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Heimkehr nach Österreich

Vom Standpunkt der Logik aus war das Törichtste, was ich nach dem Niederbruch der deutschen und österreichischen Waffen tun konnte: nach Österreich zurückzukehren, nach diesem Österreich, das doch nur noch als ein ungewisser, grauer und lebloser Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie auf der Karte Europas dämmerte. Die Tschechen, die Polen, die Italiener, die Slowenen hatten ihre Länder weggerissen; was übrig blieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend. Von den sechs oder sieben Millionen, die man zwang, sich ›Deutsch-Österreicher‹ zu nennen, drängte die Hauptstadt allein schon zwei Millionen frierend und hungrig zusammen; die Fabriken, die das Land früher bereichert, lagen auf fremdem Gebiet, die Eisenbahnen waren zu kläglichen Stümpfen geworden, der Nationalbank hatte man ihr Gold genommen und dafür die gigantische Last der Kriegsanleihe aufgebürdet. Die Grenzen waren noch unbestimmt, da der Friedenskongreß kaum begonnen hatte, die Verpflichtungen nicht festgelegt, kein Mehl, kein Brot, keine Kohle, kein Petroleum vorhanden; eine Revolution schien unausweichlich oder sonst eine katastrophale Lösung. Nach aller irdischen Voraussicht konnte dieses von den Siegerstaaten künstlich geschaffene Land nicht unabhängig leben und – alle Parteien, die sozialistische, die klerikalen, die nationalen schrien es aus einem Munde – wollte gar nicht selbständig leben. Zum erstenmal meines Wissens im Lauf der Geschichte ergab sich der paradoxe Fall, daß man ein Land zu einer Selbständigkeit zwang, die es selber erbittert ablehnte. Österreich wünschte entweder mit den alten Nachbarstaaten wieder vereinigt zu werden oder mit dem stammesverwandten Deutschland, keinesfalls aber in dieser verstümmelten Form ein erniedrigtes Bettlerdasein zu führen. Die Nachbarstaaten hingegen wollten mit diesem Österreich nicht mehr in wirtschaftlichem Bündnis bleiben, teils weil sie es für zu arm hielten, teils aus Furcht vor einer Wiederkehr der Habsburger; den Anschluß an Deutschland verboten anderseits die Alliierten, um das besiegte Deutschland nicht zu stärken. So wurde dekretiert: Die Republik Deutsch-Österreich muß bestehen bleiben. Einem Lande, das nicht existieren wollte – Unikum in der Geschichte! – anbefohlen: »Du mußt vorhanden sein!«

Was mich damals bewog, in der schlimmsten Zeit, die je über ein Land gekommen, freiwillig dorthin zurückzukehren, vermag ich selbst heute kaum mehr zu erklären. Aber wir Menschen der Vorkriegszeit waren trotz allem und allem in einem stärkeren Gefühl von Pflicht aufgewachsen; man glaubte, daß man mehr als je in einer solchen Stunde äußerster Not zu seiner Heimat, zu seiner Familie gehörte. Es schien mir irgendwie feig, dem Tragischen, das sich dort vorbereitete, bequem auszuweichen, und ich fühlte – gerade als Autor des ›Jeremias‹ – die Verantwortung, man müßte eigentlich mithelfen durch sein Wort, die Niederlage zu überwinden. Überflüssig während des Krieges, schien ich mir nun nach der Niederlage an der richtigen Stelle, zumal ich mir durch meinen Widerstand gegen die Kriegsverlängerung eine gewisse moralische Stellung insbesondere bei der Jugend erworben hatte. Und selbst wenn man nichts zu leisten vermochte, blieb wenigstens die Genugtuung, mitzuleiden an dem allgemeinen Leiden, das man vorausgesagt.

Eine Fahrt nach Österreich erforderte damals Vorbereitungen wie eine Expedition in ein arktisches Land. Man mußte sich ausrüsten mit warmen Kleidern und Wollwäsche, denn man wußte, daß jenseits der Grenze keine Kohle vorhanden war, – und der Winter stand vor der Türe. Man ließ sich die Schuhe sohlen, denn drüben gab es nur Holzsohlen. Man nahm Vorräte und Schokolade mit, soviel die Schweiz verstattete, um nicht zu verhungern, bis die ersten Brot- und Fettkarten einem zugeteilt würden. Man versicherte sein Gepäck, so hoch es nur ging, denn die meisten Gepäckwagen wurden geplündert, und jeder Schuh, jedes Kleidungsstück war unersetzbar; nur als ich zehn Jahre später einmal nach Rußland reiste, habe ich ähnliche Vorbereitungen getroffen. Einen Augenblick stand ich noch unschlüssig in der Grenzstation Buchs, in die ich vor mehr als einem Jahr so beglückt eingefahren, und fragte mich, ob ich nicht doch lieber im letzten Augenblick noch umkehren sollte. Es war, ich fühlte es, eine Entscheidung in meinem Leben. Aber schließlich entschloß ich mich zum Schweren und Schwierigeren. Ich bestieg wieder den Zug.

Bei meiner Ankunft vor einem Jahre hatte ich an der schweizerischen Grenzstation in Buchs eine aufregende Minute erlebt. Jetzt bei der Rückkehr stand mir eine nicht minder unvergeßliche an der österreichischen in Feldkirch bevor. Schon beim Aussteigen hatte ich eine merkwürdige Unruhe bei den Grenzbeamten und Polizisten wahrgenommen. Sie achteten nicht besonders auf uns und erledigten höchst lässig die Revision: offenbar warteten sie auf etwas Wichtigeres. Endlich kam der Glockenschlag, der das Nahen eines Zuges von der österreichischen Seite ankündigte. Die Polizisten stellten sich auf, alle Beamten eilten aus ihren Verschlägen, ihre Frauen offenbar verständigt, drängten sich auf dem Perron zusammen; insbesondere fiel mir unter den Wartenden eine alte Dame in Schwarz mit ihren beiden Töchtern auf, nach ihrer Haltung und Kleidung vermutlich eine Aristokratin. Sie war sichtlich erregt und fuhr immer wieder mit dem Taschentuch an ihre Augen.

