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Glanz und Schatten über Europa

Nun hatte ich zehn Jahre des neuen Jahrhunderts gelebt, Indien, ein Stück von Amerika und Afrika gesehen; mit einer neuen, wissenderen Freude begann ich auf unser Europa zu blicken. Nie habe ich unsere alte Erde mehr geliebt als in diesen letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nie mehr auf Europas Einigung gehofft, nie mehr an seine Zukunft geglaubt als in dieser Zeit, da wir meinten, eine neue Morgenröte zu erblicken. Aber es war in Wahrheit schon der Feuerschein des nahenden Weltbrands.

Es ist vielleicht schwer, der Generation von heute, die in Katastrophen, Niederbrüchen und Krisen aufgewachsen ist, denen Krieg eine ständige Möglichkeit und eine fast tägliche Erwartung gewesen, den Optimismus, das Weltvertrauen zu schildern, die uns junge Menschen seit jener Jahrhundertwende beseelten. Vierzig Jahre Frieden hatten den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, die Technik den Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europas fast gleichmäßig zu fühlen war. Die Städte wurden schöner und volkreicher von Jahr zu Jahr, das Berlin von 1905 glich nicht mehr jenem, das ich 1901 gekannt, aus der Residenzstadt war eine Weltstadt geworden und war schon wieder großartig überholt von dem Berlin von 1910. Wien, Mailand, Paris, London, Amsterdam – wann immer man wiederkam, war man erstaunt und beglückt; breiter, prunkvoller wurden die Straßen, machtvoller die öffentlichen Bauten, luxuriöser und geschmackvoller die Geschäfte. Man spürte es an allen Dingen, wie der Reichtum wuchs und wie er sich verbreitete; selbst wir Schriftsteller merkten es an den Auflagen, die sich in dieser einen Spanne von zehn Jahren verdreifachten, verfünffachten, verzehnfachten. Überall entstanden neue Theater, Bibliotheken, Museen; Bequemlichkeiten, die wie Badezimmer und Telephon vordem das Privileg enger Kreise gewesen, drangen ein in die kleinbürgerlichen Kreise, und von unten stieg, seit die Arbeitszeit verkürzt war, das Proletariat empor, Anteil wenigstens an den kleinen Freuden und Behaglichkeiten des Lebens zu nehmen. Überall ging es vorwärts. Wer wagte, gewann. Wer ein Haus, ein seltenes Buch, ein Bild kaufte, sah es im Werte steigen, je kühner, je großzügiger ein Unternehmen angelegt wurde, um so sicherer lohnte es sich. Eine wunderbare Unbesorgtheit war damit über die Welt gekommen, denn was sollte diesen Aufstieg unterbrechen, was den Elan hemmen, der aus seinem eigenen Schwung immer neue Kräfte zog? Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft; niemand außer ein paar schon verhutzelten Greisen klagte wie vordem um die ›gute alte Zeit‹.

Aber nicht nur die Städte, auch die Menschen selbst wurden schöner und gesünder dank des Sports, der besseren Ernährung, der verkürzten Arbeitszeit und der innigeren Bindung an die Natur. Der Winter, früher eine Zeit der Öde, von den Menschen mißmutig bei Kartenspielen in Wirtshäusern oder gelangweilt in überheizten Stuben vertan, war auf den Bergen entdeckt worden als eine Kelter gefilterter Sonne, als Nektar für die Lungen, als Wollust der blutdurchjagten Haut. Und die Berge, die Seen, das Meer lagen nicht mehr so fernab wie einst. Das Fahrrad, das Automobil, die elektrischen Bahnen hatten die Distanzen zerkleinert und der Welt ein neues Raumgefühl gegeben. Sonntags sausten in grellen Sportjacken auf Skiern und Rodeln Tausende und Zehntausende die Schneehalden hinab, überall entstanden Sportpaläste und Schwimmbäder. Und gerade im Schwimmbad konnte man die Verwandlung deutlich gewahren; während in meinen Jugendjahren ein wirklich wohlgewachsener Mann auffiel inmitten der Dickhälse, Schmerbäuche und eingefallenen Brüste, wetteifern jetzt miteinander turnerisch gelenkige, von Sonne gebräunte, von Sport gestraffte Gestalten in antikisch heiterem Wettkampf. Niemand außer den Allerärmsten blieb sonntags mehr zu Hause, die ganze Jugend wanderte, kletterte und kämpfte, in allen Sportarten geschult; wer Ferien hatte, zog nicht mehr wie in meiner Eltern Tage in die Nähe der Stadt oder bestenfalls ins Salzkammergut, man war neugierig auf die Welt geworden, ob sie überall so schön sei und noch anders schön; während früher nur die Privilegierten das Ausland gesehen, reisten jetzt Bankbeamte und kleine Gewerbsleute nach Italien, nach Frankreich. Es war billiger, es war bequemer geworden, das Reisen, und vor allem: es war der neue Mut, die neue Kühnheit in den Menschen, die sich auch verwegener machte im Wandern, weniger ängstlich und sparsam im Leben –, ja, man schämte sich, ängstlich zu sein. Die ganze Generation entschloß sich, jugendlicher zu werden, jeder war im Gegensatz zu meiner Eltern Welt stolz darauf, jung zu sein; plötzlich verschwanden zuerst bei den Jüngeren die Barte, dann ahmten ihnen die Älteren nach, um nicht als alt zu gelten. Jungsein, Frischsein und nicht mehr Würdigtun wurde die Parole. Die Frauen warfen die Korsetts weg, die ihnen die Brüste eingeengt, sie verzichteten auf die Sonnenschirme und Schleier, weil sie Luft und Sonne nicht mehr scheuten, sie kürzten die Röcke, um besser beim Tennis die Beine regen zu können, und zeigten keine Scham mehr, die wohlgewachsenen sichtbar werden zu lassen. Die Mode wurde immer natürlicher, Männer trugen Breeches, Frauen wagten sich in den Herrensattel, man verhüllte, man versteckte sich nicht mehr voreinander. Die Welt war nicht nur schöner, sie war auch freier geworden.

