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Die Schule im vorigen Jahrhundert

Daß ich nach der Volksschule auf das Gymnasium gesandt wurde, war nur eine Selbstverständlichkeit. Man hielt in jeder begüterten Familie schon um des Gesellschaftlichen willen sorglich darauf, ›gebildete‹ Söhne zu haben; man ließ sie Französisch und Englisch lernen, machte sie mit Musik vertraut, hielt ihnen zuerst Gouvernanten und dann Hauslehrer für gute Manieren. Aber nur die sogenannte ›akademische‹ Bildung, die zur Universität führte, verlieh in jenen Zeiten des ›aufgeklärten‹ Liberalismus vollen Wert; darum gehörte es zum Ehrgeiz jeder ›guten‹ Familie, daß wenigstens einer ihrer Söhne vor dem Namen irgendeinen Doktortitel trug. Dieser Weg bis zur Universität war nun ziemlich lang und keineswegs rosig. Fünf Jahre Volksschule und acht Jahre Gymnasium mußten auf hölzerner Bank durchgesessen werden, täglich fünf bis sechs Stunden, und in der freien Zeit die Schulaufgaben bewältigt und überdies noch, was die ›allgemeine Bildung‹ forderte neben der Schule, Französisch, Englisch, Italienisch, die ›lebendigen‹ Sprachen neben den klassischen Griechisch und Latein – also fünf Sprachen zu Geometrie und Physik und den übrigen Schulgegenständen. Es war mehr als zuviel und ließ für die körperliche Entwicklung, für Sport und Spaziergänge fast keinen Raum und vor allem nicht für Frohsinn und Vergnügen. Dunkel erinnere ich mich, daß wir als Siebenjährige irgendein Lied von der ›fröhlichen, seligen Kinderzeit‹ auswendig lernen und im Chor singen mußten. Ich habe die Melodie dieses einfach-einfältigen Liedchens noch im Ohr, aber sein Text ist mir schon damals schwer über die Lippen gegangen und noch weniger als Überzeugung ins Herz gedrungen. Denn meine ganze Schulzeit war, wenn ich ehrlich sein soll, nichts als ein ständiger gelangweilter Überdruß, von Jahr zu Jahr gesteigert durch die Ungeduld, dieser Tretmühle zu entkommen. Ich kann mich nicht besinnen, je ›fröhlich‹ noch ›selig‹ innerhalb jenes monotonen, herzlosen und geistlosen Schulbetriebs gewesen zu sein, der uns die schönste, freieste Epoche des Daseins gründlich vergällte, und ich gestehe sogar, mich heute noch eines gewissen Neides nicht erwehren zu können, wenn ich sehe, um wieviel glücklicher, freier, selbständiger sich in diesem Jahrhundert die Kindheit entfalten kann. Noch immer kommt es mir unwahrscheinlich vor, wenn ich beobachte, wie heute Kinder unbefangen und fast au pair mit ihren Lehrern plaudern, wie sie angstlos statt wie wir mit einem ständigen Unzulänglichkeitsgefühl zur Schule eilen, wie sie ihre Wünsche, ihre Neigungen aus junger, neugieriger Seele in Schule und Haus offen bekennen dürfen – freie, selbständige, natürliche Wesen, indes wir, kaum daß wir das verhaßte Haus betraten, uns gleichsam in uns hineinducken mußten, um nicht mit der Stirn gegen das unsichtbare Joch zu stoßen. Schule war für uns Zwang, Öde, Langeweile, eine Stätte, in der man die ›Wissenschaft des nicht Wissenswerten‹ in genau abgeteilten Portionen sich einzuverleiben hatte, scholastische oder scholastisch gemachte Materien, von denen wir fühlten, daß sie auf das reale und auf unser persönliches Interesse keinerlei Bezug haben konnten. Es war ein stumpfes, ödes Lernen nicht um des Lebens willen, sondern um des Lernens willen, das uns die alte Pädagogik aufzwang. Und der einzige wirklich beschwingte Glücksmoment, den ich der Schule zu danken habe, wurde der Tag, da ich ihre Tür für immer hinter mir zuschlug.

Nicht daß unsere österreichischen Schulen an sich schlecht gewesen wären. Im Gegenteil, der sogenannte ›Lehrplan‹ war nach hundertjähriger Erfahrung sorgsam ausgearbeitet und hätte, wenn anregend übermittelt, eine fruchtbare und ziemlich universale Bildung fundieren können. Aber eben durch die akkurate Planhaftigkeit und ihre trockene Schematisierung wurden unsere Schulstunden grauenhaft dürr und unlebendig, ein kalter Lernapparat, der sich nie an dem Individuum regulierte und nur wie ein Automat mit Ziffern ›gut, genügend, ungenügend‹ aufzeigte, wie weit man den ›Anforderungen‹ des Lehrplans entsprochen hatte. Gerade aber diese menschliche Lieblosigkeit, diese nüchterne Unpersönlichkeit und das Kasernenhafte des Umgangs war es, was uns unbewußt erbitterte. Wir hatten unser Pensum zu lernen und wurden geprüft, was wir gelernt hatten; kein Lehrer fragte ein einziges Mal in acht Jahren, was wir persönlich zu lernen begehrten, und just jener fördernde Aufschwung, nach dem jeder junge Mensch sich doch heimlich sehnt, blieb vollkommen aus.

Diese Nüchternheit sprach sich schon äußerlich in unserem Schulgebäude aus, einem typischen Zweckbau, vor fünfzig Jahren eilig, billig und gedankenlos hingepflastert. Mit ihren kalten, schlecht gekalkten Wänden, niederen Klassenräumen ohne Bild oder sonst augenerfreuenden Schmuck, ihren das ganze Haus durchduftenden Anstandsorten, hatte diese Lernkaserne etwas von einem alten Hotelmöbel, das schon Unzählige vor einem benutzt hatten und Unzählige ebenso gleichgültig oder widerwillig benutzen würden; noch heute kann ich jenen muffigen, modrigen Geruch nicht vergessen, der diesem Haus wie allen österreichischen Amtsbüros anhaftete, und den man bei uns den ›ärarischen‹ Geruch nannte, diesen Geruch von überheizten, überfüllten, nie recht gelüfteten Zimmern, der sich einem zuerst an die Kleider und dann an die Seele hängte. Man saß paarweise wie die Sträflinge in ihrer Galeere auf niederen Holzbänken, die einem das Rückgrat krümmten, und saß, bis einem die Knochen schmerzten; im Winter flackerte das bläuliche Licht offener Gasflammen über unseren Büchern, im Sommer dagegen wurden sorglich die Fenster verhängt, damit sich der Blick nicht etwa träumerisch an dem kleinen Quadrat blauen Himmels erfreuen könnte. Noch hatte jenes Jahrhundert nicht entdeckt, daß unausgeformte junge Körper Luft und Bewegung brauchen. Zehn Minuten Pause auf dem kalten, engen Gang galten für ausreichend innerhalb von vier oder fünf Stunden reglosen Hockens; zweimal in der Woche wurden wir in den Turnsaal geführt, um dort bei sorglich geschlossenen Fenstern auf dem Bretterboden, der bei jedem Schritt Staub meterhoch aufwölkte, sinnlos herumzutappen; damit war der Hygiene Genüge geleistet, der Staat hatte an uns seine ›Pflicht‹ erfüllt für die ›mens sana in corpore sano‹. Noch nach Jahren, wenn ich an diesem trüben, trostlosen Hause vorüberging, spürte ich ein Gefühl der Entlastung, daß ich diesen Kerker unserer Jugend nicht mehr betreten mußte, und als anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens dieser erlauchten Anstalt eine Feier veranstaltet und ich als ehemaliger Glanzschüler aufgefordert wurde, die Festrede vor Minister und Bürgermeister zu halten, lehnte ich höflich ab. Ich hatte dieser Schule nicht dankbar zu sein, und jedes Wort dieser Art wäre zur Lüge geworden.

Auch unsere Lehrer hatten an der Trostlosigkeit jenes Betriebes keine Schuld. Sie waren weder gut noch böse, keine Tyrannen und andererseits keine hilfreichen Kameraden, sondern arme Teufel, die sklavisch an das Schema, an den behördlich vorgeschriebenen Lehrplan gebunden, ihr ›Pensum‹ zu erledigen hatten wie wir das unsere und – das fühlten wir deutlich – ebenso glücklich waren wie wir selbst, wenn mittags die Schulglocke scholl, die ihnen und uns die Freiheit gab. Sie liebten uns nicht, sie haßten uns nicht, und warum auch, denn sie wußten von uns nichts; noch nach ein paar Jahren kannten sie die wenigsten von uns mit Namen, nichts anderes hatte im Sinn der damaligen Lehrmethode sie zu bekümmern als festzustellen, wie viele Fehler ›der Schüler‹ in der letzten Aufgabe gemacht hatte. Sie saßen oben auf dem Katheder und wir unten, sie fragten, und wir mußten antworten, sonst gab es zwischen uns keinen Zusammenhang. Denn zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Katheder und Schulbank, dem sichtbaren Oben und sichtbaren Unten stand die unsichtbare Barriere der ›Autorität‹, die jeden Kontakt verhinderte. Daß ein Lehrer den Schüler als ein Individuum zu betrachten hatte, das besonderes Eingehen auf seine besonderen Eigenschaften forderte, oder daß gar, wie es heute selbstverständlich ist, er ›reports‹, also beobachtende Beschreibungen über ihn zu verfassen hatte, würde damals seine Befugnisse wie seine Befähigung weit überschritten, anderseits ein privates Gespräch wieder seine Autorität gemindert haben, weil dies uns als ›Schüler‹ zu sehr auf eine Ebene mit ihm, dem ›Vorgesetzten‹ gestellt hätte. Nichts ist mir charakteristischer für die totale Zusammenhanglosigkeit, die geistig und seelisch zwischen uns und unseren Lehrern bestand, als daß ich alle ihre Namen und Gesichter vergessen habe. Mit photographischer Schärfe bewahrt mein Gedächtnis noch das Bild des Katheders und des Klassenbuchs, in das wir immer zu schielen suchten, weil es unsere Noten enthielt; ich sehe das kleine rote Notizbuch, in dem sie die Klassifizierungen zunächst vermerkten, und den kurzen schwarzen Bleistift, der die Ziffern eintrug, ich sehe meine eigenen Hefte, übersät mit den Korrekturen des Lehrers in roter Tinte, aber ich sehe kein einziges Gesicht von all ihnen mehr vor mir – vielleicht weil wir immer mit geduckten oder gleichgültigen Augen vor ihnen gestanden.