Langsam, ich möchte fast sagen, majestätisch rollte der Zug heran, ein Zug besonderer Art, nicht die abgenutzten, vom Regen verwaschenen gewöhnlichen Passagierwaggons, sondern schwarze, breite Wagen, ein Salonzug. Die Lokomotive hielt an. Eine fühlbare Bewegung ging durch die Reihen der Wartenden, ich wußte noch immer nicht warum. Da erkannte ich hinter der Spiegelscheibe des Waggons hoch aufgerichtet Kaiser Karl, den letzten Kaiser von Österreich und seine schwarzgekleidete Gemahlin, Kaiserin Zita. Ich schrak zusammen: der letzte Kaiser von Österreich, der Erbe der habsburgischen Dynastie, die siebenhundert Jahre das Land regiert, verließ sein Reich! Obwohl er die formelle Abdankung verweigert, hatte die Republik ihm die Abreise unter allen Ehren gestattet oder sie vielmehr von ihm erzwungen. Nun stand der hohe ernste Mann am Fenster und sah zum letztenmal die Berge, die Häuser, die Menschen seines Landes. Es war ein historischer Augenblick, den ich erlebte – und doppelt erschütternd für einen, der in der Tradition des Kaiserreichs aufgewachsen war, der als erstes Lied in der Schule das Kaiserlied gesungen, der später im militärischen Dienst diesem Manne, der da in Zivilkleidung ernst und sinnend blickte, ›Gehorsam zu Land, zu Wasser und in der Luft‹ geschworen. Ich hatte unzählige Male den alten Kaiser gesehen in der heute längst legendär gewordenen Pracht der großen Festlichkeiten, ich hatte ihn gesehen, wie er von der großen Treppe in Schönbrunn, umringt von seiner Familie und den blitzenden Uniformen der Generäle, die Huldigung der achtzigtausend Wiener Schulkinder entgegennahm, die, auf dem weiten grünen Wiesenplan aufgestellt, mit ihren dünnen Stimmen in rührendem Massenchor Haydns ›Gott erhalte‹ sangen. Ich hatte ihn gesehen beim Hofball, bei den Théâtre Paré-Vorstellungen in schimmernder Uniform und wieder im grünen Steirerhut in Ischl zur Jagd fahrend, ich hatte ihn gesehen, gebeugten Hauptes fromm in der Fronleichnamsprozession zur Stefanskirche schreitend – und an jenem nebligen, nassen Wintertag den Katafalk, da man mitten im Kriege den greisen Mann in der Kapuzinergruft zur letzten Ruhe bettete. ›Der Kaiser‹, dieses Wort war für uns der Inbegriff aller Macht, allen Reichtums gewesen, das Symbol von Österreichs Dauer, und man hatte von Kind an gelernt, diese zwei Silben mit Ehrfurcht auszusprechen. Und nun sah ich seinen Erben, den letzten Kaiser von Österreich, als Vertriebenen das Land verlassen. Die ruhmreiche Reihe der Habsburger, die von Jahrhundert zu Jahrhundert sich Reichsapfel und Krone von Hand zu Hand gereicht, sie war zu Ende in dieser Minute. Alle um uns spürten Geschichte, Weltgeschichte in dem tragischen Anblick. Die Gendarmen, die Polizisten, die Soldaten schienen verlegen und sahen leicht beschämt zur Seite, weil sie nicht wußten, ob sie die alte Ehrenbezeigung noch leisten dürften, die Frauen wagten nicht recht aufzublicken, niemand sprach, und so hörte man plötzlich das leise Schluchzen der alten Frau in Trauer, die von wer weiß wie weit gekommen war, noch einmal ›ihren‹ Kaiser zu sehen. Schließlich gab der Zugführer das Signal. Jeder schrak unwillkürlich auf, die unwiderrufliche Sekunde begann. Die Lokomotive zog mit einem starken Ruck an, als müßte auch sie sich Gewalt antun, langsam entfernte sich der Zug. Die Beamten sahen ihm respektvoll nach. Dann kehrten sie mit jener gewissen Verlegenheit, wie man sie bei Leichenbegräbnissen beobachtet, in ihre Amtslokale zurück. In diesem Augenblick war die fast tausendjährige Monarchie erst wirklich zu Ende. Ich wußte, es war ein anderes Österreich, eine andere Welt, in die ich zurückkehrte.

Sobald der Zug in der Ferne verschwunden war, hieß man uns aus den blanken und sauberen schweizerischen Waggons in die österreichischen umsteigen. Und man mußte die österreichischen nur betreten haben, um schon im voraus zu wissen, was diesem Lande geschehen war. Die Schaffner, die einem die Plätze anwiesen, schlichen hager, verhungert und halb zerlumpt herum; zerrissen und abgetragen schlotterten ihnen die Uniformen um die eingesunkenen Schultern. An den Fensterscheiben waren die Lederriemen zum Aufziehen und Niederziehen abgeschnitten, denn jedes Stück Leder bedeutete eine Kostbarkeit. Auch in den Sitzen hatten räuberische Messer oder Bajonette gewütet; ganze Stücke der Polsterung waren barbarisch weggetrennt von irgendeinem Skrupellosen, der seine Schuhe flicken lassen wollte und sich Leder holte, wo er es fand. Ebenso waren die Aschenschalen um des bißchen Nickels und Kupfers willen gestohlen. Von außen fuhr mit dem spätherbstlichen Wind durch die zerschlagenen Fenster Ruß und Schlacke der elenden Braunkohle herein, mit der man jetzt die Lokomotiven heizte; sie schwärzte Boden und Wände, aber ihr Stank linderte wenigstens den scharfen Geruch von Jodoform, der daran erinnerte, wie viele Kranke und Verwundete man während des Krieges in diesen Skeletten von Waggons befördert. Immerhin, daß der Zug überhaupt vorwärtskam, bedeutete ein Wunder, allerdings ein langwieriges; jedesmal, wenn die ungeölten Räder weniger grell kreischten, fürchteten wir schon, daß der abgearbeiteten Maschine der Atem versagte. Für eine Strecke, die man sonst in einer Stunde Fahrt bewältigte, brauchte man vier oder fünf, und mit der Dämmerung fiel man ins völlige Dunkel. Die elektrischen Birnen waren zerschlagen oder gestohlen, wer etwas suchte, mußte mit Zündhölzern sich vorwärtstasten, und man fror nur deshalb nicht, weil man schon von Anfang an zu sechst oder acht dicht aneinandergepreßt saß. Aber bereits in der ersten Station drängten noch neue Menschen herein, immer mehr, und alle schon ermüdet durch das stundenlange Warten. Die Gänge pfropften sich voll, selbst auf den Trittbrettern hockten Leute in der halbwinterlichen Nacht, und außerdem hielt jeder noch sein Gepäck und sein Lebensmittelpaket ängstlich an sich gepreßt; keiner wagte im Dunkel auch nur für eine Minute etwas aus der Hand zu geben. Mitten aus dem Frieden war ich zurückgefahren in das schon beendet vermeinte Grauen des Krieges.