Es war die Gesundheit, das Selbstvertrauen des nach uns gekommenen neuen Geschlechts, das sich diese Freiheit auch in der Sitte eroberte. Zum erstenmal sah man schon junge Mädchen ohne Gouvernante mit jungen Freunden auf Ausflügen und bei dem Sport in offener und selbstsicherer Kameradschaft; sie waren nicht mehr ängstlich und prüde, sie wußten, was sie wollten und was sie nicht wollten. Der Angstkontrolle der Eltern entkommen, als Sekretärinnen, Beamtinnen ihr Leben selber verdienend, nahmen sie sich das Recht, ihr Leben selber zu formen. Die Prostitution, diese einzig erlaubte Liebesinstitution der alten Welt, nahm zusehends ab, dank dieser neuen und gesünderen Freiheit, jede Form von Prüderie wurde zur Altmodischkeit. In den Schwimmbädern wurde immer häufiger die hölzerne Planke, die bisher unerbittlich das Herrenbad vom Damenbad getrennt, niedergerissen, Frauen und Männer schämten sich nicht mehr, zu zeigen, wie sie gewachsen waren; in diesen zehn Jahren war mehr Freiheit, Ungezwungenheit, Unbefangenheit zurückgewonnen worden als vordem in hundert Jahren.

Denn ein anderer Rhythmus war in der Welt. Ein Jahr, was geschah jetzt alles in einem Jahr! Eine Erfindung, eine Entdeckung jagte die andere, und jede wiederum wurde im Fluge allgemeines Gut, zum erstenmal fühlten die Nationen gemeinsamer, wenn es das Gemeinsame galt. Ich war am Tage, da der Zeppelin sich zur ersten Reise aufschwang, auf dem Wege nach Belgien zufällig in Straßburg, wo er unter dem dröhnenden Jubel der Menge das Münster umkreiste, als wollte er, der Schwebende, vor dem tausendjährigen Werke sich neigen. Abends in Belgien bei Verhaeren kam die Nachricht, daß das Luftschiff in Echterdingen zerschellt sei. Verhaeren hatte Tränen in den Augen und war furchtbar erregt. Nicht war er etwa als Belgier gleichgültig gegen die deutsche Katastrophe, sondern als Europäer, als Mann unserer Zeit empfand er ebenso den gemeinsamen Sieg über die Elemente wie die gemeinsame Prüfung. Wir jauchzten in Wien, als Blériot den Ärmelkanal überflog, als wäre es ein Held unserer Heimat; aus Stolz auf die sich stündlich überjagenden Triumphe unserer Technik, unserer Wissenschaft war zum erstenmal ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewußtsein im Werden. Wie sinnlos, sagten wir uns, diese Grenzen, wenn sie jedes Flugzeug spielhaft leicht überschwingt, wie provinziell, wie künstlich diese Zollschranken und Grenzwächter, wie widersprechend dem Sinn unserer Zeit, der sichtlich Bindung und Weltbrüderschaft begehrt! Dieser Aufschwung des Gefühls war nicht weniger wunderbar als jener der Aeroplane; ich bedaure jeden, der nicht jung diese letzten Jahre des Vertrauens in Europa miterlebt hat. Denn die Luft um uns ist nicht tot und nicht leer, sie trägt in sich die Schwingung und den Rhythmus der Stunde. Sie preßt ihn unbewußt in unser Blut, bis tief ins Herz und ins Hirn leitet sie ihn fort. In diesen Jahren hat jeder einzelne von uns Kraft aus dem allgemeinen Aufschwung der Zeit in sich gesogen und seine persönliche Zuversicht gesteigert aus der kollektiven. Vielleicht haben wir, undankbar wie wir Menschen sind, damals nicht gewußt, wie stark, wie sicher uns die Welle trug. Aber nur wer diese Epoche des Weltvertrauens miterlebt hat, weiß, daß alles seitdem Rückfall und Verdüsterung gewesen.

Herrlich war diese tonische Welt von Kraft, die von allen Küsten Europas gegen unsere Herzen schlug. Aber was uns beglückte, war, ohne daß wir es ahnten, zugleich Gefahr. Der Sturm von Stolz und Zuversicht, der damals Europa überbrauste, trug auch Wolken mit sich. Der Aufstieg war vielleicht zu rasch gekommen, die Staaten, die Städte zu hastig mächtig geworden, und immer verleitet das Gefühl von Kraft Menschen wie Staaten, sie zu gebrauchen oder zu mißbrauchen. Frankreich strotzte von Reichtum. Aber es wollte noch mehr, wollte noch eine Kolonie, obwohl es gar keine Menschen hatte für die alten; beinahe kam es um Marokkos willen zum Kriege. Italien wollte die Cyrenaica, Österreich annektierte Bosnien. Serbien und Bulgarien wiederum stießen gegen die Türkei vor, und Deutschland, vorläufig noch ausgeschaltet, spannte schon die Pranke zum zornigen Hieb. Überall stieg das Blut den Staaten kongestionierend zu Kopf. Aus dem fruchtbaren Willen zur inneren Konsolidierung begann sich überall zugleich, als ob es bazillische Ansteckung wäre, eine Gier nach Expansion zu entwickeln. Die französischen Industriellen, die dick verdienten, hetzten gegen die deutschen, die ebenso im Fett saßen, weil beide mehr Lieferungen von Kanonen wollten, Krupp und Schneider-Creusot. Die Hamburger Schiffahrt mit ihren riesigen Dividenden arbeitete gegen die von Southampton, die ungarischen Landwirte gegen die serbischen, die einen Konzerne gegen die andern – die Konjunktur hatte sie alle toll gemacht, hüben und drüben, nach einem wilden Mehr und Mehr. Wenn man heute ruhig überlegend sich fragt, warum Europa 1914 in den Krieg ging, findet man keinen einzigen Grund vernünftiger Art und nicht einmal einen Anlaß. Es ging um keine Ideen, es ging kaum um die kleinen Grenzbezirke; ich weiß es nicht anders zu erklären als mit diesem Überschuß an Kraft, als tragische Folge jenes inneren Dynamismus, der sich in diesen vierzig Jahren Frieden aufgehäuft hatte und sich gewaltsam entladen wollte. Jeder Staat hatte plötzlich das Gefühl, stark zu sein und vergaß, daß der andere genauso empfand, jeder wollte noch mehr und jeder etwas von dem andern. Und das Schlimmste war, daß gerade jenes Gefühl uns betrog, das wir am meisten liebten: unser gemeinsamer Optimismus. Denn jeder glaubte, in letzter Minute werde der andere doch zurückschrecken; so begannen die Diplomaten ihr Spiel des gegenseitigen Bluffens. Viermal, fünfmal, bei Agadir, im Balkankrieg, in Albanien blieb es beim Spiel; aber die großen Koalitionen formten sich immer enger, immer militärischer. In Deutschland wurde eine Kriegssteuer eingeführt mitten im Frieden, in Frankreich die Dienstzeit verlängert; schließlich mußte sich die Überkraft entladen, und die Wetterzeichen am Balkan zeigten die Richtung, von der die Wolken sich schon Europa näherten.

