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Vierter Teil.
Briefe


Marceline Desbordes-Valmore hat viele Briefe geschrieben (obwohl sie in ihrer ewigen Armut oft erschrak vor den zwei Sous Postporto und häufig, wenn ihr ein Brief zu gewichtig geraten schien, den Galten erschrocken fragte: Du hast wohl dafür viel bezahlen müssen). Aber Mitteilung, Ausströmung des Gefühls, war ihr unüberwindbares Bedürfnis: mit Briefen kann man trösten, sich und den andern. Man kann sich in ihnen ausbluten wie in Tränen.

So schrieb sie viele Briefe, und dank dieser Übermächtigkeit des Gefühls gehören sie zu den schönsten, die wir Frauen verdanken. Sie sind nicht zu vergleichen mit den literarischen der grande épistolaire de France, der Madame de Sévigné, und ebensowenig mit den bezaubernden, aber doch auf Spiegelwirkung und Gelesensein gestimmten etwa der Rahel und der Bettina. Nie hat sie, die Allzubescheidene, geahnt, daß diese Mitteilungen, in denen sich das Alltägliche der Haushaltsorgen, der Geldnot, der kleinen Plackereien des Lebens unmittelbar den elementarsten Ausbrüchen der Empfindung mengt, jemals gedruckt werden könnten: ganz locker, impulsiv, nur dem innern Aufdrang nachgebend sind ihre Briefe geschrieben (meist bis hinab an den Rand, um nicht Papier zu verschwenden, das ihr kostbarer schien als ihr eigenes strömendes Gefühl). Nie bemühen sie sich, tiefsinnig, literarisch oder geistig zu werden, und tatsächlich, ihre, gedankliche Fracht ist gering; Marceline Desbordes-Valmore war viel zu sehr echte Frau, um strikt-logisch und metaphysisch-aufbauend zu denken. Aber statt geistvoller Gedanken enthalten ihre Briefe oftmals etwas, das ich Gefühlsgedanken nennen möchte, spontane Erkenntnisse des Herzens, wahrhaftige Gefühlsblitze, die auch sprachlich überraschendste Formen finden. Das ist nicht kokett-geistreich, sondern im seelischen Sinne genial, wenn sie etwa vom Wochenbett ihrer Tochter einer Freundin schreibt: »Un petit berceau me retient au logis d'Ondine, heureusement délivrée (et moi aussi!). Vous saurez quelque jour, combien on est enceinte de l'enfant de ses enfants.« Solche urdichterische Worte tropften ihr locker und häufig aus der fließenden Feder, ohne daß sie selbstbewundernd absetzte, und fast jeder Brief, selbst der flüchtigste, findet aus einer Zärtlichkeit des Gefühls immer auch den überraschendsten Zartsinn des Ausdrucks. Man kann die einzelnen Herrlichkeiten, die wortgewordenen Schreie, Seufzer, Liebesempfindungen, die spontanen Entdeckungen inmitten ihrer naiven Mitteilungen kaum zählen, so dicht drängen sie ineinander.

Aber das Schönste dieser Briefe: sie sind vollkommen wahr. Es gibt keine einzige Lüge in den vielleicht zweitausend Schreiben, es sei denn die allzu verzeihliche des Mitleids. Nackte Seele enthüllt sich, aber nicht in der bewußten Gebärde einer, die den spätern Spiegel der Öffentlichkeit vor sich weiß (und ihm, wie Rahel, wie Bettina, nicht ungern entgegentritt). Weder schamhaft sich verhaltend noch schamlos zudringlich sich eröffnend, spricht hier eine Frau zu vertrauten Menschen über alle Geheimnisse ihres Lebens und Gefühls. Dank so unbedingter Echtheit werden diese Briefe unentbehrliche Dokumente nicht allein ihrer Biographie: selten ist das Seelenhafte wirklicher Weiblichkeit überhaupt so transparent geworden wie durch die aufrichtige Selbstmitteilung dieser einen Geliebten, Frau und Mutter.

In der vorliegenden Auswahl sind zum überwiegenden Teile die Briefe fragmentarisch mitgeteilt, das alltäglich Familiäre und gleichgültig Private von ihnen abgelöst. Nur insofern sie das äußere und innere Leben der Dichterin im Rückschein auf Zeit und Umgebung sichtbar machen, sollten sie übermittelt sein, und ich hoffe, diese Auswahl genügt, um die in der Einleitung versuchte Skizze mit ihren eigenen Worten zu untermalen.

An den unbekannten Geliebten

Von den Briefen Marcelinens an »Olivier«, den unbekannten Geliebten, sind im ganzen nur zwei durch den Zufall der Autographenkataloge aufgefunden worden – kaum als Briefe eigentlich anzusprechen, vielmehr »Zettelgen«, wie Goethe die hitzig raschen Botschaften an und von Frau von Stein nannte. Die wesentlichen sind vernichtet (oder wenn tatsächlich Henri de Latouche der Verführer war, im Jahre 1871 bei der deutschen Invasion mit allen dessen Dokumenten und dem Nachlaß André Chéniers verbrannt). Die vorliegenden beiden bilden nebst den Gedichten das einzige, was wir verbürgt von jener entscheidenden Episode besitzen, unzulänglich, sie zu erhellen, und nur flackernde Blitze in dem geheimnisvollen Dunkel jener tragischen Verstrickung.

An Olivier

Jänner 1809 oder 1810.

Komm morgen nicht, Vielgeliebter, ich habe tausenderlei lästige Arbeit, Pflichtbesuche. Gestern erhielt ich den Besuch eines – reichlich gepuderten – Mannes von Geist, der sich, um Gnade zu erlangen, zuerst auf die Kniee niederließ. Ich habe gelacht und die Huldigung seiner Bonbons und seiner Almanachs entgegengenommen. Was sage ich, das kostbarste Buch der Welt, da sich der Name all dessen, was ich liebe, darin befindet! Diesen Namen, der über mein Schicksal entscheiden wird, habe ich geküßt ... Adieu, mein Olivier.

Und meine drei Brüder, meine drei Freunde? Bringe sie mir doch bitte mit, daß kein Tag ohne diese Arbeit vergeht. Denke daran, daß Du Dich dabei mit meinem Glück befassest. Ich will es, dieses geliebte Holzbein, diesen armen zerlumpten Dichter und besonders diesen häßlichen, interessanten Barbier.

Wie gut Du daran getan hast, sie nach Spanien zu versetzen, ihnen ist niemals kalt. Komm, komm Du dort hin, kleiner Freund. Komm, uns in reinster Sonne zu wärmen. Indessen werde ich Dich Samstag am Kamin meiner Freundin sehen.

1809 oder 1810.

Besinne Dich Deines Versprechens, teurer Vielgeliebter; vergiß nicht, daß ich eine Seele einzig nur dazu besitze, um Dich zu lieben, Dir zu folgen und an all Deinen Handlungen teilzunehmen.

Bleiben wir niemals mehrere Tage, ohne einander zu sehen; zu sehr habe ich gelitten; morgen um vier Uhr erwarte ich Dich. Liebe mich, mein kleiner Freund, gib meinem Herzen Antwort, o ich flehe Dich an, lieb mich recht! Das ist, als ob ich Dir sagte: Schenk mir das Leben. Deine Liebe ist mehr noch, Olivier, mein Olivier, mein Olivier. Du weißt nicht, bis zu welchem Grade Du mich glücklich oder unglücklich machen kannst.

Briefe über Henri de Latouche

Sollte, wie die französische Forschung immer eindringlicher behauptet (ohne jedoch vollgültigen Beweis erbringen zu können), tatsächlich Henri de Latouche der Verführer Marcelinens und der Vater ihres unehelichen Kindes gewesen sein, derjenige, dem diese »Zettelgen« galten, so sind die folgenden Briefe psychologisch von besonderem Reiz. Denn sie sind (die beiden ersten) dreißig Jahre nach jener Episode an ihren Mann gerichtet, als Latouche der Tochter Marcelinens nachstellte, und atmen die äußerste Verachtung und Erbitterung gegen ihn.

Um so großartiger kontrastiert dagegen der Brief nach seinem Tode an Sainte-Beuve. Der in allen Privatverhältnissen unbändig neugierige Kritiker, dieser Voyeur in psychologicis hatte sofort nach Latouches Tod an Marceline einen Brief gerichtet, sie möchte ihm Latouches Charakter schildern (als ob er ihn selbst nicht genug gekannt hätte). Er hoffte, ihr bei diesem Anlaß einen verräterischen Aufschrei zu entreißen. Und tatsächlich ist dieser Brief eine erschütternde Fürbitte um Verzeihung für einen geworden, der sie selbst maßlos gekränkt und gequält: das gütige, großmütige Herz wirft sich schützend über den längst verhaßten Toten, um ihm für den Nachruf etwas Milde zu retten. Ob die darin erwähnte Kränkung durch Latouche jene erste war, die Verführung und das brüske Verlassen, ob die zweite gemeint ist, die Nachstellung gegen die Tochter – dies verhüllt sich in diesem Brief, der ganz nur die Güte des Verzeihens offenbart und eines der wichtigsten Dokumente ihrer Lebenstragödie bildet.

*

An ihren Gatten

6. Mai 1839.

Mit Herrn Latouche bin ich mehr denn je in Verlegenheit, was mir, wie ich glaube, eine Art Kälte gibt, die ich nicht überwinden kann, obwohl ich ihn sehr liebe. Aber zu den Befürchtungen, die mir schon sein Charakter einflößte, mengen sich nun auch die schrecklichen Geständnisse jener unglücklichen Dame, und mein Aufenthalt auf diesem Landsitz versetzt mich in große Unruhe. Ich suche einen Weg zu finden, wie ich weder die eine noch die andere Person beleidige. Er gibt uns Beweise von Anhänglichkeit, die mich zu Dank verpflichten, und wenn ich mich ihrer zu erwehren versuche, so sagt er, Du seiest es, der es ihm für die Zeit Deines Fernseins zur Pflicht gemacht hätte. Ich weiß jetzt, daß es meine Aufgabe ist, mich nicht zwischen zwei Herzen zu stellen, die sich einander nähern wollen, und daß ich um keinen Preis dorthin zurückkehren darf.

23. Juli 1839.

Was, Herr von L... schreibt Dir noch? und er ist nicht im Berry? und beklagt sich über meine Härte! Mein guter Engel, das sähe wirklich wie ein Scherz aus, wenn ich ihn nicht für einen sehr bösen Menschen hielte. Bei Gott, ich habe ihn ganz und gar anständig und mit Sanftmut empfangen, mit dem Vorsatz, all die Verachtung, die er mir einflößt, zu verbergen. Er kam, um uns vor einer Geschäftsreise einen Abschiedsbesuch zu machen ... Vorläufig habe ich Dir genug gesagt, um Dir die gerechte Abwehr gegen einen Charakter verständlich zu machen, der mit dem Haß aller Welt beladen ist. Überall, wohin er gekommen ist, hat er nur Unruhe und Verzweiflung gebracht. Glaub an meine instinktive Abscheu und erinnere Dich, daß meine Schuld nur darin bestanden hat, daß ich gegen Böse zu nachsichtig war. Schonen wir ihn durch den Anschein von Achtung, denn es ist ihm besonders darum zu tun, geehrt zu sein. Aber Vertraulichkeit mit diesem Menschen! Gefälligkeiten von ihm annehmen! Lieber Gott, da möchte ich lieber betteln gehen. Branchu ist unschuldig wie ein neugeborenes Kind und Pauline. Ich sage das nur Dir, durch den ich ihn kenne.

An Sainte-Beuve nach dem Tode von A. M. H. Latouche

18. März 1851.

Eine große Erschöpfung hat mich gehindert, Ihnen zu antworten. Verzeihen Sie mir, ich habe es mehrere Male versucht; aber in welchem Schlupfwinkel meines arbeitsreichen Daseins soll ich Ruhe finden, mich zu sammeln?

Bedenken Sie, diesmal muß ich beinahe auf einem Grabe meinem niedergeschlagenen Geiste sich zu ordnen gebieten. Wie könnte ich von da aus wagen, über einen anderen Geist zu urteilen. Was für ein Urteil kann man mit Tränen in den Augen niederschreiben! Ja, Sie haben recht, es könnte, ohne daß ich dessen mir bewußt würde, wie durch einen Blitz »Und wer kann mir besser von ihm sprechen als Sie und mir eine Idee von ihm geben, blitzartig ihn beleuchten«, hatte Sainte-Beuve ihr geschrieben. geschehen, daß Sie die Eindrücke meines Gedächtnisses erfaßten, die Summe der Erinnerungen an diesen unverständlichen Geist, der Sie beschäftigt. Aber wir begegnen einander nicht. Wie soll man es da beginnen? Ihre Stimme würde mich aufrichten, und ich fände Worte, Ihnen zu antworten. Hier bin ich zu sehr in mich zurückgeflüchtet, und dies ist wahrlich eine traurige Zuflucht, und ich möchte doch nicht ein Wort von persönlicher Traurigkeit diesem Briefe beigeben. Aber ich bin durch so viele unersetzliche Verluste zu Boden geschlagen! Diese dumpfen Schreie erreichen mich von überallher wie eine schreckliche Elektrizität, und ich fühle wohl, daß mir diesen letzten Blitzschlag niemand in Anrechnung bringt als vielleicht Gott, der alles weiß, für alles Mitleid hat! Ich war bereits in Trauer: kaum habe ich den Schleier emporgeschlagen, so muß ich ihn schon wieder auf meine Seele herabsenken, und ich kann nicht mehr weiter.

Außerdem habe ich für dieses glänzende und geheimnisvolle Rätsel mir weder eine Erklärung gesucht, noch es erraten. Es wirkte auf mich blendend und beängstigend, zuweilen war es dunkel wie Schmiedefeuer im Walde, bald leicht, hell wie ein Kinderfest. Aufrichtigkeit, die er liebte, ein unschuldiges Wort, konnten in ihm das Lachen einer wiedergefundenen Freudigkeit, einer wiedergewonnenen Hoffnung zum Ausbruch bringen. So lebhaft malte sich da Dankbarkeit in diesem Blick, daß Ängstliche sich wieder sicher fühlten. Da lebte in seinem gequälten, recht mißtrauischen Herzen, das, wie mir dünkt, sehr nach menschlicher Vollkommenheit, an die er noch glauben wollte, verlangte, der gute Geist wieder auf.

Oft schien es, als wäre es ihm lästig, zu leben; welche Bitterkeit breitete sich da über dies flüchtige Fest, wenn er der schönen Hoffnungen müde wurde! Bewunderung war, glaube ich, leidenschaftlichstes Bedürfnis seiner kranken Natur, denn krank war er sehr oft und sehr unglücklich! Nein, er war kein Böser, sondern ein Kranker, denn wenn an seinen Idolen ein einziger Fehler in Erscheinung trat, so war er schon in tiefe Verzweiflung versetzt, und das ist nicht zu viel gesagt. In einer solchen befand er sich, als wir ihn kennen lernten. Offen sprach er nie davon während unserer Gespräche, die er scheinbar suchte, um die Erinnerung einer sehr stürmischen Vergangenheit zu verscheuchen. Welche innere Verfassung war je geheimnisvoller als die seine? Dennoch hielt ihn mein Onkel, den er ganz und gar liebte, mein Onkel, der einen aufgeschlossenen, romantischen und dabei religiösen Charakter besaß, seines reizvollen Wesens, seiner aufrichtigen Sanftmut willen, für schlicht, kindlich, rein und warmherzig. Er war es auch! Er war es! Und glücklich und getröstet, ermutigt, so sein zu können durch diese ungetrübte Zuneigung.

Man hielt ihn im engen Sinn des Wortes für neidisch. Er ist es niemals gewesen. Aber ungerecht, voreingenommen, dies – ja! Sein Zorn, seine Verachtung waren so groß, wenn ihn ein Talent, etwas Wertvolles, Schönes enttäuschte, dessen Entdeckung ihn mit Freude erfüllt hatte. Wie ironisch war er dann gegen seine eigene Einfältigkeit! Wie schmerzlich berührt war er nach seinem eigenen Wort: durch sich selbst bestohlen worden zu sein! Er litt viel, glauben Sie es und vergessen Sie es nie. Er konnte über eine Blume gerührt sein und grüßte sie mit frommer Ehrfurcht. Dann regte er sich darüber auf, daß er ihre Vergänglichkeit vergessen konnte. Er zuckte die Achseln und warf sie ins Feuer. Dies ist wirklich geschehen?

Hat nicht auch sein heftiger politischer Standpunkt die natürliche Anmut, die sich seiner Tatkraft gesellte, vertrübt? Ich habe mir das oft gedacht. Eine unbeeinflußbare Selbstlosigkeit, die ihn Elend und Klagen hätte ertragen lassen, machte ihn mitleidlos gegen die Schwächen des Ehrgeizes oder die Indolenz, die er im patriotischen Gefühl ein Verbrechen nannte. Hier mag das Geheimnis seiner großen Vereinsamung liegen.

Die sorgfältige Beharrlichkeit bei der Arbeit trieb er bis zum Exzeß, der seine Gesundheit, wie seine Erfolge gefährdete. Er band sich wie ein Märtyrer an sie. Man hätte sagen mögen (ich weiß das von anderen), daß sein Herz und sein Kopf sich langsam mit Rauch erfüllten und dieser manchmal den Schwung, die Hingabe, das Fluidum, die Eingebung erstickte, so daß es sich wie bei einer Lampe verhielt, die keine Luft hat. Wenn ich mich, wie mir scheint, schlecht ausdrücke, so werden Sie den tieferen Sinn dennoch verstehen. Ich schreibe ja da nicht Kritik, mein Gott: ich beklage sein Unglück und seine Qual!

Seine Begeisterung für die deutsche Literatur und für die Wandlung der unseren hat ihn sehr beherrscht. Seither war ich so kühn, Erstaunen zu empfinden, daß seine Dichtung, obwohl elegant, wenn auch feierlich, sich kaum von Abhängigkeit frei gemacht hatte, die er doch verabscheute; ein Beweis dafür waren seine Bewunderungsausbrüche für die ritterlichen Kühnheiten des Herrn von Musset und die neue Art von Ihnen allen, die ihn mit Hoffnung beglückte.

Seitdem weiß ich nichts Genaues mehr, noch vermochte ich dieses Genie, das so bitter geworden war, aus der Nähe zu betrachten. Durch entfernten, seltenen und auch traurigen Widerhall nur, suchte er uns zu begegnen. Sein Buch über Clemens XIV. hat uns die reizendsten Gespräche mit unserem Onkel in Erinnerung gebracht, der ihn dazu angestachelt hatte; Fragoletta hat mich mit Erstaunen und Schrecken erfüllt; seither hat uns Grangeneuve auf unsere Instinkte, für ihn zu hoffen, ihn zu bemitleiden, hingewiesen. Und von jener Zeit ab hat er vielleicht, weil er seine Phantasie und sein geschriebenes Wort im Zaume hielt, deren Freiheit und Glanz um so mehr verraten. Seine letzten Bücher habe ich nicht mehr zu lesen gewagt ... Vielleicht wiederhole ich Ihnen etwas da überflüssigerweise: aber sein Geist, wenn er sprach, war unwiderstehlich, wußte er, daß man ihm gut zuhörte und ihn verstand und er von seinem schwarzen Übel aufatmen konnte. Nur, daß er zu viel an das Publikum dachte, das kalt urteilende, diesen mächtigen Richter, gegen den es keinen Einspruch gibt! Die Flamme war dann durch eine zu lang andauernde Träumerei beeinträchtigt. Furcht vor Lächerlichkeit lähmte ihm jene Kühnheit, der er bei anderen Beifall zollte. Er war nicht der Mann, irdische Demütigung zu ertragen, und aus Furcht, zu stürzen, wagte er nicht mehr, sich emporzuschwingen ...