Vor Innsbruck röchelte plötzlich die Lokomotive und konnte eine kleine Steigung trotz Pusten und Pfeifen nicht mehr bewältigen. Aufgeregt liefen die Beamten im Finstern mit ihren qualmenden Laternen hin und her. Es dauerte eine Stunde, ehe eine Hilfsmaschine heranschnaufte, und abermals benötigte man dann statt sieben siebzehn Stunden, ehe man nach Salzburg kam. Kein Träger weit und breit an der Station; schließlich boten sich ein paar zerlumpte Soldaten hilfreich an, das Gepäck bis zu einem Wagen zu schaffen, aber das Pferd der Droschke war so alt und schlecht genährt, daß es eher von der Deichsel aufrechtgehalten schien als sie zu ziehen bestimmt. Ich fand nicht den Mut, diesem gespenstischen Tier noch eine Leistung zuzumuten, indem ich den Wagen mit den Koffern belastete, und ließ sie, freilich voll Sorge, sie nie mehr wiederzusehen, im Bahnhofsdepot.

Ich hatte mir während des Krieges in Salzburg ein Haus gekauft, denn die Entfernung von meinen früheren Freunden wegen unserer gegensätzlichen Einstellung zum Kriege hatte in mir das Verlangen erweckt, nicht mehr in großen Städten und unter vielen Menschen zu leben; meine Arbeit hat später auch überall Nutzen von dieser zurückgezogenen Lebensform gehabt. Salzburg schien mir von allen österreichischen Kleinstädten nicht nur durch seine landschaftliche, sondern auch durch seine geographische Lage die idealste, weil am Rande Österreichs gelegen, zweieinhalb Eisenbahnstunden von München, fünf Stunden nach Wien, zehn Stunden nach Zürich oder Venedig und zwanzig nach Paris, also ein richtiger Abstoßpunkt nach Europa. Freilich war es damals noch nicht die durch ihre Festspiele berühmte (und im Sommer snobistisch sich gebärdende) Rendezvousstadt der ›Prominenten‹ (sonst hätte ich sie mir nicht als Arbeitsort gewählt), sondern ein antiquarisches, schläfriges, romantisches Städtchen am letzten Abhänge der Alpen, die dort mit Bergen und Hügeln sanft in das deutsche Flachland übergehen. Der kleine bewaldete Hügel, auf dem ich wohnte, war gleichsam die letzte abklingende Welle dieses gewaltigen Bergzugs; unzugänglich für Autos und nur auf einem drei Jahrhunderte alten Kalvarienweg mit mehr als hundert Stufen zu erklimmen, bot er als Entgelt für diese Mühsal von seiner Terrasse einen zauberhaften Blick über Dächer und Giebel der vieltürmigen Stadt. Dahinter weitete sich das Panorama über die glorreiche Kette der Alpen (freilich auch auf den Salzberg bei Berchtesgaden, wo ein damals völlig unbekannter Mann namens Adolf Hitler mir bald gegenüber wohnen sollte). Das Haus selbst erwies sich als ebenso romantisch wie unpraktisch. Im siebzehnten Jahrhundert Jagdschlößchen eines Erzbischofs und an die mächtige Festungsmauer angelehnt, war es zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts zur Rechten und zur Linken um je ein Zimmer erweitert worden; eine prächtige alte Tapete und eine bemalte Kegelkugel, mit der Kaiser Franz 1807 bei einem Besuche in Salzburg eigenhändig im langen Gang dieses unseres Hauses Kegel geschoben, nebst einigen alten Pergamenten der verschiedenen Grundrechte waren sichtbare Zeugen seiner immerhin stattlichen Vergangenheit.

Daß dieses Schlößchen – es wirkte durch eine lange Front pompös, hatte aber nicht mehr als neun Räume, weil es nicht in die Tiefe ging – eine antike Kuriosität war, entzückte später unsere Gäste sehr; zur Zeit aber erwies sich seine historische Herkunft als Verhängnis. Wir fanden unser Heim in einem fast unbewohnbaren Zustand. Der Regen tropfte munter in die Zimmer, nach jedem Schnee schwammen die Gänge, und eine richtige Reparatur des Daches war unmöglich, denn die Zimmerleute hatten kein Holz für die Sparren, die Spengler kein Blei für die Rinnen; mühsam wurden mit Dachpappe die schlimmsten Lücken verklebt, und wenn neuer Schnee fiel, half nichts, als selbst auf das Dach zu klettern, um rechtzeitig die Last wegzuschaufeln. Das Telephon rebellierte, denn für den Leitungsdraht hatte man Eisen statt Kupfer genommen; jede Kleinigkeit mußte, da niemand lieferte, von uns selbst den Berg heraufgeschleppt werden. Aber das Schlimmste war die Kälte, denn Kohle gab es im weitesten Umkreis keine, das Holz aus dem Garten war zu frisch und zischte wie eine Schlange, statt zu heizen, und spuckte krachend, statt zu brennen. In der Not halfen wir uns mit Torf, der wenigstens einen Schein von Wärme gab, aber drei Monate lang habe ich meine Arbeiten fast nur im Bett mit blaugefrorenen Fingern geschrieben, die ich nach jeder beendeten Seite zur Wärmung immer wieder unter die Decke zog. Aber selbst diese unwirtliche Behausung mußte noch verteidigt werden, denn zur allgemeinen Not an Nahrungsmitteln und Heizung kam in diesem Katastrophenjahr noch die Wohnungsnot. Vier Jahre war in Österreich nicht gebaut worden, viele Häuser verfallen, und nun strömte plötzlich obdachlos die unzählbare Masse der entlassenen Soldaten und Kriegsgefangenen zurück, so daß zwangsläufig in jedem verfügbaren Zimmer eine Familie untergebracht werden sollte. Viermal kamen Kommissionen, aber wir hatten freiwillig längst schon zwei Räume abgegeben, und die Unwirtlichkeit und die Kälte unseres Hauses, die uns erst so feindlich gewesen, bewährten sich nun; niemand mehr wollte die hundert Stufen heraufklettern, um dann hier zu frieren.