Es war noch keine Panik, aber doch eine ständige schwelende Unruhe; immer fühlten wir ein leises Unbehagen, wenn vom Balkan her die Schüsse knatterten. Sollte wirklich der Krieg uns überfallen, ohne daß wir es wußten, warum und wozu? Langsam – allzu langsam, allzu zaghaft, wie wir heute wissen! – sammelten sich die Gegenkräfte. Da war die sozialistische Partei, Millionen von Menschen hüben und Millionen drüben, die in ihrem Programm den Krieg verneinten, da waren die mächtigen katholischen Gruppen unter der Führung des Papstes und einige international verquickte Konzerne, da waren einige wenige verständige Politiker, die gegen jene unterirdischen Treibereien sich auflehnten. Und auch wir standen in der Reihe gegen den Krieg, die Schriftsteller, allerdings wie immer individualistisch isoliert, statt geschlossen und entschlossen. Die Haltung der meisten Intellektuellen war leider eine gleichgültig passive, denn dank unserem Optimismus war das Problem des Krieges mit all seinen moralischen Konsequenzen noch gar nicht in unseren inneren Gesichtskreis getreten – in keiner der wesentlichen Schriften der Prominenten jener Zeit findet sich eine einzige prinzipielle Auseinandersetzung oder leidenschaftliche Warnung. Wir glaubten genug zu tun, wenn wir europäisch dachten und international uns verbrüderten, wenn wir in unserer – auf das Zeitliche doch nur auf Umwegen einwirkenden – Sphäre uns zum Ideal friedlicher Verständigung und geistiger Verbrüderung über die Sprachen und Länder hinweg bekannten. Und gerade die neue Generation war es, die am stärksten dieser europäischen Idee anhing. In Paris fand ich um meinen Freund Bazalgette eine Gruppe junger Menschen geschart, die im Gegensatz zur früheren Generation jedem engen Nationalismus und aggressiven Imperialismus Absage geleistet hatten. Jules Romains, der dann das große Gedicht an Europa im Kriege schrieb, Georges Duhamel, Charles Vildrac, Durtain, René Arcos, Jean Richard Bloch, zusammengeschlossen erst in der ›Abbaye‹, dann im ›Effort libre‹, waren passionierte Vorkämpfer eines kommenden Europäertums und unerschütterlich, wie es die Feuerprobe des Krieges gezeigt hat, in ihrem Abscheu gegen jeden Militarismus – eine Jugend, wie sie tapferer, begabter, moralisch entschlossener Frankreich nur selten gezeugt hatte. In Deutschland war es Werfel mit seinem ›Weltfreund‹, der der Welt Verbrüderung die stärksten lyrischen Akzente gab, René Schickele, als Elsässer schicksalhaft zwischen die beiden Nationen gestellt, arbeitete leidenschaftlich für eine Verständigung, von Italien grüßte uns G. A. Borgese als Kamerad, aus den skandinavischen, den slawischen Ländern kam Ermutigung. »Kommt doch einmal zu uns!« schrieb mir ein großer russischer Schriftsteller. »Zeigt den Panslawisten, die uns in den Krieg hetzen wollen, daß Ihr in Österreich ihn nicht wollt.« Ach, wir liebten alle unsere Zeit, die uns auf ihren Flügeln trug, wir liebten Europa! Aber dieser vertrauensselige Glaube an die Vernunft, daß sie den Irrwitz in letzter Stunde verhindern würde, war zugleich unsere einzige Schuld. Gewiß, wir haben die Zeichen an der Wand nicht mit genug Mißtrauen betrachtet, aber ist es nicht Sinn einer richtigen Jugend, nicht mißtrauisch, sondern gläubig zu sein? Wir vertrauten auf Jaurès, auf die sozialistische Internationale, wir glaubten, die Eisenbahner würden eher die Schienen sprengen als ihre Kameraden als Schlachtvieh an die Front verladen lassen, wir zählten auf die Frauen, die ihre Kinder, ihre Gatten dem Moloch verweigern würden, wir waren überzeugt, daß die geistige, die moralische Kraft Europas sich triumphierend bekunden würde im letzten kritischen Augenblick. Unser gemeinsamer Idealismus, unser im Fortschritt bedingter Optimismus ließ uns die gemeinsame Gefahr verkennen und verachten.

Und dann: was uns fehlte, war ein Organisator, der die in uns latenten Kräfte zielbewußt zusammenfaßte. Wir hatten nur einen einzigen Mahner unter uns, einen einzigen weit vorausblickenden Erkenner; doch das Merkwürdigste war, daß er mitten unter uns lebte und wir von ihm lange nichts wußten, von diesem uns vom Schicksal als Führer eingesetzten Mann. Für mich war es einer der entscheidenden Glücksfälle, daß ich ihn mir noch in letzter Stunde entdeckte, und es war schwer, ihn zu entdecken, denn er lebte inmitten von Paris abseits von der ›foire sur la place‹. Wenn jemand einmal eine redliche Geschichte der französischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert zu schreiben unternimmt, wird er das erstaunliche Phänomen nicht außer acht lassen dürfen, daß man allen denkbaren Dichtern und Namen damals in den Pariser Zeitungen lobhudelte, gerade aber die der drei Wesentlichsten nicht kannte oder in falschem Zusammenhang nannte. Von 1900 bis 1914 habe ich den Namen Paul Valérys als eines Dichters nie im ›Figaro‹, nie im ›Matin‹ erwähnt gelesen, Marcel Proust galt als Geck der Salons, Romain Rolland als kenntnisreicher Musikgelehrter; sie waren fast fünfzig Jahre alt, ehe der erste schüchterne Strahl von Ruhm ihren Namen erreichte, und ihr großes Werk war im Dunkel getan inmitten der neugierigsten, geistigsten Stadt der Welt.

