gerichtet sieht.

»Erzähl's ihm doch!« ruft die schöne Raha höhnisch dazwischen.

»Ja, Harrar, Jäger von Hador, du sollst erfahren, was ich noch keinem Menschen anvertraut habe!« beginnt der Alte mit feierlicher Handbewegung.

Von dorther, wo Raha jetzt mit Renhornnadel und Darmfasern ein Fellkleid näht, kommt ein unterdrücktes Kichern; über die Erzählung des Alten gehen am Lagerfeuer der Jäger verschiedene »Varianten« und Mären um:

»Ich war damals fünfundzwanzig Jahre alt,« beginnt der Alte. – »Ich will mich nicht selber rühmen, aber das eine darf ich sagen: kein Jäger der Steppe und der Tundra hätte den Kampf gewagt mit Rahu, dem Löwen von Chohor! Bereits fünf wuchtige Höhlenlöwen und drei Höhlenbären waren meinem Arm und meiner Todeswaffe zum Opfer gefallen –«

»– – zwei davon sind jetzt erwachsen –« kommt es flüsternd vom steinernen Nähtisch her.

»– – die unzähligen Kerben von Uren, Bisonen, Schelchen, Hirschen und Renntieren nicht mitgerechnet!«

»Du hast etwas vergessen, Vater!« ruft der holde Wildfang herüber.

»Was, bissige Hyäne?«

»Die fünfzehn Mammutelefanten, Vater!«

»Beim Satan der Steppe! Du hast recht, Heideblümchen!«

»Die siebenundzwanzig Moschusochsen darfst du auch nicht vergessen!«

»Mein Gedächtnis nimmt ab, Liebling! Denk du für mich! – – Also: die vierundzwanzig Mammutelefanten und die sechsunddreißig Moschusochsen will ich nicht erwähnen! Aber das darfst du mir glauben, Harrar: wo Rahu auftrat, da schritten vor ihm Tod und Vernichtung; man nannte ihn mit Grauen den Schrecken der Steppe! – Auf einem Jagdzuge auf das Mammut traf ich auf Rah, die Blume von Ulianti. Ihre Seele flog mir entgegen wie der Duft der blühenden Steppe, und eines Tages erklärte sie mir, daß die Schlange des Grames an ihrem Herzen nage, wenn sie nicht mein Herdfeuer anblasen dürfe. Als ich wieder fort war, kam Howe, der Schuft, und verzauberte sie! Er war meiner Fährte gefolgt wie die Hyäne, um das Wild aufzulesen, das ich nicht mehr tragen konnte. Von dieser Jagdbeute brachte er ihr eine Antilope und drei Biber zum Geschenke. Rah ließ das Geschenk liegen und wandte sich ab; ihre Seele war bei Rahu, dem Jäger von Chohor. Da mischte Howe, der Schuft, einen Trank aus dem Blute des Kolkraben mit Schierlingstropfen und Mohnsaft, sprach den bösen Zauber darüber und reichte ihn der Blume von Ulianti mit der Lüge, daß sie ewige Jugend trinke. Rah führt den Lederbecher an die Lippen und verfällt nach dem Trunke in den Wahnsinn der Freude. Wie sie davon genest, ist ihre Seele ausgewechselt: sie sieht in Howe, dem Schuft, den großen Jäger von Chohor und folgt ihm. Der Betrüger ist dabei nicht ruhig: er hört im Schlafe den Rachegesang Rahus und flieht im Traume vor der Faust seines Verfolgers. Er sinnt, der Schuft, auf Rahus Tod. Als ich eines Tages bis spät am Abend das Mammut gejagt hatte, mußte ich nachts über die ›Zunge des bösen Weibes‹ von Chohor. Kein Stern beleuchtete den Lauerweg – ich weiß es noch, als wäre es vor Stunden gewesen. – Ich mußte mit meinem Speer den Weg an den Schründen vorbeigreifen und betete den Zauber des Todes. Plötzlich fühle ich mich verfolgt: hinter mir knirschte das Eis. Ich rufe an, und – – da zischte ein Wurfspeer an mir vorbei! Ich greife nach dem meinigen. Wie ich nach dem feigen Meuchler ausschaue, trifft mich ein Wurfstein an die linke Augenbraue und quetscht mir das Auge aus – der Schuft erblinde dafür! – Einen Augenblick bin ich wie betäubt vor Schmerz, und diesen Augenblick benutzt der Aashund, um mich mit dem Dolche anzurennen. Aber, Jäger von Hador – Jäger von Hador! Da kam Rahu, der Mammutjäger über Howe, den Schuft, und unter meinen Armen knickte er zusammen wie eine Gazelle unter der Pranke Ahours. Das Weibermaul fängt zu heulen an und schwört unter dem Wimmern der Verzweiflung, daß er mich für einen andern gehalten habe. Obwohl ich wußte, daß die Todesangst ihm diese Lüge auspreßte, wandte ich mich mit Verachtung von dem Erbärmlichen weg und ließ ihn liegen wie einen Auswurf. Seither weicht er mir aus wie das Schneehuhn dem Eisfuchs; aber – – – beim Satan der Steppe! – wenn ich ihn treffe, so mache ich aus seinem Fleische Fischköder!«

»Vater,« – läßt sich Raha vernehmen, und ihre Stimme klingt wie im Ernste – »so schön hast du die Geschichte noch nie erzählt!«

»Ich habe eben schon manches erlebt, Singvögelchen!« Selbstgefällig reckt der alte Rahu seine Riesenknochen, als wollte er ein Nashorn zum Kampfe fordern.

»Hassest du ihn so furchtbar, Vater, den Howe?«

Ahnungslos geht der Alte in die gestellte Falle.

»Ob ich ihn hasse? Den Howe, den Schuft? Wie der Wanderfalke den Lemming, wie der Gletscher den Sonnenstrahl – – – nein, nein! Wie der Löwe das Faulfleisch!«

»Vater, wenn du ihn so furchtbar hassest: warum hast du ihn nicht umgebracht?«

»Weil ich vor seinem Weibergeheul Herzwasser bekam! Glaubst du etwa – – was glaubst du denn?«

»Was sollte ich glauben, Väterchen?«

»Meinst du etwa, ich hätte Howe, den Schuft – – oder Howe hätte – – oder – oder –«

»Was, Vater?«

»Ueberhaupt, glaubst du etwa nicht an die Geschichte?«

»O doch, Vater! Ich glaube die Geschichte so, wie sie sich ereignet hat!«

»Also, Herzchen, hol' einen Tropfen Beerenwasser!«

Wie Raha aus dem Lederschlauche Beerensaft mit Wasser mischt und in Urhörnern herumreicht, zieht Harrar eine fein gearbeitete Halskette aus Elfenbeinplättchen, Fischwirbeln und Hirschaugenzähnen aus seiner Jagdtasche. Während sie ihm einschenkt, legt er den Schmuck um ihren schönen Hals. Seine Finger zittern und seine Pulse jagen; wenn sie den Schmuck zurückweist, so ist er verschmäht und verhöhnt. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als heute nacht noch die Höhle zu verlassen – trotz Ahour und Finsternis! Doch die Gefahr ist nicht groß! Die weiße Schmuckkette legt sich zu herrlich um das schwere Wellenhaar, das wie ein wilder Gletscherbach über Schultern und Arme fließt. Hold errötend greift sie nach dem feinpolierten Brustplättchen:

»Ah – – eine Antilope! Wie hübsch! Hat Harrar sie selbst eingraviert?«

»Ja, Raha!« gesteht Harrar mit der Verlegenheit eines Knaben.