Jeder Gang in die Stadt hinab war damals erschütterndes Erlebnis; zum erstenmal sah ich einer Hungersnot in die gelben und gefährlichen Augen. Das Brot krümelte sich schwarz und schmeckte nach Pech und Leim, Kaffee war ein Absud von gebrannter Gerste, Bier ein gelbes Wasser, Schokolade gefärbter Sand, die Kartoffeln erfroren; die meisten zogen sich, um den Geschmack von Fleisch nicht ganz zu vergessen, Kaninchen auf, in unserem Garten schoß ein junger Bursche Eichhörnchen als Sonntagsspeise ab, und wohlgenährte Hunde oder Katzen kamen nur selten von längeren Spaziergängen zurück. Was an Stoffen angeboten wurde, war in Wahrheit präpariertes Papier, Ersatz eines Ersatzes; die Männer schlichen fast ausschließlich in alten, sogar russischen Uniformen herum, die sie aus einem Depot oder einem Krankenhaus geholt hatten und in denen schon mehrere Menschen gestorben waren; Hosen, aus alten Säcken gefertigt, waren nicht selten. Jeder Schritt durch die Straßen, wo die Auslagen wie ausgeraubt standen, der Mörtel wie Grind von den verfallenen Häusern herabkrümelte und die Menschen, sichtlich unterernährt, sich nur mühsam zur Arbeit schleppten, machte einem die Seele verstört. Besser stand es am flachen Lande mit der Ernährung; bei dem allgemeinen Niederbruch der Moral dachte kein Bauer daran, seine Butter, seine Eier, seine Milch zu den gesetzlich festgelegten ›Höchstpreisen‹ abzugeben. Er hielt, was er konnte, in seinen Speichern versteckt und wartete, bis Käufer mit besserem Angebot zu ihm ins Haus kamen. Bald entstand ein neuer Beruf, das sogenannte ›Hamstern‹. Beschäftigungslose Männer nahmen ein oder zwei Rucksäcke und wanderten von Bauer zu Bauer, fuhren sogar mit der Bahn an besonders ergiebige Plätze, um illegal Lebensmittel aufzutreiben, die sie dann in der Stadt zum vierfachen und fünffachen Preise verhökerten. Erst waren die Bauern glücklich über das viele Papiergeld, das ihnen für ihre Eier und ihre Butter ins Haus regnete, und das sie ihrerseits ›hamsterten‹. Sobald sie aber mit ihren vollgestopften Brieftaschen in die Stadt kamen, um dort Waren einzukaufen, entdeckten sie zu ihrer Erbitterung, daß, während sie für ihre Lebensmittel nur das Fünffache verlangt hatten, die Sense, der Hammer, der Kessel, den sie kaufen wollten, unterdes um das Zwanzigfache oder Fünfzigfache im Preise gestiegen war. Von nun ab suchten sie nur industrielle Objekte sich beizulegen und forderten Sachwert für Sachwert. Ware für Ware; nachdem die Menschheit mit dem Schützengraben schon glücklich zur Höhlenzeit zurückgeschritten war, löste sie auch die tausendjährige Konvention des Geldes und kehrte zum primitiven Tauschwesen zurück. Durch das ganze Land begann ein grotesker Handel. Die Städter schleppten zu den Bauern hinaus, was sie entbehren konnten, chinesische Porzellanvasen und Teppiche, Säbel und Flinten, photographische Apparate und Bücher, Lampen und Zierat; so konnte man, wenn man in einen Salzburger Bauernhof trat, zu seiner Überraschung einen indischen Buddha einen anstarren sehen oder einen Rokokobücherschrank mit französischen Lederbänden aufgestellt finden, auf den die neuen Eigner mit besonderem Stolz sich viel zugute taten. ›Echtes Leder! Frankreich!‹ protzten sie mit breiten Backen. Substanz, nur kein Geld, das wurde die Parole. Manche mußten sich den Ehering vom Finger und den Lederriemen vom Leibe ziehen, nur um den Leib zu nähren.

Schließlich mengten sich die Behörden ein, um diesen Schleichhandel zu stoppen, der in seiner Praxis ausschließlich den Begüterten zugute kam; von Provinz zu Provinz wurden ganze Kordons aufgestellt, um auf Fahrrädern und Bahnen den ›Hamsterern‹ die Ware abzunehmen und den städtischen Ernährungsämtern zuzuteilen. Die Hamsterer antworteten, indem sie nach Wildwestart nächtliche Transporte organisierten oder die Aufsichtsbeamten, die selbst hungrige Kinder zu Hause hatten, bestachen; manchmal kam es zu wirklichen Schlachten mit Revolver und Messer, die diese Burschen nach vierjähriger Frontübung ebenso gut zu handhaben verstanden wie sich auf der Flucht im Gelände militärisch kunstgerecht zu verbergen. Von Woche zu Woche wurde das Chaos größer, die Bevölkerung aufgeregter. Denn von Tag zu Tag machte sich die Entwertung des Geldes fühlbarer. Die Nachbarstaaten hatten die alten österreichisch-ungarischen Noten durch eigene ersetzt und dem winzigen Österreich mehr oder minder die Hauptlast der alten ›Krone‹ zur Einlösung zugeworfen. Als erstes Zeichen des Mißtrauens in der Bevölkerung verschwand das Hartgeld, denn ein Stückchen Kupfer oder Nickel stellte immerhin ›Substanz‹ dar gegenüber dem bloß bedruckten Papier. Der Staat trieb zwar die Notenpresse zur Höchstleistung an, um möglichst viel solchen künstlichen Geldes nach Mephistopheles' Rezept zu schaffen, kam aber der Inflation nicht mehr nach; so begann jede Stadt, jedes Städtchen und schließlich jedes Dorf sich selbst ›Notgeld‹ zu drucken, das im Nachbardorf schon wieder zurückgewiesen und später in richtiger Erkenntnis seines Unwerts meist einfach weggeworfen wurde. Ein Nationalökonom, der alle diese Phasen plastisch zu beschreiben wüßte, die Inflation in Österreich zuerst und dann in Deutschland, könnte nach meinem Gefühl an Spannung leicht jeden Roman übertreffen, denn das Chaos nahm immer phantastischere Formen an. Bald wußte niemand mehr, was etwas kostete. Die Preise sprangen willkürlich; eine Schachtel Zündhölzer kostete in einem Geschäft, das rechtzeitig den Preis aufgeschlagen hatte, das Zwanzigfache wie in dem anderen, wo ein biederer Mann arglos seine Ware noch zum Preise von gestern verkaufte; zum Lohn für seine Redlichkeit war dann in einer Stunde sein Geschäft ausgeräumt, denn einer erzählte es dem andern, und jeder lief und kaufte, was verkäuflich war, gleichgültig ob er es benötigte oder nicht. Selbst ein Goldfisch oder ein altes Teleskop war immerhin ›Substanz‹, und jeder wollte Substanz statt Papier. Am groteskesten entwickelte sich das Mißverhältnis bei den Mieten, wo die Regierung zum Schutz der Mieter (welche die breite Masse darstellten) und zum Schaden der Hausbesitzer jede Steigerung untersagte. Bald kostete in Österreich eine mittelgroße Wohnung für das ganze Jahr ihren Mieter weniger als ein einziges Mittagessen; ganz Österreich hat eigentlich fünf oder zehn Jahre (denn auch nachher wurde eine Kündigung untersagt) mehr oder minder umsonst gewohnt. Durch dieses tolle Chaos wurde von Woche zu Woche die Situation widersinniger und unmoralischer. Wer vierzig Jahre gespart und überdies sein Geld patriotisch in Kriegsanleihe angelegt hatte, wurde zum Bettler. Wer Schulden besaß, war ihrer ledig. Wer korrekt sich an die Lebensmittelverteilung hielt, verhungerte; nur wer sie frech überschritt, aß sich satt. Wer zu bestechen wußte, kam vorwärts; wer spekulierte, profitierte. Wer gemäß dem Einkaufspreis verkaufte, war bestohlen; wer sorgfältig kalkulierte, blieb geprellt. Es gab kein Maß, keinen Wert innerhalb dieses Zerfließens und Verdampfens des Geldes; es gab keine Tugend als die einzige: geschickt, geschmeidig, bedenkenlos zu sein und dem jagenden Roß auf den Rücken zu springen, statt sich von ihm zertrampeln zu lassen.