 

Daß ich Romain Rolland mir rechtzeitig entdeckte, war ein Zufall. Eine russische Bildhauerin in Florenz hatte mich zum Tee eingeladen, um mir ihre Arbeiten zu zeigen und auch, um eine Skizze von mir zu versuchen. Ich erschien pünktlich um vier Uhr, vergessend, daß sie eine Russin und somit jenseits von Zeit und Pünktlichkeit. Eine alte Babuschka, die, wie ich hörte, schon Amme ihrer Mutter gewesen, führte mich in das Atelier, an dem das Malerischste die Unordnung war, und bat mich, zu warten. Im ganzen standen vier kleine Skulpturen herum, in zwei Minuten hatte ich sie gesehen. So griff ich, um die Zeit nicht zu verlieren, nach einem Buch oder vielmehr nach ein paar braunen Heften, die dort herumlagen. ›Cahiers de la Quinzaine‹ hießen sie, und ich erinnerte mich, in Paris schon vordem diesen Titel gehört zu haben. Aber wer konnte all die kleinen Revuen verfolgen, die da kreuz und quer im Lande als kurzlebige idealistische Blüten auftauchten und wieder verschwanden? Ich blätterte den Band an, ›L'Aube‹ von Romain Rolland, und begann zu lesen, immer erstaunter und interessierter. Wer war dieser Franzose, der Deutschland so kannte? Bald war ich der braven Russin dankbar für ihre Unpünktlichkeit. Als sie endlich anrückte, war meine erste Frage: »Wer ist dieser Romain Rolland?« Sie konnte nicht genaue Auskunft geben, und erst als ich mir die übrigen Bände verschafft hatte (die letzten des Werkes waren erst im Wachsen), wußte ich: hier war endlich das Werk, das nicht einer einzelnen europäischen Nation diente, sondern allen und ihrer Verbrüderung, hier war er, der Mann, der Dichter, der alle moralischen Kräfte ins Spiel brachte: liebende Erkenntnis und ehrlichen Willen zur Erkenntnis, geprüfte und gekelterte Gerechtigkeit und einen beschwingenden Glauben an die verbindende Mission der Kunst. Während wir in kleinen Manifestationen uns verzettelten, war er still und geduldig an die Tat gegangen, die Völker einander in jenen Eigenschaften zu zeigen, wo sie individuell am liebenswertesten waren; es war der erste bewußt europäische Roman, der hier sich vollendete, der erste entscheidende Appell zur Verbrüderung, wirksamer, weil breitere Massen erreichend, als die Hymnen Verhaerens, eindringlicher als alle Pamphlete und Proteste; hier war, was wir alle unbewußt erhofft, ersehnt, in der Stille vollbracht.

Mein erstes in Paris war, mich nach ihm zu erkundigen, indem ich Goethes Wort gedachte: ›Er hat gelernt, er kann uns lehren.‹ Ich fragte die Freunde nach ihm. Verhaeren meinte sich an ein Drama ›Die Wölfe‹ erinnern zu können, das im sozialistischen ›Théâtre du Peuple‹ gespielt worden sei. Bazalgette wieder hatte gehört, Rolland sei Musikologe und habe ein kleines Buch über Beethoven geschrieben; im Katalog der Nationalbibliothek fand ich ein Dutzend Werke über alte und moderne Musik, sieben oder acht Dramen, alle bei kleinen Verlegern oder in den ›Cahiers de la Quinzaine‹ erschienen. Schließlich sandte ich, um eine Anknüpfung zu finden, ihm ein Buch von mir. Bald kam ein Brief, der mich zu ihm bat, und so begann eine Freundschaft, die neben einer mit Freud und Verhaeren die fruchtbarste und in manchen Stunden sogar wegentscheidende meines Lebens ward.

 

Merktage des Lebens haben stärkere Leuchtkraft in sich als die gewöhnlichen. So erinnere ich mich noch mit äußerster Deutlichkeit an diesen ersten Besuch. Fünf schmalgewundene Treppen eines unscheinbaren Hauses nahe beim Boulevard Montparnasse empor, und schon vor der Tür fühlte ich eine besondere Stille; man hörte das Brausen des Boulevards kaum mehr als den Wind, der unter den Fenstern durch die Bäume eines alten Klostergartens strich. Rolland tat mir auf und führte mich in sein kleines, mit Büchern bis zur Decke vollgeräumtes Gemach; zum erstenmal sah ich in seine merkwürdig leuchtenden blauen Augen, die klarsten und zugleich gütigsten Augen, die ich je an einem Menschen gesehen, diese Augen, die im Gespräch Farbe und Feuer aus dem innersten Gefühl ziehen, dunkel sich verschattend in der Trauer, gleichsam tiefer werdend im Nachdenken, funkelnd in der Erregung, diese einzigen Pupillen zwischen etwas übermüdeten, von Lesen und Wachen leicht geröteten Lidrändern, die wunderbar aufzustrahlen vermögen in einem mitteilsamen und beglückenden Licht. Ich beobachtete etwas ängstlich seine Gestalt. Sehr hoch und schlank, ging er ein wenig gebückt, als hätten die unzähligen Stunden am Schreibtisch ihm den Nacken gebeugt; er sah eher kränklich aus mit seinen scharfgeschnittenen Zügen bleichester Farbe. Er sprach sehr leise, wie er überhaupt seinen Körper auf das äußerste schonte; er ging fast nie spazieren; aß wenig, trank und rauchte nicht, vermied jede körperliche Anspannung, aber mit Bewunderung mußte ich später erkennen, welche ungeheure Ausdauer diesem asketischen Leibe innewohnte, welche geistige Arbeitskraft hinter dieser scheinbaren Schwäche lag. Stundenlang schrieb er an seinem kleinen, überhäuften Schreibtisch, stundenlang las er im Bette, seinem abgemüdeten Leibe nie mehr Schlaf gebend als vier oder fünf Stunden, und als einzige Entspannung erlaubte er sich die Musik; er spielte wunderbar Klavier mit einem mir unvergeßlich zarten Anschlag, die Tasten liebkosend, als wollte er ihnen die Töne nicht abzwingen, sondern nur ablocken. Kein Virtuose – und ich habe Max Reger, Busoni, Bruno Walter im engsten Kreise gehört – gab mir so sehr das Gefühl der unmittelbaren Kommunikation mit den geliebten Meistern.