»Das macht Harrar niemand nach!«

»Ich will nicht lügen, Raha: es gibt einen, vor dem ich ein Stümper bin!«

»Wer ist dieser Eine?«

Scheu blickt sich Harrar nach dem Alten um, und wie er sieht, daß dieser mit einer Speerspitze beschäftigt ist, flüstert er:

»Owinar, der Sohn Howes!«

Wie ein angeschossener Eber fährt der Alte herum:

»Wie? – Wie? Was sagt Harrar?«

»Nichts, Vater!« antwortet Raha an Harrars Stelle. – »Du hast falsch verstanden!«

»Was hab' ich falsch verstanden? ›Owinar‹ hat er gesagt!«

»Und – wenn? Harrar wird seinen Freund einmal herbringen; dann kannst du ja sagen, ob – –«

»Herbringen? Hierher in die Höhle von Chohor? – Den Buben? Den Ratten werde ich ihn beizen, wenn er kommt!«

»Das wirst du nicht, Vater!«

»Nicht?«

»Nein!«

»Warum nicht, Töchterchen?«

»Weil ich's nicht dulden würde!«

»Du? Nicht dulden?« Rahu ist aufgestanden und kommt mit einem kopfgroßen Steine daher. – »Nicht dulden, sagst du? Entweder bittest du mich um Verzeihung, oder dein Gehirn spritzt an die Wände hinauf!«

Wie ein Irrlicht der Tundra glüht sein Auge zwischen den grauen Flechten hervor. Harrar glaubt zum Schutze des Mädchens eingreifen zu müssen, da hält sie dem Alten ihr schönes Köpfchen hin:

»Hier, Vater! – Oder willst du lieber ein Stück Geräuchertes? Wart, ich hole dir!« Flugs steigt sie über die Steinwehr, welche die Höhle von dem Vorbau (oder Vorzelt) trennt, und der alte Riese steht da wie ein Wolf, der in einen Igel gebissen hat.

»Hat Harrar schon so etwas gesehen?«

»Sie meint es gut, Vater Rahu! Sie liebt dich!«

»Harrar hat recht, und –« hier dämpft er seine Stimme – »dich auch, Harrar!«

Raha verfügt über ein scharfes Gehör:

»Was weißt denn du!« tönt es aus dem Innern der Höhle.

»Was ich weiß, Springmaus? Der alte Rahu weiß genau, daß sich die Weiber verstellen können wie der falsche Moorboden der Tundra, nur nicht, wenn sie lieben!«

Wieder neigt er sich zutraulich über den stattlichen Jäger: »Harrar, du sollst mir als Sohn willkommen sein! Keiner mehr als du; du bist tapfer und gewandt, und dein Name fliegt wie ein hochgekrönter Hirsch durch die Steppe! – Raha! Raha! Bring auch dem Harrar ein Stück von den Keulen! Wir können ja doch nicht schlafen!«

In der Tat kauert noch die ganze Sippe um das Herdfeuer. Nur ein Kleines ist auf dem Schoße seiner Mutter eingeschlafen. Besuch ist hier selten, und – Ahour ist ja im Land!

Raha kommt mit den Leckerbissen, da wird der Alte gerührt, soweit es bei ihm möglich ist. Er läßt sich beim Gaste auf ein Renntierfell nieder und haut ein, als ob er von der Welt Abschied nehmen müßte. Zusehen regt bekanntlich zum Essen an. Die um das Feuer sitzenden Jäger – sieben wetterwilde Gestalten – packen aus ihren Felltaschen Fleischreste aus und machen sich stumm hinter sie. War es angeborene Zurückhaltung, Schüchternheit oder Achtung vor ihrem Sippenhäuptling Rahu – kurzum: bisher hatten sie sich nur mit unterdrückter Stimme unterhalten. Nun ergreift einer der Jüngsten das Wort:

»Vater, werden wir auf Ahour jagen?«

»Entweder muß er verschwinden, oder wir müssen weiterziehen; er verjagt alles Fleisch im weiten Umkreis. Haben wir Vorrat für den Winter, Raha?«

»Es wird für zehn Mondwechsel reichen, Vater!«

»Das ist mehr als genug! Da brauchen wir den Satan nicht zu suchen. Wenn er hier sein Winterlager aufschlägt, so werden wir den Frühling mit einer Löwenjagd eröffnen müssen oder – wandern!«

»Wollen wir ihn nicht diesen Herbst noch fragen, wie teuer er sein Fell verkauft?«

Der Alte gibt dem Jüngling einen zärtlichen Blick; es ist Tarahu, sein Jüngster.

»Tarahu! Du bist tapfer und mutig, aber jung und unerfahren! Weißt du, wie man den Satan der Steppe jagt?«

»Ich würde es so machen: ich schleppe ein blutiges Wild über seine Fährte unter einen starken Baum, besteige diesen und warte mit der Giftharpune, bis er kommt!«

»Nicht schlecht, Tarahu! Wenn du ihn aber mit deinem Schusse nicht richtig triffst, – durch das Geäst des Baumes ist das nicht so leicht! – so schlägt er unter deinem Baume sein Lager auf und geht nicht fort. Er paßt auf dich wie die Wildkatze auf die Springmaus!«

»Wenn er nur leicht geritzt ist, so muß er am gleichen Tage sterben!«

»Täusche dich nicht! Wenn er nicht ins fließende Blut getroffen ist, so kannst du auf dem Baume anwachsen, bis er fortgeht; er legt sich hin und leckt seine Wunde stundenlang aus, wie jedes Tier, das verwundet ist, und oft ist es vorgekommen, daß er die Ritzung gereinigt hat. Dann geht er oft scheinbar weg und lauert in den nahen Büschen auf dich. Vielleicht geht er heimlich und still auf die Jagd; aber du weißt nicht, ob er noch da ist und kein erfahrener Jäger wird niedersteigen; es wäre der sicherste Tod. Du mußt ihn an einer Stelle treffen, wo er sich nicht lecken kann, und diese Stelle liegt von seiner Schnauze bis zum Nacken!«

»Da leg' ich ihm eine Schlinge!«

»Du? – Ihm eine Schlinge? Laß dich beim Satan warnen, Bub! Deine Schlingen zerreißt er wie Halme, die sich in seinen Pfoten verfangen! Da braucht es Sehnenschlingen vom Mammut, und die müssen so angelegt sein, daß er nichts davon spürt. Sobald er eine Schlinge oder Falle wittert, umkreist er sie schnuppernd und – geht fort!«

»Ich werde …«

»Nichts wirst du – Tarahu!« – Der Alte hebt zornig die Faust. – »Ich verbiete es dir!«

»Vater! Das ist nicht so gefährlich, und wenn ich …«

»Kein Wort mehr – –!« Wie Tannenbart im Winde zittert des Alten Flechtenfülle.