Lieber wollte er ohne eine Hand zu rühren untergehen, als Lachen durch seine Tätigkeit hervorzurufen, jenes Lachen, das er anderen nicht immer ersparte und über das er sich oft Vorwürfe machte! Glauben Sie das nicht auch? Sie haben es ja selber sehr fein beobachtet, daß er weit entfernt war, »das Böse getan zu haben, das er tun hätte können«? Was Sie in dieser Hinsicht sagten, ist von tiefer Warmherzigkeit.

Welch großen Sieg muß er doch über seine Zornausbrüche errungen haben! Welche stillschweigende Größe, daß er sich nicht gerächt hatte, er, dessen brennender Stolz sich so oft für tödlich beleidigt hielt, denn ihn fürchten hieß ihn beschimpfen! In diesem, seinem stummen und einsamen Mut, muß man das finden, was die Tränen aufwiegt, die er fließen ließ! Der Meinung sind Sie doch auch? Oh! seien Sie es, sprechen Sie es um der Gerechtigkeit willen aus, wie Sie alles auszudrücken vermögen. Es gibt ja Dinge, die zwischen Himmel und Erde gehört werden, die überallhin Trost bringen können.

Entscheiden Sie, ob diese argwöhnische Seele nicht selber ihren Aufschwung, ob die körperlichen Leiden nicht diesen Ruhm, der sich so hoch ankündigte, verdunkelt haben!

Dies ist alles, was ich für Sie aus meinen Gedanken formen kann ..., mögen sie doch den Ihren dienlich sein! Zumindest bin ich bereit, sie Ihnen in dieser Welt und überall immer wieder in dieser Weise zu vermitteln, weil ich an Sie glaube, an Ihre nachsichtige Freundschaft für mich und meinen geringen Verstand.

Marceline Desbordes-Valmore

Die folgenden Briefe schildern (für mein Gefühl in herrlichster Unmittelbarkeit) die Gefühle Marcelinens, als sie, seit sieben Jahren verlassen von ihrem Geliebten und ein Jahr nach dem Verlust ihres unehelichen Kindes, längst jedes Glück in ihrem Leben für eine Unmöglichkeit hielt und plötzlich die Werbung des bedeutend Jüngeren, des »schönen Valmore«, empfing (so nannte man, und das Bildnis billigt das Beiwort, im Brüsseler Theater ihren Partner). Sie war ihm als einem Kinde zu Beginn ihrer Schauspielerlaufbahn in Bordeaux begegnet und fand ihn nach zwanzig Jahren auf der gleichen Bühne als Neuling und jugendlichen Liebhaber. Von ihrer Sanftmut und Schwermut angezogen, versuchte er sich ihr zu nähern und schrieb ihr einen Werbungsbrief, den sie – erschreckt beinahe – mit dem ersten der hier nachfolgenden Schreiben erwiderte, um dann doch nach kurzem und liebendem Widerstand am 4. September 1817 seine Gattin zu werden.

An Valmore

Brüssel, 1817.

Nein, mein Herr, ich habe nicht geantwortet. Ich wollte auf das, was ich für ein Spiel hielt, ganz und gar nicht eingehen. Der Gedanke daran ließ mich vor Angst erstarren.

Welch einen Brief schreiben Sie mir heute! Wie hat er mich verwirrt! Treiben Sie keinen Mißbrauch mit leidenschaftlichen Worten, treiben Sie nur niemals Mißbrauch damit. Mein Herz ist wahrhaftig und aufrichtig. Ich kann es nicht wieder vergeben, ohne daß mein Leben daran hängt, und in Ihren jungen Jahren, von tausend Versuchungen umgeben, verspricht man nicht eine grenzenlose Liebe, eine Liebe bis zum Grab! ... Darum versuchen Sie nicht, mir das einzureden, – ich habe so viel gelitten!

Ja, Sie werden gut tun, mich zu meiden. Das ist das einzig Vernünftige in Ihren, im übrigen unbegreiflichen Vorschlägen. Auch ich werde Ihnen aus dem Wege gehen – ich habe mir das schon zur traurigen Gewohnheit gemacht. Was täte ich nicht um meines inneren Friedens willen! Würden Sie es nicht bedauern, mich inniger ans Leben zu fesseln, um mir dann eines Tages einen anderen, tieferen Schmerz zu bereiten? Oh, lassen Sie nach, ich bitte Sie; ich bin traurig und nicht geschaffen, um zu lieben, auch nicht um geliebt zu werden. Ich glaube nicht an das Glück!

Warum sagen Sie, Ihre Schwermut entfremde Ihnen mein Herz? Meinen Sie das wirklich? Schreiben Sie das in aufrichtigem Glauben?

Sie machen unserm unglücklichen Stand den Vorwurf, uns zusammengeführt zu haben. Sie drücken sich da sehr hart aus. Wenn Sie sich darüber beklagen – welches Recht hätte erst ich, ihn zu hassen? Immerhin, verzeihen Sie es ihm, unser Beruf kann ja alles wieder gutmachen, indem er uns bald trennt. Um diese Trennung zur Tatsache werden zu lassen, bleibt mir nur zu wissen, daß Sie es wünschen.

Nein, nicht Ihre Zuneigung kann Ihnen den Rat gegeben haben, mir zu schreiben, – ebensowenig kann Ihre vortreffliche Mutter Sie bestimmt haben, mir meinen Seelenfrieden zu nehmen; ich meinerseits möchte nicht um die Welt Ihrer Seele wehe getan haben, verstehen Sie mich? Was werfen Sie mir denn vor? Welchen anderen Beweis kann ich Ihnen gegenwärtig von meiner Hochachtung geben, deren ich Sie hiermit nochmals für alle Zeiten versichere.

M. Desbordes

Brüssel, 1817.

Mein Herr, Sie sagen, ich hätte Ihre Scheu und Zurückhaltung für Stolz gehalten. Sie haben meine Traurigkeit für Mißachtung angesehen. Wir haben uns alle beide getäuscht. Wie könnte man jemanden mißachten, den man seit langem tief schätzen gelernt hat? Aber wozu Entschuldigungen mir gegenüber? Habe ich irgendeinen Vorwurf gemacht? Hätte ich einen Grund, ein Recht dazu gehabt? Sie haben die Güte, meiner Meinung einen gewissen Wert beizumessen, und Sie möchten diese hören. Nun gut, mein Herr, hier ist sie: Ich glaube, daß Sie alle Vorzüge eines rechtschaffenen Mannes besitzen, verbunden mit den Neigungen Ihrer Jugend.

Nun kennen Sie meine Auffassung. Lassen Sie sich also nicht mehr verletzen durch eine dem leidvollen Menschen ganz selbstverständliche Zurückhaltung. Halten Sie diese niemals für Verachtung – wenn es wahr ist, daß Sie so gedacht haben –, und seien Sie versichert, daß es mir zeit meines Lebens Freude machen wird, Ihnen – mehr als es mein Frohsinn könnte – zu beweisen, welche Hochachtung ich Ihrer Familie und Ihnen, mein Herr, entgegenbringe. Ist das nicht alles, was Sie zu wissen wünschen?

Sie dürfen nun überzeugt sein, daß niemand aufrichtiger ist als Ihre ergebene Dienerin

M. Desbordes

Brüssel, 1817.

Glauben Sie, mein Freund, ich könnte schildern, was in mir vorgeht? Glauben Sie das? Überwältigt von Glück und Überraschung, fürchte ich ... vergeben Sie mir, fürchte ich die auf mich einstürmenden Empfindungen; ja, diese Trunkenheit der Seele ist fast Schmerz. – Oh, schonen Sie mein Leben! Es ist noch gebrechlich und unsicher. Seit es Ihnen gehört, fürchte ich alles, was ihm Gefahr bringt, und die Aussicht auf ein ungeahntes, unsagbares Glück scheint meine Kraft zu übersteigen.

Und sagen Sie, mein Geliebter, wissen Sie auch den vertraulichen Beziehungen des Lebens diesen Reiz, diese rührende Zartheit zu geben, die mich so zu Ihnen hinzieht? Welch ein Glück ist es dann, Sie zu lieben, ganz und einzig von Ihnen geliebt zu sein! So würde nichts den Zauber brechen, der uns bei unseren ersten Blicken umfing? Ich dürfte nun wagen, ihn festzuhalten, darin meine Bestimmung zu lesen, ein zärtliches Geschick, die innige und feierliche Verheißung der Bande, die uns ewig aneinander fesseln sollen?

O Gott! wenn ich furchtsam bin, so müssen Sie das mir verzeihen! Es ist die Liebe, die vor der Liebe zittert. Ist sie auch scheu in ihren Geständnissen, ihren Hoffnungen, so wissen Sie, daß sie darum nicht weniger stark und getreu ist. Ein jeder meiner Tage wird in unserer Zukunft Zeugnis dafür ablegen, mein Herzgeliebter! Ja, heut abend werden wir uns sehen. – Welch süßer Gedanke! Meine ganze Schwermut schwindet. – Gott, der uns wohlwill, sucht dieser köstlichen Vereinigung jedes Wölkchen zu nehmen. Ihre Mutter wird also die meine sein! Ihr Vater wird den meinen ersetzen, den ich noch immer beweine! ... Können Sie ermessen, wie lieb ich ihn haben werde? ... Sagen Sie, daß Sie es wissen. Doch wird man auch mich lieb haben? – Oh, bitten Sie darum – –

An Valmore zur Zeit des Verlöbnisses

Brüssel, 1817.

Weißt Du, Prosper, was ich in Deinem Briefe gefunden habe? – Eine Seele, die die meine erwartet hatte! ... Gestern ... all die Tage, die für die andern verflossen scheinen, für mich sind sie es nicht; sie umgeben mich – die Zeit hält stille, um mir Muße zu lassen, frei zu atmen – ich stürbe, wenn sie zu rasch entschwänden – Tomy, mein angebeteter Tomy! wenn Dein Herz erregt ist – sieh, wie doch meine Hand bebt!

Ich bin glücklich. – Wie meine Seele sich bei diesem vergessenen, seit jener Zeit ... für immer – erloschenen – Worte öffnet! Du hast es für mich in den Himmel, in diese Welt, überall ... eingegraben. Ich werde es in Deinen Augen lesen! Wie! ist also doch das Leben das Glück? ... Möge Dich Gott mit jener Glückseligkeit überhäufen, in der ich mich befinde: Ich weiß nicht, wo ich bin: sag es mir, mein Lieb! Ach ja, Tomy, gib acht auf mein Leben, man kann vor Freude sterben.

Hast Du gestern, hast Du meine Zärtlichkeit gesehen? im Schmerz, im Rausch, der ihr folgte? Oh, warum einige Stunden so heftiger Qual bereuen! Von welchem Entzücken waren sie aufgewogen. Was für eine Seele hast Du mir gegeben! Oh, ich kann wahrhaftig nicht mehr schreiben. Lebwohl, Prosper, mein Gemahl!

Dein Vater liebt mich sehr. In dem Maße als ich Dich – ein wenig – liebe, bin ich voll Aufmerksamkeit für ihn. Und bin ich denn nicht recht artig? Ihr werdet dann gleich meine graziöse Verbeugung sehen. Oh, laß mich doch wieder einen teuren Brief lesen, der mir das Herz verbrennt!

Von der fünfunddreißigjährigen und erst durch den Tod gelösten Ehe mit Prosper Valmore geben die folgenden Briefe ein Bild. Nie ist ihr Beisammenleben wirklich erschüttert gewesen, es erschien nur flüchtig bedroht durch der beiden gegensätzliches Verhältnis zu ihrer Kunst. Prosper Valmore war (und nicht mit Unrecht) eifersüchtig auf Marcelinens Gedichte, die mit der bei ihr unbedingten Ehrlichkeit des Gefühls immer nur ihre Liebe zu – dem ersten Geliebten, zu dem Verführer schildern, dem ihre Sinne, ihre Seele trotz aller Erniedrigungen unwandelbar treu blieben. Im geheimen hatte Prosper gehofft, nun werde er der Gegenstand ihrer Dichtung sein, und sah den Nebenbuhler, der sie schmählich verlassen, lebendig in ihrem innern Leben, ja, die Qual war ihm auferlegt, die Verse an jenen andern und Unvergeßbaren korrigieren zu müssen. Diese Eifersucht gegen den Abwesenden und aus ihrem Herzen doch Unverjagbaren hat geradezu einen Haß gegen Marcelinens Dichtung in ihm erweckt, so daß die Gütige oft ganz der Poesie entsagen wollte. Und sie hätte es getan, wäre nicht der Zwang zur Aussage elementar in ihr gewesen.

Ihr wiederum bereitet Prospers Kunst schwere Stunden oder vielmehr seine Nichtkunst. Denn er ist ein schlechter Musikant, Valmore, nirgends gefällt der Pathetische auf der Bühne, ja, er wird sogar ausgepfiffen, und sie hat die anstrengende Aufgabe, gegen ein inneres Wissen, das falsche Selbstbewußtsein des armseligen Provinzkomödianten zu stützen. Erst als er von der Kunst (wie weit war er von ihr!) endlich Abschied nimmt und ein kleiner Staatsbeamter wird, schwindet die Unruhe. Dann bindet das gemeinsam verlebte Elend, das gemeinsam erlittene Unglück sie immer enger zusammen, und die Ehe verdämmert in bescheidenem Glück, obzwar ihre letzten Bekenntnisse immer über ihn hinweg an die Freundin ihrer Seele gehen und das letzte Geheimnis, die Liebe zu Olivier, nie vollkommen in ihrer Seele verlischt.

*

An Valmore

St. Rémi, den 22. März 1820.

Nie mehr, mein Liebes, nie mehr will ich mich von Dir trennen; das hieße, sich freiwillig das Herz ausreißen. Du kannst aber unbesorgt sein: meine Reise ist gut verlaufen. Ich bin um sechs Uhr angekommen. Vor dem Hause, das Deinen Sohn beherbergt, erwarteten mich die Amme, die Mutter, der Vater und Drapier. Ich bin nur so gerannt, sage ich Dir, ohne zu spüren, daß ich eine Nacht im Wagen zugebracht hatte. Ich habe den kleinen Liebling eine Stunde lang um mich gehabt. Er ist lebendig wie ein Fisch, alle seine Bewegungen sind so lebhaft, daß man die eifrigen und hübschen kleinen Züge kaum mit Muße betrachten kann. Sein Gesicht ist ein wahres Kaleidoskop, immer anders und immer anmutig. Seine Haut ist blendend weiß, seine Augen sind prachtvoll blau, – aber nicht so groß wie die Deinen. Der Mund steht nur im Schlafe still, aber ich habe den Kleinen nicht schlafen gesehen, und so ist mir der Mund bald groß, bald klein erschienen und von immer anderer Form. – Er hält sich ganz gerade, und wenn man ihn niederlegt, richtet er sich stolz auf seinen kleinen Händen auf, um alle Welt zu betrachten. Er nimmt seine Nahrung mit Hingabe und leert die Brust seiner Amme bis auf den letzten Tropfen. Seine Haare sind viel blonder als bei der Geburt. Er ist entzückt, wenn man ihm den Kopf streichelt; es ist ein wonniges kleines Lämmchen. Ich habe zweimal seiner Toilette beigewohnt; er erscheint mir erstaunlich groß, und er ist von tadelloser Gestalt. Ich könnte Dir stundenlang von ihm erzählen, und es würde uns noch zu wenig sein. Alles um ihn her, das ganze Häuschen, ist von herzerfreuender Sauberkeit.

Lieber Prosper, komm in den Ostertagen, und sieh ihn Dir an.

Paris, den 5. April 1827.

Heut gönne ich mir einen ganzen Ruhetag, und ein großer Teil davon soll Dir gehören, mein Lieb. Ich habe Dir so viel zu sagen, so viel Liebe Dir zu geben! Deinen letzten, so wundervollen Brief habe ich gestern bei meinem Onkel in Empfang genommen; welch ein Trost ist er mir gewesen! Du mußt nicht denken, daß alles glatt geht auf dieser Reise; vor allem – ohne Dich fühle ich immer eine Leere, die ich nicht lange ertragen kann, ohne daran krank zu werden. Doch die Gewißheit, sehr bald wieder bei Dir zu sein, läßt mich diese Abweichung von meinen lieben Gewohnheiten leichter erdulden. Du weißt also nicht, wie sehr Du mein Ich bist, wie ich jetzt nur durch Dich allein lebe, nur lebe im Verlangen, bei Dir zu sein, Deine Hände, Deine Blicke zu fühlen, Deine Liebe, Deine edle und getreue Seele, Beistern meines Lebens, das ohne Dich mir unerträglich wäre! Ja, was Du mir auch gibst, ich habe genug, um es zu erwidern, und wenn Du das Glück hast, Deine Frau zu lieben, so ist es mein Glück, Dich einem ganzen Weltall vorzuziehen! Ich will nur Dich, ich liebe nur Dich. Ich bitte Dich, sprich mir nicht von Ruhmeskränzen, von Talent; sprich mir von nichts. Die Eitelkeit hat keinen Platz in meinem Herzen, das so sehr erfüllt ist von Innigkeit und Tränen, denn Du weißt, daß ich oft weine, heimlich, und nicht immer aus Kummer.

Grenoble, den 18. November 1832.

Hoffnung und Grenoble! Und beides heute früh um sieben Uhr, mein guter Prosper; ich habe Herrn Froussard gesehen! O teile meine Freude darüber, daß er alle unsere Erwartungen übertrifft. Hippolyte wird das glücklichste von allen den Kindern sein, die fern vom Elternhause leben müssen ... Wie undankbar bin ich, andere als Freudentränen zu vergießen ... Doch was nützt der Vorsatz? Nein, ich fühle keine Freute. Die Sache ist viel bitterer, als ich mir je geträumt hatte ... Mir bleibt nichts, als mich zu fügen, wie jene, die den Kopf unters Beil legen ...

Dein Brief, den ich kurz vor der Abreise von Lyon erhielt, Dein letzter aus Paris – dieser Brief, mein Freund, hat mich viel weinen machen. Er hat mich in Zeiten von Qual und Elend zurückversetzt, die man nicht heraufbeschwören sollte, da es mir möglich war, sie zu überstehen. – Wie! Ich sollte Dich täuschen? Ich, damals so erdrückt von dem Bewußtsein, Dir Verachtung einzuflößen, bin ich es, von der Du sprichst? Sieh, ich sage es ja, man lebt wie blind dahin, an der Seite des andern, man versteht sich nicht. Sind meine Gedanken denn so undurchsichtig, mein Freund? An mir, die ich so aufrichtig, ich wage zu sagen, so naiv zu allen andern bin, an mir hast Du gezweifelt! Gezweifelt, während mein Herz gemartert war von Deiner Kälte und Deinem Überdruß an mir. Das glaubte ich wenigstens! Warum sagst Du, ich liebte nicht die Einmischung Dritter in unsere Beziehungen? Kannst Du auch nur das geringste Mittel zur Annäherung zweier Wesen, die eins werden, die einander lieben und glücklich machen wollen, darin erblicken, daß man sie gegeneinander aufzubringen sucht, daß eine Mutter, erbittert, ihren kleinlichen Anspruch auf Autorität bedroht zu sehen, in ihrer Eifersucht die beiden gegeneinander hetzt? Ach, Prosper, wie traurig stimmt es, Ursachen nachzugehen, aus denen so viele unserer Tränen geflossen sind. Glaube mir, lieber Freund, es ist die Quelle, aus der Du, ohne Dein Wissen, tausend unklare Vorurteile gegen mich geschöpft hast, Du hast oft genug das recht getrübte Urteil Deiner Mutter über mich auch zu dem Deinigen gemacht. Ich achte die wirklichen Werte, die sie gehabt hat, aber sie ist, gewiß ohne böse Absicht, recht grausam zu uns gewesen. Sei Du selbst! Sieh mich, wie ich bin: Deine Dir ganz ergebene, Dir innig vertraute und, ich wage es zu sagen, Deine gute Marceline! Und Deine einzige wahre Freundin!