Dieses Mißvergnügen an der Schule war nicht etwa eine persönliche Einstellung; ich kann mich an keinen meiner Kameraden erinnern, der nicht mit Widerwillen gespürt hätte, daß unsere besten Interessen und Absichten in dieser Tretmühle gehemmt, gelangweilt und unterdrückt wurden. Aber viel später erst wurde mir bewußt, daß diese lieblose und seelenlose Methode unserer Jugenderziehung nicht etwa der Nachlässigkeit der staatlichen Instanzen zur Last fiel, sondern daß sich darin eine bestimmte, allerdings sogfältig geheimgehaltene Absicht aussprach. Die Welt vor uns oder über uns, die alle ihre Gedanken einzig auf den Fetisch der Sicherheit einstellte, liebte die Jugend nicht oder vielmehr: sie hatte ein ständiges Mißtrauen gegen sie. Eitel auf ihren systematischen ›Fortschritt‹, auf ihre Ordnung, proklamierte die bürgerliche Gesellschaft Mäßigkeit und Gemächlichkeit in allen Lebensformen als die einzig wirksame Tugend des Menschen; jede Eile, uns vorwärts zu führen, sollte vermieden werden. Österreich war ein alter Staat, von einem greisen Kaiser beherrscht, von alten Ministern regiert, ein Staat, der ohne Ambition einzig hoffte, sich durch Abwehr aller radikalen Veränderungen im europäischen Raume unversehrt zu erhalten; junge Menschen, die ja aus Instinkt immer schnelle und radikale Veränderungen wollen, galten deshalb als ein bedenkliches Element, das möglichst lange ausgeschaltet oder niedergehalten werden mußte. So hatte man keinen Anlaß, uns die Schuljahre angenehm zu machen; wir sollten jede Form des Aufstiegs erst durch geduldiges Warten uns verdienen. Durch dieses ständige Zurückschieben bekamen die Altersstufen einen ganz anderen Wert wie heute. Ein achtzehnjähriger Gymnasiast wurde wie ein Kind behandelt, wurde bestraft, wenn er einmal mit einer Zigarette ertappt wurde, hatte gehorsam die Hand zu erheben, wenn er die Schulbank wegen eines natürlichen Bedürfnisses verlassen wollte; aber auch ein Mann von dreißig Jahren wurde noch als unflügges Wesen betrachtet, und selbst der Vierzigjährige noch nicht für eine verantwortliche Stellung als reif erachtet. Als einmal ein erstaunlicher Ausnahmefall sich ereignete und Gustav Mahler mit achtunddreißig Jahren zum Direktor der Hofoper ernannt wurde, ging ein erschrecktes Raunen und Staunen durch ganz Wien, daß man einem ›so jungen Menschen‹ das erste Kunstinstitut anvertraut hatte (man vergaß vollkommen, daß Mozart mit sechsunddreißig, Schubert mit einunddreißig Jahren schon ihre Lebenswerke vollendet hatten). Dieses Mißtrauen, daß jeder junge Mensch ›nicht ganz verläßlich‹ sei, ging damals durch alle Kreise. Mein Vater hätte nie einen jungen Menschen in seinem Geschäft empfangen, und wer das Unglück hatte, besonders jung auszusehen, hatte überall Mißtrauen zu überwinden. So geschah das heute fast Unbegreifliche, daß Jugend zur Hemmung in jeder Karriere wurde und nur Alter zum Vorzug. Während heute in unserer vollkommen veränderten Zeit Vierzigjährige alles tun, um wie Dreißigjährige auszusehen und Sechzigjährige wie Vierzigjährige, während heute Jugendlichkeit, Energie, Tatkraft und Selbstvertrauen fördert und empfiehlt, mußte in jenem Zeitalter der Sicherheit jeder, der vorwärts wollte, alle denkbare Maskierung versuchen, um älter zu erscheinen. Die Zeitungen empfahlen Mittel, um den Bartwuchs zu beschleunigen, vierundzwanzig- oder fünfundzwanzigjährige junge Ärzte, die eben das medizinische Examen absolviert hatten, trugen mächtige Bärte und setzten sich, auch wenn es ihre Augen gar nicht nötig hatten, goldene Brillen auf, nur damit sie bei ihren ersten Patienten den Eindruck der ›Erfahrenheit‹ erwecken könnten. Man legte sich lange schwarze Gehröcke zu und einen gemächlichen Gang und wenn möglich ein leichtes Embonpoint, um diese erstrebenswerte Gesetztheit zu verkörpern, und wer ehrgeizig war, mühte sich, dem der Unsolidität verdächtigen Zeitalter der Jugend wenigstens äußerlich Absage zu leisten; schon in der sechsten und siebten Schulklasse weigerten wir uns, Schultaschen zu tragen, um nicht mehr als Gymnasiasten erkenntlich zu sein, und benützten statt dessen Aktenmappen. Alles, was uns heute als beneidenswerter Besitz erscheint, die Frische, das Selbstbewußtsein, die Verwegenheit, die Neugier, die Lebenslust der Jugend, galt jener Zeit, die nur Sinn für das ›Solide‹ hatte, als verdächtig.

Einzig aus dieser sonderbaren Einstellung ist es zu verstehen, daß der Staat die Schule als Instrument zur Aufrechterhaltung seiner Autorität ausbeutete. Wir sollten vor allem erzogen werden, überall das Bestehende als das Vollkommene zu respektieren, die Meinung des Lehrers als unfehlbar, das Wort des Vaters als unwidersprechlich, die Einrichtungen des Staates als die absolut und in alle Ewigkeit gültigen. Ein zweiter kardinaler Grundsatz jener Pädagogik, den man auch innerhalb der Familie handhabte, ging dahin, daß junge Leute es nicht zu bequem haben sollten. Ehe man ihnen irgendwelche Rechte zubilligte, sollten sie lernen, daß sie Pflichten hatten und vor allem die Pflicht vollkommener Fügsamkeit. Von Anfang an sollte uns eingeprägt werden, daß wir, die wir im Leben noch nichts geleistet hatten und keinerlei Erfahrung besaßen, einzig dankbar zu sein hatten für alles, was man uns gewährte, und keinen Anspruch, etwas zu fragen oder zu fordern. Von frühester Kindheit an wurde in meiner Zeit diese stupide Methode der Einschüchterung geübt. Dienstmädchen und dumme Mütter erschreckten schon dreijährige und vierjährige Kinder, sie würden den ›Polizeimann‹ holen, wenn sie nicht sofort aufhörten, schlimm zu sein. Noch als Gymnasiast wurde uns, wenn wir eine schlechte Note in irgendeinem nebensächlichen Gegenstand nach Hause brachten, gedroht, man werde uns aus der Schule nehmen und ein Handwerk lernen lassen – die schlimmste Drohung, die es in der bürgerlichen Welt gab: der Rückfall ins Proletariat –, und wenn junge Menschen im ehrlichsten Bildungsverlangen bei Erwachsenen Aufklärung über ernste zeitliche Probleme suchten, wurden sie abgekanzelt mit dem hochmütigen »Das verstehst du noch nicht«. An allen Stellen übte man diese Technik, im Hause, in der Schule und im Staate. Man wurde nicht müde, dem jungen Menschen einzuschärfen, daß er noch nicht ›reif‹ sei, daß er nichts verstünde, daß er einzig gläubig zuzuhören habe, nie aber selbst mitsprechen oder gar widersprechen dürfe. Aus diesem Grunde sollte auch in der Schule der arme Teufel von Lehrer, der oben am Katheder saß, ein unnahbarer Ölgötze bleiben und unser ganzes Fühlen und Trachten auf den ›Lehrplan‹ beschränken. Ob wir uns in der Schule wohl fühlten oder nicht, war ohne Belang. Ihre wahre Mission im Sinne der Zeit war nicht so sehr, uns vorwärtszubringen als uns zurückzuhalten, nicht uns innerlich auszuformen, sondern dem geordneten Gefüge möglichst widerstandslos einzupassen, nicht unsere Energie zu steigern, sondern sie zu disziplinieren und zu nivellieren.

Ein solcher psychologischer oder vielmehr unpsychologischer Druck auf eine Jugend kann nur zweierlei Wirkung haben: er kann lähmend wirken oder stimulierend. Wie viele ›Minderwertigkeitskomplexe‹ diese absurde Erziehungsmethode gezeitigt hat, mag man in den Akten der Psychoanalytiker nachlesen; es ist vielleicht kein Zufall, daß dieser Komplex gerade von Männern aufgedeckt wurde, die selbst durch unsere alten österreichischen Schulen gegangen. Ich persönlich danke diesem Druck eine schon früh manifestierte Leidenschaft, frei zu sein, wie sie in gleich vehementem Ausmaß die heutige Jugend kaum mehr kennt, und dazu einen Haß gegen alles Autoritäre, gegen alles ›von oben herab‹ Sprechen, der mich mein ganzes Leben lang begleitet hat. Jahre und Jahre ist diese Abneigung gegen alles Apodiktische und Dogmatische bei mir bloß instinktiv gewesen, und ich hatte schon vergessen, woher sie stammte. Aber als einmal auf einer Vortragsreise man den großen Hörsaal der Universität für mich gewählt hatte und ich plötzlich entdeckte, daß ich von einem Katheder herab sprechen sollte, während die Hörer unten auf den Bänken genau wie wir als Schüler, brav und ohne Rede und Gegenrede saßen, überkam mich plötzlich ein Unbehagen. Ich erinnerte mich, wie ich an diesem unkameradschaftlichen, autoritären, doktrinären Sprechen von oben herab in all meinen Schuljahren gelitten hatte, und eine Angst überkam mich, ich könnte durch dieses Sprechen von einem Katheder herab ebenso unpersönlich wirken wie damals unsere Lehrer auf uns; dank dieser Hemmung wurde diese Vorlesung auch die schlechteste meines Lebens.

 

Bis zum vierzehnten oder fünfzehnten Jahre fanden wir uns mit der Schule noch redlich zurecht. Wir spaßten über die Lehrer, wir lernten mit kalter Neugier die Lektionen. Dann aber kam die Stunde, wo die Schule uns nur mehr langweilte und störte. Ein merkwürdiges Phänomen hatte sich in aller Stille ereignet: wir, die wir als zehnjährige Buben ins Gymnasium eingetreten waren, hatten bereits in den ersten vier von unseren acht Jahren geistig die Schule überholt. Wir fühlten instinktiv, daß wir nichts Wesentliches mehr von ihr zu lernen hatten und in manchem der Gegenstände, die uns interessierten, sogar mehr wußten als unsere armen Lehrer, die seit ihrer Studienzeit aus eigenem Interesse nie mehr ein Buch aufgeschlagen. Auch machte sich ein anderer Gegensatz von Tag zu Tag mehr fühlbar: auf den Bänken, wo wir eigentlich nur mehr mit unseren Hosen saßen, hörten wir nichts Neues oder nichts, das uns wissenswert schien, und außen war eine Stadt voll tausendfältiger Anregungen, eine Stadt mit Theatern, Museen, Buchhandlungen, Universität, Musik, wo jeder Tag andere Überraschungen brachte. So warf sich unser zurückgestauter Wissensdurst, die geistige, die künstlerische, die genießerische Neugierde, die in der Schule keinerlei Nahrung fand, leidenschaftlich all dem entgegen, was außerhalb der Schule geschah. Erst waren es nur zwei oder drei unter uns, die solche künstlerischen, literarischen, musikalischen Interessen in sich entdeckten, dann ein Dutzend und schließlich beinahe alle.