Der graue Riese ist verstimmt. Plötzlich leuchtet sein Auge auf in heimlichem Feuer:

»Wir jagen ihn nicht!« keucht er hämisch. – »Vielleicht, daß er mir einen Dienst erweist, der Satan der Steppe!«

Harrar versteht den Alten gut und schweigt. Die schöne Raha kann sich nicht halten.

»Ich werde sie warnen lassen, die ahnungslosen Menschen von Arah! Morgen werde ich …«

»Dirne!« Wie ein Steinwurf fliegt das häßliche Wort Raha ins Gesicht. Ihre Lippen sind blaß geworden wie der Kalkstein der Höhle, ihr Busen hebt und senkt sich wie die Flanken des getroffenen Hirsches, ihre Händchen ballen sich, aber sie – schweigt. Raha schweigt! Das will etwas heißen. Sie ist eine wilde Antilope, eine schmeichelnde, bissige Wildkatze, aber das, was der Vater gesagt hat, das war ihr ein Schlag, wie der Schlag einer Keule. Sie ist weder empfindlich noch zartfühlend, aber ihr Auge ist klar wie der Himmel der Tundra. Sie reicht Harrar die Land und steht auf – in ihren Augen glitzert es wie Morgentau!

»Harrar, gute Nacht! Wenn ich einst einem Jäger an den Herd folge, werde ich nie mehr nach Chohor gehen!«

»Raha!« es schreit der Alte auf wie in wildem Schmerze. – »Raha! Ich wollte nicht – –«

Raha ist über die Steinwehr ins Innere der Höhle geschnellt. Einen Augenblick ist es totenstill; Harrar glaubt, dem Alten etwas sagen zu müssen:

»Rahu! Mein Vater nehme das nicht so schwer! Morgen wird vieles vergessen sein, und – im Grund darf Rahu stolz auf seine Tochter sein!«

Der graue Riese stiert vor sich hin.

Noch einmal tröstet Harrar.

»Raha liebt ihren Vater doch – – –!«

»Aber vergessen wird sie nicht! Sie wird das Wort in ihr Herz begraben, wie einen ewigen Fluch. – Harrar, du mußt wissen, bevor du – mein Sohn wirst: es ist nicht Rache allein, welche mich die Sippe Howes – Ahour fresse den Schuft! – Howes Sippe verfluchen gelehrt hat: vor vielen, vielen Sommern befragte ich den Zauberer von Ulianti über mein Schicksal. Er befragte das heilige Feuer und gab mir die Antwort: ›Durch den Stamm Howes – Ahour fresse seine Gebeine! – durch den Stamm Howes wird Gram und Vernichtung über dein Blut kommen wie der Lößsturm über die Knospen der Steppe!‹ Da habe ich geschworen bei den Gebeinen meiner Ahnen, daß nie Freundschaft und Verkehr den Weg austreten soll zwischen Chohor und Arah.«

»Wie heißt der Zauberer?«

»Howatu.«

»Ah, Howatu, der buckelige Träumer von Ulianti?«

»Dieser! – Kennt ihn Harrar?«

»Ich habe von ihm gehört!«

»Er ist der größte Zauberer und Wahrsager des westlichen Gletscherlandes! Wenn er einem den Tod voraussagt, so stirbt derselbe innert einem Mondeswechsel!«

»Ist er Howes Freund?«

»Im Gegenteil! Er haßt ihn, inniger als ich selbst!«

Harrar blickt sinnend ins Herdfeuer, wo sich die Wurzeln und Zweige durch die Glut der eigenen Flamme verzehren.

»Begreift nun Harrar, daß ich nie dulden werde, daß sich eines der Meinen mit jenem Hyänenwurfe befreundet? Eher werde ich, Harrar, höre, was der alte Rahu spricht: eher werde ich – beim Satan der Steppe – eher wird Rahu, der Schrecken von Chohor – – – was war das, Harrar? – – Hörst du nichts?«

Harrar ist aufgefahren und alle horchen mit geweiteten Augen.

Aus der Ferne dringt etwas wie dumpfes Getöse. Es kommt näher und näher.

»Eine Bisonherde!« sagt Rahu und zieht den Fellvorhang zur Seite. Harrar und die andern Männer treten mit dem Alten vor den Eingang.

Es ist helle Nacht.

Aus der Ferne leuchtet der Gletscher wie das Schuppenkleid einer auf dem Rücken liegenden Schlange: die »Zunge des bösen Weibes«! Unmittelbar vor ihnen zieht sich zwischen Tundra und Felsgral ein schmales Steppenband hin, und dort jagen die Büffel heran. Der Boden dröhnt unter ihren Füßen. Ihre wulstigen Nacken und die gesenkten Hörner scheinen einen unsichtbaren Feind anrennen zu, wollen. – Sie sind vorüber, ihr Trab hört sich nur noch wie ein dumpfer Luftzug und die Jäger wollen sich zurückziehen.

»Sßt! – Still!« gebietet der Alte. – »Habt ihr gesehen, wie die Büffel ihre Hörner trugen? Sie sind vor etwas geflohen, und – seht dort! Kommen dort nicht? – – Wahrhaftig! Dort kommt ein Trupp Wildhengste angerast. Seht ihr, wie sie die Mähnen sträuben, wie sie die Nüstern heben – gewahrt ihr, wie die hintersten seitlich fliehen – ihr Jäger: Ahour ist auf der Jagd!«

Ein leises Grauen schleicht heran.

»Warum hört man ihn nicht?« fragt einer mit einer Stimme, als ob seine Zähne vor Kälte klapperten.

»Wenn er ein alter Mörder ist, so brüllt er nur über dem geschlagenen Wild! Solange er der Fährte seines Opfers folgt, ist sein Mund – – – –«

Rahu wird unterbrochen. Aus der Ferne hebt ein Ton an, tief und unheimlich, als ob eine Höhle gähnte, und dieses Gähnen schwillt an zu einem krachenden Brüllen, als ob der Gletscherdrache sich aus dem Todesschlafe gereckt hätte.

Wie das Heulen des Lößsturmes, gewaltig, königlich fährt der Ton über die Steppe.

Die abgewetterten Gestalten der Jäger scheinen kleiner geworden zu sein. Nur Tarahus Augen blitzen!

»Nun ist ein Wild gefallen!« flüstert der Alte. – – – »Seht dort!« – – –

Auf die niedern Büsche am Fuße des Felsgrates zu kommt mit kurzatmigem Stöhnen eine Saiga-Antilope. Das leichtfüßige Tier fliegt nicht wie sonst daher; mit krampfhaften Anstrengungen arbeitet es sich vorwärts, ein ängstliches: – »n« – »n« – »n« – ausstoßend. Wie zu Tode gebrochen legt es sich im Gebüsche nieder.

»Es hat die Angstlähme!« erklärt Rahu. – »Ahour hat seinen Zauber gesprochen: da ist das Wild der Steppe gebannt!«

In der Nähe springt eine dunkle Masse vom Felsgrate herab. Die Jäger zucken zusammen wie unter einer Geistererscheinung.

Ein unangenehmes Gekläffe entpuppt das Tier als Höhlenhyäne. Diese große, gefleckte Art ist im Diluvium ausgestorben. Der Verfasser.