Lyon, den 23. November 1832.

Und dann höre! Du sprichst mir von Andeutungen, die Dir weh getan hätten. Ich – Dir weh getan! Ich, die ich mein Blut für Dich hingegeben, die ich Dir bis ans Ende der Welt folgen würde – überallhin und um jeden Preis? Oh! Gut, nimm hier meinen getreuen Eid, daß nie ein Wort Dir wissentlich von der Vergangenheit reden soll, daß sie für mich abgetan ist, und daß ich auch Dich beschwöre, sie zu vergessen. Anderseits: wie kannst Du mich so falsch verstehen? Du bist zu streng gegen Dich selbst und willst nicht daran glauben, daß andere Dich lieben, und Dich lieben, und Dich lieben! Sei gut, sei furchtlos, ich hege gegen keine Seele Groll, und sollte es gegen Dich? Komm, geben wir uns einen Kuß, Prosper, willst Du?

1. Dezember 1832.

Ich lese und lese immer wieder, was Du grausam genug bist mir über meine Zärtlichkeit zu sagen; ich weine, und in meiner Verblüffung darüber klage ich Dich an. Wie! diese qualvolle Ausdauer, Dir meinen Kummer verborgen zu haben, wird mir nicht besser belohnt, teurer undankbarer Freund! Ausbrüche, die Dich unglücklich gemacht hätten und die ich für Deine Ruhe fürchtete ... und von denen ich meinte, daß sie mich noch mehr von Dir entfernen müßten, all dies hast Du für Kälte gehalten! Ach! das ist zu schmerzlich, und das wollte man ausnützen, Dich von mir zu reißen! Ich wäre beinahe daran gestorben und vor Schweigen erstickt. Du hast nichts begriffen, Verblendung eines Herzens, aus dem ich so lange ausgelöscht zu sein glaubte. Du wirst es bereuen, nicht wahr? Du wirst mit mir über das weinen, was mich in diesem Augenblick Tränen vergießen läßt! Du siehst nicht klar über Dich und mich. Ich selber war auch sehr argwöhnisch. Was, Du liebtest mich, Prosper, liebtest mich, sag es mir hundertmal: dies hoffen zu dürfen, tut mir so not! All dies hat mich niedergeschlagen.

2. Dezember 1832.

Es kränkt mich heute, diese Gedichte, die Dein Herz bedrücken, geschrieben zu haben. Ich wiederhole Dir in Aufrichtigkeit, daß sie aus unserer Verbindung entstanden sind: es ist Musik, wie sie Dalayrac machte; es sind Eindrücke, die ich bei anderen Frauen beobachtet habe, die vor meinen Augen litten. Ich sagte: »Ich empfand dies oder jenes, in dieser Lage« und machte daraus, abseits für mich, Musik, Gott weiß es!

10. Dezember 1832.

Ich bin aufgewacht und hielt noch den Kopf des Kindes (Hippolyte) an mein Herz gedrückt. Ich hatte geträumt, daß er (aus dem Institut) davongelaufen war, um mich wiederzusehen, er weinte, und ich überschüttete ihn mit Liebkosungen.

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An ihren Sohn

Rouen, den 23. April 1833.

Dein Brief hat uns sehr gefreut, mein kleiner Freund! Warum kann ich Dir hier nicht in Wirklichkeit den Kuß geben, als Dank dafür, daß Du bist, was Du sein sollst, daß Du die Mühen Deines Lehrers belohnst, den ich immer wieder segne! Dein Fleiß und Deine Bravheit trösten mich über die schmerzliche Trennung. Wie lieb habe ich Dich, mein guter Sohn, daß Du Dein Versprechen hältst und versuchst, Dich für alles, was Du Herrn Froussard schuldest, dankbar zu erzeigen. Eines Tages wirst Du verstehen, wie ungeheuer Du ihm verpflichtet bist. Wo könntest Du besser lernen, ein tüchtiger, ehrenhafter Mann zu werden und Dir die Unschuld des Herzens zu bewahren? Und mit wie viel Annehmlichkeiten er Dir die Pflicht versüßt! Wenn Du wüßtest, mein kleiner Liebling, welche Rührung mich bei dem Gedanken erfaßt! Danke ihm in meinem Namen durch Deinen Gehorsam und Deine Liebe zu ihm. Da das Schicksal Dir kein anderes Gut als die Rechtschaffenheit mitgeben kann, so muß dieses eine wenigstens beständig und unerschöpflich sein. Dein Vater und Dein Großvater haben den Keim dazu in Dein Herz gepflanzt; wer könnte ihn zu edlerer Entfaltung bringen als der beste der Menschen, der Dich zu seinem Zögling und »Emile« erwählt hat? Bevor Du einschläfst, wende Deine Gedanken zu Gott! Danke ihm, mein liebes Kind, für den Mentor, den er Dir gegeben hat. Verliere nie das Grauen vor der Lüge, der Lügner ist niemals ehrenhaft. Hüte Dich, jemals etwas zu versprechen, was Du nicht erfüllen kannst. Sei gern gefällig, hab gut acht auf das wenige, was Dein ist, und vor allem auf das Eigentum der andern; sei nicht zudringlich und rühre nicht daran. Leihe Dir nur, was Du bestimmt und pünktlich wiedergeben kannst, und möge die Reinlichkeit Dein ganzes Leben erhellen. Sie ist die harmlose Freude des Armen. Gott hat überall für Wasser gesorgt, mit dem man sich läutern kann. Ergib Dich niemals dem Spott. Die innigsten Freundschaften müssen darunter leiden. Man glaubt nicht mehr an die Zuneigung dessen, der sich über uns lustig gemacht hat. Es ist eine große Bitternis und ein kleiner Triumph!

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An Valmore

Paris, 5. Juni 1833.

Beharre doch nicht bei dem Glauben, es sei Dein Lebensstern, der den meinen vertrübe; damit würdest Du mir Reue einflößen, indem Du mich daran gemahnst, daß das Gegenteil der Fall ist. Haben wir nicht auch ohne solche Einbildungen genug wirklichen Kummer! ...

16. Jänner 1834 (abends).

... Wie, Du hast an mein Schuhwerk gedacht, mein guter Prosper! Ich versichere Dich, dieser Gedanke hat mich gerührt, um so mehr, als es sich mit unseren kleinen Arbeitsplänen für unsere so langen Abende begegnet hat. Line Line (Ondine), die Tochter. hat Dir Trikotärmel gemacht. Ich bin eigens ausgegangen, um dazu die Wolle zu kaufen. Wie wundervoll ist es für uns beide, uns um Dich zu kümmern.

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An ihren Sohn

(Paris,) 8. Dezember 1833.

Mein lieber Hippolyte! Wieviel Küsse und Zärtlichkeit liegen in diesen drei Worten: mein lieber Hippolyte! Mein kleiner Freund, ist es nicht, als hätte ich Dir einen ganzen Brief geschrieben, indem ich Dir das schreibe? ...

Ich habe keine Augenschmerzen mehr, aber ich bin recht matt. Die Arbeit übersteigt meine Kräfte. Vielleicht werden wir nicht mehr lange in Paris sein, trotz der Schritte, die wir für ein Bleiben unternehmen, im Interesse Deiner Zukunft und der Deiner Schwestern. Ein Hoffnungsfädchen ist uns noch geblieben, und auch Gott ist da. Du kennst mein Vertrauen in ihn und meine Unterwürfigkeit in seinen Willen, der weiser ist als unsere Wünsche.

Unser nächster Brief, mein guter Junge, wird Dir sagen, ob wir Mittel und Wege gefunden haben, uns in Paris festzusetzen. Der Vater möchte gern das Theater verlassen, und ich bitte Gott, daß er zustimmt. Bitte ihn auch, Lieber! Du hast uns so lieb, nicht wahr, daß Du es aus ganzem Herzen tun wirst?

Lausche auf die Schläge der Uhr, die wir Dir hier schicken, und denke an die Schläge meines Herzens für Dich, liebes Kind! Bestätige uns sogleich den Empfang des Kästchens.

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An Valmore

Paris, 2. Februar 1834.

... Wenn Du einen festen und letzten Entschluß über das Engagement in Lyon gefaßt hast, unabhängig davon, ob Du eines an das Théâtre-Français angeboten bekommst, werde ich mich sogleich um meine Abreise kümmern: denn ich bekenne Dir, Deine Aversion läßt mich vor dieser Hilfsquelle in Paris zurückscheuen, und ich sehe keinen Vorteil für unsere Zukunft darin, wenn Du ein Opfer bringst, das Dich unglücklich macht; Du weißt, ich habe seinerzeit ebensowohl Dein Grauen vor einer Rückkehr nach Lyon begriffen. Du kennst noch immer nicht genug meine Selbstverleugnung Deinem Willen gegenüber, lieber Prosper. Wie in aller Welt könnte ich zufrieden sein, wenn Deine Position Dir falsch erscheint oder Deinen Neigungen nicht entspricht? Du beunruhigst Dich zu sehr um mich: ein ruhiger Winkel, meine Kinder, Tinte und Papier – und ich fühle mich hier so wohl wie da, vorausgesetzt, daß man mich Atem holen läßt ...

Paris, den 25. April 1839.

Ich fühle Deine Ankunft dort. Ich erlebe in meiner tiefen Einsamkeit Dein Erwachen ohne mich. Ich weiß, wie traurig das ist, Du! Ich weiß alles. Du tust mir leid, ich weine, und ich liebe Dich über alles. Und so rufe ich Dir jetzt zu: Mut, Hoffnung! ...

Lieber Gott! Wie die armen Kinder Dich bedauern und Sehnsucht nach Dir haben! Kannst Du ihnen nicht ins Herz sehen? Hast Du nicht zum mindesten den unendlichen Trost in dieser schweren Prüfungszeit, geliebt zu sein? Dieses Bewußtsein erhält bei Kräften. Ich habe nur eine Bitte an Dich: schone Dich für uns; sei glücklich, wenn Dir daran liegt, daß ich aufatmen und aushalten kann!

26. morgens.

Ich küsse Dich im Namen Molières, von dem ich soeben geträumt habe. Er hat in einem hübschen kleinen Haus, das Dein war, mit uns diniert. Du warst zufrieden, und ich – das kannst Du Dir denken! Er bat mich um einen meiner Ringe und küßte mich auf die Stirne, ehe er sich an die Arbeit begab – ich ersuchte ihn, sich mit Dumas zusammenzutun und ein Theater zu gründen; ich wußte ja, wie gern Du ihn hast und daß Du Dich darüber freuen würdest. Er lächelte uns zu und hatte nur einzuwenden, daß er zu viel zu arbeiten habe.

Ich wollte Dir diesen friedvollen Traum berichten. Das Wetter bessert sich ein wenig. Ich werde einen Ausflug aufs Land wagen. Im übrigen ist mir alles Äußere gleichgültig. Nein, mein lieber Freund, kein Glück nimmt mir die bittere Last vom Herzen, die Deine Abwesenheit mir bringt.

29. April 1839.

... Seit Deiner Abreise habe ich meine große Verstimmung noch nicht überwinden können. Schlafengehen, Aufstehen, dies ist von einer Traurigkeit, die ich nicht unterdrücken kann. Ach! mein liebes Kind, könnte man, bevor man bestimmte Opfer bringt, die eigene Seele durchschauen, hätte man im Innersten sie zu unterschreiben kaum den Mut? Denkst Du nicht auch so, mein armer Freund? Ich beschwöre Dich, zumindest Deine Gedanken zu zerstreuen. Dein Glück ist mir weit mehr als das meine! Großer Gott, mit welchem Preise wollte ich es doch erkaufen, wenn ich etwas besäße.

Orléans, 8. Mai 1839.

Niemals werde ich Dir die Schönheit der Kathedrale wiedergeben können; man verläßt sie nur, um sie dann von außen zu bewundern. Wie bedaure ich es, daß Du nicht da bist, um mich zu begleiten! Wie schade, daß ich nicht zeichnen kann, um Dir eine Idee von diesem herrlichen Schiff zu geben, dessen Segel durchbrochene Flügel sind, wie ungefähr jene, die den Dom von Mailand in die Höhe erheben. Wie rasch die Zeit vergeht, und sie entflieht mir mit Dir.

Orléans, den 14. Mai 1839.

Bei aller Freude über Dein mir so wohltuendes Lob – es wird der einzige Erfolg meines Buches sein –erweckst Du mir mit der Frage, ob ich es störend empfände, Deine Frau zu sein, tiefen Kummer. Höre, Valmore, ich bin außer mir, daß Du mich für ein so oberflächliches und niedriges Geschöpf hältst. Mir ehrgeizige Absichten, Habgier oder Verlangen nach weltlichen Genüssen zuzuschreiben –, es zerreißt mir das. Herz, das nur von Dir erfüllt ist und dem Wunsche, Dich glücklich zu sehen. Ich würde Dir mit Freuden in die Tiefen des Gefängnisses oder in die Fremde folgen. Das weißt Du, und diese Gedanken befallen Dich zu meinem Schmerz immer nur nach der Lektüre des elenden Gestammels, dessen ich mich schäme, wenn ich es mit den schönen Werken vergleiche, die Dein Geschmack mich schätzen gelehrt hat. Nunmehr sage ich Dir aufrichtig und vor Gott, daß es auf Erden keinen Menschen gibt, dem ich durch die Bande verknüpft sein möchte, die uns einen. Der Charakter aller andern flößt mir nur Entsetzen ein. Habe ich es Dir nicht oft genug gesagt, um Dich zu überzeugen? Doch ach! es ist also wahr: man kann dem andern nicht ins Herz sehen.

Paris, den 23. Juni 1839.

Wenn Du in dem bißchen Talent, dessen Ausübung ich verabscheue, nun nach Beweisen suchst, die Deine Vernunft irreführen, wohin kann ich mein Herz dann flüchten? Es ist ausschließlich Dein. Die Dichtkunst ist ein schreckliches Ungeheuer, wenn sie meine einzige Glückseligkeit, unsere Vereinigung zerstört. Ich habe Dir hundertmal gesagt, und ich wiederhole es hier, daß ich viele Elegieen und Romanzen auf Bestellung geschrieben habe, deren Thema gegeben war und von denen manche nicht bestimmt waren, ans Licht gezogen zu werden. Unsere elende Lage erforderte es anders. Wie viele Tränen und Klagen Paulinens haben sich in diese Verse gewandelt, die Du liebst, und deren Urheber eigentlich sie ist. Unser Leben aber war so einsam, so auf sich selbst gestellt und hastend, daß ich, wie ich Dir gestehe, der Zusammenstellung dieser Bücher, die unser Geschick uns zu verkaufen zwingt, keine allzu große Aufmerksamkeit gewidmet habe. All Deine Nachsicht für eine Begabung – die ich völlig geringschätzen würde, ohne den Wert, den Dein Gefallen ihr beimißt, kann mich nicht über eine heimliche und peinliche Erkenntnis trösten, die dadurch in mir entstanden ist. Molière hatte recht, Rousseau sprach die Wahrheit, und Mademoiselle Lenormand war also wirklich hellsehend, als sie mir in orakelhaftem Ton sagte: »Schreiben Sie nie!« Du siehst nun wohl, daß ich recht habe, mein guter Freund, wenn ich auch nicht den Schatten von Befriedigung verspüre, soviel Papier bekritzelt zu haben, anstatt unsere Hemden zu nähen; obschon ich mich bemüht habe, auch diese in Ordnung zu halten; Du weißt das, Du teurer Gefährte eines Lebens, das niemandem zur Last gefallen ist.

Paris, 10. Juli 1839.

Wie liebe ich Dich, bei der Vorstellung, wie Du Dir Deine Kappe nähst! Welch merkwürdige Biographie würde man von uns machen, wenn man uns in all unserer beherzten Armut erblickte!

28. Juli 1839.

Sag niemandem, wann ich ankommen werde, damit wir allein bleiben, einen Tag wenigstens! Sag mir, mein guter Engel, hast Du ein Kanapee, um Dich während des Tages ausstrecken zu können? Ich denke fortwährend daran, Du mein armer Freund! Herrgott, was ersinne ich nicht alles, Dir zu schenken! ...

Paris, 2. August 1839.

Ach, nein! Du nörgelst ja nicht, und ich verstehe, daß Deine Bemerkungen alle und immer aus einer anbetungswürdigen Quelle von Zartgefühl stammen, wie sie sich selten findet ...

Ich liebe Dich! und überdies achte ich Dich leidenschaftlich.

2. August 1839.

Du siehst, ich fordere niemals als Erste unsere Kinder auf, Dir zu schreiben, in dieser Hinsicht habe ich denselben Herzensstolz. Ich warte. Nein, nein, ich setze nichts auf Erden neben unser Gefühl füreinander. Ich mache mir keine Illusionen mehr, dennoch glaube ich zutiefst an das Herz Hippolytes; es ist für immer an das unsere angewurzelt.

Paris, den 13. August 1839.

Alle (Menschen), die ich jetzt kenne, flößen mir nur noch mehr Zärtlichkeit für Dich ein! Bedurfte es unserer Trennung, damit wir uns noch mehr lieben? Gute Nacht, lieber Prosper! Ich gehe zur Ruhe, das Herz erfüllt von Dir, schlafe wohl. Liebe mich, die ich Dich einzig liebe.

Paris, 8. November 1839.

Oh! Mein lieber Freund, warum willst Du nicht mehr lachen. Überlaß diesen Ernst den Bösen. Das Leben hat Anmut und Sonne, solange es Liebe hat. Wer hat dies nur gesagt: »Nichts bleibt vom Leben, wenn nicht dies: geliebt zu haben.« Wird in dem Sinne nicht Deine Hand den Druck der meinen erwidern können?

Paris, 25. November 1839.

Wir vermuten bei unseren Kindern tiefere Wurzeln, als sie jeweils an bestimmten Orten besitzen: Überall ist in diesem Alter das Glück. Inès ist augenblicklich ganz Musik, Schneiderei und Englischstudium und auf diese Weise also geordneter Beschäftigung hingegeben ... Die Hauptsache ist, daß sie Dich und mich sehr lieb haben, was wir in diesem stürmischen Alter zu sehr vergessen.

Paris, den 25. November 1839.

... Eines bedenke wohl –, es soll Dir beistehen im Kampfe gegen Dich selbst, wenn Du Dich in Deinen Gram vergräbst –, bedenke, daß meine Gesundheit in Deinen Händen liegt. Wenn die Deinige wankend wird, bekomme ich Fieber, und wenn Deine Seele herabgestimmt ist, so sinkt die meine gleich noch tiefer. Wir haben einer beim andern so viel durchgemacht, daß wir wie Zwillinge geworden sind.

Paris, 3. Dezember 1839.