Dazu kam, daß während im Wettersturz der Werte die Menschen in Österreich jedes Maß verloren, manche Ausländer erkannt hatten, daß bei uns im trüben gut zu fischen war. Das einzige, was während der Inflation – die drei Jahre anhielt und in immer schnellerem Tempo verlief – innerhalb des Landes stabilen Wert besaß, war das ausländische Geld. Jeder wollte, da die österreichischen Kronen wie Gallert unter den Fingern zerflossen, Schweizer Franken, amerikanische Dollars, und stattliche Massen von Ausländern nützten die Konjunktur aus, um sich an dem zuckenden Kadaver der österreichischen Krone anzufressen. Österreich wurde ›entdeckt‹ und erlebte eine verhängnisvolle ›Fremdensaison‹. Alle Hotels in Wien waren von diesen Aasgeiern überfüllt; sie kauften alles, von der Zahnbürste bis zum Landgut, sie räumten die Sammlungen von Privaten und die Antiquitätengeschäfte aus, ehe die Besitzer in ihrer Bedrängnis merkten, wie sehr sie beraubt und bestohlen wurden. Kleine Hotelportiers aus der Schweiz, Stenotypistinnen aus Holland wohnten in den Fürstenappartements der Ringstraßenhotels. So unglaublich das Faktum erscheint, ich kann es als Zeuge bekräftigen, daß das berühmte Luxushotel de l'Europe in Salzburg für längere Zeit ganz an englische Arbeitslose vermietet war, die dank der reichlichen englischen Arbeitslosenunterstützung hier billiger lebten als in ihren Slums zu Hause. Was nicht niet- und nagelfest war, verschwand; allmählich verbreitete sich die Nachricht, wie billig man in Österreich leben und kaufen könne, immer weiter, aus Schweden, aus Frankreich kamen neue gierige Gäste, man hörte auf den Straßen der inneren Stadt in Wien mehr italienisch, französisch, türkisch und rumänisch sprechen als deutsch. Sogar Deutschland, wo die Inflation zuerst in viel langsamerem Tempo vor sich ging – freilich um die unsere später um das Millionenfache zu überholen –, nutzte seine Mark gegen die zerfließende Krone aus. Salzburg als Grenzstadt gab mir beste Gelegenheit, diese täglichen Raubzüge zu beobachten. Zu Hunderten und Tausenden kamen aus den nachbarlichen Dörfern und Städten die Bayern herüber und ergossen sich über die kleine Stadt. Sie ließen sich hier ihre Anzüge schneidern, ihre Autos reparieren, sie gingen in die Apotheken und zum Arzt, große Firmen aus München gaben ihre Auslandsbriefe und Telegramme in Österreich auf, um an der Differenz des Portos zu profitieren. Schließlich wurde auf Betreiben der deutschen Regierung eine Grenzbewachung eingesetzt, um zu verhindern, daß alle Bedarfsgegenstände statt in den heimischen Läden in dem billigeren Salzburg gekauft wurden, wo man schließlich für eine Mark siebzig österreichische Kronen erhielt, und energisch wurde am Zollamt jede aus Österreich stammende Ware konfisziert. Aber ein Artikel blieb frei, den man nicht konfiszieren konnte: das Bier, das einer im Leibe hatte. Und die biertrinkenden Bayern rechneten es sich am Kurszettel von Tag zu Tag aus, ob sie im Salzburgischen infolge der Entwertung der Krone fünf oder sechs oder zehn Liter Bier für denselben Preis trinken konnten, den sie zu Hause für einen einzigen Liter zahlen mußten. Eine herrlichere Lockung war nicht zu erdenken, und so zogen mit Weibern und Kindern Scharen aus dem nachbarlichen Freilassing und Reichenhall herüber, um sich den Luxus zu leisten, so viel Bier in sich hineinzuschwemmen, als der Bauch nur fassen konnte. Jeden Abend zeigte der Bahnhof ein wahres Pandämonium betrunkener, grölender, rülpsender, speiender Menschenhorden; manche, die sich zu stark überladen, mußten auf den Rollwagen, die man sonst zu Koffertransporten benutzte, zu den Waggons geschafft werden, ehe der Zug, gefüllt mit bacchantischem Geschrei und Gesang, wieder zurückfuhr in ihr Land. Freilich, sie ahnten nicht, die fröhlichen Bayern, daß ihnen eine fürchterliche Revanche bevorstand. Denn als die Krone sich stabilisierte und dagegen die Mark in astronomischen Proportionen niederstürzte, fuhren vom selben Bahnhof die Österreicher hinüber, um ihrerseits sich billig zu betrinken, und das gleiche Schauspiel begann zum zweitenmal, allerdings in der entgegengesetzten Richtung. Dieser Bierkrieg inmitten der beiden Inflationen gehört zu meinen sonderbarsten Erinnerungen, weil er plastisch-grotesk im kleinen den ganzen Irrsinnscharakter jener Jahre vielleicht am deutlichsten aufzeigt.