Sie hat den Kriegsruf des »Herrn« vernommen und wittert die Brosamen, die von seinem Tische fallen.

Auch die Männer stehen infolge des plötzlich auftauchenden Schattens unter dem Banne der Angstlähme. Selbst der Mutigste ist durch den unheimlichen Ton des wie ein dämonisches Aufstöhnen herüberdringenden Brüllens im Marke erschüttert. Wie noch ein hochgekrönter Hirsch im Sprungfluge über die Steppe fegt, wird es ganz still: kein Laut, kein Flüstern eines Blattes, kein Hauch ist hörbar. Die ganze Natur scheint unter dem Banne des Unheimlichen zu stehen.

»Jetzt schleicht er wieder!« flüstert Rahu. – »Gehen wir hinein und schüren das Feuer hoch! Faßt Wurfstange und Mammutspeer!«

Als sie in den Vorbau treten, starren ihnen über die Steinwehr die angstgeweiteten Augen der Weiber und Kinder entgegen.

»Geht in eure Schlafwinkel!« ruft der Alte gebieterisch – – »die Männer bleiben mit ihren Schwerwaffen im Vorbau – – Tarahu, hole mir den – – – wo ist Tarahu?«

Tarahu ist nicht hier, nicht mit hereingekommen!

»Tarahu!« – Keine Antwort! Hastig stürzt der Alte durch den Felleingang:

»Tarahu!« – Keine Antwort – er ist nirgends zu sehen!

Den Riesen faßt ein jähes Erschrecken:

»Tarahu ist fort! Sollte der Unbesonnene … Wer geht mit? Wir müssen ihm nach!«

»Ich – ich – ich …« alle treten vor!

»Haltet hier Wache! Schürt das Feuer hoch! Ich gehe mit Harrar!«

»Ich danke dir, Rahu!« sagt dieser stolz.

Der Vorhang bauscht sich und – Tarahu tritt mit der erlegten Antilope herein!

Ein Atmen der Erlösung geht durch die Reihen. Der Alte fährt auf:

»Verfluchter Lümmel! Was fällt dir ein! – – Beim Schädel meines Großvaters! Wer hätte das gewagt! Bald wird sein Name an den Nachtfeuern der Jäger erklingen! – Geht dieser Säugling bei Nacht zur Jagd, wenn der Satan der Steppe schleicht! – Tu's nochmal! – –

– Wenn Ahour Menschenfleisch gerochen hätte! Ein solcher Wahnsinn! – Harrar! Darf ich nicht stolz sein auf meinen Helden? – – Leg' das Tier dorthin. Ein andermal kriegst du Prügel wie eine Bärenhaut! – – – Raha! Raha! Hast du gesehen? Bring' dem Liebling meiner Seele ein Stück Rehlende mit Süßwasser – – –«

Hoch flackert das Feuer; seine Flammen schlagen zur Höhlendecke empor und dahinter stehen die Jäger mit ihren Waffen. Keiner spricht ein Wort. Draußen ist's wieder still. Doch, da kommt es wieder, jenes stöhnende Gähnen: »Ahouuu!« Diesmal viel näher. Die Wächter greifen zur Wurfstange und legen ihre Speere auf.

Diese Wurfstange ist aus einer Stange des Renntiergeweihs geschnitzt, deren eines Ende zu einem Tierkopfe ausgearbeitet ist. Die Hörner oder Mähne dieses Bildwerkes bilden einen rückwärtigen Widerhaken, in den beim Wurfe das schwalbenschwanzförmige Hinterende des Speeres eingelegt wird. Der Jäger faßt das dem Haken entgegengesetzte Ende der Wurfstange mit starker Faust und zugleich mit Daumen und Zeigefinger die eingelegte Stange. Ein solcher Wurf gibt dem Speere die Wucht einer Schleuder. Diese Wurfstangen sind heute noch bei den Australnegern und Eskimos im Gebrauch. Der Verfasser.

So harren die Jäger der Dinge oder vielmehr des Dinges, das da kommen könnte. Sie haben oft erzählen gehört, daß der »Menschenlöwe« plötzlich in einer Wohnhöhle aufgetaucht sei und die Bewohner mit seinem fürchterlichen Gruße gelähmt habe. Im Hintergrunde beten die Weiber und Kinder mit stockendem Atem und halten ihre Kleinen umschlungen. Eine Urahne malt mit Ocker ein Zeichen auf ihre alte Haut und flüstert Zauberformeln. Kindern, die schreien wollen, wird der Mund zugehalten. Rahu sitzt auf seinem Steine.

Plötzlich horcht er auf!

»Draußen schleicht etwas! – Aufgepaßt! – Harrar, nimm in die Linke ein brennendes Scheit!«

Wahrhaftig, draußen naht etwas. Die Muskeln der Jäger spannen sich; ihre blassen Lippen beben.

Der Vorhang fliegt zur Seite, und unter dem Eingänge steht – – – – ein Jäger!

Er ist jung und schlank. Seine Rechte hält den Speer, seine Linke stützt sich auf den Griff des Elfenbeindolches in seinem Gürtel. Mit der Mähne seines Ueberwurfes aus Renntierfell vermischt sich wie eine sprudelnde Waldquelle sein herrliches Haar. Weiche, stille Augen blicken träumerisch herüber, so tief, als ob sie jeden Gegenstand für immer erfassen wollten. Auf seinem schönen Antlitz liegt etwas wie unendliches Weh.

»Empfanget den Gruß des fremden Jägers!« sagt er bescheiden.

Harrar schnellt empor wie eine flüchtige Gemse:

»Owinar! – – der Künstler von Arah! Owinar, der Sohn Howes!« Mit einem Freudenruf drückt er die Hand des Angekommenen an seine Brust.

Der alte Rahu richtet sich langsam empor; seine Faust hält den Kinnbacken eines Bisons. Mit weit vorgestrecktem Haupte starrt er auf den »Fremdling«; verwundert, verständnislos.

»Was will Owinar, der Sohn des Howe, hier?« fragt er scheinbar gleichgültig.

»Ich bitte um Obdach und um einen Bissen! Ich habe seit Arah nichts gegessen. Ahour hat mir die Jagd vertrieben!«

Die Knochengestalt des Riesen schnellt in die Höhe:

»Aashund von Arah! Seit vierzig Jahren hab' ich auf ›ihn‹ gewartet! – Er kam nicht! Treff' ich dich, so treff' ich ihn! – Nieder mit dir!«

Fletschend holt er wie im Sprunge zum Schlage aus.

Harrar springt dazwischen:

»Vater Rahu! Er ist mein Freund!« spricht er ruhig.

Owinar hat nicht zur Waffe gegriffen. So überrascht ist er über diesen Empfang.