Ich habe einige schlechte Tage und, wie Du, recht traurige Nächte verbracht. Diese Jahreszeit gibt einem keinerlei Möglichkeit, Mut zu bewahren. Die Kraft, die mir von außen kommt, ist, wie Du weißt, die Sonne. Sehe ich sie nicht mehr, fühle ich sie nicht über Dir, glaube ich mich vom Schicksal, das Dich mißhandelt, noch ärger verlassen, denn ich weiß, wie empfindlich Du gegen die Grausamkeit des Winters bist, mein armer Freund! ...

(Paris,) den 12. Januar 1840.

Ich muß wieder bei Dir sein; weißt Du das? Begreifst Du das? Ich bin mir selber unerträglich geworden, und meine Seele ist nirgends mehr dabei, wohin ich meinen Körper hinzugehen zwinge, um der Fülle von Verpflichtungen zu genügen, deren Hohlheit und Anstrengung Du kennst. Es war ein zu aufreibender Monat. Manchmal bleibe ich auf der Straße oder auf einer Treppe stehen und weine, weil ich Dich so fern weiß und so gebunden, wie auch ich es bin. Dieser Kampf muß aufhören ... »Geduld, steig wieder auf zum Himmel!« Wenn ich weiß, daß ich Dich wiederfinde bei der Heimkehr – wie trotze ich dann allen Plagen, aller Müdigkeit, den Widerwärtigkeiten aller Art, denen ich jetzt ohne jeden Trost ausgeliefert bin! Diese tyrannischen Kindereien quälen mich abscheulich, lieber Junge; ich finde, daß sie wie zum Hohn unser Elend begleiten. Ich bin so sehr der Sklave dieser gleichgültigen Leute, daß ich noch dahin kommen werde, sie zu hassen, weil sie in ihrer Belanglosigkeit mit ihren Visitenkarten und ihren Briefen sich zwischen uns drängen, so daß ich mir vorkomme wie ein »bekannter« Schriftsteller. Die übrige Zeit stehe ich mit gekreuzten Armen vor der Nichtigkeit meiner erlahmten Gedanken. Ich kann keine vernünftige Arbeit beginnen noch fortführen. Da hast Du meinen Seelenzustand: Nähen, Schreiben, Umherlaufen, von Herzen weinen, mir mit Entsetzen vorhalten, daß ich nicht die Hälfte der Anforderungen erfülle, die von allen Seiten an mich herantreten – so verbringe ich meine Tage! Ich werde Dir später erzählen, welche Heuschreckenplage auf meine Wege niedergegangen ist, falls ich mich später noch an alles das erinnern kann. Inzwischen beklage mich, die ich weder morgens noch abends Deine Hände, Deine Augen finde, um mich aufrecht zu halten und mich zu grüßen! Es war eine heroische Tat, daß wir uns trennten, ich erfahre es an meiner allzu schmerzlichen Niedergeschlagenheit!

Paris, 5. März 1840.

Es ist wirklich wahr! es ist wirklich wahr! Wenn Du es in den Zeitungen liest, noch ehe meine Freude hier es Dir kündet, so glaube daran und laß uns gemeinsam für diese Gnade danken, die die Vorsehung über uns ausschüttet. Ich erhalte soeben, Donnerstag mittag, das Dekret des Ministers, Herrn Villemains, der mir, ehe er aus dem Ministerium scheidet, eine unerwartete Wohltat erweist. Er hat meine vorübergehende Pension von dreihundert Franken auf zwölfhundert Franken lebenslänglich erhöht. Ich fühle mich von einer Freude erschüttert, die zu rein ist, als daß sie nicht von jener unsichtbaren Macht herkäme, die mich in allen meinen Kümmernissen aufrecht hält. O mein Freund, glaube mit mir! Teile die Gabe und den Glauben mit der Gefährtin Deines geliebten Lebens und sorge Dich nicht um die Zukunft, die sich so angenehm ankündigt ... Oh! wie gern möchte ich Dich küssen! Und Dich zufrieden sehen, mein lieber Prosper! Ich schreibe in Eile.

Paris, den 27. August 1840, 2 Uhr.

Wie weh hat mir Dein letzter Brief getan, Prosper! Warum bist Du dermaßen traurig über die Vergangenheit? Warum Dich über Dinge quälen, die nicht mehr sind, und einem Dich beschämenden Kummer hingeben, dessen Kenntnis Du mir bisher erspart hattest? Wäre es nicht ein Wunder zu nennen, wenn Du den Versuchungen entgangen wärest, die glühende Jugend und die reichliche Gelegenheit unseres Berufes Dir boten. Du bist unbedingt der ehrenhafteste Mensch von der Welt, und ich möchte, daß Du ein für allemal diese Zufälligkeiten, die Du nicht gesucht hast und die der Unverletzlichkeit unseres Bündnisses keinerlei Schaden getan haben, nach ihrem wahren Wert beurteilst. Laß also jene Tage des Leichtsinns ruhen; sie sind durch die Anschauungen, die unsere Zeit uns eingeimpft, wohl unvermeidlich. Laß uns nicht strenger urteilen als Gott selber und seine guten Priester, die ihre reuigen Kinder aufrichten und umarmen. Ich verdenke es niemandem, Dich liebenswert gefunden zu haben, mein teurer Gemahl. Mußte man nicht mir verzeihen, Deine Frau zu sein und – offen gesagt – ein solches Glück gar nicht zu verdienen? Doch diese Verbindung war im Himmel beschlossen, von Deinem Vater und unseren Freunden gerne gesehen; und wie bin ich dankbar, daß sie mich wählten, denn wie liebte ich Dich! Und findest Du, daß ich Dich nicht mehr mit allen Fähigkeiten meiner Seele liebe? Sei meiner gewiß, lieber Freund, im Leben wie im Tode, und nimm meinen tätigen Dank für die Innigkeit hin, mit der Du die meinige erwiderst. Nichts in der Welt kann meine Gefühle ändern, und ich folge Dir mit Freuden überallhin, wo Gott uns gütig gewährt, ein gemeinsames Dasein zu führen. Ich beschwöre Dich, hierin den vollen Ausgleich einer Vergangenheit zu sehen, deren trübe Träume für mich nicht mehr bestehen. Ich bitte Dich, sie Deinerseits mit Nachsicht zu behandeln und nichts von dem zu hassen, was Dir einst Liebe gegeben hat ...

*

An ihre Tochter Ondine

Paris, 30. August 1840.

Komm, mein Kind, damit ich Dir Liebe spenden, Dich in die Arme schließen kann! Wie recht hast Du getan, Dich in dieser Verwirrung, über die ich mich ebenso wundere wie Du, an mich zu wenden! Du hast Dein Herz erleichtert, und ich eile Dir zu Hilfe ... Die Zukunft allein – und vor allem eine Trennung – kann Dir deutlich zeigen, wie es um Dich steht. In Deinem Alter durchkreist ein unendliches Bedürfnis nach Liebe unser Blut und unser Herz. Es ist oft unvermeidlich, daß man sich in seiner Wahl irrt, die man stets dem »unabänderlichen« Schicksal zuschreibt. Mein liebes Herz, in Deinem Alter vor allem ist es wichtig, Dir den Irrtum zu nehmen und Dich aufmerksam zu machen, gegen vorübergehende Gemütsbewegungen auf der Hut zu sein, die so viele reine und ehrbare Herzen täuschen. Man sagt: »Diese neue und seltsame Verwirrung beweist mir, daß er es ist, auf den meine Liebe gewartet hat!« ... Mein liebes Kind, vertraue meinem innigen Rat, Du würdest Dich täuschen und in aller Unschuld andere täuschen. Gehe den Gelegenheiten, die solche Versuchungen herbeiführen könnten, aus dem Wege. Im übrigen wirst Du sehen, daß ein junger Mann, sei er noch so schüchtern, zurückhaltend, noch so rein, sobald er seinem Instinkt gehorcht, dennoch recht kühn ist. Daher die vielen unüberlegten Bündnisse, die so oft zwei übereilt aneinander gekettete Existenzen unglücklich machen. Solche Träume muß man teuer bezahlen! Und das Leben ist lang für den, der erwacht ist. Glaube mir, die Freude zu gefallen begleitet stets solche Erschütterungen, selbst wenn eine Enttäuschung alle Hoffnungen eines jungen Kindes vernichtet hat.

Die Frauen tun am klügsten, einem derartigen bei den Männern sehr beliebten Ansturm nicht zu viel Wert beizumessen und sich schamhaft davor zu schützen, ohne Schrecken oder Kummer zu empfinden und ohne sich übertriebene Selbstvorwürfe zu machen. Du darfst keinen ermuntern. Bleibe klug und unbefangen. Laß Dich nicht von einem trügerischen Mitleid für jene befallen, die Du anscheinend unglücklich gemacht hast. Ist ein junger Mann von wahrer Liebe ergriffen, von einer Liebe, die Bestand hat, so sei überzeugt, daß er sich an die Eltern wendet, wenn nicht, so ist es ein wenig ehrenvolles Spiel, das er mit unserer Schwachheit treibt, und Gott weiß, was daraus entsteht.

Flüchte Dich zu mir, nur zu mir! Mein Herz gehört Dir: es ist voller Nachsicht mit Dir – mehr als Du selbst –, aber es ist auch voll Klarheit, und Du hast nichts zu fürchten, solange Du Dich an mich hältst, selbst in der Ferne nicht.

An Valmore

Paris, 20. September 1840, morgens.

Dies ist einmal ein dicker Brief! Sag mir, ob er Dich viel gekostet hat. Bist Du nicht durch so viel Porti ruiniert? Vergiß nicht morgens Schokolade zu nehmen. Oh, wie gerne möchte ich sie Dir zubereiten.

Paris, 25. September 1840.

... Ich kehre von der Hochzeitsmesse heim, während der ich nur Dich sah. Welch süße und schreckliche Gemütsbewegungen harren doch unser im Leben, in der Trennung! Was für Wünsche und was für Erinnerungen habe ich doch Gott in meinem Gebet für diesen guten Charpentier dargebracht; ich habe recht geweint. Und Dich geliebt! Ach Du! Ich bin ganz Dein.

Paris, 4. Oktober 1840.

Sonntag ist es und traurig, mein lieber Freund! Dieser Tag hat für Dich und mich dieses Vorrecht. Die Heilige Schrift sagt: »und die da weinen am Tage des Herrn, werden getröstet sein.« Die Heilige Schrift sei bedankt, sie verheißt uns viel Glück.

Paris, 4. Oktober 1840.

Ach, ich vergaß einen Augenblick lang, Dich zu trösten, verzeih mir! ich bin ganz niedergeschlagen in der Erinnerung an das, was Du schreibst. Es gibt nichts Ärgeres als unwürdige Richter. Geist vermag ein wenig dafür zu entschädigen, gehaßt oder verfolgt zu werden. Da gibt man sich zumindest über das Ausmaß der zugefügten Kränkung Rechenschaft, aber ein literarisches Hornvieh schreibt mit unserem eigenen Blut und glaubt, es sei Tinte ...

*

An ihre Kinder

Brüssel, 1. November 1840, 10 Uhr abends.

Meine geliebten Seelen, ich schreibe euch, und alle Glocken Brüssels läuten dazu. Es ist ein einiges Geläut für die Heiligen und die Toten. Kein Pariser kann sich eine Vorstellung von diesen Feierlichkeiten machen, die hier Himmel und Erde in Bewegung setzen. Die Kirchen, die wir uns angesehen haben, waren voller Frauen mit flandrischem Kopfputz, jenem Seidentuch, das bis auf die Füße fällt. Die Kirchen wirken so ganz italienisch, daß ich gar zu gerne wünschte, ihr könntet sie sehen. Hippolyte wäre begeistert. Wir haben heute die Mutter Gottes und das Jesuskind schwarz verhüllt gesehen. Diese Gebräuche bestürmen mein Herz mit tausend Erinnerungen. Sie sind ganz kunstlos, aber das Andenken an meinen ersten süßen Glauben macht, daß ich die starren rosenbestickten Schleier und die steifen Blumenkränze, denen selbst der heftigste Sturmwind kein Blättchen entreißen könnte, anbeten muß.

Ich muß euch von einer Gemäldesammlung berichten, die wir gestern beim Herzog von Arenberg gesehen haben. Welch schweigende Pracht! Welch strahlende feierliche Einsamkeit! Eine Fülle von Rubens, seine beiden Frauen, die sein Pinsel lebenswarm gestaltet hat, er selbst, von eigener Hand gemalt; man meint, die Lippen bewegten sich! Wahrhaftig, hier ist das Refugium der Malerei, man spürt, daß sie wie eine tiefe Religion verehrt wird, ohne viele Worte. Doch was werdet ihr sagen, wenn ihr hört, daß wir den wahren Kopf des Laokoon gesehen haben, den der Herzog von Arenberg für hundertsechzigtausend Franken gekauft hat? Wenn ich tausend Jahre lebte, könnte ich dies Wunderwerk nicht vergessen, das mich nicht mehr losläßt. Dieses von Schmerz und bittern Selbstvorwürfen wie überströmte Haupt! Die Venezianer haben es bei ihren Ausgrabungen gefunden, lange nach der Entdeckung der wundervollen Gruppe, deren eigentlicher Kopf nie gefunden worden war. Sein Anblick ist herzzerreißend, und man erwartet, den in Seelenqual weit aufgerissenen Mund aufschreien zu hören. Der Anblick der freiliegenden Zahnreihen, ganz ohne Verzerrung, trägt viel zu dem martervollen Eindruck bei. Es ist kein Greis, wie bei der Gruppe, sondern ein Mann in der Kraft und Schönheit seiner Jahre. Er weint, wie ich nie Marmor weinen sah, wie man fühlt, daß nur ein Vater weinen kann, der seine Kinder rettungslos verloren sieht. Hippolyte hat einmal die Beobachtung gemacht, daß diese recht jung aussehen, als Kinder eines solchen Greises. Er würde hier mit Begeisterung sehen, wie gut ihre Jugend zu seinen Jahren paßt. Sie dürften fünfzehn Jahre alt sein. – Doch was erzähle ich da! Alles, was ich darüber sage, ist so blaß, daß es mehr Sinn hat, zu unserer Wirklichkeit zurückzukehren.

*

An Valmore

Douai, 9. November 1840.

Es gelang mir nicht, das Fenster der Wagentüre herabzulassen, die uns trennte, um Dir noch einmal die Hand zu drücken. Ich gestehe Dir, daß es mir ein trautes Gefühl war, Dich mit einer Person zu wissen, die ich nicht mehr als Fremden betrachten kann. Es war wenigstens kein kaltes Herz, das neben dem Deinen schlug, mein lieber Mann.

Mit großer Bewegung habe ich die Glocken läuten hören, die einst für meinen Vater und meine Mutter die Stunden geschlagen. Von weitem sehe ich den Eingang zu unserer Gasse ... Innige Erinnerung ist der unfehlbarste Garant der Unsterblichkeit. Wie werden doch wir beide Seite an Seite durch sie schreiten! Wir haben so viel in dieser Sparkasse angelegt! Ich umarme Dich, mein guter Engel, und ich trenne mich nicht mehr von Dir, als ob Du im Nebenzimmer wärest.

15. Dezember 1840.

Du glaubst es wohl, daß ich zu jeder Stunde ein zartes und trauriges Entbehren empfinde, Dich nicht zu jeder Zeit um mich zu haben; selbst um mich anzukleiden, was Du oft mit einer Güte tatest, die mich rührt und mir durch und durch geht, o Du!

*

An ihre Tochter Ondine

Paris, 26. August 1841.

Ich will Dir nicht sagen, was ich empfand, als ich Dich wegfahren sah, und am folgenden Tag, mein guter Engel. Dein Brief hat mir so viel Glück gebracht, daß ich mich nicht beklagen darf, es mir erkauft zu haben ... Line, ich hab Dich lieb, ich liebe alles, was Dich glücklich macht ... Das Meer bedeutet Dir dasselbe, was es mir gewesen ist. Du hast es wiedererkannt, weil Du es mit meinen Augen gesehen hast, als ich ungefähr in Deinem Alter war. Bist Du denn nicht seit damals in einem Winkel meines Selbst verborgen? Ich habe viele Jahre gebraucht, um Dich in die Welt zu setzen. Wir sind ja nur eins, mein Kind, zwei geworden durch Gottes Willen. Deshalb beklage ich es immer, Dich nicht nahe genug zu fühlen. Wie glücklich aber bin ich, daß Du dies Meer liebst. Es wird Dir die Gesundheit wiedergeben, dessen bin ich gewiß ...

*

An Valmore

Orléans, 16. Jänner 1842.

... Ich habe die Kathedrale wieder gesehen. Überall, wo es etwas Schönes gibt, umschweben mich Deine Gedanken. Du hast meine Bewunderung für all das sehr entwickelt. Italien hat mir einen Schleier vom Auge genommen. Ich erbitte von Gott immer dies: leben zu können, um Dich zu lieben und seine Werke zu bewundern.

16. Mai 1846.

Warum liest Du die Künsteleien, die ich geschrieben habe. Solange dieses Ärgernis währt, von dem ich Dich so gerne heilte, ist das weder klug noch gesund. Nein, ich habe nicht all das gelitten, was diese Seiten erzählen. Ich werde Dir Briefe von unserer armen Pauline zeigen, die mir als Text zu den Elegieen gedient haben, deren Grundempfinden allerdings in meiner Veranlagung vorhanden waren. Die Gemütsbewegungen, von denen sie mir erzählte, formte ich zu Versen; auch ich habe solche erlebt, aber bedaure mich nicht wegen all dieser, die Du mit Rührung liest; und dann, mein Vielgeliebter, diese traurigen Vögel haben sanftem Seelenfrieden den Platz geräumt. Ernsteres Mißgeschick hat aus Dir und mir eine Beute gemacht, die sich weniger harmonisch ausnimmt. Wenn ich aber von dem Schrecken des Elends, das wir seit einem Jahre erleiden, absehe, würde ich mich als die glücklichste aller Frauen fühlen.

Paris, 17. Juni 1846.

Niemals habe ich mehr in Erwartung gelebt – zu leben. Es ist, als ob ich mich in einer Herberge befände, an irgendeiner großen Landstraße, und ausschaute, ob die Pferde kommen. Zumindest erhellt die Sonne das Warten. Du weißt, für mich ist sie die Lampe des Paradieses, und ich sehe Dich durch dieses schöne Licht, das alle Schatten meines Lebens schwinden läßt.

Paris, den 12. September 1846.

Ich erhalte Deinen lieben Brief vom 10. Ich möchte sogleich auf alle Deine Fragen Antwort geben, um Dein Herz zu beruhigen. Die immer wesentliche Frage ist wohl die, von Paris fortzuziehen, dessen ich zehntausendmal müder bin als Du. Du hast mich in dieser Hinsicht nicht richtig beurteilt; ich habe es immer verabscheut. So kann Wahrheit nie den ersten falschen Eindruck auslöschen? Ich habe aus Pflichtbewußtsein, aus Mutterliebe, aus Liebe für Dich diese Stadt den abenteuerlichen Reisen, den Fehlschlägen in der Provinz vorgezogen. Doch ein sicheres Heim – wo immer es sei und fern von Intrigen und Mißverständnissen, dem falschen Schein, dem grauenhaften Antichambrieren – einen Blumentopf am Fenster und Dich zufrieden im bescheidensten Häuschen, – das allein würde mir allzeit zu meinem inneren Glück genügen. – Ich habe nicht fälschlich, noch leichthin, noch um des Reimes willen gesagt: »Ich bin nicht für die laute Welt.« Ich habe die Wahrheit gesagt. Paris wäre mir nur dann erträglich gewesen, wenn ich euch alle zufrieden gesehen hätte. Das sage ich vor Gott.

Paris, 29. Oktober 1846.