Das Merkwürdigste ist, daß ich mich heute mit bestem Willen nicht mehr zu erinnern vermag, wie wir in diesen Jahren in unserem Hause gewirtschaftet haben, woher eigentlich jeder in Österreich immer wieder die Tausende und Zehntausende Kronen und dann in Deutschland die Millionen aufbrachte, die man täglich zum nackten Leben verbrauchte. Aber das Geheimnisvolle war: man hatte sie. Man gewöhnte sich, man paßte sich dem Chaos an. Logischerweise müßte ein Ausländer, der jene Zeit nicht mitgemacht hat, sich vorstellen, in einer Zeit, wo ein Ei in Österreich so viel kostete wie früher ein Luxusautomobil und in Deutschland später mit vier Milliarden Mark soviel etwa wie vordem der Grundwert aller Häuser Groß-Berlins – bezahlt wurde, seien die Frauen mit zerrauftem Haar wie wahnsinnig durch die Straßen gestürzt, die Geschäfte verödet gewesen, weil niemand mehr etwas kaufen konnte, und vor allem die Theater und Vergnügungsstätten hätten völlig leergestanden. Aber erstaunlicherweise war genau das Gegenteil der Fall. Der Wille zur Kontinuität des Lebens erwies sich stärker als die Labilität des Geldes. Mitten im finanziellen Chaos ging das tägliche Leben beinahe ungestört weiter. Individuell änderte sich sehr viel, Reiche wurden arm, da das Geld in ihren Banken, ihren Staatspapieren zerfloß, Spekulanten wurden reich. Aber das Schwungrad drehte sich, unbekümmert über das Schicksal der einzelnen, hinweg im selben Rhythmus, nichts stand still; der Bäcker buk sein Brot, der Schuster machte seine Stiefel, der Schriftsteller schrieb seine Bücher, der Bauer bestellte das Land, die Züge verkehrten regelmäßig, jeden Morgen lag die Zeitung um die gewohnte Stunde vor der Tür, und gerade die Vergnügungslokale, die Bars, die Theater waren überfüllt. Denn eben durch das Unerwartete, daß das einstmals Stabilste, das Geld, täglich an Wert verlor, schätzten die Menschen die wirklichen Werte des Lebens – Arbeit, Liebe, Freundschaft, Kunst und Natur – um so höher, und das ganze Volk lebte inmitten der Katastrophe intensiver und gespannter als je; Burschen und Mädel wanderten in die Berge und kamen sonnengebräunt heim, die Tanzlokale musizierten bis spät in die Nacht, neue Fabriken und Geschäfte wurden überall gegründet; ich selbst glaube kaum je intensiver gelebt und gearbeitet zu haben als in jenen Jahren. Was uns vordem wichtig gewesen, wurde noch wichtiger; nie haben wir in Österreich mehr die Kunst geliebt als in jenen Jahren des Chaos, weil wir am Verrat des Geldes fühlten, daß nur das Ewige in uns das wirklich Beständige war.

Nie werde ich zum Beispiel eine Opernaufführung vergessen aus jenen Tagen der äußersten Not. Man tastete sich durch halbdunkle Straßen hin, denn die Beleuchtung mußte wegen der Kohlennot eingeschränkt werden, man zahlte seinen Galerieplatz mit einem Bündel Banknoten, das früher für das Jahresabonnement einer Luxusloge ausgereicht hätte. Man saß in seinem Überzieher, denn der Saal war nicht geheizt, und drängte sich gegen den Nachbarn, um sich zu wärmen; und wie trist, wie grau war dieser Saal, der früher geglänzt von Uniformen und kostbaren Toiletten! Niemand wußte, ob es möglich sein würde, nächste Woche die Oper noch fortzuführen, wenn der Schwund des Geldes weiter andauerte und die Kohlensendungen nur eine einzige Woche ausblieben; alles schien doppelt verzweifelt in diesem Haus des Luxus und kaiserlichen Überschwangs. An den Pulten saßen die Philharmoniker, graue Schatten auch sie, in ihren alten, abgetragenen Fräcken, ausgezehrt und von allen Entbehrungen erschöpft, und wie Gespenster wir selbst in dem gespenstisch gewordenen Haus. Aber dann hob der Dirigent den Taktstock, der Vorhang teilte sich und es war herrlich wie nie. Jeder Sänger, jeder Musiker gab sein Letztes, denn sie alle fühlten, vielleicht war es das letzte Mal in diesem geliebten Haus. Und wir horchten und lauschten, aufgetan wie nie zuvor, denn vielleicht war es das letzte Mal. So lebten wir alle, wir Tausende, wir Hunderttausende; jeder gab seine äußerste Kraft in diesen Wochen und Monaten und Jahren, eine Spanne vor dem Untergang. Nie habe ich bei einem Volke und in mir selbst den Willen zum Leben so stark empfunden wie damals, als es um das Letzte ging: um die Existenz, um das Überdauern.

Dennoch und trotz allem: ich wäre in Verlegenheit, irgend jemandem zu erklären, wie das ausgeplünderte, arme, unselige Österreich damals erhalten geblieben ist. Zur Rechten hatte sich in Bayern die kommunistische Räterepublik etabliert, zur Linken war Ungarn unter Bela Kun bolschewistisch geworden; noch heute bleibt es mir unbegreiflich, daß die Revolution nicht auf Österreich übergriff. An Explosivstoff fehlte es wahrhaftig nicht. In den Straßen irrten die heimgekehrten Soldaten halb verhungert und in zerrissenen Kleidern umher und sahen erbittert auf den schamlosen Luxus der Profiteure des Kriegs und der Inflation, in den Kasernen stand ein Bataillon ›rote Garde‹ schon schußbereit, und keinerlei Gegenorganisation existierte. Zweihundert entschlossene Männer hätten damals Wien und ganz Österreich in die Hand bekommen können. Aber nichts Ernstliches geschah. Ein einziges Mal versuchte eine undisziplinierte Gruppe einen Putsch, der von vier oder fünf Dutzend bewaffneter Polizisten ohne Mühe niedergeschlagen wurde. So wurde das Wunder Wirklichkeit; dies von seinen Kraftquellen, seinen Fabriken, seinen Kohlengruben, seinen Ölfeldern abgeschnittene, dies ausgeplünderte Land mit einer wertlos gewordenen, lawinenhaft abrutschenden Papierwährung erhielt sich, behauptete sich, – vielleicht dank seiner Schwäche, weil die Menschen zu kraftlos, zu ausgehungert waren, um noch für etwas zu kämpfen, vielleicht aber auch durch seine geheimste, seine typisch österreichische Kraft: seine eingeborene Konzilianz. Denn die beiden größten Parteien, die sozialdemokratische und die christlichsoziale, verbanden sich in dieser schwersten Stunde trotz ihrem tiefinnerlichen Gegensatz zu gemeinsamer Regierung. Jede machte der andern Konzessionen, um eine Katastrophe zu verhindern, die ganz Europa mit sich gerissen hätte. Langsam begannen sich die Verhältnisse zu ordnen, zu konsolidieren, und zu unserem eigenen Staunen ereignet sich das Unglaubhafte: dieser verstümmelte Staat bestand fort und war sogar später willens, seine Unabhängigkeit zu verteidigen, als Hitler kam, diesem opferwilligen, treuen und in Entbehrungen großartig tapferen Volke seine Seele zu nehmen.