Der Alte stockt einen Augenblick vor dem ruhigen Blicke Harrars, nur einen Augenblick, dann holt er jäh wieder aus:

»Fort! – Oder – du zuerst!«

»Also, Vater Rahu: Harrar zuerst …!«

Der wildwütende Riese faßt mit seiner knochigen Linken nach Harrars Schulter und … der Alte bricht unter Harrars Armen zusammen. Augenblicklich wird dieser von den andern gepackt. Ein furchtbares Ringen. – Sie bringen den Athleten von Hador nicht zu Boden, aber der besiegte Rahu findet Zeit! Wie ein Pferdespringer schnellt er empor und mit stöhnendem Knirschen stürzt er sich dem Ankömmling entgegen:

»Nieder mit dir – Satan …!«

Wie der Wind fliegt eine Gestalt dazwischen und fängt seinen Arm auf: Raha!

»Vater! Soll man auf allen Steppen die Schmach von Chohor erzählen, daß ein fremder Jäger hier umsonst um einen Bissen gebeten habe? Sollen die Mütter ihren Kindern erzählen vom großen Feigling von Chohor, der des Bittenden Blut vergoß?« – So hatte Raha noch nie zu ihrem Vater gesprochen!

Mit einem Male wird's in der Höhle totenstill.

Rahu selber ist einen Augenblick betroffen. Mit offenem Munde starrt er sie an; seine Halsadern pochen zuckend empor und seine blutige Augenhöhle ist sichtbar geworden.

»Raha – Raha!« keucht er –. »Nur diesmal nicht – diesmal störe mich nicht – du weißt nicht, Raha – – eher würde ich dich – –.«

»Gut! Töte mich! Ich will die Schande nicht schauen!« Wie versteinert schaut Owinar aus den Kampf der entfesselten Gemüter.

»Geh' zur Seite! Oder ich werfe dich über die Steinwehr!« donnert der wahnsinnige Alte.

Harrar meldet sich, den die Männer Rahus noch gepackt halten:

»Rahu! Ich kann meinem Freunde nicht helfen; ich kann für ihn nicht sterben; aber das schwört dir Harrar von Hador bei der Ehre seiner Seele: wenn du meinen Freund meuchelst, so werden die Jäger der Steppe alle die Deinen, die dir geholfen, vor deinen Augen erwürgen, vom Greise bis zum Kind im Mutterleibe, und dich waffenlos in die Tundra jagen!«

Der Alte knirscht zwischen den Zähnen: »Das wird nicht geschehen, Fuchs von Hador!«

»Warum nicht, Rahu?«

»Weil dir der Atem fehlen wird, dies zu erzählen! – Erwürgt ihn!«

Raha springt unter den Eingang und streckt wie zum Schwure die Hand nach ihrem Vater aus:

»Raha wird noch heute nacht die Kunde der Schmach über die Steppe tragen, trotz Ahour und Finsternis!«

Das hatte der Alte nicht erwartet. Er weiß, daß Raha die Drohung ausführen wird! Unschlüssig bleibt er stehen, und sein wildes Blut scheint sich zu beruhigen. Wie er so dasteht, kommt sein Jüngster und sagt ihm etwas ins Ohr. Der Alte scheint aufzuhorchen, legt seinem Sprößling seine Hand auf den Scheitel und – – – nickt! Wie entschuldigend sagt er: »Ich war in Wut – ihr habt recht – er mag bleiben!« Damit setzt er sich und starrt düster vor sich hin.

Raha bietet dem Gaste die Hand:

»Owinar, sei willkommen!«

»Ich danke dir! Wer bist du, tapferes Mädchen?« Sie wird rot bis an die Haarwurzeln:

»Ich bin Raha, die Tochter – Rahus!«

»Raha, du bist schön wie der Thymian der Tundra, tapfer wie das Reh, das seine Zicklein gegen den Geier verteidigt, und deine Seele ist rein wie Morgenrot! Du warst zum Tode bereit für die Ehre von Chohor; du würdest auch für deine Ehre sterben! Raha! Ich werde dein Bild in Elfenbein schneiden!«

Aus Rahas Augen fällt es wie glitzernder Morgentau. Sie blickt zu dem jungen Jäger auf, will ihm danken und kann es nicht. Die Rührung hat ihre Kehle zugeschnürt. Ihre Augen sprechen die Sprache des zu Tode getroffenen Hirsches.

Owinar, der Künstler von Arah, wird ihr Bild in Elfenbein schneiden!

Unwillkürlich greift sie nach dem Elfenbeinplättchen auf ihrer Brust: eine Antilope! Owinar wird Rahas Bild aus dem Zahne des Mammuts schneiden! Wird er das können? Sie zweifelt keinen Augenblick; sie hat in seine Augen geschaut und in diesen Augen hat sie ihr eigenes Bild gesehen. Dieses Bild wird Owinar nach Arah nehmen und frisch und lebendig ins Elfenbein zaubern!

Harrar ist wieder zu Owinar getreten. Ueber allen liegt eine drückende Schwüle. Finster brütet der Alte vor sich hin. Raha holt dem neuen Gaste einen Imbiß, legt auch Harrar vor und geht aufrecht und mutig zu ihrem Vater hin:

»Vater, willst du auch essen?«

Ein unverständliches Brummen ist die Antwort; Raha holt auf einer Renntierschaufel feingeräucherte Wildbretschnitten mit Speck und legt die duftende Delikatesse wie eine Beize vor den Alten hin. Ob er wohl in die Falle gehen wird? O Weib, dein Name ist List! – Doch der Vulkan raucht immer noch, wenn sein Ausbruch auch vorüber ist: der Alte rührt den Schmaus nicht an, so sehr er ihm in die Nase sticht.

»Vater!« beginnt Raha in weichen, schmeichelnden Lauten – »du hast mir heute ein böses Wort gesagt; ich will's vergessen! Du hast es nicht so bös gemeint; ich weiß es!«

Der Alte schnauft wie im Kampfe mit sich selbst. – – »Auch ich bin vorhin etwas ungezogen gewesen.«

Die schwere Pratze zuckt nach den Schnitten hin; er zieht sie wieder zurück und stemmt seine Fäuste wie in unerschütterlichem Vorsatze in die Seiten.

– – – »Es ist mir leid, daß ich dich betrübt habe! Ich bitte dich um Verzeihung! – Du verzeihst mir?«

Da greift er mit einem tiefen Seufzer nach der ersten Schnitte. – –

»Ich bereite dir dafür morgen einen Rauchbraten mit Zwiebeln und Lauch! Soll ich's vorher in Blut aufweichen?«

Der alte Wildling fühlt am Oberarm ihre streichelnde Berührung, und – er greift nach der zweiten Schnitte!

So, denkt Raha, er ist jetzt auf die Fährte gesetzt und wird sie von selbst weiter verfolgen. Sie steht auf und verschwindet hinter der Steinwehr.

Bald dämmert der Morgen. Ahours Besuch ist jetzt nicht mehr zu fürchten.

Die Jäger, die Weiber und Kinder legen sich auf die Felle und schlummern bis tief in den Tag hinein.

Harrar und Owinar schlafen nicht. Vorsicht ist die Schwester der Klugheit, und für gewöhnlich kommt der Fuchs, wenn die Henne schläft!

Noch zwei andere schliefen nicht: der alte Rahu und sein Liebling, der »Säugling«. Was die beiden verhandelten? Niemand hat's gehört, als ein Mäuschen, das an die Speisereste wollte, aber zitternd verschwand, als es die Worte der beiden vernahm.