Ich würde mir große Vorwürfe machen, wenn ich Dich wissen ließe, welche Martern mich hier Tag und Nacht zerreißen; doch hast Du nicht alles erraten? Weißt Du es nicht, daß ich wirklich und seit langem nur darum noch Hoffnung habe für dieses geliebte Kind, weil Gott groß ist und sich zuweilen von glühenden Gebeten erweichen läßt? Aber weder die Ärzte, die ich befrage, noch sonst etwas auf Erden könnte mich blind machen gegen die ungeheure Gefahr dieser verhängnisvollen Krankheit. Erwäge nun, welche Schrecken meine einsamen Nächte mir gebracht haben, und Du wirst entsetzt sein oder doch überzeugt von meinem wahren Mut und meiner tiefen Liebe zu euch allen, denen ich meine Verzweiflung fern zu halten suche, wirst überzeugt sein von meinem heiligen Bestreben, meine zugleich geliebte und schreckliche Mission zu erfüllen, ohne von euch zu verlangen, daß ihr allzusehr die Qualen mit mir teilt. Darum habe ich Dein Fernsein mit mehr als Entsagung ertragen, darum Ondine zu Dir gesandt; sie ist zu zart für solche Prüfungen. Du weißt alles. Ich verlange also nichts von unserm prächtigen Doktor Veyne, als was er mir geben kann und gerne gibt: seine Gegenwart. Er tut in jeder Weise seine Pflicht: wenn er ohne Hoffnung ist, so sagt er es mir nicht. Er kommt! Dafür segne ich ihn. Du weißt, daß ich mich über die Wissenschaft der Ärzte keiner tröstlichen Täuschung hingebe. Ich glaube an Gott. Wenn er mich schlägt, so weiß ich dennoch, daß es Gott ist, und ich preise ihn dafür. Ich habe Dich unsagbar lieb! Das Verlangen Deines oft so traurigen Herzens nach der glühenden Zuneigung des meinigen ist mir immer gegenwärtig. Ich gebe um Deinetwillen treulich acht auf meine Gesundheit, und ich küsse Dich! Hundertmal am Tag!

Paris, den 18. November 1846.

Ich küsse Dich von ganzer Seele! Mitten durch die Winterdunkelheit komme ich zu Dir, um Deine Einsamkeit zu trösten und aufzuatmen von dieser harten Trennung, die so entsetzlich ist, daß ich sie ertrage, ohne mir doch vorstellen zu können, daß es möglich sei, sie zu ertragen.

Es wollte heute gar nicht Tag werden. Alle Zimmer waren voll schwerer giftiger Nebel, denn die nachbarlichen Kamine speien ihre Rauchfluten über uns aus. Man hat nicht einmal das Behagen einer warmen Kaminecke, denn man muß Fenster und Türen aufreißen. Ich spreche Dir von all diesen häuslichen Kleinigkeiten, weil ich mich nicht entschließen kann, Dein Herz mit den Einzelheiten einer Krankheit zu betrüben, die uns alle wie angebunden hält und unter dem beständigen Druck der unerwartetsten Ereignisse. Der häufige Schlaf, der oft gewaltige Appetit vermögen nicht die verschiedenen Leiden des lieben Kindes zu lindern. Ihr Widerstreben gegen den so guten Arzt, gegen die Mittel, die er verordnet, zeigt sich von betrübender Heftigkeit. Sie entwickelt dann eine Kraft und Willensstärke, die mich geradezu verwirrt. Wir haben den Vormittag dazu benutzt, ihr Zimmer durch meinen Schreibsekretär zu verschönen, nebst einem Fauteuil, den sie sich schon seit Tagen mit glühender Freude wünschte. Was ihr aber aufs heftigste mißfällt, das ist das Bett Ondinens, darin ich nun bei ihr Nachtwache halte. Armes eifersüchtiges Kind, sie läßt sich ganz hinreißen von ihrer Abneigung gegen die Schwester. Herr Veyne sagte mir gestern, wenn die gegenwärtige Krisis überstanden sei, so werde sie wieder vernünftig werden. Sonderbare Sache! Diese Krankheit ist so eigentümlich veränderlich! Oft spricht sie mit ihrer natürlichen Stimme und ißt, als sei sie ganz wohl; überdies schläft sie besser, als seit drei Jahren. Gott ist so groß, so mächtig, daß ich alle diese Dinge mitansehe, als lebte ich zur Zeit des Lazarus. Doch ich würde mich gern in Deine Arme schmiegen, die mich so oft beschützt haben, mein lieber, mein geliebter Mann! Du herrlicher Vater eines herrlichen Sohnes! Segne mit mir dieses unsägliche Glück, diesen unwiderleglichen Beweis von der Liebe Gottes. Er ist wie ein Freudenfeuer zwischen uns, um die schlimmen Wege zu erhellen.

... Herr Balzac hat gestern einen sehr herzlichen Brief an unsere kleine Kranke geschrieben, hat ihr Früchte, Wein und Blumen gesandt und ihr mitgeteilt, daß er alles daransetzen werde, um Dich ganz ernstlich uns wieder zuzuführen. Möge der Himmel ihm beistehen!

1847.

Meine armen, nach Dir ausgespannten Schwingen müssen sich jeden Augenblick rückwärts wenden. Ich finde nur dann Ruhe und Aufatmen, wenn dies liebe kleine Mädchen mich aufatmen läßt. Gestern ist sie mit unbeschreiblichem Entzücken von ein Uhr bis halb neun Uhr aufgewesen. Herr Veyne ist verblüfft. Sie schläft und ißt gut. Ich sage Dir, für den Zuschauer ist es wie ein Wunder. Herr Blanchet, gesprächiger als unser Arzt, hat mir über die Phänomene dieser Krankheit Dinge gesagt, die den Verstand verwirren können. Was mich betrifft, so wandle ich mit geschlossenen Augen unter einem Willen, der stärker ist als der meine!

Ich habe heute keine Neuigkeiten für Dich. Die schlechten – daran hast Du nur allzu viele! Die guten sind aber selten.

*

Nach dem Tod ihres Kindes

Paris, den 20. Februar 1847.

Mein Freund! Da von allen auf der Erde Du allein, nur Du allein mich trösten kannst, so bitte ich Dich darum bei allen Kümmernissen der Vergangenheit, bei meinem entschlossenen und unerschütterlichen Willen, aus Liebe zu Dir allem standzuhalten; ich verlange tausendmal mehr als mein Leben, ich fordere, daß Du mich liebst! Du hast nur eine Möglichkeit, mir das zu beweisen, mein lieber Freund, nämlich die, diese kurze Wartezeit beherzt mit mir gemeinsam durchzuhalten und nun für mich zu tun, was ich für Dich getan habe, weil Du für mich alles: Freund, Geliebter, Gatte, Bruder, Vater und Kind bist. Dies gesagt, dies aus tiefstem Innern uns zugeschworen, erbitte ich von Dir die einzige Sicherung, an die ich glaube, die mir genügen und mich wieder aufleben lassen wird, aber gib sie mir! Dein Wort, mir zu gehören, wie ich Dir gehöre, für uns beide und die geliebten Wesen, die Dich lieben und anbeten, weiterzuleben und ihnen statt einer grausigen eine ungetrübte Zukunft zu bereiten. Bei dem Andenken an unser heiliges totes Kind – mußt Du nicht weinen über den Sturm, der mich schüttelt? Wirst Du mich nicht ans Herz schließen und mich glücklich machen durch dieses Ehrenwort, das ich von Dir erbitte und das die wahre Ehre Dich verpflichtet mir zu geben? Zögere nicht! Ich glaube an Gott im Himmel und an Dich auf Erden!

Beim Durchlesen Deines Briefes, mein Guter, sehe ich, daß Du an meinem festen Willen zu zweifeln scheinst, uns gemeinsam einzuschränken, diese Abzahlungen zu erreichen. Du selbst kannst nicht eifriger wünschen, die Schulden zu tilgen, wie ich, und ich arbeite alle Tage daran. Merk nur auf und schenk mir das gleiche Vertrauen, das Du zu Vater und Mutter haben würdest. Ich werde Dir alles aufrichtig mitteilen, und dann werden wir beide einmütig das tun, was Du zu unserer Herzensruhe für das beste hältst. O wären unsere Herzen doch eins! Verlaß mich nicht! Vergib mir, wenn ich irgendeine Zärtlichkeit unterlassen, wenn ich Dir nicht genug gesagt habe, daß ich überall hingehen würde, aber mit Dir! Wie! Noch fühle ich lebendig Deine letzten Küsse, und Du schreibst mir das? Du, so gut, so edelmütig, so herzergeben? Großer Gott! Was würdest Du sagen, wenn ich oder Dein Sohn Dir so etwas schriebe! Du würdest es nicht glauben. Du hast also nicht bedacht, daß ich Dir überallhin folgen würde! ... Und was tat ich sonst, als nur Dich lieben, was ließ Dich glauben, ich würde zurückbleiben ... Ach! es ist das erstemal, daß Du mir das Herz zerreißt. Und schließlich, beachte das wohl: ich ertrage alles mit Dir, aber nichts ohne Dich! – Also, lieber Geliebter, komm zurück zu mir, beginn nicht wieder den Brüsseler Leidensweg, oder laß mich neues Leben finden, indem ich Dich dorthin begleite. Ich beschwöre Dich um das eine oder andere! Dein Wille entscheide sich für mein Glück.

Sag! Bedeutet es Dir nichts, mir das Leben zu retten? Es ist in Deiner Hand, und ich glaubte, Du habest gefühlt, welche Anstrengungen es mich nach dem furchtbaren Schlag kostete, mich für Dich zu erhalten. Du, der ehrenhafteste Mann, den ich kenne, Du bedenkst also nicht, daß Du durch eine falsche Art zu sehen aufhören würdest, ein Ehrenmann zu sein, denn eine grauenhafte Tat von uns beiden würde nichts gutmachen und würde unsere Kinder ins tiefste Elend stürzen, von ihrer Verzweiflung ganz zu schweigen. In welch sonderbarer grausamen Stimmung hast Du mir geschrieben? Du, der Du sonst schon zitterst, wenn ich nur in eine Diligence stieg, Du willst mich nun durch diese Preisgabe zerschmettern ... Ach, ich bin Dein Weib, Dein armes Weib, und Du schuldest mir meinen Gatten, den ich auf den Knieen von Dir erbitte!

Ich sende Dir diesen Brief, ohne den Sonntag abzuwarten; ich möchte mit ihm forteilen, ich bin an Leib und Seele in solcher Verwirrung, daß ich mich nicht mehr zurechtfinde. Mein einziges Leben! Du, der Du um meinetwillen alles entbehrst, Du bist besorgt, mir zu wenig zu schicken! Du darfst in dieser Hinsicht beruhigt sein, ich habe alles, was wir brauchen, selbst für den Fall eines Umzugs. – Schreibe mir also hierher; was mich nicht mehr erreicht, wird nachgesandt. Frankiere nicht, ich kann das bezahlen.

Mit wie viel Sehnsucht erwarte ich Deine Antwort! Möge der Himmel und die Liebe Dir beistehen, Deiner Frau und innigen Gefährtin nicht das Leben zu nehmen.

Marceline Valmore

Ich habe manches zu sagen vergessen: hoffnungsvolle Schritte, Zukunftsaussichten. Ich sende Dir nur meine Seele! Stoße sie nicht zurück, Du tätest ein Verbrechen!

Paris, 25. Februar 1847.

Deinen letzten Brief trage ich auf meinem Herzen, wie Balsam für meine Wunden ... Ein Wort und das Deine wiegt alle falschen Schwüre auf, die uns betrogen haben. Ah, es fällt mir leicht, allen zu verzeihen, wenn mein Leben auf Deine Zuverlässigkeit sich stützen kann.

13. September 1851.

Die Gewohnheit, zu Dir zu sprechen, wenn ich allein bin, macht, daß ich glaube, Du hättest mich gehört ... so verlasse ich mich oft Dir gegenüber auf ein Wort und halte tausend zurück, die sich alsbald in Seufzer und Tränen verwandeln. Ja, oft weine ich das, was ich Dir nicht sage. Es ist nicht immer aus Trauer, mein Geliebter; die Liebe ist ja so reich an Gemütsbewegungen! Nimm alles von der Quelle, die Dein eigen ist; und wenn Du mir in Deiner Wahrhaftigkeit, an die ich glaube wie an Gott, sagst, daß Du Dein Leben von neuem mit mir wieder beginnen wolltest, so antworte ich Dir vor Gott, daß dies auch mein innigster Gedanke ist.

Alltag und Elend

Die unaufhörliche Heimsuchung, der mit hinreißender Kraft des Herzens ertragene Jammer ihres Lebens wird aus den folgenden Briefen offenbar. Sie zeigen die Verzweiflung der ewig vom Schicksal Gehetzten und gleichzeitig das Wunderbare, wie inmitten ihres eigenen Leidens Marceline Desbordes-Valmore allem fremden Leiden hilfreich zur Seite stand. Es wäre leicht gewesen, solche Beispiele sowohl ihrer Not als ihrer Nothilfe noch zu vermehren, doch schildert sich in diesen wohl schon sichtbar die groß erduldete und zu reinster Humanität erhobene Tragik ihres heroischen Daseins.

*

An ihren Bruder

5. September 1816.

Ich müßte Dich täuschen, mein teurer Freund, wenn ich Dir sagte, daß dieses arme gebrochene Herz imstande sei, sich wieder an diese, nun für mich so traurige Welt zu binden. Nein nichts, nichts wird diese Leere ausfüllen, für die es gar keinen Ausdruck gibt, so groß ist die Niedergeschlagenheit, die sie mir bereitet. Nur dünkt mir, als ob meine Vernunft nicht mehr in Gefahr sei, sich gänzlich zu verwirren, wie man und ich selbst es fürchtete. Das Leben erscheint mir jetzt so lang, war es doch so grausam für mich! ... Nein, ich kann in Worten nicht wiedergeben, was mich schmerzt oder vielmehr den einzigen Schmerz, der Tag und Nacht auf meiner Brust und meinem zerrissenen Herzen lastet ...

Papa befindet sich wohler ... Wie wahr ist es doch, daß ich nur für ihn mich entschließen konnte, weiter beim Theater zu bleiben! Es ist das größte Opfer, das ich um der Vernunft willen jemals gebracht habe.

2. Jänner (lies 1817).

Ist es zu spät, mein teurer Felix, Dich mit aller Zärtlichkeit einer Schwester, einer Freundin zu umarmen? Alle Tage, alle Monate sind gleich für diejenigen, die einander lieben, und Du weißt, daß ich Dich von ganzem Herzen liebe. Gedulde Dich noch wegen meines Porträts, mein Freund, Du wirst es nunmehr bald besitzen. Wenn das Bildnis einer Schwester, eines unglücklichen Wesens, Deine Freundschaft befriedigen kann, wirst Du zufrieden sein. Dein Brief hat mich entzückt, Du scheinst über Dein Schicksal unbesorgt, und dies beruhigt ein wenig mein trauriges Herz, und ich hätte Dich dafür umarmen mögen, daß Du mir ein Gefühl vermittelt hast, das der Freude gleicht. Wenn das Gebet einer Seele, die nichts mehr für sich selbst zu verlangen hat, von Gott erhört wird, werden alle meine Verwandten, die ich mit so viel Innigkeit liebe, von den schmerzlichen und tiefen Leiden, die ich empfinde, frei sein. Es scheint mir, mein lieber Bruder, daß ich genug für mehrere leide ... Welch ein Jahr ist eben für Deine arme Marceline hingegangen! – Und das, was es mir geraubt hat, wird mir niemals wiedergegeben sein, nein, niemals in dieser Welt. Ich muß das Ende einer für mich recht langen Reise abwarten! Mein armer Sohn, mein liebreizendes Kind hat mir allen Kummer leichter gemacht. Kein Kind hat es mehr verdient, von seiner unglücklichen Mutter zu jeder Stunde beweint zu werden. Erinnerst Du Dich seiner? Wie schön war er doch! Wie gut!

*

An Duthilloeul

Zuerst Friedensrichter, dann Bibliothekar der Stadt Douai, hat sich, sovielmal er konnte, der unglücklichen Lage des Felix Desbordes angenommen.

Bordeaux, den 24. Mai 1826.

Sie kennen jetzt einen meiner tiefsten Schmerzen. Das Los meines Bruders ist seit fünfzehn Jahren eine geheime und unheilbare Wunde für mich. Alle meine Anstrengungen, alle meine Tränen haben die verderblichen Folgen seines entscheidenden Schrittes ins Leben nicht abwenden können. Er hat sich mit vierzehn Jahren, um seinen bedürftigen Vater zu unterstützen, anwerben lassen und hat seine ganze Jugend im Kriege und in der Gefangenschaft auf den schottischen Pontons verbracht, und alle diese Dinge haben seine geistige und leibliche Gesundheit erschüttert. Wenngleich er mir einer der liebsten Menschen auf Erden ist, nicht nur weil ich ihn als Kind geliebt habe, sondern weil er gut und unglücklich ist, so wage ich doch nur mit Zagen, ihn dem Erbarmen braver Leute zu empfehlen. Er ist von langem Leiden geschwächt und unbeständig, die Erinnerung an so viel verlorene Hoffnungen, an die Demütigungen, denen er unterworfen gewesen, ergreifen ihn zuweilen mit solcher Heftigkeit, daß er in Verzweiflung erstickt und ziellos und schutzlos umherirrt. Monate lang weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist, schreibe überallhin, verzehre mich in Unruhe, und schließlich erhalte ich einen Brief von ihm, in welchem er mich als seine einzige Freundin um Hilfe angeht. Das bin ich in Wahrheit, mein Herr, solange ich denken kann; aber ich bin machtlos, ihm das verlorene Glück zu ersetzen, das Glück, das oft gar nicht von uns selbst abhängt, sondern von einer völlig gegebenen Lage, die den Kindern von ihren Eltern vorbereitet wird.

... Ich, die ich selbst heimatlos bin und als Mutter von drei kleinen Kindern meinen Unterhalt der Arbeit meines Gatten verdanke, der wiederum für einen alten Vater, unseren ständigen Begleiter auf unsern Wanderreisen, zu sorgen hat, – Sie werden begreifen, mein Herr, daß mir nicht das Glück zuteil geworden ist, meinen armen Verwandten viel zukommen zu lassen. Ich sende meinem Bruder zwanzig Franken im Monat, was ihm, wie ich wenigstens hoffe, den Aufenthalt in einem Krankenhaus oder militärischen Hospiz ermöglichen könnte, bis meine Bemühungen, ihn im Hôtel des Invalides in Paris unterzubringen, einigen Erfolg haben. Nun scheint er das Hospiz verlassen zu haben, ohne weiteres abzuwarten, und ich bin von neuem in lebhafter Unruhe ...

Man sagt, ich hätte eine Pension. Ich erhielt vom Minister einen Brief, der mir das anzeigte, man hat es sogar in den Zeitungen angezeigt; doch bis jetzt ist es nichts damit. Ich verdiene sie so wenig, habe sie weder erwünscht noch erbeten, so daß ich ihr Ausbleiben kaum beklagen kann. Ich erzähle Ihnen davon, mein Herr, damit Sie meine traurige Vermögenslage genau überblicken können. Vor vier Jahren bereits bin ich von jener Liste Pensionsberechtigter (in die das heimliche Wohlwollen irgendeines Mächtigen mich eingetragen) gestrichen worden, weil niemand vom Theater einer solchen Gunst teilhaftig werden kann.