Sein Wissen war beschämend vielfältig; eigentlich nur mit dem lesenden Auge lebend, beherrschte er die Literatur, die Philosophie, die Geschichte, die Probleme aller Länder und Zeiten. Er kannte jeden Takt in der Musik; selbst die entlegensten Werke von Galuppi, Telemann und auch von Musikern sechsten und siebenten Ranges waren ihm vertraut; dabei nahm er leidenschaftlich teil an jedem Geschehen der Gegenwart. In dieser mönchisch-schlichten Zelle spiegelte sich wie in einer Camera Obscura die Welt. Er hatte menschlich die Vertrautheit der Großen seiner Zeit genossen, war Schüler Renans gewesen, Gast im Hause Wagners, Freund von Jaurès; Tolstoi hatte an ihn jenen berühmten Brief gerichtet, der als menschliches Bekenntnis seinem literarischen Werke würdig zur Seite steht. Hier spürte ich – und das löst immer für mich ein Glücksgefühl aus – menschliche, moralische Überlegenheit, eine innere Freiheit ohne Stolz, Freiheit als Selbstverständlichkeit einer starken Seele. Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm – und die Zeit hat mir recht gegeben – den Mann, der in entscheidender Stunde das Gewissen Europas sein würde. Wir sprachen über ›Jean Christophe‹. Rolland erklärte mir, er habe versucht, damit eine dreifache Pflicht zu erfüllen, seinen Dank an die Musik, sein Bekenntnis zur europäischen Einheit und einen Aufruhr an die Völker zur Besinnung. Wir müßten jetzt jeder wirken, jeder von seiner Stelle aus, jeder von seinem Land, jeder in seiner Sprache. Es sei Zeit, wachsam zu werden und immer wachsamer. Die Kräfte, die zum Haß drängten, seien ihrer niederen Natur gemäß vehementer und aggressiver als die versöhnlichen; auch stünden hinter ihnen materielle Interessen, die an sich bedenkenloser seien als die unseren. Der Widersinn sei sichtbar am Werke und Kampf gegen ihn wichtiger sogar als unsere Kunst. Ich spürte die Trauer über die Brüchigkeit der irdischen Struktur doppelt ergreifend an einem Manne, der in seinem ganzen Werke die Unvergänglichkeit der Kunst gefeiert. »Sie kann uns trösten, uns, die Einzelnen«, antwortete er mir, »aber sie vermag nichts gegen die Wirklichkeit.«

 

Das war im Jahre 1913. Es war das erste Gespräch, aus dem ich erkannte, daß es unsere Pflicht sei, nicht unvorbereitet und untätig der immerhin möglichen Tatsache eines europäischen Krieges entgegenzutreten; nichts gab im entscheidenden Augenblick dann Rolland eine solche ungeheure moralische Überlegenheit über alle andern, als daß er sich im voraus bereits die Seele schmerzhaft gefestigt hatte. Wir in unserem Kreise mochten gleichfalls einiges getan haben, ich hatte vieles übersetzt, auf die Dichter unter unseren Nachbarn hingewiesen, ich hatte Verhaeren 1912 auf einer Vortragsreise durch ganz Deutschland begleitet, die sich zu einer symbolischen deutsch-französischen Verbrüderungsmanifestation gestaltete: in Hamburg umarmten sich öffentlich Verhaeren und Dehmel, der größte französische und der große deutsche Lyriker. Ich hatte Reinhardt für Verhaerens neues Drama gewonnen, nie war unsere Zusammenarbeit hüben und drüben herzlicher, intensiver, impulsiver gewesen, und in manchen Stunden des Enthusiasmus gaben wir uns der Täuschung hin, wir hätten der Welt das Richtige, das Rettende gezeigt. Aber die Welt kümmerte sich wenig um solche literarischen Manifestationen, sie ging ihren eigenen schlimmen Weg. Irgendein elektrisches Knistern war im Gebälk von unsichtbaren Reibungen, immer wieder sprang ein Funke ab – die Affäre von Zabern, die Krisen in Albanien, ein ungeschicktes Interview –, immer nur gerade ein Funke, aber jeder hätte den gehäuften Explosionsstoff zur Entladung bringen können. Besonders wir in Österreich spürten, daß wir im Kern der Unruhezone lagen. 1910 hatte Kaiser Franz Joseph sein achtzigstes Jahr überschritten. Lange konnte es mit dem schon zum Symbol gewordenen Greise nicht mehr dauern, und ein mystisches Gefühl begann sich Stimmungshaft zu verbreiten, nach dem Hingang seiner Person werde der Auflösungsprozeß der tausendjährigen Monarchie nicht mehr aufzuhalten sein. Innen wuchs der Druck der Nationalitäten gegeneinander, außen warteten Italien, Serbien, Rumänien und in gewissem Sinne sogar Deutschland, sich das Reich aufzuteilen. Der Balkankrieg, wo Krupp und Schneider-Creusot ihre Kanonen gegeneinander an fremdem ›Menschenmaterial‹ ausprobierten, wie späterhin die Deutschen und Italiener ihre Flugzeuge im spanischen Bürgerkrieg, zog uns immer mehr in die kataraktische Strömung. Immer schreckte man auf, aber um immer wieder aufzuatmen: ›Diesmal noch nicht. Und hoffentlich nie!‹

 

Nun ist es erfahrungsgemäß tausendmal leichter, die Fakten einer Zeit zu rekonstruieren als ihre seelische Atmosphäre. Sie findet ihren Niederschlag nicht in den offiziellen Geschehnissen, sondern am ehesten in kleinen, persönlichen Episoden, wie ich sie hier einschalten möchte. Ich habe, ehrlich gesagt, damals nicht an den Krieg geglaubt. Aber zweimal habe ich gewissermaßen wach von ihm geträumt und bin mit erschrockener Seele aufgefahren. Das erste Mal geschah es bei der ›Affäre Redl‹, die wie alle wichtigen Hintergrundepisoden der Geschichte wenig bekannt ist.