Ob Raha schlief? Wenigstens glaubte sie zu träumen; sie sah die ganze Zeit zwei herrliche Augen und in ihren Sternen sich selbst.

Die Sonne brannte über den südlichen Gletscherstreifen, als Raha ihren Gästen das Morgenmahl brachte. Um ihren Hals hängt noch die Kette Harrars. Owinar wirft einen prüfenden Blick darauf, ohne eine Miene zu verziehen. Harrar sieht diesen Blick und errötet wie ein Knabe, der auf die Jagd mit durfte und einen Wildesel auf drei Mannslängen gefehlt hat.

Daß auch Raha dem wilden Weidwerk nicht fremd ist, zeigt der um ihre schlanken Lenden gewundene Lasso, dessen unverzierter Griff wie ein Dolch niederbaumelt. Verstohlen betrachtet sie den »Künstler von Arah« bei Licht. Der schmerzhafte Tiefglanz seiner Augen gibt dem edelgeschnittenen Antlitz einen ergreifend schönen Ausdruck.

»Raha!« –

Wie sie zusammenzuckt! Er hat sie bei ihrem Blicke ertappt. Verlegen tastet sie nach dem Lassogriff.

»Raha! Meine schöne Schwester trägt ihren Lassogriff unverziert. Sie ist nicht eitel!«

»Ich – ich kann – nicht so schön ritzen wie – wie … Owinar, zeichne mir mein Bruder etwas auf mein Lassoheft!«

»Raha, hole mir einen Ritzstein!«

Mit geröteten Wangen kommt Raha dem Ersuchen nach und löst den Griff aus Renntierhorn von der Schlinge. Owinar nimmt das Stück an dem einen Ende mit der Linken und legt das andere auf einen Stein.

»Raha! Welches ist das Lieblingstier meiner Schwester?«

»Das Ren!«

»Warum?«

»Weil es so schöne, traurige Augen hat!«

Owinar schließt für einen Augenblick seine Lider, als ob er sich etwas vergegenwärtigen wollte. Dann nimmt er den scharfen Ritzstein (Feuerstein), dessen Spitze wie der Schnabel eines Raubvogels ausgeschlagen ist, in die Rechte und führt erst einige kaum sichtbare Linien über die rundgeschabte Fläche hin, mißt und vergleicht die Größenverhältnisse und setzt endlich mit sicherem Zuge ein. Raha schaut so gespannt und versunken, über seine Schultern gebeugt, der Arbeit zu, daß ihre Haarwellen den Nacken und die Wange des Künstlers umkosen. Es ist kein Wunder: so feinen Schwung der Linien hat sie noch nie gesehen; der junge Künstler scheint das Tier zum Leben zu erwecken.

Beide fühlen nicht, wie ein glühendes Auge auf sie gerichtet ist!

»Raha!« ruft der Alte.

Sie hört ihn nicht.

»Raha! Hast du nichts zu tun, als zu gaffen?«

Sie schaut auf:

»Vater! Arbeiten kann ich jeden Tag, aber so etwas sehe ich vielleicht nie mehr!«

»Da kannst du recht haben, Raha!« sagt der Alte merkwürdigerweise.

Auch das lange Zuschauen ermüdet. Leise hat sich ihre Linke gehoben und auf Owinars Schulter gestützt.

»Owinar!« flüstert sie leise – damit es der Vater nicht hört.

»Wie, Raha?« –

Indem er das Gesicht ihr zuwenden will, berühren sich zwei Wangen.

»Owinar, kann man diese Kunst erlernen?«

»Ja, Raha – wenn man Liebe und Ausdauer hat!«

»Liebe? – Und Ausdauer?«

»Ja, Raha: Liebe für die Kunst und Ausdauer in der Uebung!«

»Liebe für die Kunst! – Owinar, ich kann die Welt vergessen, wenn ich dir zuschauen darf!«

»Aber die Ausdauer in der Uebung, Raha? – Junge Mädchen sind unbeständig – auch in der Liebe und Treue für die Kunst!«

»Liebe und Treue – Liebe und Treue für die Kunst! Wie schön du das sagen kannst! Deine Worte sind so schön wie deine Linien!«

Beide hören nicht das schwere Atmen Harrars neben ihnen.

»Raha! Dein Herz ist gut und groß! Soviel Liebe hat die Kunst selten beim Weibe gefunden. Gestern hast du deine große Seele geoffenbart! – Raha! Ich danke dir!«

Ganz leise legt sich ihre Wange an die seinige, wie zufällig, aber – drei Augen haben es gesehen!

Endlich steht der Künstler auf: das Werk ist fertig. Raha betrachtet es lange, mit wogender Brust und freudegeröteten Wangen.

»Owinar – Owinar! Welch ein Andenken! Das ist keine tote Antilope, wie, wie – – – Owinar, das Ren lebt! Es weidet in der Tundra. Es stellt die Füße nacheinander kreuzweise vorwärts. Wenn man die Stellung der Beine sieht und den Kopf samt Hals verdeckt, so sieht man, daß es nicht springt, nicht wandert, sondern weidet. Sogar der erhobene Schwanzstummel scheint behaglich zu wedeln, wie er es nur tut, wenn es der Flechte nachgeht. – Weißt du, Owinar: dieses Stück wird erst im Tode von mir gehen.« Das berühmte »weidende Renntier« aus Thaingen ist im Rosengarten-Museum zu Konstanz aufbewahrt.

Raha reicht Harrar das Prunkstück!

Dieser nimmt es wie gedankenlos, fast widerwillig. Sein Gesicht ist leichenblaß; seine Lippen zucken, sprechen kann er nicht! Wortlos gibt er das Meisterwerk zurück. Raha hält es dem Vater hin:

»Hast du schon so etwas gesehen, Vater?«

Merkwürdigerweise scheint sich die Wut des Alten gelegt zu haben. Wohlwollend betrachtet er das gravierte Ren auf Renhorn:

»Hm – hchrrrmm – nicht schlecht! – etwas mager – hat zu wenig Fleisch!«

Das schöne Ren geht von Hand zu Hand. Wenn man auch dem Künstler nicht grün ist – ist er doch der Sohn des Todfeindes –, so richten sich doch scheue, fast ehrfurchtsvolle Blicke auf ihn.

Harrar stützt seine Stirn in die Hand und betrachtet am Boden einen Ameisenkampf. – Um was kämpfen sie? – Um die Nahrung? – Die ist in Fülle vorhanden. – Um den Wohnraum? Der Wald ist groß und die Steppe ist weit! – Um die Gunst einer Königin? Das wäre etwas anderes! Sollte die Eifersucht auch diese Tierchen erfassen, daß sie Kampf und Qual und Vernichtung der Verschmähung vorziehen?

Der Alte tritt unter den Eingang und sieht sich den Himmel prüfend an:

»Der Himmel verstellt sein Gesicht!« murrt er, aber wenn Rahu »murrt«, so murrt die ganze Höhle mit, wie ein gähnender Rachen. – – »Wenn er so klar ist und sein Hauch so warm, dann lauert der Lößsturm! – Tarahu!«

»Vater?«

»Hast du deine Biberfallen eingezogen?«

»Nein! Soll ich gehen?«

»Du tätest gut daran –!«

Alles hört sich so harmlos an wie ein Gespräch beim Fellkleidnähen. Der Junge steht auf, nimmt seine Waffen, Mundvorrat und geht.