Denn Begeisterung ist bei jungen Menschen eine Art Infektionsphänomen. Sie überträgt sich innerhalb einer Schulklasse von einem auf den andern wie Masern oder Scharlach, und indem die Neophyten mit kindlichem, eitlem Ehrgeiz sich möglichst rasch in ihrem Wissen zu überbieten suchen, treiben sie einander weiter. Mehr oder minder ist es darum eigentlich nur Zufall, welche Richtung diese Leidenschaft nimmt; findet sich in einer Klasse ein Briefmarkensammler, so wird er bald ein Dutzend zu gleichen Narren machen, wenn drei für Tänzerinnen schwärmen, werden auch die andern täglich vor der Bühnentür der Oper stehen. Nach der unseren kam drei Jahre später eine Schulklasse, die ganz vom Fußball besessen war, und vor uns war eine, die für Sozialismus oder Tolstoi sich begeisterte. Daß ich zufällig in einen Jahrgang für die Kunst fanatisierter Kameraden geriet, ist vielleicht für meinen ganzen Lebensgang entscheidend gewesen.

An und für sich war diese Begeisterung für Theater, Literatur und Kunst eine ganz natürliche in Wien; die Zeitung gab in Wien allen kulturellen Geschehnissen besonderen Raum, rechts und links hörte man, wo immer man ging, bei den Erwachsenen Diskussionen über die Oper oder das Burgtheater, in allen Papiergeschäften standen in den Auslagen die Bilder der großen Schauspieler; noch galt Sport als eine brutale Angelegenheit, deren ein Gymnasiast sich eher zu schämen hatte, und der Kinematograph mit seinen Massenidealen war noch nicht erfunden. Auch zu Hause hatte man keinen Widerstand zu befürchten; Theater und Literatur zählten unter die ›unschuldigen‹ Passionen im Gegensatz zu Kartenspiel oder Mädchenfreundschaften. Schließlich hatte mein Vater, wie alle Wiener Väter, in seiner Jugend ebenso für das Theater geschwärmt und mit ähnlicher Begeisterung der Lohengrinaufführung unter Richard Wagner beigewohnt wie wir den Premieren von Richard Strauss und Gerhart Hauptmann. Denn daß wir Gymnasiasten uns zu jeder Premiere drängten, war selbstverständlich; wie hätte man sich vor den glücklicheren Kollegen geschämt, wenn man nicht am nächsten Morgen in der Schule hätte jedes Detail berichten können? Wären unsere Lehrer nicht völlig gleichgültig gewesen, so hätte ihnen auffallen müssen, daß an jedem Nachmittag vor einer großen Premiere – für die wir uns schon um drei Uhr anstellen mußten, um die einzig zugänglichen Stehplätze zu bekommen – zwei Drittel der Schüler auf mystische Weise krank geworden waren. Bei strenger Aufmerksamkeit hätten sie ebenso entdecken müssen, daß in dem Umschlag unserer lateinischen Grammatiken die Gedichte von Rilke steckten und wir unsere Mathematikhefte verwendeten, um die schönsten Gedichte aus geliehenen Büchern uns abzuschreiben. Täglich erfanden wir neue Techniken, um die langweiligen Schulstunden für unsere Lektüre auszunutzen; während der Lehrer über Schillers ›Naive und sentimentale Dichtung‹ seinen abgenutzten Vortrag hielt, lasen wir unter der Bank Nietzsche und Strindberg, deren Namen der brave alte Mann nie vernommen. Wie ein Fieber war es über uns gekommen, alles zu wissen, alles zu kennen, was sich auf allen Gebieten der Kunst, der Wissenschaft ereignete; wir drängten uns nachmittags zwischen die Studenten der Universität, um die Vorlesungen zu hören, wir besuchten alle Kunstausstellungen, wir gingen in die Hörsäle der Anatomie, um Sektionen zuzusehen. An allem und jedem schnupperten wir mit neugierigen Nüstern. Wir schlichen uns in die Proben der Philharmoniker, wir stöberten bei den Antiquaren, wir revidierten täglich die Auslagen der Buchhändler, um sofort zu wissen, was seit gestern neu erschienen war. Und vor allem, wir lasen, wir lasen alles, was uns zu Händen kam. Aus jeder öffentlichen Bibliothek holten wir uns Bücher, wir liehen einander gegenseitig, was wir auftreiben konnten. Aber unsere beste Bildungsstätte für alles Neue blieb das Kaffeehaus.

Um dies zu verstehen, muß man wissen, daß das Wiener Kaffeehaus eine Institution besonderer Art darstellt, die mit keiner ähnlichen der Welt zu vergleichen ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann. In einem besseren Wiener Kaffeehaus lagen alle Wiener Zeitungen auf und nicht nur die Wiener, sondern die des ganzen Deutschen Reiches und die französischen und englischen und italienischen und amerikanischen, dazu sämtliche wichtigen literarischen und künstlerischen Revuen der Welt, der ›Mercure de France‹ nicht minder als die ›Neue Rundschau‹, der ›Studio‹ und das ›Burlington Magazine‹. So wußten wir alles, was in der Welt vorging, aus erster Hand, wir erfuhren von jedem Buch, das erschien, von jeder Aufführung, wo immer sie stattfand, und verglichen in allen Zeitungen die Kritiken; nichts hat vielleicht so viel zur intellektuellen Beweglichkeit und internationalen Orientierung des Österreichers beigetragen, als daß er im Kaffeehaus sich über alle Vorgänge der Welt so umfassend orientieren und sie zugleich im freundschaftlichen Kreise diskutieren konnte. Täglich saßen wir dort stundenlang, und nichts entging uns. Denn wir verfolgten dank der Kollektivität unserer Interessen den orbis pictus der künstlerischen Geschehnisse nicht mit zwei, sondern mit zwanzig und vierzig Augen; was der eine übersah, bemerkte für ihn der andere, und da wir uns kindisch protzig mit einem fast sportlichen Ehrgeiz unablässig in unserem Wissen des Neuesten und Allerneuesten überbieten wollten, so befanden wir uns eigentlich in einer Art ständiger Eifersucht auf Sensationen. Wenn wir zum Beispiel den damals noch verfemten Nietzsche diskutierten, erwähnte plötzlich einer von uns mit gespielter Überlegenheit: »Aber in der Idee des Egotismus ist ihm doch Kierkegaard überlegen«, und sofort wurden wir unruhig. »Wer ist Kierkegaard, von dem X. weiß und wir nicht?« Am nächsten Tag stürmten wir in die Bibliothek, die Bücher dieses verschollenen dänischen Philosophen aufzutreiben, denn etwas Fremdes nicht zu kennen, das ein anderer kannte, empfanden wir als Herabsetzung; gerade das Letzte, das Neueste, das Extravaganteste, das Ungewöhnliche, das noch niemand – und vor allem nicht die offizielle Literaturkritik unserer würdigen Tagesblätter – breitgetreten hatte, das Entdecken und Voraussein war unsere Leidenschaft (der ich übrigens persönlich noch viele Jahre gefrönt habe). Just was noch nicht allgemein anerkannt war zu kennen, das schwer Zugängliche, das Verstiegene, das Neuartige und Radikale provozierte unsere besondere Liebe; nichts war darum so verborgen, so abseitig, daß es unsere kollektive, sich gierig überbietende Neugier nicht aus seinem Versteck hervorholte. Stefan George oder Rilke zum Beispiel waren in unserer Gymnasialzeit im ganzen in Auflagen von zweihundert oder dreihundert Exemplaren erschienen, von denen höchstens drei oder vier den Weg nach Wien gefunden hatten; kein Buchhändler hielt sie in seinem Lager, keiner der offiziellen Kritiker hatte jemals Rilkes Namen erwähnt. Aber unser Rudel kannte durch ein Mirakel des Willens jeden Vers und jede Zeile. Wir bartlosen, unausgewachsenen Burschen, die tagsüber noch auf der Schulbank hocken mußten, bildeten wirklich das ideale Publikum, das sich ein junger Dichter erträumen konnte, neugierig, kritisch verständig und begeistert sich zu begeistern. Denn unsere Fähigkeit zum Enthusiasmus war grenzenlos; während unserer Schulstunden, auf dem Weg nach und von der Schule, im Kaffeehaus, im Theater, auf den Spaziergängen haben wir halbwüchsigen Jungen Jahre nichts getan als Bücher, Bilder, Musik, Philosophie zu diskutieren; wer immer öffentlich wirkte, ob als Schauspieler oder Dirigent, wer ein Buch veröffentlicht hatte oder in einer Zeitung schrieb, stand als Stern in unserem Firmament. Ich erschrak beinahe, als ich Jahre später bei Balzac in der Schilderung seiner Jugend den Satz fand: ›Les gens célèbres étaient pour moi comme des dieux qui ne parlaient pas, ne marchaient pas, ne mangeaient pas commes les autres hommes.‹ Denn genauso haben wir empfunden. Gustav Mahler auf der Straße gesehen zu haben, war ein Ereignis, das man stolz wie einen persönlichen Triumph am nächsten Morgen den Kameraden berichtete, und als ich einmal als Knabe Johannes Brahms vorgestellt wurde und er mir freundlich auf die Schulter klopfte, war ich einige Tage ganz wirr über das ungeheure Begebnis. Ich wußte zwar mit meinen zwölf Jahren nur sehr ungenau, was Brahms geleistet hatte, aber schon die bloße Tatsache seines Ruhms, die Aura des Schöpferischen übte erschütternde Gewalt. Eine Premiere von Gerhart Hauptmann im Burgtheater irritierte viele Wochen, bevor die Proben begannen, unsere ganze Klasse; wir schlichen uns an Schauspieler und kleine Statisten heran, um zuerst – vor den andern! – den Gang der Handlung und die Besetzung zu erfahren; wir ließen uns (ich scheue mich nicht, auch unsere Absurditäten zu berichten) die Haare bei dem Burgtheaterfriseur schneiden, nur um eine geheime Nachricht zu ergattern über die Wolter oder Sonnenthal, und ein Schüler aus einer niederen Klasse wurde von uns Älteren besonders verwöhnt und mit allerlei Aufmerksamkeiten bestochen, nur weil er der Neffe eines Beleuchtungsinspektors der Oper war und wir durch ihn manchmal zu den Proben heimlich auf die Bühne geschmuggelt wurden – diese Bühne, die zu betreten den Schauer Dantes übertraf, als er aufstieg in die heiligen Kreise des Paradieses. So stark war für uns die strahlende Kraft des Ruhms, daß er, selbst wenn durch siebenfaches Medium gebrochen, uns noch Ehrfurcht abzwang; ein armes, altes Weibchen erschien uns, weil eine Großnichte Franz Schuberts, wie ein überweltliches Wesen, und selbst dem Kammerdiener von Joseph Kainz sahen wir respektvoll auf der Straße nach, weil er das Glück hatte, diesem geliebtesten und genialsten Schauspieler persönlich nahe sein zu dürfen.