Diesen Oberst Redl, den Helden eines der kompliziertesten Spionagedramen, hatte ich persönlich nur flüchtig gekannt. Er wohnte eine Gasse weit im selben Bezirk, einmal hatte mich im Café, wo der gemütlich aussehende, genießerische Herr seine Zigarre rauchte, mein Freund, der Staatsanwalt T., ihm vorgestellt; seitdem grüßten wir einander. Aber später erst entdeckte ich, wie sehr wir mitten im Leben vom Geheimnis umstellt sind, und wie wenig wir von Menschen im nächsten Atemraum wissen. Dieser äußerlich wie ein guter österreichischer Durchschnittsoffizier aussehende Oberst war der Vertrauensmann des Thronfolgers; ihm war das wichtige Ressort anvertraut, den Secret Service der Armee zu leiten und den der gegnerischen zu konterkarieren. Nun war durchgesickert, daß 1912 während der Krise des Balkankrieges, da Rußland und Österreich gegeneinander mobilisierten, das allerwichtigste Geheimstück der österreichischen Armee, der ›Aufmarschplan‹, nach Rußland verkauft worden war, was im Kriegsfall eine beispiellose Katastrophe hätte verursachen müssen, denn die Russen kannten damit im voraus Zug um Zug jede taktische Bewegung der österreichischen Angriffsarmee. Die Panik in den Kreisen des Generalstabs über diesen Verrat war fürchterlich; Oberst Redl als oberstem Fachmann oblag nun die Aufgabe, den Verräter zu entdecken, der ja nur im allerengsten höchsten Kreise zu finden sein konnte. Auch das Außenministerium, dem Geschick der Militärbehörden nicht ganz vertrauend, gab – ein typisches Beispiel für das eifersüchtige Gegeneinanderspielen der Ressorts –, ohne den Generalstab zu verständigen, seinerseits Parole aus, unabhängig nachzuforschen, und beauftragte die Polizei, neben allen anderen Maßnahmen zu diesem Behufe alle poste restante Briefe aus dem Ausland ohne Rücksicht auf das Briefgeheimnis zu öffnen.

Eines Tages traf nun bei einem Postamt ein Brief aus der russischen Grenzstation Podwoloczyska an die poste restante Adresse Chiffre ›Opernball‹ ein, der, als er geöffnet wurde, kein Briefblatt enthielt, dagegen sechs oder acht blanke österreichische Tausendkronennoten. Sofort wurde dieser verdächtige Fund der Polizeidirektion gemeldet, die Auftrag gab, einen Detektiv an den Schalter zu setzen, um die Person, welche jenen verdächtigen Brief reklamieren würde, unverzüglich zu verhaften.

Für einen Augenblick begann sich die Tragödie ins Wienerisch-Gemütliche zu wenden. Zur Mittagsstunde erschien ein Herr, verlangte den Brief unter der Bezeichnung ›Opernball‹. Der Schalterbeamte gab sofort das verdeckte Warnungssignal an den Detektiv. Aber der Detektiv war gerade zum Frühschoppen gegangen, und als er zurückkam, konnte man nur mehr feststellen, daß der fremde Herr einen Fiaker genommen habe und in unbekannter Richtung weggefahren sei. Rasch aber setzte der zweite Akt der wienerischen Komödie ein. In jener Zeit der Fiaker, dieser fashionablen, eleganten Zweispänner, betrachtete sich der Fiakerkutscher als eine viel zu vornehme Persönlichkeit, um seinen Wagen eigenhändig zu reinigen. An jedem Standplatz befand sich daher ein sogenannter ›Wasserer‹, dessen Funktion es war, die Pferde zu füttern und das Zeug zu waschen. Dieser Wasserer hatte sich nun glücklicherweise die Nummer des Fiakers gemerkt, der eben weggefahren war; in einer Viertelstunde waren alle Polizeiämter alarmiert, der Fiaker aufgefunden. Er gab eine Beschreibung des Herrn, der in jenes Café Kaiserhof gefahren war, wo ich immer Oberst Redl traf, und überdies fand man noch im Wagen durch einen glücklichen Zufall das Taschenmesser, mit dem der Unbekannte das Briefcouvert geöffnet hatte. Die Detektive sausten sofort ins Café Kaiserhof. Der Herr, dessen Beschreibung sie gaben, war inzwischen schon wieder fort. Aber mit größter Selbstverständlichkeit erklärten die Kellner, der Herr sei niemand anderer als ihr alter Stammgast, der Oberst Redl gewesen, und der sei eben zurückgefahren in das Hotel Klomser.

Der Detektiv erstarrte. Das Geheimnis war gelöst. Oberst Redl, der höchste Spionagechef der österreichischen Armee, war gleichzeitig gekaufter Spion des russischen Generalstabs. Er hatte nicht nur die Geheimnisse und Aufmarschpläne verkauft, sondern nun wurde schlagartig verständlich, wieso im letzten Jahr alle von ihm gesandten österreichischen Spione in Rußland regelmäßig verhaftet und verurteilt worden waren. Ein wildes Herumtelephonieren begann, bis man schließlich Konrad von Hötzendorf, den Chef des österreichischen Generalstabs, erreichte. Ein Augenzeuge dieser Szene hat mir erzählt, daß er nach den ersten Worten weiß wurde wie ein Tuch. Das Telephon lief weiter in die Hofburg, eine Beratung folgte der andern. Was nun beginnen? Die Polizei ihrerseits hatte inzwischen Vorsorge getroffen, daß Oberst Redl nicht entkommen konnte. Als er das Hotel Klomser wieder verlassen wollte und nur noch dem Portier einen Auftrag gab, trat unauffällig ein Detektiv an ihn heran, hielt ihm das Taschenmesser hin und fragte höflich: »Haben Herr Oberst nicht dieses Taschenmesser im Fiaker vergessen?« In dieser Sekunde wußte Redl, daß er verloren war. Wo er hintrat, sah er die wohlbekannten Gesichter der Geheimpolizisten, die ihn überwachten, und als er zurückkam ins Hotel, folgten ihm zwei Offiziere in sein Zimmer und legten ihm einen Revolver hin. Denn inzwischen war in der Hofburg beschlossen worden, diese für die österreichische Armee so schmachvolle Affäre in unauffälliger Weise zu beenden. Bis zwei Uhr nachts patrouillierten die beiden Offiziere vor Redls Zimmer im Hotel Klomser. Dann erst fiel innen der Revolverschuß.