»Auch ich muß fort!« erklärt Owinar nach einer Weile. Da protestiert – – – der Alte!

»Ruhe zuerst aus und iß! Die heutige Nacht wird klar und hell sein! – Oder fürchtest du Ahour, den Satan der Steppe?«

»Hab' ich mich gestern nacht gefürchtet, Vater Rahu?« Das klang sehr zweideutig, und der Alte versteht den Hieb.

»Du hast einen guten Geist gehabt, der dich beschützte!« entgegnet Rahu ebenso doppelsinnig.

»Ich hoffe, daß er mich nie verlassen wird!« spricht Owinar mit träumerisch gehobenen Wimpern.

»Er wird dich nie verlassen!« ruft Raha von der Seite her, und vier Augen tauchen ineinander wie zum ewigen Schwure vereinigt.

»Die Geister sind tückisch und treulos wie die Weiber!« höhnt der Alte hämisch.

– – – – »Wie die Weiber!« spricht Harrar tonlos.

»Welchen Weg willst du nehmen, Owinar?« fragt der Alte leichthin.

»Ich gehe über die ›Zunge des bösen Weibes‹!«

»Fürchtest du ihre Tücke nicht?«

»Owinar hat seine Kunst der höchsten Gottheit geweiht. Wenn sie mich beschützt, kann kein niedriger Dämon mir schaden!«

Wie feierlich das klingt!

»In der Nacht herrschen die bösen Geister vor, Owinar von Arah! – Doch, du fürchtest dich ja nicht – Willst du uns nicht ein Bild auf die Höhlenwand zaubern, bis das Abschiedsmahl bereitet ist?« Wie ungewohnt der Alte spricht! Raha kommt lachend geflogen und nimmt den Künstler in die Arme:

»Ja, Owinar – Ein Bild auf die Wand, ein großes, eins mit Farben! Willst du? – Ja, gelt, du willst Owinar? Sonst sag' ich einfach: du mußt!«

»Wenn ich mich weigere, Springmaus von Chohor?« fragt lächelnd der Künstler von Arah.

»Owinar, dann falle ich vor dir nieder und bitte und bitte, wie eine hungrige Meise im Winter! Würdest du mir nichts streuen, Owinar, wenn ich als frierendes Vögelchen zu dir käme?«

»Nein, Raha! Ich würde dir vorerst nichts geben!«

»Nichts – geben – Owi – nar?« Ihre Augen glitzern und in ihrem Halse würgt ein Schlucken.

»Nein, Raha! Ich würde dich – – – – fangen!«

Wie Morgenrot huscht es über ihr Gesicht. Lange schaut sie ihn an, dann sagt sie leise, wie weltverloren:

»Ich würde die Wipfel des Waldes vergessen und die Blumen der Steppe!« – –

»Na, willst du, Bilderkratzer?« fährt die Löwenstimme des grauen Riesen dazwischen.

»Ah so, das Wandbild! – Was soll ich hinwerfen?«

»Einen Bison« – »Einen Urstier!« – »Nein, das Mammut!« – »Das Nashorn!« – – so tönt es durcheinander.

»Zeichne Ahour, den Satan der Steppe!« ruft der Alte dazwischen. Alles schaut gespannt auf den Künstler: wird er zeichnen können, was er vielleicht nie gesehen? Wenige von den Jägern sind dem Satan der Steppe schon begegnet. Der alte Rahu kennt das Wild der Steppe und Tundra wie seine flache Hand. Er wird den Künstler scharf beurteilen können!

Owinar nimmt einige große Feuersteinspitzen zur Hand und probiert ihre Tauglichkeit. Er stellt sich an einer glatten Wandstelle in Positur: erst scheint er da und dort eine zarte Linie zu ziehen, dann werden die Züge kräftig und sicher, und wie die Umrisse in starken Kurven die richtigen Größenverhältnisse festgelegt haben, geht er an die Ausarbeitung des Kopfes. Mit jeder Linie wird das Tier lebendiger – lauernder – gieriger. Lautlos schleichend hebt es nach Katzenart leise die rechte Pfote – – –! Man vergleiche den gravierten Höhlenlöwen aus der Höhle von Combarelles. Der Verfasser.

»Bei den Knochen meiner Urahne! – Das ist Ahour, der Satan! Ja, so geht er – so kommt er!« ruft Rahu in rückhaltloser Anerkennung des Meisterstückes. – »Owinar, wo hast du ihn gesehen, den schleichenden Dämon?«

»Mit meinem Vater und vier Brüdern (d. h. Angehörige der Sippe) hab' ich ihn vor sechs Jahren in den Bergen von Arantu beim Fraße belauscht; ich zählte damals 18 Jahre … Wo ist Harrar?«

Man sieht sich um – Harrar ist verschwunden!

Während alles gespannt die Künstlerhand Owinars verfolgte, ging er fort, ohne Gruß, ohne Abschied. Owinar ist namenlos erstaunt; der Alte nicht! Er weiß, warum der Jäger von Hador so still davongegangen ist!

»Raha! Warum ist Harrar im Zorne fort? Weißt du es nicht?« fragt Rahu seine Tochter grimmig. Ihre Nasenflügel zucken!

»Ich … ich … habe ihn nicht geschickt! – – Und auch nicht gerufen!«

Dem Künstler von Arah dämmert leise die Erkenntnis, warum Harrar gegangen sein könnte!

»Ich muß fort – ihm nach!« stößt er hastig heraus und greift nach seinem Jagdgerät.

»Willst du nicht das Bild vollenden?« fragt die schöne Sünderin ohne Reue.

»Ja!« knurrt der Alte zwischen den Zähnen heraus. – – »Mache zuerst das Bild fertig; es könnte unvollendet bleiben, wenn du nie mehr zurückkehrtest!«

»Ich komme wieder. – Lebt wohl!«

Er geht.

Raha tritt unter den Eingang und hebt die Hand zum Gruße. Lange bleibt sie dort, bis der Künstler von Arah im Strauchwerk der Steppe verschwunden ist. Dann geht sie an die Wand und betrachtet das unvollendete Bild.

»Ist Tarahu noch nicht zurück?« unterbricht Rahu ihre Betrachtung.

»Nein!«

»Er könnte hier sein! Wo mag er wieder stecken? – Ich werde ihn holen müssen; sonst kommt er vor Nacht nicht heim, und – Ahour lebt!«

Wie mißmutig greift der Alte nach seinen Jagdwaffen und geht – – –

Owinar folgt der Fährte Harrars.

Dies ist nicht schwierig, zumal der Künstler die Richtung des Geflohenen kennt. Nach einiger Zeit sieht er ihn an den Stamm einer Birke gelehnt. Der Mann ist so in sich versunken, daß er erst aufschaut, wie Owinar vor ihm steht.

»Was will Owinar?« fragt Harrar finster, ohne den einstigen Freund offen anzusehen.