 

Ich weiß natürlich heute genau, wieviel Absurdität in diesem wahllosen Enthusiasmus steckte, wieviel bloß gegenseitige Nachäfferei, wieviel bloß sportliche Lust, sich zu übertrumpfen, wieviel kindische Eitelkeit, sich durch Beschäftigung mit der Kunst über die banausische Umwelt der Verwandten und Lehrer hochmütig erhaben zu fühlen. Aber noch heute bin ich erstaunt, wieviel wir jungen Burschen durch diese Überspannung der literarischen Leidenschaft damals gewußt haben, wie frühzeitig wir uns kritische Unterscheidungsfähigkeit durch dies ununterbrochene Diskutieren und Zerfasern angeeignet haben. Ich kannte mit siebzehn Jahren nicht nur jedes Gedicht Baudelaires oder Walt Whitmans, sondern wußte die wesentlichen auswendig und glaube, in meinem ganzen späteren Leben nicht mehr so intensiv gelesen zu haben wie in diesen Schul- und Universitätsjahren. Namen waren uns selbstverständlich geläufig, die in der Allgemeinheit erst ein Jahrzehnt später gewürdigt wurden, selbst das Ephemerste blieb, weil mit solchem Eifer ergriffen, im Gedächtnis. Einmal erzählte ich meinem verehrten Freunde Paul Valéry, wie alt eigentlich meine literarische Bekanntschaft mit ihm sei; ich hätte vor dreißig Jahren schon Verse von ihm gelesen und geliebt. Valéry lachte mir gutmütig zu: »Schwindeln Sie nicht, lieber Freund! Meine Gedichte sind doch erst 1916 erschienen.« Aber dann staunte er, als ich ihm haargenau in Farbe und Format die kleine literarische Zeitschrift beschrieb, in der wir 1898 in Wien seine ersten Verse gefunden. »Aber die hat doch kaum jemand in Paris gekannt«, sagte er verwundert, »wie konnten Sie sich die denn in Wien beschafft haben?« »Genauso, wie Sie sich als Gymnasiast in Ihrer Provinzstadt die Gedichte Mallarmés, die die offizielle Literatur ebensowenig kannte«, konnte ich ihm antworten. Und er stimmte mir zu: »Junge Leute entdecken sich ihre Dichter, weil sie sich sie entdecken wollen.« Wir witterten in der Tat den Wind, noch ehe er über die Grenze kam, weil wir unablässig mit gespannten Nüstern lebten. Wir fanden das Neue, weil wir das Neue wollten, weil wir hungerten nach etwas, das uns und nur uns gehörte, – nicht der Welt unserer Väter, unserer Umwelt. Jugend besitzt wie gewisse Tiere einen ausgezeichneten Instinkt für Witterungsumschläge, und so spürte unsere Generation, ehe es unsere Lehrer und die Universitäten wußten, daß mit dem alten Jahrhundert auch in den Kunstanschauungen etwas zu Ende ging, daß eine Revolution oder zumindest eine Umstellung der Werte im Anbeginn war. Die guten, soliden Meister aus der Zeit unserer Väter – Gottfried Keller in der Literatur, Ibsen in der Dramatik, Johannes Brahms in der Musik, Leibl in der Malerei, Eduard von Hartmann in der Philosophie – hatten für unser Gefühl die ganze Bedächtigkeit der Welt der Sicherheit in sich; trotz ihrer technischen, ihrer geistigen Meisterschaft interessierten sie uns nicht mehr. Instinktiv fühlten wir, daß ihr kühler, wohltemperierter Rhythmus fremd war dem unseres unruhigen Bluts und auch schon nicht mehr im Einklang mit dem beschleunigten Tempo der Zeit. Nun lebte gerade in Wien der wachsamste Geist der jüngeren deutschen Generation, Hermann Bahr, der für alles Werdende und Kommende sich als geistiger Raufbold wütend herumschlug, mit seiner Hilfe wurde in Wien die ›Sezession‹ eröffnet, die zum Entsetzen der alten Schule aus Paris die Impressionisten und die Pointillisten, aus Norwegen Munch, aus Belgien Rops und alle denkbaren Extremisten ausstellte; damit war zugleich ihren mißachteten Vorgängern Grünewald, Greco und Goya die Bahn gebrochen. Man lernte plötzlich ein neues Sehen und gleichzeitig in der Musik neue Rhythmen und Tonfarben durch Mussorgskij, Debussy, Strauss und Schönberg; in die Literatur brach mit Zola und Strindberg und Hauptmann der Realismus, mit Dostojewskij die slawische Dämonie, mit Verlaine, Rimbaud, Mallarmé eine bisher unbekannte Sublimierung und Raffinierung lyrischer Wortkunst. Nietzsche revolutionierte die Philosophie; eine kühnere, freiere Architektur proklamierte, statt der klassizistischen Überladenheit, den ornamentlosen Zweckbau. Plötzlich war die alte, behagliche Ordnung gestört, ihre bisher als unfehlbar geltenden Normen des ›ästhetisch Schönen‹ (Hanslick) in Frage gestellt, und während die offiziellen Kritiker unserer ›soliden‹ bürgerlichen Zeitungen über die oft verwegenen Experimente sich entsetzten und mit den Bannworten ›dekadent‹ oder ›anarchisch‹ die unaufhaltsame Strömung zu dämmen suchten, warfen wir jungen Menschen uns begeistert in die Brandung, wo sie am wildesten schäumte. Wir hatten das Gefühl, daß eine Zeit für uns, unsere Zeit begann, in der endlich Jugend zu ihrem Recht kam. So erhielt mit einemmal unsere unruhig suchende und spürende Leidenschaft einen Sinn: wir konnten, wir jungen Menschen auf der Schulbank, mitkämpfen in diesen wilden und oft rabiaten Schlachten um die neue Kunst. Wo ein Experiment versucht wurde, etwa eine Wedekind-Aufführung, eine Vorlesung neuer Lyrik, waren wir unfehlbar zur Stelle mit aller Kraft nicht nur unserer Seele, sondern auch noch unserer Hände; ich war Zeuge, wie bei einer Erstaufführung eines der atonalen Jugendwerke Arnold Schönbergs, als ein Herr heftig zischte und pfiff, mein Freund Buschbeck ihm eine ebenso heftige Ohrfeige versetzte; überall waren wir die Stoßtruppe und der Vortrupp jeder Art neuer Kunst, nur weil sie neu war, nur weil sie die Welt verändern wollte für uns, die jetzt an die Reihe kamen, ihr Leben zu leben. Weil wir fühlten, ›nostra res agitur‹.

Aber es war noch etwas anderes, was uns an dieser neuen Kunst so maßlos interessierte und faszinierte: daß sie fast ausschließlich eine Kunst junger Leute war. In der Generation unserer Väter kam ein Dichter, ein Musiker erst zu Ansehen, wenn er sich ›erprobt‹, wenn er sich der gelassenen, der soliden Geschmacksrichtung der bürgerlichen Gesellschaft angepaßt hatte. Alle die Männer, die zu respektieren man uns gelehrt hatte, benahmen und gebärdeten sich respektabel. Sie trugen ihre schönen, graumelierten Bärte – Wilbrandt, Ebers, Felix Dahn, Paul Heyse, Lenbach, diese heute längst verschollenen Lieblinge jener Zeit – über poetischen Samtjacken. Sie ließen sich mit sinnendem Blick photographieren, immer in ›würdiger‹ und ›dichterischer‹ Haltung, sie benahmen sich wie Hofräte und Exzellenzen und wurden wie diese mit Orden geschmückt. Junge Dichter oder Maler oder Musiker aber wurden bestenfalls als ›hoffnungsvolle Talente‹ vermerkt, eine positive Anerkennung dagegen vorläufig in den Eisschrank gelegt; jenes Zeitalter der Vorsicht liebte es nicht, vorzeitig eine Gunst auszuteilen, ehe man nicht durch langjährige ›solide‹ Leistung sich bewährt hatte. Die neuen Dichter, Musiker, Maler aber waren alle jung; Gerhart Hauptmann, plötzlich aus völliger Namenlosigkeit aufgetaucht, beherrschte mit dreißig Jahren die deutsche Bühne, Stefan George, Rainer Maria Rilke hatten mit dreiundzwanzig Jahren – also früher, als man nach dem österreichischen Gesetz für mündig erklärt wurde – literarischen Ruhm und fanatische Gefolgschaft. In unserer eigenen Stadt entstand über Nacht die Gruppe des ›jungen Wien‹ mit Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Peter Altenberg, in denen die spezifisch österreichische Kultur durch eine Verfeinerung aller Kunstmittel zum erstenmal europäischen Ausdruck fand. Aber vor allem war es eine Gestalt, die uns faszinierte, verführte, berauschte und begeisterte, das wunderbare und einmalige Phänomen Hugo von Hofmannsthals, in dem unsere Jugend nicht nur ihre höchsten Ambitionen, sondern auch die absolute dichterische Vollendung in der Gestalt eines beinahe Gleichaltrigen sich ereignen sah.

 