Am nächsten Tage erschien, in den Abendblättern ein kurzer Nekrolog für den wohlverdienten Offizier Oberst Redl, der plötzlich gestorben sei. Aber zu viele Personen waren in die Verfolgung verstrickt gewesen, als daß man das Geheimnis hätte wahren können. Nach und nach erfuhr man überdies Einzelheiten, die psychologisch viel aufklärten. Oberst Redl war, ohne daß einer seiner Vorgesetzten oder Kameraden es wußte, homosexuell veranlagt gewesen und seit Jahren in den Händen von Erpressern, die ihn schließlich zu diesem verzweifelten Ausfluchtsmittel getrieben hatten. Ein Schauer des Entsetzens ging durch die Armee. Alle wußten, daß im Kriegsfall dieser eine Mensch das Leben von Hunderttausenden gekostet hätte und die Monarchie durch ihn an den Rand des Abgrunds geraten wäre; erst in dieser Stunde begriffen wir in Österreich, wie atemnahe wir im vergangenen Jahr dem Weltkrieg schon gewesen.

 

Das war das erste Mal, daß ich das Grauen an der Kehle spürte. Zufällig traf ich am nächsten Tage Berta von Suttner, die großartige und großmütige Kassandra unserer Zeit. Aristokratin aus einer der ersten Familien, hatte sie in ihrer frühesten Jugend nahe ihrem böhmischen Stammschloß die Greuel des Krieges von 1866 gesehen. Und mit der Leidenschaft einer Florence Nightingale sah sie nur eine Aufgabe für sich im Leben: einen zweiten Krieg, den Krieg überhaupt, zu verhindern. Sie schrieb einen Roman ›Die Waffen nieder‹, der einen Welterfolg hatte, sie organisierte unzählige pazifistische Versammlungen, und der Triumph ihres Lebens war, daß sie Alfred Nobel, dem Erfinder des Dynamits, das Gewissen erweckte, als Entgelt für das Unheil, das er mit seinem Dynamit angerichtet, den Nobelpreis für Frieden und internationale Verständigung zu stiften. Sie kam ganz erregt auf mich zu. »Die Menschen begreifen nicht, was vorgeht«, schrie sie ganz laut auf der Straße, so still, so gütig gelassen sie sonst sprach. »Das war schon der Krieg, und sie haben wieder einmal alles vor uns versteckt und geheimgehalten. Warum tut ihr nichts, ihr jungen Leute? Euch geht es vor allem an! Wehrt euch doch, schließt euch zusammen! Laßt nicht immer alles uns paar alte Frauen tun, auf die niemand hört.« Ich erzählte ihr, daß ich nach Paris ginge; vielleicht könnte man wirklich eine gemeinsame Manifestation versuchen. »Warum nur vielleicht?« drängte sie. »Es steht schlimmer als je, die Maschine ist doch schon im Gang.« Ich hatte, selbst beunruhigt, Mühe, sie zu beruhigen.

Aber gerade in Frankreich sollte ich durch eine zweite, persönliche Episode erinnert werden, wie prophetisch die alte Frau, die man in Wien wenig ernst nahm, die Zukunft gesehen. Es war eine ganz kleine Episode, aber für mich besonders eindrucksvoll. Ich war im Frühjahr 1914 mit einer Freundin aus Paris für einige Tage in die Touraine gefahren, um das Grab Leonardo da Vincis zu sehen. Wir waren die milden und sonnigen Ufer der Loire entlanggewandert und abends herzhaft müde. So beschlossen wir, in der etwas verschlafenen Stadt Tours, in der ich zuvor dem Geburtshaus Balzacs meine Reverenz abgestattet hatte, ins Kino zu gehen.

Es war ein kleines Vorstadtkino, in nichts noch ähnlich den neuzeitlichen Palästen aus Chrom und blinkendem Glas. Nur ein notdürftig adaptierter Saal, gefüllt mit kleinen Leuten, Arbeitern, Soldaten, Marktfrauen, richtigem Volk, das gemütlich schwatzte und trotz des Rauchverbots blaue Wolken von Scaferlati und Caporal in die stickige Luft blies. Zuerst liefen die ›Neuigkeiten aus aller Welt‹ über die Leinwand. Ein Bootrennen in England: die Leute schwatzten und lachten. Es kam eine französische Militärparade: auch hier nahmen die Leute wenig Anteil. Dann als drittes Bild: ›Kaiser Wilhelm besucht Kaiser Franz Joseph in Wien‹. Auf einmal sah ich auf der Leinwand den wohlvertrauten Perron des häßlichen Wiener Westbahnhofs mit ein paar Polizisten, die auf den einfahrenden Zug warteten. Dann ein Signal: der alte Kaiser Franz Joseph, der die Ehrengarde entlangschritt, um seinen Gast zu empfangen. Wie der alte Kaiser auf der Leinwand erschien und, ein bißchen gebückt schon, ein bißchen wacklig die Front entlangschritt, lachten die Leute aus Tours gutmütig über den alten Herrn mit dem weißen Backenbart. Dann fuhr auf dem Bilde der Zug ein, der erste, der zweite, der dritte Waggon. Die Tür des Salonwagens öffnete sich und heraus stieg, den Schnurrbart hoch gesträubt, in österreichischer Generalsuniform, Wilhelm II.