»Ich wollte nicht ohne Gruß von Harrar gehen!«

»Die Freundschaft lebt nicht im Worte!«

»Aber sie kann durch Schweigen sterben!«

»So möge Owinar sprechen!«

»Harrar, ich fürchte: auf meines Bruders Seele will die Nacht sich senken!«

»Wenn die Sonne sinkt, kommt die Nacht – und Harrars Sonne ist untergegangen, für immer!«

»Ihr Morgenrot wird wieder die schlafende Blume der Steppe wecken!«

»Ich werde sie nicht mehr sehen; die Augen meiner Seele haben in die Sonne geschaut und sind – – erblindet!«

»Harrar! Ich will mit meinem Bruder blind sein!«

»Die Seele deiner Sprache ist dunkel!«

»Ich will sie unverhüllt offenbaren: Harrar liebt Raha, die Tochter Rahus!«

Harrar fährt wild auf:

»Nein, ich liebe sie nicht!«

»Harrar hat sie geliebt!«

»Ja! Ich streckte die Hand aus nach der Blume, und mich hat eine Schlange gebissen!«

»Harrar! Ich glaube, Raha ist nicht schlecht; aber das Herz des Weibes ist ein Birkenblatt; es zittert bei jedem Winde!«

»Es zittert nicht mehr, dieses Blatt; es ist Owinar in den Schoß gefallen!«

»Harrar! Das Bild von Chohor ist unvollendet! Ich werde Raha nie mehr sehen; Owinar von Arah kauft nicht die Liebe einer Raha von Chohor mit der Freundschaft Harrars!«

Harrar schnellt auf:

»Owinar! Deine Seele ist noch herrlicher als deine Kunst!«

»In einer gemeinen Seele kann die Kunst nicht leben, Harrar! – Owinar entsagt. Seine Liebe wird nur der Kunst noch leben – und der Freundschaft Harrars!«

»Owinar! Ich bin deiner nicht wert! Ich habe dich – – – gehaßt!«

Der Künstler lächelt:

»Mein Bruder Harrar ist ehrlich – wie der Bär der Tundra. Hier meine Hand; sie wird sich erst in der Totenstarre für Harrar schließen!«

Die Augen des Jägers leuchten auf:

»Es sei! – Die Seele Harrars schaut wieder Morgenrot!«

»Sie wird das Licht des Tages schauen; die Sonne von Chohor wird ihr wieder leuchten!«

Der Jäger von Hador greift nach seinem Dolche und zerbricht ihn wie dürres Reis:

»Owinar! So zerbrech' ich meine Liebe – ein Jäger von Hador bettelt nicht vor dem Tore von Chohor!«

Auch der Künstler zieht seinen Elfenbeindolch: ah, welch ein Stück! Der Griff ist ein liegendes Renntier mit zurückgelegtem Geweih. Man vergleiche hiezu den Dolch aus Langerie-Basse im Vezère-Tal. Der Verfasser.

»Ist meinem Bruder der Dolch der Liebe zerbrochen, so nehme er dafür den Dolch der Freundschaft!«

»Ich nehme ihn an! Wenn ich ihn meinem Blutsbruder je versage in der Not, so mag die Hand mir faulen!«

Die beiden sitzen lange beisammen!

Es ist Abend geworden. Unter der Lichtfülle des Abendrotes flammen die Gletscher auf; nicht weit vor ihnen droht die »Zunge des bösen Weibes«.

»Nun muß ich gehen, Harrar, bald senkt sich die Nacht! – Ich seh' Harrar in Bälde wieder!«

»Welchen Weg nimmt mein Bruder?«

»Ueber die ›Zunge des bösen Weibes‹!«

»Bei Nacht? – Will Owinar sie nicht lieber umgehen?«

»Ich bin ihn oft des Nachts gegangen. Mein Auge ist scharf und die Nacht wird hell sein!«

»Jenes Gewölk dort? – Es ist so drückend; sollte Rahu von Chohor Recht bekommen?«

»Wegen des Lößsturmes – kaum vor morgen! – Leb' wohl, Harrar!«

»Heil auf deine Pfade! – Erfreue mein Auge bald wieder, Owinar!«

Ein weher Schatten senkt sich auf das schöne Antlitz Owinars.

»Meine Wege sind dunkel wie die Nacht! Nur ein Stern sendet mir Licht! – Heil deinem Fuße!«

Dort geht er!

Sein Haupt ist etwas gesenkt, sein Fuß zögernd; es geht der Tundra entgegen – oder beugt ihn sein geheimes Leid! Warum hat er von seinem Weh nichts verlauten lassen?

Harrar schaut ihm nach, bis ihn die Wellenhügel der Tundra seinen Augen entzogen haben.

Er wendet sich bedächtig gegen Aufgang, der Steppe zu.

Die Luft ist schwül und still; das Leben scheint wie niedergedrückt. Harrar geht sinnend weiter. Ein ferner Donner hinter ihm läßt ihn zurückschauen. Eine blauschwarze Wand wälzt sich heran; schwer aufgetürmte Ballen stoßen wie mit Berggewalt vor und die Erde scheint unter ihrem Rollen zu wanken. Harrar kennt die Zeichen: der Lößsturm kommt!

Der Name kommt von »lose«, weil dieser Sturm alles mit sich fortreißt, was nicht mit dem Erdboden verankert ist. Die in der Steppe ruhiger gewordenen Gletscherwasser lagern dortselbst ganze Bänke feinsten Sandes ab, die in den relativ kurzen, aber heißen Sommern der Zwischen- und Nacheiszeiten »klingend« trocken werden und von den gewaltigen, gluterzeugten Stürmen vermischt mit allem »Losen« durch die Steppe gefegt werden, um an den Längen als Wehen oder Lößdünen abgelagert zu werden.

Harrar sucht unter einem Felsen Schutz vor dem »brüllenden Bison«, wie der Lößsturm unter den Jägern genannt wird.

Es ist plötzlich Nacht geworden, ein Blitz fällt in die Helligkeit des andern ein. Harrar blickt ruhig in die rasenden Elemente: Büsche neigen sich platt zur Erde wie unter einer Riesenwalze, Bäume knicken und krachen und die Sandhosen wirbeln den Tanz des Wahnsinns durch die Steppe. Die dürren Pflanzen richten sich zum Tanze auf, haken sich ineinander und rasen wie Spukgestalten und Riesentiere vor dem Orkane her. Feenhaft beleuchten die zuckenden Blitze das grandiose Naturspiel.

Harrar muß an seinen Freund denken: wenn er über den Gletscherschründen von diesem Orkane überrascht worden wäre! Die Uebersteigung der Gletscherzunge beansprucht eine Zeit von wenigstens zwei Stunden!

Gegen Morgen wird es windstill und glanzhell.

Harrar steigt auf den Felsen.

Eben geht die Sonne auf und die Gletscher des Südens leuchten wie ein unendliches Diadem. Nicht weit von Harrars Standort, im Süden, strahlt die »Zunge des bösen Weibes«.

Die Adleraugen des Jägers leuchten plötzlich auf und er hebt die Land über seine Augen: ist's möglich? – Auf der Gletscherzunge, in weiter, weiter Ferne bewegt sich ein Punkt gegen Aufgang!

»Ein Mensch!« flüstert der Jäger. – »Wo war der über Nacht? – – – – – Ob es Owinar ist?«


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