Die Erscheinung des jungen Hofmannsthal ist und bleibt denkwürdig als eines der großen Wunder früher Vollendung; in der Weltliteratur kenne ich bei solcher Jugend außer bei Keats und Rimbaud kein Beispiel ähnlicher Unfehlbarkeit in der Bemeisterung der Sprache, keine solche Weite der ideellen Beschwingtheit, kein solches Durchdrungensein mit poetischer Substanz bis in die zufälligste Zeile, wie in diesem großartigen Genius, der schon in seinem sechzehnten und siebzehnten Jahr sich mit unverlöschbaren Versen und einer noch heute nicht überbotenen Prosa in die ewigen Annalen der deutschen Sprache eingeschrieben hat. Sein plötzliches Beginnen und zugleich schon Vollendetsein war ein Phänomen, wie es sich innerhalb einer Generation kaum ein zweites Mal ereignet. Als beinahe übernatürliches Begebnis haben darum alle jene das Unwahrscheinliche seiner Erscheinung angestaunt, die zuerst davon Kunde erhielten. Hermann Bahr erzählte mir oft von dem Staunen, als er für seine Zeitschrift gerade aus Wien einen Aufsatz von einem ihm unbekannten ›Loris‹ – eine öffentliche Publikation unter eigenen Namen war im Gymnasium unerlaubt – erhielt; nie hatte er unter Beiträgen aus aller Welt eine Arbeit empfangen, die in so beschwingter, adeliger Sprache solchen gedanklichen Reichtum gleichsam mit leichter Hand hinstreute. Wer ist ›Loris‹, wer dieser Unbekannte?, fragte er sich. Ein alter Mann gewiß, der in Jahren und Jahren seine Erkenntnisse schweigsam gekeltert hat und in geheimnisvoller Klausur die sublimsten Essenzen der Sprache zu einer fast wollüstigen Magie kultiviert. Und solch ein Weiser, solch ein begnadeter Dichter lebte in derselben Stadt, und er hatte nie von ihm gehört! Bahr schrieb sofort dem Unbekannten und verabredete eine Besprechung in einem Kaffeehaus – dem berühmten Café Griensteidl, dem Hauptquartier der jungen Literatur. Plötzlich kam mit leichten, raschen Schritten ein schlanker, noch unbärtiger Gymnasiast mit kurzen Knabenhosen an seinen Tisch, verbeugte sich und sagte mit einer hohen, noch nicht ganz mutierten Stimme knapp und entschieden: ›Hofmannsthal! Ich bin Loris.‹ Nach Jahren noch, wenn Bahr von seiner Verblüffung erzählt, überkam ihn die Erregung. Er wollte es zuerst nicht glauben. Ein Gymnasiast, dem solche Kunst, solche Weitsicht, solche Tiefsicht, solche stupende Kenntnis des Lebens vor dem Leben zu eigen war! Und beinah das gleiche berichtete mir Arthur Schnitzler. Er war damals noch Arzt, da seine ersten literarischen Erfolge noch keineswegs Sicherung der Lebensexistenz zu verbürgen schienen; aber er galt schon als Haupt des ›jungen Wien‹, und die noch Jüngeren wandten sich gern an ihn um Rat und Urteil. Bei zufälligen Bekannten hatte er den hochaufgeschossenen jungen Gymnasiasten kennengelernt, der ihm durch seine behende Klugheit auffiel, und als dieser Gymnasiast die Gunst erbat, ihm ein kleines Theaterstück in Versen vorlesen zu dürfen, lud er ihn gerne in seine Junggesellenwohnung, freilich ohne große Erwartung – nun eben ein Gymnasiastenstück, sentimentalisch oder pseudoklassisch, dachte er. Er bestellte einige Freunde; Hofmannsthal erschien in seinen kurzen Knabenhosen, etwas nervös und befangen, und begann zu lesen. »Nach einigen Minuten«, erzählte mir Schnitzler, »horchten wir plötzlich scharf auf und tauschten verwunderte, beinahe erschrockene Blicke. Verse solcher Vollendung, solcher fehlloser Plastik, solcher musikalischer Durchfühltheit, hatten wir von keinem Lebenden je gehört, ja seit Goethe kaum für möglich gehalten. Aber noch wunderbarer als diese einmalige (und seitdem von niemandem in deutscher Sprache mehr erreichte) Meisterschaft der Form war die Weltkenntnis, die nur aus magischer Intuition kommen konnte, bei einem Knaben, der tagsüber auf der Schulbank saß.« Als Hofmannsthal endete, blieben alle stumm. »Ich hatte«, sagte mir Schnitzler, »das Gefühl, zum erstenmal im Leben einem geborenen Genie begegnet zu sein, und ich habe es in meinem ganzen Leben nie mehr so überwältigend empfunden.« Wer so mit sechzehn begann – oder vielmehr nicht begann, sondern schon vollendet war im Beginnen –, mußte ein Bruder Goethes und Shakespeares werden. Und wirklich, die Vollendung schien sich immer mehr zu vollenden: nach diesem ersten Versstück ›Gestern‹ kam das grandiose Fragment des ›Tod des Tizian‹, in dem die deutsche Sprache sich zu italienischem Wohllaut erhob, kamen die Gedichte, deren jedes einzelne für uns ein Ereignis war, und die ich heute noch nach Jahrzehnten Zeile für Zeile auswendig weiß, kamen die kleinen Dramen und jene Aufsätze, die Reichtum des Wissens, fehllosen Kunstverstand, Weite des Weltblicks magisch in dem wunderbar ausgesparten Raum von ein paar Dutzend Seiten zusammendrängten: alles, was dieser Gymnasiast, dieser Universitätsstudent schrieb, war wie Kristall, von innen her durchleuchtet, dunkel und glühend zugleich. Der Vers, die Prosa schmiegten sich wie duftendes Wachs vom Hymettos in seine Hände, immer hatte durch ein unwiederholbares Wunder jede Dichtung ihr richtiges Maß, nie ein Zuwenig, nie ein Zuviel, immer spürte man, daß ein Unbewußtes, ein Unbegreifliches geheimnisvoll ihn lenken mußte auf diesen Wegen ins bisher Unbetretene.

Wie ein solches Phänomen uns, die wir uns erzogen hatten, Werte zu spüren, faszinierte, vermag ich kaum wiederzugeben. Denn was kann einer jungen Generation Berauschenderes geschehen, als neben sich, unter sich den geborenen, den reinen, den sublimen Dichter leibhaft nahe zu wissen, ihn, den man sich immer nur in den legendären Formen Hölderlins und Keats' und Leopardis imaginierte, unerreichbar und halb schon Traum und Vision? Deshalb erinnere ich mich auch so deutlich an den Tag, da ich Hofmannsthal zum erstenmal in persona sah. Ich war sechzehn Jahre alt, und da wir alles, was dieser unser idealer Mentor tat, geradezu mit Gier verfolgten, erregte mich eine kleine versteckte Notiz in der Zeitung außerordentlich, daß in dem ›Wissenschaftlichen Klub‹ ein Vortrag von ihm über Goethe angekündigt sei (unvorstellbar für uns, daß ein solcher Genius in einem so bescheidenen Rahmen sprach; wir hätten in unserer gymnasiastischen Anbetung erwartet, der größte Saal müsse vollgedrängt sein, wenn ein Hofmannsthal seine Gegenwart öffentlich gewährte). Aber bei diesem Anlaß gewahrte ich wiederum, wie sehr wir kleinen Gymnasiasten in unserer Wertung, in unserem – nicht nur hier – als richtig erwiesenen Instinkt für das Überdauernde dem großen Publikum und der offiziellen Kritik schon voraus waren; etwa zehn bis zwölf Dutzend Zuhörer hatten sich im ganzen in dem engen Saal zusammengefunden: es wäre also nicht notwendig gewesen, daß ich in meiner Ungeduld schon eine halbe Stunde zu früh mich aufmachte, um mir einen Platz zu sichern. Wir warteten einige Zeit, dann ging plötzlich ein schlanker, an sich unauffälliger junger Mann durch unsere Reihen auf das Pult zu und begann so unvermittelt, daß ich kaum Zeit hatte, ihn richtig zu betrachten. Hofmannsthal sah mit seinem weichen, nicht ganz ausgeformten Schnurrbärtchen und seiner elastischen Figur noch jünger aus, als ich erwartet hatte. Sein scharfprofiliertes, etwas italienisch-dunkles Gesicht schien nervös gespannt, und zu diesem Eindruck trug die Unruhe seiner sehr dunklen, samtigen, aber stark kurzsichtigen Augen noch bei, er warf sich gleichsam mit einem einzigen Ruck in die Rede hinein wie ein Schwimmer in die vertraute Flut, und je weiter er sprach, desto freier wurden seine Gesten, desto sicherer seine Haltung; kaum war er im geistigen Element, so überkam ihn (dies bemerkte ich später auch oft im privaten Gespräch) aus einer anfänglichen Befangenheit eine wunderbare Leichtigkeit und Beschwingtheit wie immer den inspirierten Menschen. Nur bei den ersten Sätzen bemerkte ich noch, daß seine Stimme unschön war, manchmal sehr nahe dem Falsett und sich leicht überkippend, aber schon trug die Rede uns so hoch und frei empor, daß wir nicht mehr die Stimme und kaum sein Gesicht mehr wahrnahmen. Er sprach ohne Manuskript, ohne Notizen, vielleicht sogar ohne genaue Vorbereitung, aber jeder Satz hatte aus dem zauberhaften Formgefühl seiner Natur vollendete Rundung. Blendend entfalteten sich die verwegensten Antithesen, um sich dann in klaren und doch überraschenden Formulierungen zu lösen. Bezwingend hatte man das Gefühl, daß dies Dargebotene nur zufällig Hingestreutes sei einer viel größeren Fülle, daß er, beschwingt wie er war und aufgehoben in die obere Sphäre, noch Stunden und Stunden so weitersprechen könnte, ohne sich zu verarmen und sein Niveau zu vermindern. Auch im privaten Gespräch habe ich in späteren Jahren die Zaubergewalt dieses ›Erfinders rollenden Gesangs und sprühend gewandter Zwiegespräche‹, wie Stefan George ihn rühmte, empfunden; er war unruhig, farbig, sensibel, jedem Druck der Luft ausgesetzt, oft mürrisch und nervös im privaten Umgang, und ihm nahezukommen, war nicht leicht. Im Augenblick aber, da ein Problem ihn interessierte, war er wie eine Zündung; in einem einzigen raketenhaft blitzenden, glühenden Flug riß er dann jede Diskussion in die ihm eigene und nur ihm ganz erreichbare Sphäre empor. Außer manchmal mit Valéry, der gemessener, kristallinischer dachte, und dem impetuosen Keyserling habe ich nie ein Gespräch ähnlich geistigen Niveaus erlebt wie mit ihm. Alles war in diesen wahrhaft inspirierten Augenblicken seinem dämonisch wachen Gedächtnis gegenständlich nah, jedes Buch, das er gelesen, jedes Bild, das er gesehen, jede Landschaft; eine Metapher band sich der andern so natürlich wie Hand mit Hand, Perspektiven hoben sich wie plötzliche Kulissen hinter dem schon abgeschlossen vermeinten Horizont – in jener Vorlesung zum erstenmal und später bei persönlichen Begegnungen habe ich wahrhaft den ›flatus‹, den belebenden, begeisternden Anhauch des Inkommensurablen, des mit der Vernunft nicht voll Erfaßbaren bei ihm gefühlt.

In einem gewissen Sinn hat Hofmannsthal nie mehr das einmalige Wunder überboten, das er von seinem sechzehnten bis etwa zum vierundzwanzigsten Jahre gewesen. Ich bewundere nicht minder manche seiner späteren Werke, die herrlichen Aufsätze, das Fragment des ›Andreas‹, diesen Torso des vielleicht schönsten Romans deutscher Sprache, und einzelne Partien seiner Dramen; aber mit seiner stärkeren Bindung an das reale Theater und die Interessen seiner Zeit, mit der deutlichen Bewußtheit und Ambitioniertheit seiner Pläne ist etwas von dem Traumwandlerisch-Treffenden, von der reinen Inspiriertheit jener ersten knabenhaften Dichtungen und damit auch von dem Rausch und der Ekstase unserer eigenen Jugend dahingegangen. Mit dem magischen Wissen, das Unmündigen zu eigen ist, haben wir vorausgewußt, daß dies Wunder unserer Jugend einmalig sei und ohne Wiederkehr in unserem Leben.