In diesem Augenblick, da Kaiser Wilhelm im Bilde erschien, begann ganz spontan in dem dunklen Räume ein wildes Pfeifen und Trampeln. Alles schrie und pfiff, Frauen, Männer, Kinder höhnten, als ob man sie persönlich beleidigt hätte. Die gutmütigen Leute von Tours, die doch nicht mehr wußten von Panik und Welt, als was in ihren Zeitungen stand, waren für eine Sekunde toll geworden. Ich erschrak. Ich erschrak bis tief ins Herz hinein. Denn ich spürte, wie weit die Vergiftung durch die seit Jahren und Jahren geführte Haßpropaganda fortgeschritten sein mußte, wenn sogar hier, in einer kleinen Provinzstadt, die arglosen Bürger und Soldaten bereits dermaßen gegen den Kaiser, gegen Deutschland aufgestachelt worden waren, daß selbst ein flüchtiges Bild auf der Leinwand sie schon zu einem Ausbruch verleiten konnte. Es war nur eine Sekunde, eine einzige Sekunde. Als dann wieder andere Bilder kamen, war alles vergessen. Die Leute lachten über den jetzt abrollenden komischen Film aus vollen Bäuchen und schlugen sich vor Vergnügen auf die Knie, daß es krachte. Es war nur eine Sekunde gewesen, aber doch eine, die mir zeigte, wie leicht es sein könnte, im Augenblick ernstlicher Krise die Völker hüben und drüben aufzureizen trotz allen Verständigungsversuchen, trotz unseren eigenen Bemühungen.

Der ganze Abend war mir verdorben. Ich konnte nicht schlafen. Hätte sich das in Paris abgespielt, es hätte mich gleichfalls beunruhigt, aber nicht so erschüttert. Aber daß bis tief in die Provinz, bis tief in das gutmütige, naive Volk der Haß sich eingefressen, ließ mich schauern. In den nächsten Tagen erzählte ich die Episode den Freunden; die meisten nahmen sie nicht ernst: »Was haben wir Franzosen über die dicke Königin Victoria gespottet, und zwei Jahre später hatten wir ein Bündnis mit England. Du kennst die Franzosen nicht, bei denen geht Politik nicht tief.« Nur Rolland sah es anders. »Je naiver das Volk ist, um so leichter, es herumzubekommen. Es steht schlecht, seit Poincare gewählt ist. Seine Reise nach Petersburg wird keine Vergnügungsreise sein.« Wir sprachen noch lange über den internationalen Sozialistenkongreß, der für den Sommer nach Wien einberufen war, aber auch hier empfand Rolland skeptischer als die andern. »Wieviele standhalten werden, wenn einmal die Mobilisierungsordres angeklebt sind, wer weiß es? Wir sind in eine Zeit der Massenempfindungen, der Massenhysterien geraten, deren Gewalt im Kriegsfall noch gar nicht abzusehen ist.«

Aber, ich sagte es schon, solche Augenblicke der Sorge flogen vorbei wie Spinnweb im Winde. Wir dachten zwar ab und zu an den Krieg, aber nicht viel anders, als man gelegentlich an den Tod denkt – an etwas Mögliches, aber wahrscheinlich doch Fernes. Und Paris war zu schön in jenen Tagen und wir selbst zu jung und zu glücklich. Ich erinnere mich noch an die bezaubernde Farce, die Jules Romains ersann, um zur Verhöhnung des ›prince de poètes‹ einen ›prince des penseurs‹ zu krönen, einen braven, etwas einfältigen Mann, der sich von den Studenten feierlich vor die Rodinstatue vor dem Pantheon führen ließ. Und abends tobten wir bei dem parodistischen Bankett übermütig wie Schuljungen. Die Bäume blühten, die Luft ging süß und leicht; wer wollte angesichts so vieler Entzückungen an etwas so Unvorstellbares denken? Die Freunde waren mehr Freunde als je und neue dazu gewonnen im fremden – im ›feindlichen‹ – Land, die Stadt war sorgloser als je zuvor, und man liebte mit seiner eigenen Sorglosigkeit die ihre. Ich begleitete Verhaeren in diesen letzten Tagen nach Rouen, wo er eine Vorlesung halten sollte. Wir standen nachts vor der Kathedrale, deren Spitzen magisch im Mondschein erglänzten – gehörten solche linde Wunder noch einem ›Vaterland‹, gehörten sie nicht uns allen? Auf dem Bahnhof in Rouen, an derselben Stelle, wo zwei Jahre später eine der von ihm besungenen Maschinen ihn zerreißen sollte, nahmen wir Abschied. Er umarmte mich. »Am ersten August bei mir in Caillou qui bique!« Ich versprach es, denn ich besuchte ihn doch jedes Jahr auf diesem seinem Landsitz, um Hand in Hand mit ihm seine neuen Verse zu übertragen. Warum nicht auch in diesem Jahr? Unbesorgt nahm ich Abschied von den andern Freunden, Abschied von Paris, lässigen, unsentimentalen Abschied, wie wenn man sein eigenes Haus für ein paar Wochen verläßt. Mein Plan für die nächsten Monate war klar. In Österreich jetzt, irgendwo auf dem Land, zurückgezogen die Arbeit an Dostojewskij (die fünf Jahre später erst erscheinen konnte) vorwärtsbringen und damit das Buch ›Drei Meister‹ vollenden, das je eine der großen Nationen in ihrem größten Romancier zeigen sollte. Dann zu Verhaeren und im Winter vielleicht die langgeplante Reise nach Rußland, um dort eine Gruppe für unsere geistige Verständigung zu formen. Alles lag eben und hell vor meinem Blick in diesem meinem zweiunddreißigsten Jahr; schön und sinnvoll wie eine köstliche Frucht bot sich in diesem strahlenden Sommer die Welt. Und ich liebte sie um ihrer Gegenwart und ihrer noch größeren Zukunft willen.

Da, am 28. Juni 1914, fiel jener Schuß in Sarajewo, der die Welt der Sicherheit und der schöpferischen Vernunft, in der wir erzogen, erwachsen und beheimatet waren, in einer einzigen Sekunde wie ein hohles tönernes Gefäß in tausend Stücke schlug.


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