Aber nur äußerlich und im politischen Sinne war der radikale Umsturz abgewehrt; innerlich vollzog sich eine ungeheure Revolution in diesen ersten Nachkriegsjahren. Etwas war mit den Armeen zerschlagen worden: der Glaube an die Unfehlbarkeit der Autoritäten, zu dem man unsere eigene Jugend so überdemütig erzogen. Aber hätten die Deutschen ihren Kaiser weiter bewundern sollen, der geschworen hatte zu kämpfen ›bis zum letzten Hauch von Mann und Roß‹ und bei Nacht und Nebel über die Grenze geflüchtet war, oder ihre Heerführer, ihre Politiker oder die Dichter, die unablässig Krieg auf Sieg und Not auf Tod gereimt? Grauenhaft wurde erst jetzt, da der Pulverdampf sich über dem Lande verzog, die Verwüstung sichtbar, die der Krieg hervorgerufen. Wie sollte ein Sittengebot noch als heilig gelten, das vier Jahre lang Mord und Raub unter dem Namen Heldentum und Requisition verstattet? Wie sollte ein Volk den Versprechungen des Staates glauben, der alle ihm unbequemen Verpflichtungen gegenüber dem Bürger annulliert? Und nun hatten dieselben Menschen, derselbe Klüngel der Alten, der sogenannten Erfahrenen, die Torheit des Krieges noch durch das Stümperwerk ihres Friedens übertroffen. Alle wissen heute – und wir Wenigen wußten es schon damals –, daß dieser Friede eine, wenn nicht die größte moralische Möglichkeit der Geschichte gewesen war. Wilson hatte sie erkannt. Er hatte in einer weitreichenden Vision den Plan vorgezeichnet zu einer wahrhaften und dauernden Weltverständigung. Aber die alten Generäle, die alten Staatsmänner, die alten Interessen hatten das große Konzept zerschnitten und zerstückelt zu wertlosen Fetzen Papier. Das große, das heilige Versprechen, das man den Millionen gegeben, dieser Krieg würde der letzte sein, dieses Versprechen, das allein noch aus schon halb enttäuschten, halb erschöpften und verzweifelten Soldaten die letzte Kraft geholt, wurde zynisch den Interessen der Munitionsfabrikanten und der Spielwut der Politiker aufgeopfert, die ihre alte, verhängnisvolle Taktik der Geheimverträge und Verhandlungen hinter geschlossenen Türen vor Wilsons weiser und humaner Forderung triumphierend zu retten wußten. So weit sie wache Augen hatte, sah die Welt, daß sie betrogen worden war. Betrogen die Mütter, die ihre Kinder geopfert, betrogen die Soldaten, die als Bettler heimkehrten, betrogen all jene, die patriotisch Kriegsanleihe gezeichnet, betrogen jeder, der einer Versprechung des Staates Glauben geschenkt, betrogen wir alle, die geträumt von einer neuen und besser geordneten Welt und nun sahen, daß das alte Spiel, in dem unsere Existenz, unser Glück, unsere Zeit, unsere Habe den Einsatz stellten, von ebendenselben oder von neuen Hasardeuren wieder begonnen wurde. Was Wunder, wenn da eine ganz junge Generation erbittert und verachtungsvoll auf ihre Väter blickte, die sich erst den Sieg hatten nehmen lassen und dann den Frieden? Die alles schlecht gemacht, die nichts vorausgesehen und in allem falsch gerechnet? War es nicht verständlich, wenn jedwede Form des Respekts verschwand bei dem neuen Geschlecht? Eine ganze neue Jugend glaubte nicht mehr den Eltern, den Politikern, den Lehrern; jede Verordnung, jede Proklamation des Staates wurde mit mißtrauischem Blick gelesen. Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die Zukunft. Eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung sollte auf jedem Gebiete des Lebens mit ihr beginnen; und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen. Wer oder was nicht gleichaltrig war, galt als erledigt. Statt wie vordem mit ihren Eltern zu reisen, zogen elfjährige, zwölfjährige Kinder in organisierten und sexuell gründlich instruierten Scharen als ›Wandervögel‹ durch das Land bis nach Italien und an die Nordsee. In den Schulen wurden nach russischem Vorbild Schülerräte eingesetzt, welche die Lehrer überwachten, der ›Lehrplan‹ umgestoßen, denn die Kinder sollten und wollten bloß lernen, was ihnen gefiel. Gegen jede gültige Form wurde aus bloßer Lust an der Revolte revoltiert, sogar gegen den Willen der Natur, gegen die ewige Polarität der Geschlechter. Die Mädchen ließen sich die Haare schneiden, und zwar so kurz, daß man sie in ihren ›Bubiköpfen‹ von Burschen nicht unterscheiden konnte, die jungen Männer wiederum rasierten sich die Bärte, um mädchenhafter zu erscheinen, Homosexualität und Lesbierinnentum wurden nicht aus innerem Trieb, sondern als Protest gegen die althergebrachten, die legalen, die normalen Liebesformen große Mode. Jede Ausdrucksform des Daseins bemühte sich, radikal und revolutionär aufzutrumpfen, selbstverständlich auch die Kunst. Die neue Malerei erklärte alles, was Rembrandt, Holbein und Velasquez geschaffen, für abgetan und begann die wildesten kubistischen und surrealistischen Experimente. Überall wurde das verständliche Element verfemt, die Melodie in der Musik, die Ähnlichkeit im Porträt, die Faßlichkeit in der Sprache. Die Artikel, ›der, die, das‹ wurden ausgeschaltet, der Satzbau auf den Kopf gestellt, man schrieb ›steil‹ und ›keß‹ im Telegrammstil, mit hitzigen Interjektionen, außerdem wurde jede Literatur, die nicht aktivistisch war, das heißt, nicht politisch theoretisierte, auf den Müllhaufen geworfen. Die Musik suchte starrsinnig eine neue Tonalität und spaltete die Takte, die Architektur drehte die Häuser von innen nach außen, im Tanz verschwand der Walzer vor kubanischen und negroiden Figuren, die Mode erfand mit starker Betonung der Nacktheit immer andere Absurditäten, im Theater spielte man ›Hamlet‹ im Frack und versuchte explosive Dramatik. Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte; je jünger einer war, je weniger er gelernt hatte, desto willkommener war er durch seine Unverbundenheit mit jeder Tradition – endlich tobte sich die große Rache der Jugend gegen unsere Elternwelt triumphierend aus. Aber inmitten dieses wüsten Karnevals bot mir nichts ein tragikomischeres Schauspiel als zu sehen, wie viele Intellektuelle der älteren Generation in der panischen Angst, überholt zu werden und als ›unaktuell‹ zu gelten, sich verzweifelt rasch eine künstliche Wildheit anschminkten und auch den offenkundigsten Abwegen täppisch hinkenden Schritts nachzuschleichen suchten. Biedere, brave, graubärtige Akademieprofessoren übermalten ihre einstigen, jetzt unverkäuflich gewordenen ›Stilleben‹ mit symbolischen Würfeln und Kuben, weil die jungen Direktoren (überall suchte man jetzt Junge und besser noch: Jüngste) alle andern Bilder als zu ›klassizistisch‹ aus den Galerien räumten und ins Depot stellten. Schriftsteller, die jahrzehntelang ein rundes, klares Deutsch geschrieben, zerhackten folgsam ihre Sätze und exzedierten in ›Aktivismus‹, behäbige preußische Geheimräte dozierten auf dem Katheder Karl Marx, alte Hofballerinen tanzten dreiviertelnackt mit ›gesteilten‹ Verrenkungen die ›Appassionata‹ Beethovens und Schönbergs ›Verklärte Nacht‹. Überall lief das Alter verstört der letzten Mode nach; es gab plötzlich nur den einen Ehrgeiz, ›jung‹ zu sein und hinter der gestern noch aktuellen eine noch aktuellere, noch radikalere und noch nie dagewesene Richtung prompt zu erfinden.