 

Balzac hat in unvergleichlicher Weise dargestellt, wie das Beispiel Napoleons eine ganze Generation in Frankreich elektrisiert hat. Der blendende Aufstieg eines kleinen Leutnants Bonaparte zum Kaiser der Welt bedeutete für ihn nicht nur den Triumph einer Person, sondern einen Sieg der Idee der Jugend. Daß man nicht als Prinz oder Fürst geboren sein müsse, um Macht früh zu erringen, daß man aus einer beliebigen kleinen und sogar armen Familie stammen und doch mit vierundzwanzig Jahren General, mit dreißig Jahren Gebieter Frankreichs und bald der ganzen Welt sein konnte, dieser einmalige Erfolg trieb Hunderte aus ihren kleinen Berufen und Provinzstädten – der Leutnant Bonaparte erhitzte einer ganzen Jugend die Köpfe. Er trieb sie in einen gesteigerten Ehrgeiz; er schuf die Generäle der großen Armee und die Helden und Arrivisten der Comédie Humane. Immer ermutigt ein einzelner junger Mensch, der auf welchem Gebiet immer im ersten Schwung das bisher Unerreichbare erreicht, durch die bloße Tatsache seines Erfolgs alle Jugend um sich und hinter sich. In diesem Sinne bedeuteten Hofmannsthal und Rilke für uns Jüngere einen ungemeinen Antrieb für unsere noch unausgegorenen Energien. Ohne zu hoffen, daß je einer von uns das Wunder Hofmannsthals wiederholen könnte, wurden wir doch bestärkt durch seine rein körperliche Existenz. Sie bewies geradezu optisch, daß auch in unserer Zeit, in unserer Stadt, in unserem Milieu der Dichter möglich war. Sein Vater, ein Bankdirektor, stammte schließlich aus der gleichen jüdisch-bürgerlichen Schicht wie wir andern, der Genius war in einem ähnlichen Hause wie wir mit gleichen Möbeln und gleicher Standesmoral aufgewachsen, in ein ebenso steriles Gymnasium gegangen, er hatte aus denselben Lehrbüchern gelernt und war auf denselben hölzernen Bänken acht Jahre gesessen, ähnlich ungeduldig wie wir, ähnlich passioniert für alle geistigen Werte; und siehe, es war ihm gelungen, noch während er seine Hosen auf diesen Bänken wetzen und in dem Turnsaal herumtrappen mußte, den Raum und seine Enge, die Stadt und die Familie überwindend durch diesen Aufschwung ins Grenzenlose. Durch Hofmannsthal war uns gewissermaßen ad oculos demonstriert, daß es prinzipiell möglich sei, auch in unseren Jahren und selbst in der Kerkeratmosphäre eines österreichischen Gymnasiums Dichterisches, ja dichterisch Vollendetes zu schaffen. Es war möglich sogar – ungeheure Verlockung für ein knabenhaftes Gemüt! –, schon gedruckt, schon gerühmt, schon berühmt zu sein, während man zu Hause und in der Schule noch als halbwüchsiges, unbeträchtliches Wesen galt.

Rilke wiederum bedeutete uns eine Ermutigung anderer Art, die jene durch Hofmannsthal in einer beruhigenden Weise ergänzte. Denn mit Hofmannsthal zu rivalisieren, wäre selbst dem Verwegensten unter uns blasphemisch erschienen. Wir wußten: er war ein einmaliges Wunder frühreifer Vollendung, das sich nicht wiederholen konnte, und wenn wir Sechzehnjährigen unsere Verse mit jenen hochberühmten verglichen, die er im gleichen Alter geschrieben, erschraken wir vor Scham; ebenso fühlten wir uns in unserem Wissen gedemütigt vor dem Adlerflug, mit dem er noch im Gymnasium den geistigen Weltraum durchmessen. Rilke dagegen hatte zwar gleichfalls früh, mit siebzehn oder achtzehn Jahren, begonnen, Verse zu schreiben und zu veröffentlichen. Aber diese frühen Verse Rilkes waren im Vergleich zu jenen Hofmannsthals und sogar im absoluten Sinne unreife, kindliche und naive Verse, in denen man nur mit Nachsicht ein paar dünne Goldspuren Talent wahrnehmen konnte. Erst nach und nach, im zweiundzwanzigsten, im dreiundzwanzigsten Jahr hatte dieser wundervolle, von uns maßlos geliebte Dichter sich persönlich zu gestalten begonnen; das bedeutete für uns schon einen ungeheuren Trost. Man mußte also nicht wie Hofmannsthal schon im Gymnasium vollendet sein, man konnte wie Rilke tasten, versuchen, sich formen, sich steigern. Man mußte sich nicht sofort aufgeben, weil man vorläufig Unzulängliches, Unreifes, Unverantwortliches schrieb, und konnte vielleicht statt des Wunders Hofmannsthal den stilleren, normaleren Aufstieg Rilkes in sich wiederholen.

Denn daß wir alle längst zu schreiben oder zu dichten, zu musizieren oder zu rezitieren begonnen hatten, war selbstverständlich; jede passiv-passionierte Einstellung ist ja an sich schon unnatürlich für eine Jugend, denn es liegt in ihrem Wesen, Eindrücke nicht nur aufzunehmen, sondern sie produktiv zu erwidern. Theater zu lieben heißt für junge Menschen zumindest wünschen und träumen: selbst auf dem Theater oder für das Theater zu wirken. Talent in allen Formen ekstatisch zu bewundern, führt sie unwiderstehlich dazu, in sich selbst Nachschau zu halten, ob nicht eine Spur oder Möglichkeit dieser erlesensten Essenz in dem eigenen unerforschten Leib oder der noch halb verdunkelten Seele zu entdecken wäre. So wurde in unserer Schulklasse gemäß der Wiener Atmosphäre und den besonderen Bedingtheiten jener Zeit der Trieb zur künstlerischen Produktion geradezu epidemisch. Jeder suchte in sich ein Talent und versuchte es zu entfalten. Vier oder fünf von uns wollten Schauspieler werden. Sie imitierten die Diktion unserer Burgschauspieler, sie rezitierten und deklamierten ohne Unterlaß, nahmen heimlich schon Schauspielstunden und improvisierten in den Schulpausen mit verteilten Rollen ganze Szenen aus den Klassikern, für die wir andern ein neugieriges, aber streng kritisches Publikum bildeten. Zwei oder drei waren ausgezeichnet ausgebildete Musiker, hatten sich aber noch nicht entschlossen, ob sie Komponisten, Virtuosen oder Dirigenten werden wollten; ihnen danke ich die erste Kenntnis der neuen Musik, die in den offiziellen Konzerten der Philharmoniker noch streng verfemt war – während sie sich wiederum von uns die Texte für ihre Lieder und Chöre holten. Ein anderer, der Sohn eines damals berühmten Gesellschaftsmalers, zeichnete während der Stunden uns die Schulhefte voll und porträtierte all die zukünftigen Genies der Klasse. Aber weitaus am stärksten war die literarische Bemühung. Durch die gegenseitige Anstachelung zu immer rascherer Vollendung und die wechselseitig geübte Kritik an jedem einzelnen Gedicht war das Niveau, da wir mit siebzehn Jahren erreichten, weit über das Dilettantische hinaus und näherte sich bei einzelnen wirklich gültiger Leistung, was sich schon dadurch bewies, daß unsere Produktionen nicht etwa nur von obskuren Provinzblättchen, sondern von führenden Revuen der neuen Generation angenommen, gedruckt und – dies der überzeugendste Beweis – sogar honoriert wurden. Einer meiner Kameraden, Ph. A., den ich wie einen Genius vergötterte, glänzte an erster Stelle im ›Pan‹, der großartigen Luxuszeitschrift, neben Dehmel und Rilke, ein anderer, A. M., hatte unter dem Pseudonym ›August Oehler‹ Eingang gefunden in die unzugänglichste, eklektischste aller deutschen Revuen, in die ›Blätter für die Kunst‹, die Stefan George ausschließlich seinem geheiligten siebenmal gesiebten Kreise vorbehielt. Ein dritter schrieb, von Hofmannsthal ermutigt, ein Napoleondrama, ein vierter eine neue ästhetische Theorie und bedeutsame Sonette; ich selbst hatte in der ›Gesellschaft‹, dem führenden Blatt der Moderne, und in Maximilian Hardens ›Zukunft‹, dieser für die politische und kulturelle Geschichte des neuen Deutschlands entscheidenden Wochenschrift, Eingang gefunden. Sehe ich heute zurück, so muß ich ganz objektiv bekennen, daß die Summe unseres Wissens, die Verfeinerung unserer literarischen Technik, das künstlerische Niveau für Siebzehnjährige ein wirklich erstaunliches war und nur erklärlich durch das anfeuernde Beispiel jener phantastischen Frühreife Hofmannsthals, das uns, um nur halbwegs voreinander zu bestehen, eine leidenschaftliche Anspannung zum Äußersten abzwang. Wir beherrschten alle Kunstgriffe und Extravaganzen und Kühnheiten der Sprache, wir hatten die Technik jeder Versform, alle Stile im Pindarischen Pathos bis zur simplen Diktion des Volkslieds in unzähligen Versuchen durchgeprobt, wir zeigten im täglichen Tausch unserer Produktionen uns gegenseitig die flüchtigsten Unstimmigkeiten und diskutierten jede metrische Einzelheit. Während unsere braven Lehrer noch ahnungslos unsere Schulaufsätze mit roter Tinte auf fehlende Beistriche anzeichneten, übten wir einander Kritik mit einer Strenge, einer Kunstkenntnis und Akribie wie keiner der offiziellen Literaturpäpste unserer großen Tageblätter an den klassischen Meisterwerken; auch ihnen, den schon bestallten und berühmten Kritikern, waren wir in den letzten Schuljahren durch unseren Fanatismus weit an fachlichem Urteil und stilistischer Ausdrucksfähigkeit vorausgekommen.