Kurz und gut, mein Herr, wenn Sie durch Ihre gütige Unterstützung meinem unglücklichen Bruder einen kleinen Posten verschaffen könnten, den er in seinem fast gebrechlichen Zustand auszufüllen imstande wäre, so würden Sie mir einen unsagbaren Dienst erweisen, der mir eine große, dauernde Beruhigung wäre.

An Caroline Branchu

Lyon, 4. März 1830.

Wie albern und martervoll ist doch die Politik! Er brauchte nur seine prinzliche Nase Der Herzog von Orleans. zu zeigen, und alles wäre gut gegangen. Nein! Die Diplomatie und der Geist des Mißverstehens haben das Wort und machen Winkelzüge – natürlich falsche! Jetzt werden sich auch noch die Parteien erheben und sich in diesen Brotstreit mischen. Gott weiß, in welchem Ofen das Brot der Hungernden gebacken wird.

Paris, 30. Oktober 1831.

Das Fieber verläßt mich nicht. Dennoch habe ich es heute durch Schnee und Regen geschleppt, des armen Sträflings willen, dessen Traurigkeit allerdings nicht unerträglicher sein kann als die meine.

Châlons, 14. November 1832.

In meinem Zimmer habe ich eine junge Taubstumme, die vom Taubstummeninstitut mit einem Herrn zu ihrer Familie nach Hause fährt. Dieser hat mir sie für diese Nacht anvertraut, denn er hat bemerkt, mit welcher Sorge ich mich ihrer während der Fahrt angenommen habe. Morgen werden wir wieder zusammen wegfahren.

*

An A. Gergerès

Advokat im königlichen Gericht in Bordeaux und vertrauter Freund der Familie Valmore.

Lyon, den 29. November 1831.

Ihre Blicke, lieber Gergerès, sind jetzt auf Lyon gerichtet. Das Interesse, das Sie an der ganzen Menschheit nehmen, wird Ihr Herz mitfühlend und ergriffen gestimmt haben. Ich würde vergeblich versuchen, die furchtbaren Einzelheiten zu schildern; ich hätte nicht die Kraft zu vollenden. Sie werden auch aus wenigen Worten alles begreifen. Wir haben eine Wiederholung des blutigen Panoramas vom Juli erlebt, ein schreckliches Gegenbeispiel der drei Seiten im Buche der Geschichte, die von Kugeln geschrieben worden sind. Wie viel unschuldige Tote! Meine ganze Familie ist gerettet. Doch, lieber Gott! man kauft gegenwärtig so viel Trauerkleider, daß wir in die Kniee sinken vor Überraschung, nicht selbst auch welche tragen zu müssen! An diesem ungeheuren Aufstand hatte die Politik keinen Anteil. Es war Empörung des Herzens ... Die Weiber warfen sich dem Feuer entgegen und schrieen: »Tötet uns, dann haben wir keinen Hunger mehr!« Zwei-, dreimal vernahm man den Ruf: »Es lebe die Republik!« Doch die Arbeiter erwiderten – und das ganze Volk mit ihnen –: »Nein, nein! Wir wollen Brot und Arbeit!«

Seit fünf Tagen sind die Aufständischen die Herren von Lyon, und es herrscht eine musterhafte Ordnung. Inmitten von Sturmgeläut, Trommelwirbel und Kugelregen, den Jammerrufen der Sterbenden und der Frauen machten wir uns auf Plünderung und Brandstiftung gefaßt, falls jene Sieger werden sollten. Nichts derartiges! Nicht ein kaltblütiges Verbrechen nach dem Kampf! Ihr Zorn hat sich daran erschöpft, in zwei, drei Häusern reicher Fabrikanten – man hatte dort unklugerweise aus den Fenstern in die Menge gefeuert –, Möbel und Uhren zu zerschlagen und Vorhänge und Teppiche zu verbrennen. Den Soldaten ist auf ihrem Rückzüge, bei dem sie trotz allem das Gewehr übergehängt hatten, grausam mitgespielt worden. Die Bevölkerung der Vorstädte hielt diese schöne Menschlichkeit für eine Falle, und man metzelte die Soldaten nieder; dreihundert sind gefallen. Die Rhone war rot! Diese arme Garde hatte sich zuerst geweigert, auf die Arbeiter, die nur mit stürmischen Rufen Brot verlangten, zu schießen. Dann aber begannen zehn oder zwanzig Hitzköpfe doch zu feuern ... Da gab es ein großes Kampfgemenge, ein Durcheinander von Weibern, Kindern und schließlich der ganzen Bevölkerung, die sich auf Seite der Arbeiter stellte. – Der Mut dieser Armen ist um so erstaunlicher, als sie von Hunger erschöpft und nur mit Lumpen bedeckt waren.

Welch ein Anblick! auch beim Schreiben muß ich die Zähne aufeinander pressen. Vor einem Monat, am nämlichen Tage, hatte dieselbe aufrührerische Unruhe ohne Waffen, ohne Schreie in friedlichem Strom die ganze Stadt durchflutet. Man empfängt sie, hört sie an; man gewährt ihr die kleine Lohnerhöhung, die sie erbittet. Freudenrufe ertönen. Am Abend veranstalten diese armen Leute aus Dankbarkeit eine Illumination. Den Beamten und Kaufmannsvorständen werden Ständchen gebracht. Acht Tage später verweigert man ihnen den bewilligten Tarif. Man verhöhnt sie. Ein Geschäftsmann begeht die Dummheit, einem Beschwerdeführer die Pistole vorzuhalten, mit den Worten: »Hier unser Tarif!« Da ist den bedauernswerten Armen von Lyon der Zorn zu Herz und Kopf gestiegen, und die Folge war der Aufstand.

Das Theater hat gestern wieder begonnen. Ich wage nicht, Ihnen angesichts all des Elends von unserer eigenen Not zu sprechen. Man erwartet den Herzog von Orleans, doch seit gestern ist er in der Nähe von Lyon, ohne hereinzukommen. Was hat man nur vor? Worauf wartet man, da ja alles still und friedlich ist? ... Es heißt, man will mit starkem Aufgebot einziehen; doch ist das nicht überflüssig, wenn man alles verzeihen will? ... Und wenn man strafen will – mein Gott! Ich möchte lieber sterben, als neue Opfer fallen sehen! ...

*

An Frédéric Lepeytre

Oberstadtsekretär von Marseille, verheiratet mit einer jungen Bekannten der Marceline, korrespondierte er jahrelang mit der Dichterin, ohne sie zu kennen. Später entwickelte sich eine tiefe und treue Freundschaft zwischen den beiden.

Lyon, 15. Februar (1832).

Sie möchten wissen, ob ich von Natur schwermütig bin, oder warum sonst ich es bin? Es ist nicht leicht, so viel Dunkles, Rätselhaftes in wenigen Worten zu entwirren. Ein jeder von uns trägt sein Geheimbuch in sich, voller Widersprüche. Tag um Tag findet sich darin ein neuer, anderer Satz, der uns selbst erstaunlich ist. Ich spreche im Bilde, denn Ihre Frage anders zu beantworten, würde mich zu traurig stimmen. Wenn meine Gedanken sich nach innen neigen, so weinen sie. In Gesprächen bin ich anders. Da gehöre ich dem momentanen Eindruck, ich sympathisiere mit dem, der zu mir redet, und ich lasse sein Wesen auf mich einwirken. Sie würden mich sehr heiter sehen, wenn Sie es selber auch wären. Bin ich allein, so gehöre ich der Vergangenheit; je mehr Kummer sie mir zugefügt hat, um so mehr hält sie mich fest. Und dann wieder habe ich leichte, strahlende, unschuldig frohe Tage, wie eine glücklich wiedergefundene Kindheit, froh über ein Nichts, von nichts betrübt. Doch selbst im Glück konnte ich mich fremdem Leid nicht verschließen – und werde es niemals können. Ich löse mich dann unwillkürlich vom eigenen Schicksal los, um das des Unglücklichen mit ihm zu teilen, seine Not mit ihm zu tragen. Mein Herz ist wie durchbohrt von stechendem Mitleid. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich mit anderen gelitten habe, mein üppiges Haar ist lange vor der Zeit daran ergraut.

*

An A. M. Duthilloeul

Lyon, 29. März 1832.

Ist es möglich, mein Herr! Diese Stiege, die ich, als ich klein war, so oft mit Schauer von Furcht und Neugier herabgestiegen bin, diese Stiege der Rue du Guve d'Or hat einem zu Tode Verurteilten das Leben gerettet! Mein Gott, wie glücklich war ich, als ich das las! ... Es ist unmöglich, daß die Todesstrafe nicht etwas im höchsten Maße und schrecklich Gottloses ist, da man so sehr von Freude erfüllt ist, wenn man von einem Opfer vernimmt, das sich zu retten vermochte. Wie gerne würde man sich auf die Kniee werfen, um ihm (Gott) zu danken, und man küßt tränenden Auges die herrlichen Seiten in »Der letzte Tag eines Gerichteten«! Wird der König das niemals lesen? Wird jemals nur ein einziger Kopf fallen, wenn er das gelesen haben wird? Denken Sie nicht so? Ich glaube, daß ich vergehen werde, aus Dankbarkeit für Gott, wenn man eines Tages ausrufen wird: »Keine Todesstrafe mehr!« Das ist der heiße Wunsch meines ganzen Lebens. Bedenken Sie doch, mein Herr, einen Menschen lebendig in seinen Sarg schleudern! ... Sich zum Gott aufzuwerfen! ... Bringen Sie es oft zur Sprache, ich bitte Sie darum! Es ist ausgeschlossen, daß die Stimmen ehrlicher Menschen nicht schließlich gehört werden. Es ist das ein großes Verbrechen, das auf uns lastet und nicht ein einziges verhütet. Im übrigen stimmen die ehrenwertesten Männer in dieser Hinsicht nicht überein, ihre Unbestechlichkeit hat nicht dieselben Gesichtspunkte, und ich verstoße vielleicht gegen Ihre Grundsätze. Gleichfalls finde ich Ihre Tribunale von betrübender Strenge, und ich habe mehr als einmal aufgeweint: »Fünf Jahre Zuchthaus, öffentlich kundgegeben!« ... Und für was für Delikte! Es gibt so große Übeltäter, die auf Daunen schlafen! Ich bin krank an dem Leben, so wie es nun ist. Und Sie, mein Herr?

*

An Valmore

Paris, 2. Februar 1834.

... Wohin jetzt fliehen, um sich zu sammeln und dieser Sucht, uns zu besuchen, zu entgehen. Mein Gott, ändern wir unseren Namen, denn Du siehst wohl, daß wir selbst in Lyon weder Ruhe noch Einsamkeit haben werden ... Die Leute und die Verpflichtung, sie zu sprechen, gehen mir auf die Nerven. Deine krankhafte Scheu hat sich so sehr auf mich übertragen, daß das Schellen der Türglocke in mir schon nervösen Aufruhr verursacht.

*

... Wann werde ich eine Gelegenheit finden, Dir die Rolle des Faliero zu senden? Mit der Post – das würde ungeheuer viel kosten.

Paris, 25. Februar 1834.

Was die Aufstände betrifft, sei unbesorgt. Du weißt, daß ich vorsichtig bin und so leicht zu beunruhigen, daß ich alles schließe, nur um die Schreie nicht zu hören ... Wo werden wir nur ein wenig friedlich leben können? Aber fürchte für mich nichts anderes, als den Schmerz mitansehen zu müssen, wie die Menschen einander Leides tun.

*

An Fräulein Mars

Lyon, den 6. Mai 1834.

Daß Sie während dieser blutigen Woche mit zärtlicher Sorge meiner gedachten, will ich nie vergessen. Ihr Brief hat mich tief ergriffen. Ich habe Sie immer lieb gehabt, und wenn ich, wie eigentlich anzunehmen war, umgekommen wäre, so hätten Sie ein Herz verloren, das wie kein zweites erfüllt war von Ihnen und Ihrem Zauber. Auch weiß ich besser als jeder andere, daß Sie gut und aufrichtig sind, und Ihre Besorgnis überrascht mich nicht. Hier war es entsetzlich. Über sechs Tage lang tobten Sturmglocke, Feuersbrunst, sinnlose Metzeleien (Frauen, Greise und Kinder wurden erwürgt); und sechs noch grauenhaftere Nächte lang, in denen wir alles mitansahen, was man ohne zu sterben ertragen kann, erwarteten wir, mit unserem Haus in die Luft zu fliegen. Aber schließlich fanden wir uns am Leben und fast bekümmert darüber, der großen Todesgeißel entronnen zu sein; es wäre so schnell zu Ende gewesen: das Stürmen der Glocken, der Flintenkugeln und Kanonen warf ohnedies alles Leben in tiefe Ohnmacht. Ich habe wohl dreimal das unbezwingliche Verlangen nach einem Schuß ins Herz gehabt, um diese Schlächterei nicht länger miterleben zu müssen ... Es wird noch lange nachbluten, meine liebe Hippolyte! Ich habe so etwas nur in Büchern gefunden. Doch ich glaube, ich bin dazu bestimmt, viel Trauriges mitanzusehen; denn ich muß Ihnen sagen, daß der Tod mich mehrmals an der Hand hielt, aber wieder laufen ließ. Ich sah Gott vor mir, wie ich Ihr liebes Antlitz vor mir sehe, aber ich danke ihm noch immer, daß er mich fast gewaltsam nach Lyon getrieben hat. Ich tat meine Pflicht, meinem Gatten zur Seite, umgeben von meinen Kindern: man hätte sich kein besseres Ende wünschen können. Es muß also noch einmal durchgemacht werden, und ich bedaure das; aber wir haben alle eine Aufgabe zu erfüllen, Sie wissen, daß ich versuche, sie mit Ergebung zu tragen.

*

An A. Gergerès

[Lyon,] 17. Februar 1835.

... Nun hören Sie mein äußeres Leben: ich werde krank, ich sinne und liebe und hetze mich innerlich ab mit dem Gedanken an alles das, was ich tun möchte, um mein Haus instand zu halten, und ich bitte Gott, daß er mich am Leben läßt. Dann verbringe ich acht Tage der Rekonvaleszenz und versuche, mich ruhig zu zeigen; dann weitere acht Tage völliger Gesundheit, tätig wie ein munteres Vögelchen. Tage, in denen ich den Schaden wieder gutzumachen suche, daß ich so lange wie abwesend war von dieser Welt. Endlich ist alles in Ordnung, alles wieder aufgerichtet und hergerichtet, die Kleider der Kinder, des Gatten, der Frau! Morgen, morgen kann ich ausgehen: Bewegung im Freien ist mir so nötig! Ich werde in dem Nebel nach einer Unze Luft suchen. Da plötzlich ergreift mich eine unsägliche Ermattung, mein Herz schlägt, daß es mir den Atem raubt, und ich falle wehrlos wieder in die Hände eines Feindes, dessen Allmacht sich nur in Lyon so recht dartut, dieser Stadt, die alle Leiden birgt, ein ungangbarer Sumpf für schwache Füße. Da haben Sie mein Schicksal, Gergerès! ...

Meine Kinder gehen zur Schule. Ich bin immer allein, es sei denn, daß eins krank ist. Meine kleine Inès hat die Masern gehabt, und es war mir eine unsägliche Wohltat, sie zu pflegen, bei ihr zu wachen. Eine verzweifelte Schlaflosigkeit ist diesen tätigen Nachtwachen gefolgt. Mir wäre ein Leben gemäß wie das der ersten Christen: Wallfahrten, Nachtwachen, Wüste und vielleicht der Märtyrertod. – Was hat er verbrochen, jener Mann, den man dort hinter Eisenstäbe sperrt? ... Was für ein Grauen habe ich vor den Gefängnissen! Ist nicht schon die Erde selbst ein solches? Wenn ich an den Schildwachen unserer Kerker vorbeikomme, so blinzle ich ihnen zu, damit sie auch mich niederschießen; doch man erlaubt ihnen jetzt nur noch nachts zu töten.

Saint-Jean-le Vieux, 25. Juli 1835.

Nie in meinem Reiseleben habe ich eine solche Nacht verlebt wie diejenige, die mich hierher gebracht hat. Ich glaubte umzukommen. Wir waren acht Personen im geschlossenen Wagen, Ines und meine beiden Körbe auf meinen Knieen, eine Frau aus dem Volk schlief an meiner Schulter, Gießkannen, Seifenballen ... Beine von Riesen, 15 Personen auf dem Dach. Schließlich war ich genötigt auszusteigen, um nicht zu ersticken ... Auf dem Rückwege werde ich die Sparsamkeit beiseite lassen, für Inès einen halben Platz zu nehmen; das Kind hat mich durch seinen schweren und friedlichen Schlaf fast erdrückt.

*

An Antoine de Latour

Der Dichter und Übersetzer Silvio Pellicos, beabsichtigte eine Studie über die von ihm verehrte Dichterin herauszugeben.

Lyon, 15. Februar 1836.

... Der Einzelheiten, die Sie über ein so rastloses und doch so verborgenes Leben zu hören wünschen, sind nicht gar viele zu berichten. Ich habe immer Fieber, und ich reise immer. Mein Leben siecht hin, wie und wo es Gott gefällig ist. Ich wandere dem andern Leben zu, indem ich mich bemühe, meine Kinder auf dem rechten Weg dorthin zu führen. Ich würde mich mit Begeisterung dem Studium der Dichter und der Dichtung hingegeben haben: ich mußte mich begnügen, davon zu träumen, wie von allen den Gütern dieser Welt. In einigen Monaten werde ich mit meiner ganzen Familie Lyon verlassen, ohne noch zu wissen, wohin ich ihr Dasein und das meine flüchten werde – das meine, das so viel Stürmen gar nicht gewachsen schien, und dennoch standhält. Dieses gebrechliche Dasein, mein Herr, ist nur mit Widerstreben ins Leben getreten, beim Sturmläuten einer Revolution, die es in ihren Wirbel ziehen sollte. Ich bin an den Toren eines Kirchhofs geboren zu Füßen einer Kirche, deren Heiligenfiguren man zerschmettert hatte; jene zwischen den Gräbern lagernden Steingestalten wurden meine ersten stillen Gefährten. Um nicht zu lange bei Erinnerungen zu verweilen, die mir süß und wertvoll, für Sie aber sicher belanglos sind, erwähne ich hier nur mein Elternhaus, das mein Herz mit all dem schwermütigen Zauber der leidenschaftlichen Heimatliebe umgeben hat – einer Heimat, die ich mit zehn Jahren ganz unerwartet verlassen mußte, um sie nie wiederzusehen ... Nun fürchtete ich mich davor.

Sie könnten also, so wohlwollend Sie auch gesinnt sein mögen, mein Herr, von mir kaum berichten, ohne darzutun, welch unwissendes und unnützes Geschöpf ich bin. Sind meine Gedichte es wert, daß man sich mit mir beschäftigt und mich in die Literaturgeschichte aufnimmt? Mein Herr, ich bin unwissend. Ich habe nichts gelernt. Seit meinem sechzehnten Jahr habe ich das Fieber, und Menschen, die mir nahestehen, haben mich schon mehr als einmal für tot beweint, so wenig lebensfähig bin ich ihnen erschienen. Lange Zeit war ich überrascht und bekümmert, so leiden zu müssen, denn da ich, trotz eines anscheinend frivolen Berufs, sehr einsam lebte, hielt ich alle anderen für glücklich und konnte mich nicht bescheiden, es selber nicht zu sein. Jetzt weiß ich, daß die andern auch leiden. Das hat mich noch trauriger gemacht, aber es hat mich entsagen gelehrt. Mein Mitleid hat den Gegenstand, mein Wunsch sein Ziel gewechselt. Dieses ist ein höheres geworden; ich versuche, es zu erreichen.