Welch eine wilde, anarchische, unwahrscheinliche Zeit, jene Jahre, da mit dem schwindenden Wert des Geldes alle andern Werte in Österreich und Deutschland ins Rutschen kamen! Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten: Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Somnambulismus, Anthroposophie, Handleserei, Graphologie, indische Yoghilehren und paracelsischer Mystizismus. Alles, was äußerste Spannungen über die bisher bekannten hinausversprach, jede Form des Rauschgifts, Morphium, Kokain und Heroin, fand reißenden Absatz, in den Theaterstücken bildeten Inzest und Vatermord, in der Politik Kommunismus oder Faschismus die einzig erwünschte extreme Thematik; unbedingt verfemt hingegen war jede Form der Normalität und der Mäßigung. Aber ich möchte sie nicht missen, diese chaotische Zeit, nicht aus meinem eigenen Leben, nicht aus der Entwicklung der Kunst. Wie jede geistige Revolution im ersten Anschwung orgiastisch vorstoßend, hat sie die Luft vom Stickig-Traditionellen reingefegt, die Spannungen vieler Jahre entladen, und wertvolle Anregungen sind trotz allem von ihren verwegenen Experimenten zurückgeblieben. So sehr uns ihre Übertriebenheiten befremdeten, wir fühlten doch kein Recht, sie zu tadeln und hochmütig abzulehnen, denn im Grunde versuchte diese neue Jugend gutzumachen wenn auch zu hitzig, zu ungeduldig –, was unsere Generation durch Vorsicht und Abseitigkeit versäumt. Im Innersten war ihr Instinkt richtig, daß die Nachkriegszeit anders sein müsse als die des Vorkriegs; und eine neue Zeit, eine bessere Welt – hatten wir Älteren sie nicht ebenso gewollt vor dem Kriege und während des Krieges? Freilich, auch nach dem Kriege hatten wir, die Älteren, neuerdings unsere Unfähigkeit bewiesen, der gefährlichen Neu-Politisierung der Welt rechtzeitig eine übernationale Organisation entgegenzustellen. Noch während der Friedensverhandlungen hatte zwar Henri Barbusse, dem sein Roman ›Le Feu‹ eine Weltstellung gegeben, versucht, eine Einigung aller europäischen Intellektuellen im Sinne der Versöhnung einzuleiten. ›Clarté‹ sollte diese Gruppe sich nennen – die Klardenkenden – und die Schriftsteller und Künstler aller Nationen zum Gelöbnis vereinigen, in Hinkunft jeder Verhetzung der Völker entgegenzutreten. Barbusse hatte mir und René Schickele gemeinsam die Führung der deutschen Gruppe angetragen und damit den schwierigeren Teil der Aufgabe, denn in Deutschland brannte noch die Erbitterung über den Friedensvertrag von Versailles. Es war wenig aussichtsreich, Deutsche von Rang für einen geistigen Übernationalismus zu gewinnen, solange das Rheinland, die Saar und der Mainzer Brückenkopf noch von fremden Truppen besetzt waren. Dennoch wäre es gelungen, eine Organisation zu schaffen, wie sie Galsworthy später mit dem P.E.N.-Klub verwirklichte, wenn uns Barbusse nicht im Stich gelassen hätte. Verhängnisvollerweise hatte eine Reise nach Rußland ihn durch den Enthusiasmus, der dort aus den großen Massen seiner Person entgegenbrandete, zur Überzeugung geführt, bürgerliche Staaten und Demokratien seien unfähig, eine wahre Verbrüderung der Völker herbeizuführen, und nur im Kommunismus sei eine Weltverbrüderung denkbar. Unmerklich suchte er aus ›Clarté‹ ein Instrument des Klassenkampfes zu machen, wir aber verweigerten uns einer Radikalisierung, die unsere Reihen notwendigerweise schwächen mußte. So fiel auch dies an sich bedeutende Projekt vorzeitig in sich zusammen. Wieder hatten wir im Kampf um die geistige Freiheit versagt aus zu großer Liebe zur eigenen Freiheit und Unabhängigkeit.

So blieb nur eines: still und zurückgezogen sein eigenes Werk zu tun. Für die Expressionisten und – wenn ich so sagen darf – Exzessionisten war ich mit meinen sechsunddreißig Jahren schon in die ältere, in die eigentlich bereits verstorbene Generation abgerückt, weil ich mich weigerte, mich ihnen äffisch anzupassen. Meine früheren Arbeiten gefielen mir selbst nicht mehr, ich ließ keines jener Bücher aus meiner ›ästhetischen‹ Zeit mehr neu auflegen. Somit hieß es noch einmal beginnen und abwarten, bis die ungeduldige Welle all dieser ›Ismen‹ rückwärts lief, und für dieses Sich-Bescheiden kam mir mein Mangel an persönlichem Ehrgeiz förderlich zugute. Ich begann die große Serie der ›Baumeister der Welt‹ gerade um der Gewißheit willen, damit Jahre beschäftigt zu bleiben, ich schrieb Novellen wie ›Amok‹ und ›Brief einer Unbekannten‹ in völlig unaktivistischer Gelassenheit. Das Land um mich, die Welt um mich begannen allmählich in Ordnung zu kommen, so durfte auch ich nicht mehr zögern; vorbei war die Zeit, wo ich mir vortäuschen konnte, alles, was ich beginne, sei nur provisorisch. Die Mitte des Lebens war erreicht, das Alter der bloßen Versprechungen vorüber; jetzt galt es, das Verheißene zu bekräftigen und sich selbst zu bewähren oder sich endgültig aufzugeben.


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