Diese wirklich wahrheitsgetreue Schilderung unserer literarischen Frühreife könnte vielleicht zu der Meinung verleiten, wir seien eine besondere Wunderklasse gewesen. Aber durchaus nicht. In einem Dutzend Nachbarschulen war damals in Wien das gleiche Phänomen gleichen Fanatismus und gleicher frühreifer Begabung zu beobachten. Das konnte kein Zufall sein. Es war eine besonders glückliche Atmosphäre, bedingt durch den künstlerischen Humus der Stadt, die unpolitische Zeit, die drängende Konstellation geistiger und literarischer Neuorientierung um die Jahrhundertwende, die sich in uns chemisch dem immanenten Produktionswillen verband, der eigentlich dieser Lebensstufe beinahe zwanghaft zugehörig ist. Im Alter der Pubertät geht das Dichterische oder der Antrieb zum Dichterischen eigentlich durch jeden jungen Menschen, freilich meist nur wie eine flüchtige Welle, und es ist selten, daß solche Neigung die Jugend überlebt, da sie ja selbst nur Emanation der Jugend ist. Von unseren fünf Schauspielern auf der Schulbank ist später keiner auf der wirklichen Bühne ein Schauspieler geworden, die Dichter des ›Pan‹ und der ›Blätter für die Kunst‹ In bezug auf den jung verstorbenen August Oehler liegt hier eine Gedächtnistäuschung Stefan Zweigs vor. versandeten nach diesem erstaunlichen ersten Anschwung als biedere Rechtsanwälte oder Beamte, die vielleicht heute melancholisch oder ironisch ihre einstigen Ambitionen belächeln – ich bin der einzige unter ihnen allen, in dem die produktive Leidenschaft angehalten hat und dem sie Sinn sowie Kern eines ganzen Lebens geworden ist. Aber wie dankbar gedenke ich noch jener Kameradschaft! Wieviel hat sie mir geholfen! Wie haben diese feurigen Diskussionen, dies wilde Überbieten, dies gegenseitige Sich-Bewundern und Sich-Kritisieren mir Hand und Nerv frühzeitig geübt, wieviel Ausblick und Überblick auf den geistigen Kosmos gegeben, wie beschwingt uns alle über die Öde und Tristheit unserer Schule emporgehoben! ›Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden ...‹, immer, wenn das unsterbliche Schubertlied anklingt, sehe ich in einer Art plastischer Vision uns auf unseren jämmerlichen Schulbänken mit gedrückten Schultern und dann auf dem Heimweg strahlenden, erregten Blickes, Gedichte kritisierend, rezitierend, leidenschaftlich alle Gebundenheit an Raum und Zeit vergessend, wahrhaft ›in eine bessere Welt entrückt‹.

 

Eine solche Monomanie des Kunstfanatismus, eine derart bis ins Absurde getriebene Überbewertung des Ästhetischen konnte sich natürlich nur auf Kosten der normalen Interessen unseres Alters ausleben. Wenn ich mich heute frage, wann wir die Zeit fanden, alle diese Bücher zu lesen, überfüllt wie unser Tag schon war mit Schul- und Privatstunden, so wird mir klar, daß es gutenteils zum Schaden unseres Schlafs und damit unserer körperlichen Frische geschah. Daß ich, obwohl ich morgens um sieben Uhr aufzustehen hatte, je vor ein oder zwei Uhr nachts meine Lektüre aus der Hand gelegt hätte, kam niemals vor – eine schlechte Gewohnheit, die ich übrigens damals für immer annahm, selbst zur spätesten Nachtzeit noch eine Stunde oder zwei zu lesen. So kann ich mich nicht erinnern, je anders als unausgeschlafen und höchst mangelhaft gewaschen in letzter Minute zur Schule gejagt zu sein, das Butterbrot im Laufen verzehrend; kein Wunder, daß wir bei all unserer Intellektualität alle hager und grün aussahen wie unreifes Obst, überdies in der Kleidung ziemlich verwahrlost. Denn jeder Heller unseres Taschengeldes ging auf für Theater, Konzerte oder Bücher, und anderseits legten wir wenig Gewicht darauf, den jungen Mädchen zu gefallen, wir, die wir doch höheren Instanzen zu imponieren gedachten. Mit jungen Mädchen spazierenzugehen, schien uns verlorene Zeit, da wir in unserer intellektuellen Arroganz das andere Geschlecht von vornherein für geistig minderwertig hielten und unsere kostbaren Stunden nicht mit flachem Geschwätz vertun wollten. Einem jungen Menschen von heute begreiflich zu machen, bis zu welchem Grade wir alles Sportliche ignorierten und sogar verachteten, dürfte nicht leicht sein. Allerdings war im vorigen Jahrhundert die Sportwelle noch nicht von England auf unseren Kontinent herübergekommen. Es gab noch kein Stadion, wo hunderttausend Menschen vor Begeisterung tobten, wenn ein Boxer dem anderen die Faust in die Kinnlade schmetterte; die Zeitungen sandten noch nicht Berichterstatter, damit sie mit homerischem Aufschwung über ein Hockeyspiel spaltenlang berichteten. Ringkämpfe, Athletenvereine, Schwergewichtsrekorde galten zu unserer Zeit noch als eine Angelegenheit der äußeren Vorstadt, und Fleischermeister und Lastträger bildeten ihr eigentliches Publikum; höchstens der edlere, aristokratischere Rennsport lockte, ein paarmal im Jahre, die sogenannte ›gute Gesellschaft‹ auf den Rennplatz, nicht aber uns, denen jede körperliche Betätigung als blanker Zeitverlust erschien. Mit dreizehn Jahren, als jene intellektuell-literarische Infektion bei mir begann, stellte ich das Eislaufen ein, verwandte das von den Eltern mir für eine Tanzstunde zugebilligte Geld für Bücher, mit achtzehn konnte ich noch nicht schwimmen, nicht tanzen, nicht Tennis spielen; noch heute kann ich weder radfahren noch chauffieren, und in sportlichen Dingen vermag jeder Zehnjährige mich zu beschämen. Selbst heute, 1941, ist mir der Unterschied zwischen Baseball und Fußball, zwischen Hockey und Polo höchst unklar, und der Sportteil einer Zeitung erscheint mir mit seinen unerklärlichen Chiffren chinesisch geschrieben. Ich bin gegenüber allen sportlichen Geschwindigkeits- oder Geschicklichkeitsrekorden unentwegt auf dem Standpunkt des Schahs von Persien stehengeblieben, der, als man ihn animieren wollte, einem Derby beizuwohnen, orientalisch weise äußerte: »Wozu? Ich weiß doch, daß ein Pferd schneller laufen kann als das andere. Welches, ist mir gleichgültig.« Ebenso verächtlich, wie unseren Körper zu trainieren, schien es uns, Zeit mit Spiel zu vergeuden; einzig das Schach fand einige Gnade vor unseren Augen, weil es geistige Anstrengung erforderte; und – sogar noch absurder –, obwohl wir uns als werdende oder immerhin potentielle Dichter fühlten, kümmerten wir uns wenig um die Natur. Während meiner ersten zwanzig Jahre habe ich so gut wie nichts von der wundervollen Umgebung Wiens gesehen; die schönsten und heißesten Sommertage, wenn die Stadt verlassen war, hatten für uns sogar einen besonderen Reiz, weil wir dann in unserem Kaffeehaus die Zeitungen und Revuen rascher und reichhaltiger bekamen. Ich habe noch Jahre und Jahrzehnte gebraucht, um das Gleichgewicht gegen diese kindisch-gierige Überspannung wiederzufinden und die unvermeidliche körperliche Ungeschicklichkeit einigermaßen wettzumachen. Aber im ganzen habe ich diesen Fanatismus, dieses nur durch das Auge, nur durch die Nerven leben meiner Gymnasialzeit nie bereut. Es hat mir eine Leidenschaftlichkeit zum Geistigen ins Blut getrieben, die ich nie mehr verlieren möchte, und alles, was ich seitdem gelesen und gelernt, steht auf dem gehärteten Fundament jener Jahre. Was man an seinen Muskeln versäumt hat, holt sich später noch nach; der Aufschwung zum Geistigen, die innere Griffkraft der Seele dagegen, übt sich einzig in jenen entscheidenden Jahren der Formung, und nur wer früh seine Seele weit auszuspannen gelernt, vermag später die ganze Welt in sich zu fassen.

 

Daß etwas Neues in der Kunst sich vorbereitete, etwas, das leidenschaftlicher, problematischer, versucherischer war, als unsere Eltern und unsere Umwelt befriedigt hatte, war das eigentliche Erlebnis unserer Jugendjahre. Aber fasziniert von diesem einen Ausschnitt des Lebens, merkten wir nicht, daß diese Verwandlungen im ästhetischen Raume nur Ausschwingungen und Vorboten viel weiterreichender Veränderungen waren, welche die Welt unserer Väter, die Welt der Sicherheit erschüttern und schließlich vernichten sollten. Eine merkwürdige Umschichtung begann sich in unserem alten, schläfrigen Österreich vorzubereiten. Die Massen, die stillschweigend und gefügig der liberalen Bürgerschaft durch Jahrzehnte die Herrschaft gelassen, wurden plötzlich unruhig, organisierten sich und verlangten ihr eigenes Recht. Gerade in dem letzten Jahrzehnt brach die Politik mit scharfen, jähen Windstößen in die Windstille des behaglichen Lebens. Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit.

Die erste dieser großen Massenbewegungen in Österreich war die sozialistische. Bisher war bei uns das fälschlich so benannte ›allgemeine‹ Wahlrecht nur Begüterten zugeteilt gewesen, die eine bestimmte Steuerleistung aufzuweisen hatten. Die von dieser Klasse gewählten Advokaten und Landwirte aber glaubten ehrlich und redlich, daß sie im Parlament die Sprecher und Vertreter des ›Volkes‹ wären. Sie waren sehr stolz darauf, gebildete Leute, womöglich akademisch gebildet zu sein, sie hielten auf Würde, Anstand und gute Diktion; in den Sitzungen des Parlaments ging es darum zu wie bei dem Diskussionsabend eines vornehmen Klubs. Dank ihrem liberalistischen Glauben an eine durch Toleranz und Vernunft unfehlbar fortschrittliche Welt meinten diese bürgerlichen Demokraten ehrlich, mit kleinen Konzessionen und allmählichen Verbesserungen das Wohl aller Untertanen auf die beste Weise zu fördern. Aber sie hatten vollkommen vergessen, daß sie nur die fünfzigtausend oder hunderttausend Wohlsituierten in den großen Städten repräsentierten und nicht die Hunderttausende und Millionen des ganzen Landes. Inzwischen hatte die Maschine ihr Werk getan und um die Industrie die früher verstreute Arbeiterschaft gesammelt; unter der Führung eines eminenten Mannes, Dr. Victor Adler, bildete sich in Österreich eine sozialistische Partei, um die Ansprüche des Proletariats durchzusetzen, das ein wirklich allgemeines und für jeden gleiches Wahlrecht forderte; kaum daß es gewährt oder vielmehr erzwungen war, wurde man gewahr, eine wie dünne, wenn auch hochwertige Schicht der Liberalismus gewesen. Mit ihm verschwand aus dem öffentlichen politischen Leben die Konzilianz, Interessen stießen jetzt hart gegen die Interessen, es begann der Kampf.