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An Frédéric Lepeytre

Lyon, 14. Juli 1836.

... Eine Hoffnung war es, die meine in Demut und Verlassensein verbrachten Tage durchzog: die Abschaffung der Todesstrafe. Ich hatte Gott mit solcher Inbrunst darum gefleht und so willigen Herzens mein Leben zur Erlangung dieser Gunst geboten, daß es mir immer schien, ich müsse eines Tages die Erfüllung dieses jahrelang gehegten Wunsches erfahren. Aber dies ist nicht zur Wahrheit geworden, wird nicht Wahrheit werden. Es gibt keine Barmherzigkeit, kein aufrichtiges Mitgefühl, es gibt nur Köpfe, die fallen, Mütter, die vergeblich ihre Verzweiflung ausschreien. Ich wollte, ich wäre tot, um sie nicht mehr zu hören. Wenn ich einen Galgen sehe, vergrabe ich mich und kann weder essen, noch schlafen. Die Galeeren, mein Gott! Um sechs Franken, um zehn Franken, für einen Zornausbruch, für eine hitzige, eine eigensinnige Meinungsäußerung ... Und sie! die Reichen, die Mächtigen, die Richter! Sie gehen ins Theater, nachdem sie eben: »Zu Tode verurteilt!« haben. Mein Herr, ich bin unglücklich. So ist es mit meinem Herzen bestellt, und dabei wohne ich einem Gefängnis gegenüber, auf einem Platz, auf dem man Menschen an einen Pfahl hängt, der trauriger ist als ein Sarg!

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An Caroline Branchu

Lyon, 6. September 1836.

Es gibt Empfindungen, die man nicht niederschreibt, Caroline!

Einen Brief wie den Deinigen mit einem Briefe zu beantworten, ist etwas so Unvollkommenes, daß Du nie so ganz wissen kannst, wie er mich ergriffen hat, was er mir an Freude und Traurigkeit gegeben. Um dem Antrieb meines Herzens zu genügen, müßte ich zu Dir eilen, Deine Hände nehmen und Dich ansehen! Das allein hätte unsern beiden Herzen wohlgetan, dem meinen in seiner tiefen Dankbarkeit, dem Deinen in seinem unerschöpflichen Mitgefühl.

Caroline! Eine Frau wie Du ist nur zufrieden, wenn sie die, der sie Trost geben will, sich nahe weiß ... Sieh! Ich verstehe Dich, weil ich mich verstehe, und niemand kann Dich besser kennen als ich, die Dich so geliebt hat! Ein Wort wird Dir alles sagen, warum ich nicht abreise und warum ich in einer qualvollen Lage verharre. Ich bin nicht frei.

Mein Mann, den Dein Brief zu Tränen gerührt hat, ist ein Mann im vollen Sinne, starr in seinen Abneigungen. Er verabscheut Paris; nichts könnte ihn umstimmen. Und denke Dir, ich bin es, die ihm Trost sprechen muß in seiner Manie, die uns zugrunde richtet. Denn im geheimen gesteht er sich, daß er sich und uns die ganze Zukunft zerstört –, aber seine Scheu reißt ihn fort, und er soll mir nicht anmerken, daß ich darunter leide. Jeder Mann ist im Grunde unerklärlich, Caroline. Fügen wir uns für dieses Leben, und klammern wir uns an die Aussicht auf eine Zukunft, wo nichts uns im Wege steht.

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An Pauline Duchambge

Lyon, den 24. Dezember 1836.

Du bist traurig! Sei nicht traurig, mein Gutes, oder wenigstens erhebe Dich wieder unter dieser Leidenslast, die ich verstehe, die ich teile. Alle Demütigungen, die der Frau auf Erden zugedacht sind, ich habe sie erduldet. Meine Kniee wanken noch immer, und mein Haupt ist oft gebeugt wie das Deine unter der Last noch immer bitterer Tränen! Doch Pauline, höre! Wir haben dennoch etwas, was von allen diesen Wunden unabhängig ist. Zunächst das Verzeihen. Es ist eine ungeheure Erleichterung für ein Herz voller Bitternis – und dann die ewige Hoffnung, die ununterbrochen vom Himmel zu uns und von uns zum Himmel fliegt ...

Was aus uns werden wird, ist gar nicht vorauszusehen. Ich wage manchmal nicht mehr, schlafen zu gehen, denn ich fürchte die Gedanken, wenn ich unbeschäftigt bin. Bei Tage ersticke ich sie in Haushaltungssorgen, in der Beschäftigung mit den Kindern oder meiner Schreiberei. Des Nachts – du weißt es, da entflieht man ihnen nicht. Dann versinke ich in Leid und erliege meinem wilden Herzklopfen. Ich erhalte nichts, ich weiß nichts. Ich setze mehr Furcht als Hoffnung auf dieses gefährliche Datum des 1. Januar. Das ist ein Abgrund, der alle meine Erfindungsgabe, uns über unser Elend hinwegzuhelfen, zunichte macht. Und dann, stelle Dir Lyon vor in Schnee und Regen! Lyon ohne Arbeit, und dreißigtausend Arbeiter, die kein Brot und kein Feuer haben, denen man mit vielem Geschrei 50 0000 Franken Almosen sendet, vom Thron herab sendet – also von der Vorsehung dieser Armen! – Ach! das sind keine zwei Franken, die auf die Not des einzelnen entfallen. So steigen die Bettler bis unter unser finsteres Dach. Und man muß geben, Pauline, geben, oder an Mitleid zugrunde gehen ...

Ist es wahr, was Du mir von Herrn de Vigny sagst und wie er über diese »so flandrischen« Verse denkt? Ich weiß nicht, wie ich beschaffen bin, aber solche Überraschungen machen mich weinen und erinnern mich an Dinge, die ich vergessen möchte. Das einzige Herz, das ich mir von Gott erbeten hätte, hat das meine nicht gewollt. Welch furchtbares Herzweh bis zum Tode! – Du weißt das, Du!

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An Antoine de Latour

Lyon, 7. Februar 1837.

O mein Gott! Wie voll Güte und Mitleid sind Sie! Wie verstehen Sie es, die Fehler zu begütigen, zu entschuldigen, und ich habe vor Dank geweint, denn alles, was ich schreibe, muß wirklich furchtbar unzusammenhängend sein, die Worte unvollkommen und falsch gesetzt. Ich würde mich schämen, wenn ich sie wichtig nehmen wollte. Aber, mein Herr, hätte ich Zeit dazu? Ich sehe keine Seele aus jener literarischen Welt, die den Geschmack bildet und die Sprache läutert. Ich bin mein eigener Kritiker, und da ich nichts gelernt habe, wie soll ich mir helfen? Einmal in meinem Leben, aber nicht für lange, hat ein Mann von ungeheurer Begabung mich ein wenig lieb gehabt, so daß er mir in meinen Strophen die Unkorrektheiten und Waghalsigkeiten, von denen ich keine Ahnung hatte, aufwies. Doch diese scharfsichtige und kühne Zuneigung hat mein Leben nur kurz gestreift. Ich habe nichts hinzugelernt und – soll ich es Ihnen sagen, mein Herr? – nichts hinzulernen wollen. Ich klimme weiter und suche so gut ich kann ein Dasein zu Ende zu führen, das weit mehr zu Gott als zu den Menschen spricht ...

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An Melanie Waldor

Lyon, den 9. März 1837.

Ganz Lyon krümmt sich unter schwerer Düsternis ... Welch ein Jahr! Dreißigtausend Arbeiter ohne Brot, die abends durch Frost und Straßenschlamm daherziehen, den Kopf in Lumpen gehüllt, und ihrem Hunger Lieder singen! ... Ich kann Ihnen nicht schildern, wie das mein Herz zerreißt – urteilen Sie selbst! Nein, nein, Paris kennt keinen solchen Anblick, solche Szenen, solche anhaltende nackte Verzweiflung.– Nein! die Machthaber sollten es nicht wagen, so viele Arbeiterfamilien am Hunger zugrunde gehen zu lassen. – Ach! die Leute von Lyon, die man als schlecht und gewalttätig hinstellt, sind von erhabenem Glauben! Es hat sich tatsächlich hier zugetragen – und kann sich nur hier zutragen –, daß eine armselige Madonna auf einer Felsenhöhe dreißigtausend Löwen bändigt, die Hunger und Kälte leiden und den Haß im Herzen tragen ... und sie singen wie unterwürfige Kinder! Das ist das Wunderbare. Ich muß in dieser Stadt irrsinnig oder heilig gut werden ... Melanie, wenn man dieses Elend mitansieht, wagt man weder zu essen noch sich zu wärmen.

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An Valmore

Paris, 3. Juli 1837.

Willst Du, daß ich Dir Geld sende? Wenn nicht, wie wirst Du es anstellen, um zurückzukommen, es sei denn, ich bringe Dir welches zur Endstation der Diligence, wo ich Dich am Tage Deiner Ankunft erwarten werde?

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An Antoine de Latour

[Paris,] 23. Dezember 1837.

Zuweilen, wenn ich im Fieber und voll tiefer Trauer bin, kann ich die Verse nicht singen, wie ich es sonst fast immer tue; ich bilde sie dann nach einer Melodie, die mir besonders lieb ist, was mich unwillkürlich zwingt, die Form streng beizubehalten und nicht abzuschweifen. Ich gebe mir, indem ich hier zu Ihnen von meiner armen Arbeit rede, zum erstenmal selber Rechenschaft über diese Einzelheiten, die ich niemals recht beachtet habe. Mein Leben, meine Stunden, meine Träume und meine Wirklichkeit, alles das eilt so dahin, ist so voller Sorgen und Aufregungen, daß ich alles vor Gottes Füße werfe, der jedem Ding seine Ordnung gibt, und für dieses Mal in Ihre Hände lege, mein Herr; denn Sie sind mir ein uneigennütziger Belehrer, zu dem ich Vertrauen habe, so sehr, daß ich Ihnen für einen so wertvollen Brief erst spät meinen Dank sage – lange nachdem ich meinen Nutzen daraus gezogen ...

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An Caroline Branchu

Mailand, den 6. August 1838.

Du wirst es nicht begriffen haben, meine liebe Caroline, und ich – begreife es noch immer nicht. Es war eine so herzzerreißende Sache, die Unterzeichnung dieses Vertrags, der uns von Paris fort- und nach Italien in die Verbannung führt, daß Valmore fast einen Blutsturz davon gehabt hätte. Es war, als fehlten uns die Worte, und in fünfzig Stunden haben wir unsere Koffer gepackt, Abschiedsbesuche gemacht, die Möbel untergebracht, die Dinge für unsern lieben Sohn geordnet – die Trennung von ihm war das Schmerzlichste –, und dann, Caroline, sind wir in die Postkutsche gesunken, mein armer Valmore, ich und meine beiden Töchter, abgehetzt, ermattet und noch immer verblüfft. Ja, wir sind erstaunt und fast entsetzt. Aber jenes andere Entsetzen, uns wiederum stellungslos zu sehen, hat uns die Gefahren einer solchen Reise mißachten lassen und uns der Vorsehung in die Arme geworfen, da Herr Vedel es so bestimmt hat, kraft seiner kaltblütigen Gewalt. Ich sage Dir vor Gottes Angesicht, dieser Mann hat keine Seele und keine Redlichkeit. Er hat sein Ehrenwort gebrochen, von dem er sagte, es gelte mehr als eine Zusicherung. Doch nicht von ihm habe ich Dir zu erzählen ...

Hier sind wir nun in Mailand. Was hilft es, daß mein Mann siebentausend Franken verdient, unsere Reisen und der Aufenthalt hier verschlingen alles, so daß wir bei der Rückkehr nach Frankreich noch mehr ruiniert sind als beim Weggang. Die bevorstehenden Krönungsfeierlichkeiten haben die Preise aufs äußerste gesteigert. Ein Zimmer, ein Loch, wird für fünf- und sechstausend Franken im Monat vermietet, ein Fenster nach der Straße kostet für siebzehn Tage tausend Taler. Nun beurteile, wie wir unter so vernichtenden Umständen einquartiert sind ...

Du siehst, Caroline, ich bin dem reißenden Lauf der Dinge und meiner Pflicht gefolgt. Ich kann nicht nein sagen, wenn Valmore sich für etwas entschieden hat; und da er den Gedanken nicht ertragen konnte, ein zweites Mal ohne Engagement zu sein, so bin ich ihm kummervoll in seine neue Stellung gefolgt.

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An Pauline Duchambge

Mailand, den 19. September 1838.

Ich habe keine Worte mehr, mein liebes Herz. Das Unheil bedroht uns nicht mehr: es ist hereingebrochen! Du wirst alle sachlichen Einzelheiten von Mademoiselle Mars erfahren, die ebenfalls darunter leidet.

Muß ich noch mehr sagen, um Dir das Herz zu zerreißen? Wir wissen kaum, wie wir nach Lyon zurückkommen sollen, und ob Valmore nicht aus Zartgefühl verpflichtet ist, noch in Italien zu bleiben und sich den unglücklichen Schauspielern anzuschließen, die nicht fort können. Der Gedanke kann mich zur Verzweiflung bringen, denn wenn schon in Frankreich der Einbruch des Winters seine Schrecken für uns hat, die wir keine Unterkunft und keine Einnahmen haben, so kannst Du Dir denken, was uns hier in der Verlassenheit erwartet: ein grauenvolles Bettlerlos. Mein Atem versagt!

Mailand, 20. September 1838.

Er (Valmore) hat entsetzlich gelitten, aber dennoch wird er sich nie darüber trösten, daß er uns Rom nicht gezeigt hat. Und ich, weißt Du, wem ich in diesem schönen Rom nachtrauere? Der erträumten Spur, die seine Schritte dort hinterlassen haben, dem Nachklang seiner damals so jungen Stimme, seiner immer so süßen Stimme, so ewig mächtig über mich; ich würde nur diese Vision von Rom fordern; – sie wird mir unerreichbar bleiben.

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An Minister Martin

[Paris,] 1. Januar 1839.

Lauschen Sie ein wenig! »Acouté m'on peo!« – Patois aus Douai. Der Minister und Marceline Desbordes hatten die gleiche Heimat. denn ich erbitte voll Kühnheit und doch auch etwas ängstlich aus Ihren großmütigen Händen mein Neujahrsgeschenk: zwei Monate Begnadigung für eine arme Mutter, die in Saint-Lazare gefangen sitzt, wo Ihr Name bereits mehr als ein süßes Echo gefunden hat, Herr Minister. Machen Sie es möglich, daß die arme Frau entlassen wird, um ihren Kindern ein frohes neues Jahr zu wünschen!

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An Valmore

Paris, 21. April 1839.

Nach all diesen Erschütterungen wäre das Glück, das ich genießen könnte, einzig der Besitz völliger Freiheit. Aber diese ist nirgends, mein lieber Engel!

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An Caroline Branchu

Paris, den 29. Mai 1839.

... Ich bin heimgekehrt, um – trotz meines brennenden Bedürfnisses nach Ruhe und Einsamkeit – tüchtig zu arbeiten. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, Orleans zu verlassen, und was ich darum gäbe, dorthin zurückzukehren, bis ich wieder mit meinem Mann zusammentreffe. Ich befehle Dir, das zu glauben, ich sage es Dir vor Gott. Doch ich muß bei meinem Sohn bleiben, und ich muß fünfhundert Franken auftreiben, um den jungen Italiener, von dem ich Dir erzählte, seiner Familie zurückzugeben. Alle Welt läßt ihn im Stich, und er hat niemanden als mich, meinen machtlosen, doch unbeugsamen Willen, ihm zu helfen; und das soll geschehen! Mein Herz ist eigensinniger als mein Verstand. Gibst Du mir nicht stets ein Beispiel der Barmherzigkeit? Ich tue, was Du an meiner Stelle tätest, was ich von der Mutter unseres Heilandes für meinen Sohn erbitten würde, wäre er in Italien, ohne mich, ohne Freunde und in völliger Verlassenheit.

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An Valmore

Paris, 21. Februar 1840, morgens.

Vergebens erhoffte ich gestern den Brief zu Ende zu schreiben. Eine Dame, die mich in Belgien gesprochen hatte, ist schnurgerade hereinspaziert, ich im Hemd! Sie wollte eine Empfehlung für Fräulein Mars oder weiß Gott was ... Alle diese liebenswürdigen Neugierigen versetzen mich in helle Wut, und Du wärest schon aufs Dach geklettert, bei all diesen unvorhergesehenen Vorfällen. Trauriger Ruhm das, der mich mit solchen Nadelstichen plagt!

Paris, 6. März 1840.

Ich sprach Dir nur von dem glücklichen Ereignis Bewilligung ihrer Pension. ... hatte nicht Zeit, das geringste Detail hinzuzufügen. Gestern, o gesegneter Tag! Nach dieser Neuigkeit, die ich mit Dir teilte, hatte ich das Glück, zugunsten des jungen Sträflings seinen Onkel, seine Tante, seine Mutter umzustimmen. Sie haben alle mit mir geweint und haben sich ergeben. Sie willigen ein, ihn, wie es die Vorschrift verlangt, von dem Direktor des grauen Hauses einzufordern ... Ich erzähle Dir das alles noch ... Die Hauptsache war, den Zorn dieser erbitterten Familie niederzuschlagen: das ist geschehen! Ah! ich war fast im Himmel, als ich gestern dieses Haus verließ ... Ja, ich habe einen schönen Tag fern von Dir verbracht, aber durch Dich, für Dich!

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An Hippolyte

Lyon, Mittwoch, 21. Oktober 1840.

Gestern ... hat Dein Vater Deinen Brief und Deine Zeichnung erhalten. Er dankt Dir und teilt Deine Bewunderung für Michelangelo. Wie viel Glück schließt doch die Welt ein, wenn man in sich den demütigsten und zugleich den allergrößten Sinn besitzt, den der Bewunderung! Er gibt für alle Kümmernisse Trost und gibt der Armut Schwingen, die sich auf diese Art über die verächtlichen Reichen erhebt.

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An Valmore

20. Dezember 1840.

Seit meiner Rückkehr habe ich mehr als vierzig Briefe geschrieben und habe Nächte bei den Versen verbracht, um die man mich anläßlich des Unglücks von Lyon gebeten hat. Man liest sie heute im Konzert des Herrn Hertz, für das ich seit acht Tagen in Regen, Schnee und Frost, dem kältesten Wetter, an das ich mich erinnern kann, umherlaufe ...

Paris, 24. Dezember 1840.

Ich verbreche so gut ich kann für Herrn Campenhout eine Romanze, aber ich habe keine ruhigen Zwischenpausen; ich muß alles auf der Straße im Gehen machen.

25. Dezember 1840.

Wenn mein Brief Dich noch erreichte, so vermerke die Sache, die Du mir einzig aus Brüssel mitbringen mögest. Du erfragst bei Sophie die Adresse von Willem, von jenem oder von dessen Sohn, der uns unsere Eheringe gemacht hat, und Du wirst mir einen kleinen Ring kaufen, und läßt ihn von dem guten Pfarrer von Finistères weihen ... Du weißt nämlich nicht, daß mein teurer Ring in Rouen, mit allem andern, was wir als Pfand ließen, veräußert wurde. Meine Schwester konnte schließlich nicht mehr die Kosten für den Aufschub des Verkaufes bestreiten ...