Ich erinnere mich noch aus meiner frühesten Kindheit an den Tag, der die entscheidende Wendung im Aufstieg der sozialistischen Partei in Österreich brachte; die Arbeiter hatten, um zum erstenmal ihre Macht und Masse optisch zu zeigen, die Parole ausgegeben, den Ersten Mai als Feiertag des arbeitenden Volkes zu erklären, und beschlossen, in geschlossenem Zuge in den Prater zu ziehen, und zwar in die Hauptallee, wo sonst an diesem Tage nur die Wagen und Equipagen der Aristokratie und der reichen Bürgerschaft in der schönen, breiten Kastanienallee ihren Korso hielten. Entsetzen lähmte bei dieser Ankündigung die gute liberale Bürgerschaft. Sozialisten, das Wort hatte damals in Deutschland und Österreich etwas vom blutigen und terroristischen Beigeschmack wie vordem das Wort Jacobiner und später das Wort Bolschewisten; man konnte es im ersten Augenblick gar nicht für möglich halten, daß diese rote Rotte aus der Vorstadt ihren Marsch durchführen werde, ohne Häuser anzuzünden, Läden zu plündern und alle denkbaren Gewalttaten zu begehen. Eine Art Panik griff um sich. Die Polizei der ganzen Stadt und Umgebung wurde in der Praterstraße postiert, das Militär schußbereit in Reserve gestellt. Keine Equipage, kein Fiaker wagte sich in die Nähe des Praters, die Kaufleute ließen die eisernen Rollläden vor den Geschäften herunter, und ich erinnere mich, daß die Eltern uns Kindern streng verboten, an diesem Schreckenstage, der Wien in Flammen sehen konnte, die Straße zu betreten. Aber nichts geschah. Die Arbeiter marschierten mit ihren Frauen und Kindern in geschlossenen Viererreihen und mit vorbildlicher Disziplin in den Prater, jeder die rote Nelke, das Parteizeichen, im Knopfloch. Sie sangen im Marschieren die Internationale, aber die Kinder fielen dann im schönen Grün der zum erstenmal betretenen ›Nobelallee‹ in ihre sorglosen Schullieder. Es wurde niemand beschimpft, niemand geschlagen, keine Fäuste geballt; kameradschaftlich lachten die Polizisten, die Soldaten ihnen zu. Dank dieser tadellosen Haltung war es dem Bürgertum dann nicht mehr lange möglich, die Arbeiterschaft als eine ›revolutionäre Rotte‹ zu brandmarken, es kam – wie immer im alten und weisen Österreich – zu gegenseitigen Konzessionen; noch war das heutige System der Niederknüppelung und Ausrottung nicht erfunden, noch das (freilich schon verblassende) Ideal der Humanität selbst bei den Parteiführern lebendig.

Kaum tauchte die rote Nelke als Parteizeichen auf, so erschien plötzlich eine andere Blume im Knopfloch, die weiße Nelke, das Zugehörigkeitszeichen der christlich-sozialen Partei (ist es nicht rührend, daß man damals noch Blumen als Parteizeichen wählte statt Stulpenstiefeln, Dolchen und Totenköpfen?). Die christlich-soziale als durchaus kleinbürgerliche Partei war eigentlich nur die organische Gegenbewegung der proletarischen und im Grunde ebenso wie sie ein Produkt des Sieges der Maschine über die Hand. Denn, indem die Maschine durch die Zusammenfassung großer Massen in den Fabriken den Arbeitern Macht und sozialen Aufstieg zuteilte, bedrohte sie gleichzeitig das kleine Handwerk. Die großen Warenhäuser, die Massenproduktionen wurden für den Mittelstand und für die kleinen Meister mit ihren Handbetrieben zum Ruin. Dieser Unzufriedenheit und Sorge bemächtigte sich ein geschickter und populärer Führer, Dr. Karl Lueger, und riß mit dem Schlagwort: »Dem kleinen Manne muß geholfen werden« das ganze Kleinbürgertum und den verärgerten Mittelstand mit sich, dessen Neid gegen die Wohlhabenden bedeutend geringer war als die Furcht, aus seiner Bürgerlichkeit in das Proletariat abzusinken. Es war genau die gleiche verängstigte Schicht, wie sie später Adolf Hitler als erste breite Masse um sich gesammelt hat, und Karl Lueger ist auch in einem anderen Sinne sein Vorbild gewesen, indem er ihn die Handlichkeit der antisemitischen Parole lehrte, die den unzufriedenen Kleinbürgerkreisen einen Gegner optisch zeigte und anderseits zugleich den Haß von den Großgrundbesitzern und dem feudalen Reichtum unmerklich ablenkte. Aber die ganze Vulgarisierung und Brutalisierung der heutigen Politik, der grauenhafte Rückfall unseres Jahrhunderts zeigt sich gerade im Vergleich der beiden Gestalten. Karl Lueger, mit seinem weichen, blonden Vollbart eine imposante Erscheinung – der ›schöne Karl‹ im Wiener Volksmund genannt –, hatte akademische Bildung und war nicht vergebens in einem Zeitalter, das geistige Kultur über alles stellte, zur Schule gegangen. Er konnte populär sprechen, war vehement und witzig, aber selbst in den heftigsten Reden – oder solchen, die man zu jener Zeit als heftig empfand – überschritt er nie den Anstand, und seinen Streicher, einen gewissen Mechaniker Schneider, der mit Ritualmordmärchen und ähnlichen Vulgaritäten operierte, hielt er sorgfältig im Zaum. Gegen seine Gegner bewahrte er – unanfechtbar und bescheiden in seinem Privatleben – immer eine gewisse Noblesse, und sein offizieller Antisemitismus hat ihn nie gehindert, seinen früheren jüdischen Freunden wohlgesinnt und gefällig zu bleiben. Als seine Bewegung schließlich den Wiener Gemeinderat eroberte und er – nach zweimaliger Verweigerung der Sanktionierung durch den Kaiser Franz Joseph, der die antisemitische Tendenz verabscheute – zum Bürgermeister ernannt wurde, blieb seine Stadtverwaltung tadellos gerecht und sogar vorbildlich demokratisch; die Juden, die vor diesem Triumph der antisemitischen Partei gezittert hatten, lebten ebenso gleichberechtigt und angesehen weiter. Noch war nicht das Haßgift und der Wille zu gegenseitiger restloser Vernichtung in den Blutkreislauf der Zeit gedrungen.

Aber schon tauchte eine dritte Blume auf, die blaue Kornblume, Bismarcks Lieblingsblume und Wahrzeichen der deutschnationalen Partei, die – man verstand es nur damals nicht – eine bewußt revolutionäre war, die mit brutaler Stoßkraft auf die Zerstörung der österreichischen Monarchie zugunsten eines – Hitler vorgeträumten – Großdeutschlands unter preußischer und protestantischer Führung hinarbeitete. Während die christlich-soziale Partei in Wien und auf dem Lande, die sozialistische in den Industriezentren verankert war, hatte die deutschnationale ihre Anhänger fast einzig in den böhmischen und alpenländischen Randgebieten; zahlenmäßig schwach, ersetzte sie ihre Unbeträchtlichkeit durch wilde Aggressivität und maßlose Brutalität. Ihre paar Abgeordneten wurden der Terror und (im alten Sinn) die Schande des österreichischen Parlaments; in ihren Ideen, in ihrer Technik hat Hitler, gleichfalls ein Randösterreicher, seinen Ursprung. Von Georg Schönerer hat er den Ruf ›Los von Rom!‹ übernommen, dem damals Tausende Deutschnationale deutsch gehorsam folgten, um den Kaiser und den Klerus zu verärgern, und vom Katholizismus zum Protestantismus übertraten, von ihm die antisemitische Rassentheorie – ›In der Rass' liegt die Schweinerei‹, sagte ein illustres Vorbild –, von ihm vor allem den Einsatz einer rücksichtslosen, blind dreinschlagenden Sturmtruppe und damit das Prinzip, durch Terror einer kleinen Gruppe die zahlenmäßig weit überlegene, aber human-passivere Majorität einzuschüchtern. Was für den Nationalsozialismus die SA-Männer leisteten, die Versammlungen mit Gummiknüppeln zersprengten, Gegner nachts überfielen und zu Boden hieben, besorgten für die Deutschnationalen die Corpsstudenten, die unter dem Schutz der akademischen Immunität einen Prügelterror ohnegleichen etablierten und bei jeder politischen Aktion auf Ruf und Pfiff militärisch organisiert aufmarschierten. Zu sogenannten ›Burschenschaften‹ gruppiert, zerschmissenen Gesichts, versoffen und brutal, beherrschten sie die Aula, weil sie nicht wie die andern bloß Bänder und Mützen trugen, sondern mit harten, schweren Stöcken bewehrt waren; unablässig provozierend, hieben sie bald auf die slawischen, bald auf die jüdischen, die katholischen, die italienischen Studenten ein und trieben die Wehrlosen aus der Universität. Bei jedem ›Bummel‹ (so hieß jener Samstag der Studentenparade) floß Blut. Die Polizei, die dank dem alten Privileg der Universität die Aula nicht betreten durfte, mußte von außen tatenlos zusehen, wie diese feigen Radaubrüder wüteten, und durfte sich ausschließlich darauf beschränken, die Verletzten, die blutend von den nationalen Rowdies die Treppe hinab auf die Straße geschleudert wurden, fortzutragen. Wo immer die winzige, aber maulaufreißerische Partei der Deutschnationalen in Österreich etwas erzwingen wollte, schickte sie diese studentische Sturmtruppe vor; als Graf Badeni unter Zustimmung des Kaisers und des Parlaments eine Sprachenverordnung beschlossen hatte, die Frieden zwischen den Nationen Österreichs schaffen sollte und wahrscheinlich den Bestand der Monarchie noch um Jahrzehnte verlängert hätte, besetzte diese Handvoll junger, verhetzter Burschen die Ringstraße. Kavallerie mußte ausrücken, es wurde mit dem Säbel zugeschlagen und geschossen. Aber so groß war in jener tragisch schwachen und rührend humanen liberalen Ära der Abscheu vor jedem gewalttätigen Tumult und jedem Blutvergießen, daß die Regierung vor dem deutschnationalen Terror zurückwich. Der Ministerpräsident demissionierte, und die durchaus loyale Sprachenverordnung wurde aufgehoben. Der Einbruch der Brutalität in die Politik hatte seinen ersten Erfolg zu verzeichnen. Alle die unterirdischen Risse und Sprünge zwischen den Rassen und Klassen, die das Zeitalter der Konzilianz so mühsam verkleistert hatte, brachen auf und wurden Abgründe und Klüfte. In Wirklichkeit hatte in jenem letzten Jahrzehnt vor dem neuen Jahrhundert der Krieg aller gegen alle in Österreich schon begonnen.

Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat: wir blickten nur auf Bücher und Bilder. Wir hatten nicht das geringste Interesse für politische und soziale Probleme: was bedeuteten diese grellen Zänkereien in unserem Leben? Die Stadt erregte sich bei den Wahlen, und wir gingen in die Bibliotheken. Die Massen standen auf, und wir schrieben und diskutierten Gedichte. Wir sahen nicht die feurigen Zeichen an der Wand, wir tafelten wie weiland König Belsazar unbesorgt von all den kostbaren Gerichten der Kunst, ohne ängstlich vorauszublicken. Und erst als Jahrzehnte später Dach und Mauern über uns einstürzten, erkannten wir, daß die Fundamente längst unterhöhlt gewesen waren und mit dem neuen Jahrhundert zugleich der Untergang der individuellen Freiheit in Europa begonnen hatte.


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