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An Ondine, ihre Tochter

12. Oktober 1841.

Die erste Winterkälte, überanstrengende Wege und meine Lage haben mir wieder Fieber eingetragen, das mich so oft überkommt und das man mir dann häufig als Launenhaftigkeit auslegt, weil ich da ernster bin und Sprechen mich geradezu tötet. Es ist eine große Kunst, zu erreichen, daß es einem nicht verübelt wird, wenn man leidet. Mögest Du sie besitzen, lieber Engel, denn Du weißt schon, man kann recht krank sein, ohne das Bett zu hüten und sich zu schonen.

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An Caroline Branchu

Paris, den 12. Januar 1842.

Wie gut Du bist, Caroline, und wie wenig ahnst Du, welche unendliche Wohltat Du mir erweisest, indem Du mir zeigst, daß es dennoch auf Erden so ein Wesen gibt, wie wir es uns wohl in unsern schönsten Tagen träumen! Alles, was ich liebte, damals, als ich Dich zum erstenmal hörte und verstand, hat mich betrogen, gleichwie Du Deinerseits betrogen worden bist. Wir sind nun zwei Parias der Liebe, wie man uns damals genannt hat. Wenigstens aber hast Du mich gezwungen, stets an die Freundschaft zu glauben, und wenn ich bedenke, was Du für mich gewesen bist, mein guter Engel, so entströmen meinem Herzen, das ich schon für verdorrt hielt, zwei Tränenbäche. Ja, Caroline, da Du Deine Seele über mein Leben breitest, erhebst Du mich von tiefer Niedergeschlagenheit, denn ich bin manchmal recht müde.

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An Frédéric Lepeytre

5. Februar 1842.

... Nun denn: alles was ich an weiblichem Scharfsinn, an Erfindungsgabe, an Worten und wenn nötig, an Schweigen besitze, ich benutze es, um meinem lieben Gatten diesen großen, demütigenden Kampf zu verbergen, den er nicht acht Tage ertragen würde. Ich erkaufe ihm seinen Stolz mit meinen Demütigungen, und erst in einer anderen Welt wird er erfahren, mit wieviel unschuldiger List, mit wieviel Tränen, die zwischen mir und Gott Geheimnis blieben, ich ihm bis jetzt das traurige Geheimnis verborgen habe, wie schwer das Brot zu beschaffen war, das auf seinem Tisch und dem der Kinder nie gefehlt hat. Auch der Frost hat ihnen noch nichts anhaben können ...

An Caroline Branchu

[Paris,] den 23. April 1842.

Es war mir unmöglich, Dir zu erzählen, was ich gelitten habe. Wie furchtbar, meine Tochter krank zu sehen! Wie traurig, diese Jugend leiden zu sehen, ohne die Ursachen zu kennen! Und Du weißt aus schmerzlicher Erfahrung, was das heißt, fern von seinem Kinde leben. Ich wage nicht mehr, meinen Einfluß auf sie geltend zu machen, denn sie hat nicht das geringste Vertrauen zu mir. Wenn unsere Kinder heranwachsen, betrachten sie uns als unwillkommenen Mentor, und obgleich sie uns immer lieb behalten, so lächeln sie doch über unsern Rat. Nun, da ich einmal die sanfte Autorität über Ondine verloren habe, weiß ich gut, daß sie nirgends besser aufgehoben ist, als unter den Augen Deiner Tochter und im Hause des Doktor Curie, der sie elender findet, als bei ihrem ersten Dortsein; und Du weißt, mein guter Engel, daß meine Dankbarkeit meinem Kummer gleichkommt. Von beiden habe ich viel.

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An Frédéric Lepeytre

Rouen, 9. Juli 1842.

Diese Stadt ist ganz Mittelalter und für mich aufwühlend durch Erinnerungen, die härter sind als gespitztes Eisen. Ich war fünfzehn Jahre, als ich hier mit einer meiner Schwestern und meinem Vater einzog: damals, als ich von Amerika zurückkam. Ich war das Idol dieses noch wilden Volkes, das jedes Jahr ein oder zwei Künstler opferte, wie seinerzeit Stiere geopfert wurden. Mir warf man Blumensträuße zu, und wenn ich heimkehrte, starb ich fast Hungers, ohne es irgend jemandem zu sagen. Daher und von einer für dieses jugendliche Alter zu anstrengenden Arbeit, stammt meine schwankende Gesundheit, all mein bewegtes Leben lang.

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An Pauline Duchambge

Den 10. Februar 1843.

Deine Vorstellung von Herrn Bayard ist ein trügerischer Traum. Nein, Pauline, diese Herzen fühlen nicht mit uns. Die Reichen von heute kommen und erzählen einem mit solcher Rückhaltlosigkeit und so viel bitteren Klagen ihren Jammer, daß man gezwungen wird, mehr Mitleid mit ihnen zu haben als mit dem eigenen Los. Letzthin hat er mir dargelegt, welche schrecklichen Widerwärtigkeiten er bei seinem Hausbau zu bestehen hat. Er sollte ihn, glaube ich, hunderttausend Franken kosten, und die Ausgaben betragen gegenwärtig schon das Doppelte. Dies und die Erziehungsgelder für seinen Sohn machen ihn kopflos. Was soll man diesen Glücklichen sagen? Daß man nur zwei Hemden hat und keine Bett-Tücher? Sie würden antworten: »Ach, wie glücklich sind Sie daran! Sie brauchen nicht zu bauen!«

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An ihren Bruder

Paris, den 4. Januar 1849.

Wenngleich ich die Gründe nicht kenne, aus denen dem Gesuch nicht entsprochen wird, so ist es doch klar, daß es in dieser großen sozialen Krise nirgends Geld zu geben scheint. Das Staatsgebäude, das im Februar zusammenbrach, war so bis unters Dach faul, daß es im Sturz viele Dinge und viele Menschen mitgerissen hat! Armes Volk, das so voll Zuversicht und Frömmigkeit ist, es hat auch diesmal nichts erhalten als das Recht, für seine Kinder zu sterben, denen vielleicht das Blut ihrer heldenmütigen Väter zum Segen werden kann! Wir gehören zum Volk durch unser Elend und unsere Überzeugung, mein lieber Bruder, so laß uns dulden, wie dieses, und hoffen, wie dieses. – Es ist wieder getäuscht worden – sein edler, rühmlicher, unangebrachter Glaube! Doch der Tag wird kommen, da die Vorsehung vom Übermaß unserer Leiden und von der Größe unserer Demut ergriffen sein wird.

Paris, den 28. Juni 1849.

... Es haben sich in Paris so düstere Ereignisse abgespielt, als wären sie aus einer andern, schauerlichen Welt. Der Tod schoß seine Pfeile nach allen Seiten. Man sah ihn nicht, aber man stürzte getroffen nieder. ... Ich kann mich kaum mehr aufrechthalten; wir haben so viele Freunde verloren, und der Anblick der Straßen voller Leichenzüge, wo so mancher von denen, die das Geleit gaben, nicht wieder heimkehrte – wie entsetzlich! ... Ich bin sicher, und ich war sicher, daß Du genug über dies große Unheil gehört hast, um in schwerer Sorge für uns zu sein. Aber wir wußten nicht wohin vor Inanspruchnahme; von allen fünf Seiten rief man nach uns und wollte unseren Trost und unsere Tränen. Wenn man so allen erdenklichen Geißelungen preisgegeben war, braucht man lange, um sich zu erholen, mein guter Bruder, – um sich zu fragen, ob das, was man an Leben übrig behält, auch wirklich noch ein Dasein ist. Nein! Meine Seele ist allzu zerrissen, und dennoch fühle ich gerade darum mehr als je, daß sie unser unsterblich Teil ist. Daß unser Schmerz so heftig und so tief sein kann, ist der Beweis einer unerschütterlichen Überzeugung, eines vertrauensvollen Willens zum Glück, das nicht ausbleiben wird. Ich setze Dir das auseinander, so gut ich kann – vielleicht aus Mitleid mit mir selbst, um meinen Jammer weniger zu fühlen; ich möchte Dir, wenn auch recht unvollkommen, die Lichter weisen, die unsere Zukunft erhellen und die sich an einem Glauben entzünden, den alles nur vertieft, selbst der Verlust derer, denen unsere Zuneigung gehört.

Die Geldnot, das Elend der Armut, hat nicht dieselbe Wirkung – wenigstens nicht auf mich. Da ich es bin, die für den Haushalt sorgt, so lassen mir die verzehrenden Sorgen, diese Aufgabe zu lösen, nicht die Zeit zur Sammlung und zur Andacht, wie jene unersetzlichen Verluste sie mit sich bringen. – Wie oft denke ich jetzt an unsere Mutter, an das, was sie unter den nämlichen Verhältnissen für uns gelitten haben muß, um ihrer armen kleinen sorglosen Schar die Nahrung zu beschaffen! ...

Ich hatte eine längere Arbeit beendet, sprach ich Dir schon davon? Ein Auftrag, Verse – eine Arbeit von drei Monaten, unter Tag, am Abend, oft die Nacht hindurch, während die anderen, ihrer Arbeit müde, schliefen; – nun also: als der vereinbarte Preis fällig war – mit gleicher Sehnsucht erwartet wie zur Cholerazeit das himmlische Naß –, hat der Mann unsere Vereinbarung abgeleugnet und wollte mir nur noch die Hälfte bezahlen. Ich habe die Arbeit behalten ... vielleicht kann ich sie später einmal verkaufen. Aber welch ein Schlag! – Wie muß man aber auch alle anderen Arbeiter beklagen! Wer hat je inniger mit ihnen gefühlt als ich? Keiner, es sei denn unser verehrter Vater – und die Mutter ... Ach! Ich habe die von Lyon gesehen, ich sehe jetzt die von Paris, und ich weine um jene der ganzen Welt!

Wir leiden weniger physisch als seelisch unter den Vorgängen im allgemeinen und unseren besonderen Kümmernissen. Ondine arbeitet viel, ebenso ihr Bruder. Mein Mann hat noch keinerlei Aussicht, eine Anstellung für sich zu finden. Frankreich ist niedergeschlagen und leidgebeugt! O du schmerzensreiche Mutter Gottes!

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An Pauline Duchambge

Paris, 15. April 1850.

Wenn meine Schwäche, die noch immer sehr groß ist, mich nicht daran verhindert hätte, wäre ich wie eine Nachtwandlerin zu Dir gekommen ... Dennoch bin ich bis zur Rue Feydeau gegangen – denn ich bin es, die betraut ist, mit Geld, das ich nicht habe, einige Versatzscheine für diesen armen Karl Stellungsloser Schauspieler. in der Pfandleihanstalt verlängern zu lassen. Der eine sollte schon verkauft werden, und so habe ich mich denn hingeschleppt, aber das war auch alles, was ich an Kraft noch aufbringen konnte.

27. November 1850.

Mach Dir eine genaue Vorstellung von der bitteren Verstimmung, in der sich mein Mann befindet. Die Demütigung der verächtlichen Ruhe, zu der er in seiner Kraft verdammt ist, verzehrt in dem Bedürfnis nach Arbeit, das ist, ich versichere Dir, nicht zu beschreiben. Wenn er nicht mehr den Mut hat, auszugehen oder zu lesen, sitze ich nähend bei ihm, denn ich halte von diesem verstörten Dasein, das niemanden rührt, alles ab, was ich nur kann ... Ja Gott und Du, ich weiß schon, und das ist Trost genug, daß ich herzhaft weiternähe. Aber das Schreiben ist mir unmöglich. Meine Gedanken sind zu ernst, zu sehr beschwert, ich konnte die verlangten Erzählungen nicht machen. Ich schreibe ja wirklich mit meinem Herzen, und es blutet zu sehr für Kleinkindergeschichten.

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An Melanie Waldor

[Paris,] den 21. Februar 1851.

Sie meinen es immer gut und grausam, daß Sie mir von einer Soirée sprechen, liebe Freundin. Was wäre wohl in mir gewandelt, um nicht ebensolche Angst vor dem Wort »Soirée« zu haben? Ich kann mich nicht in die Musik stürzen, die alles in uns aufrührt, nicht in fremde Gesichter vertiefen, deren Wohlwollen sogar – mich beben macht. Haben Sie unsere Kämpfe in dieser Hinsicht, meine wilde Flucht, vergessen? Und gibt es irgend jemanden in Paris, der Ihnen sagen könnte, mich da oder dort gesehen zu haben, seit ich den Mut gefunden habe, Ihren liebenswürdigen Aufforderungen zu widerstehen? Ich bin seitdem wohl für immer niedergeschlagen geblieben, Melanie, denn ein Stück von meinem Leben ist damals dahingegangen. – Gewiß, das wirkliche Glück Ondines gießt auch auf mich einige Sonnenstrahlen; doch die Sonne kann mir nicht von einer Soirée kommen, liebe Dame. Für mich liegt sie in einer nahen Aussprache mit einem Herzen, so gütig wie das Ihre, das mich stets geliebt hat und dessen Gefühle ich ganz erwidere. Ich werde Ihnen, fast ebenso rasch wie dies Billett, diese Dinge mündlich sagen, die Sie schon mehr als einmal entwaffnet haben. Sie wissen längst, daß mein lieber Valmore,

»Bruder, Gatte und Herr«,

der Mann danach ist, um meine Flucht in die Einsamkeit noch zu überbieten. Wenn es noch keine Kartäuserklöster gäbe, so würde er sich ein solches erfunden haben. Auch macht er sich überall eins zurecht, wo es vier Mauern gibt und einen Haufen Bücher.

Die Jungen – das ist etwas anderes; sie haben ihre leichten Schwingen, und Einladungen interessieren sie. Mögen sie hinflattern, wo es ihnen gefällt. Die Freude anderer tut mir immer wohl.

Mögen Sie viel Freuden haben! Und weil ich das glaube, so meine ich auch, daß Ihre Güte aus derselben Quelle fließt.

»Ach! Frohen Herzens wird die Tugend leicht!«

Vergessen Sie auch nicht, daß Herzen, die viel gelitten, Freundschaft unentbehrlich ist.

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An Herrn Dubois

Verwalter des Hospizes in Douai, der mit rührender Sorge über die letzten Jahre des alten Felix Desbordes wachte, die dieser im Hospiz seiner Vaterstadt zubrachte.

[Paris,] 28. Mai 1851, 10 Uhr morgens.

Lieber Herr,
inmitten des tiefsten Herzeleids – eines Herzens, das zu dieser Stunde ganz bei Ihnen ist – gebe ich Ihnen Antwort. Ich beschwöre Sie, bleiben Sie gütig wie immer; handeln Sie für mich, erraten Sie meine Gefühle. Sie wissen, mit welch unendlicher Liebe ich meinem armen Bruder zugetan war ... nein, bin! Denn darin ändert sich nichts ... Tun Sie, was getan werden muß, um meinen lieben und unglückseligen Kämpfer zu ehren ... Ich stehe für alle Kosten ein und zolle Ihnen überdies meinen innigsten Dank. Mein Vater, unser herrlicher Vater, ruht in Sain (oder Sin) ... Ich möchte gern, daß Felix auch dort läge; ich fühle, daß er mich darum bittet. Ich werde alles bezahlen. Haben Sie bitte ein Auge auf meine armen, so traurigen und herzgegebenen Briefe, auf seine Papiere, die Sie mir aufheben wollen; Sie wissen ja, mein Herr, was ich leide – für mich und für andere. Ich habe dieses Sterben Tropfen um Tropfen mitgetrunken; ich fühlte, was er litt, trotzdem man mich nicht benachrichtigt hatte. Seine letzten Briefe haben mich schwer bedrückt. Sie schienen noch verzweifelter, und meine eigene Not band mich hier fest. Sie können sich unsere augenblickliche mißliche Lage nicht vorstellen ... Er hat das nur allzu sehr erraten, da er meine gewohnte schwesterliche Hilfe vermissen mußte, und dieser Kummer wird ihn getötet haben! ...

Das ist das zweite Herzensband, das sich innerhalb acht Monaten von mir losreißt. Ich habe ihm den Tod einer lieben Schwester in Rouen verheimlicht. Ich fürchtete, ihn zu erschüttern ... Wir sind eine traurige Familie!

... Ich flehe Sie an, setzen Sie diesem meinem ersten Freund ein würdiges Kreuz und jedes Jahr frisch blühende Blumen. Ich zahle es, sobald ich kann und es Gott gefällt. Ich habe so lange gezögert, meinem Versprechen eines Besuches in Douai nachzukommen, daß er nicht mehr daran glaubte. Ach! Ich werde hinreisen, aber zu spät für ihn, mein Herr! Dennoch wird er es sehen! ...

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An Valmore

Paris, 5. September 1851.

Oh, welch schöne Unterweisung gibt uns das Unglück! Oh, göttliche Dornen Christi, wie zeigt ihr uns die Stelle, wo unser Herz schlägt!

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An Pauline Duchambge

1. September 1852.

Ich kann nicht fort, um Dir persönlich eine Freude mitzuteilen, die ich dennoch schleunigst mit Dir teilen muß, meine vielliebe Pauline! Mein lieber Valmore hat eine Anstellung. Ja! Es ist kein Traum. Die Vorsehung hat es so gewollt. Sie hat alles mühelos gefügt, ohne alle Unterstützung – nur sie selbst und ein junger Freund Hippolytes haben es zuwege gebracht. Stelle Dir vor, wie heilig froh sein armer Vater ist! Die Stellung ist sehr bescheiden, aber ganz seinem Geschmack entsprechend und ehrenvoll dazu. An der National-Bibliothek, rue Richelieu. So bleibe ich also in Deiner Nähe. Ich sende Dir den tiefen Seufzer der Dankbarkeit, der aus meinem Herzen zu Gott emporsteigt. Ich habe Dich lieb.

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An T. V Raspail

Raspails Frau war gestorben, während er in Haft war.

[Paris,] 17. Februar 1853.

Es bleibt Ihnen nur noch übrig, die unglückselige Mutter zu segnen, die vor Ihren Gefängnisgittern auf den Knieen liegt. Alles ist zu Ende! Nur nicht der unendliche Kummer, daß Sie nicht da waren, ihr beizustehen in der Not.

Auf später, ich schreibe noch. Hier kann ich Sie nur um Verzeihung bitten, daß ich Ihnen mein blutendes Herz zutrage, sie aber ist befreit!

An Louise Babeuf

[Paris, 1853.]

... Ich habe meine Kraft erschöpfen müssen in der Suche nach einer Wohnung oder etwas Ähnlichem, denn heutzutage macht man sich die Luft zum Atmen streitig. Wie beklage ich Sie, wenn Sie die nämlichen Schwierigkeiten und Leiden bestehen müssen, wie ich sie durchgemacht habe, um schließlich das Recht zu erwerben, in einer ehrbaren Regentraufe zu wohnen; denn so hoch müssen wir steigen, um uns zu den Bewohnern von Paris zählen zu können. Der Preis für diesen Winkel in einer Höhe von fünfundneunzig Treppenstufen (doch es ist keine Treppe, sondern eine Leiter, die sich »Diensttreppe« nennt) ist unglaublich. Tausend Franken für dies Quartier! ...

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An Pauline Duchambge

[Paris,] den 28. November 1854.

Höre! Ich bin in der Kirche gewesen und habe dort acht bescheidene Kerzen entzündet, demütig wie ich selbst. Acht Seelen meiner Seele: Vater, Mutter! Bruder, Schwestern ... Kinder! Ich habe sie brennen gesehen, und ich vermeinte zu sterben. Dies sei nur Dir verraten; es war ein Besuch bei Gott.

Wir werden schwer heimgesucht, meine liebe Pauline. Wie sehr ich Dich liebe, magst Du an dem allein ermessen, was ich Dir zu sagen wage, auf die Gefahr hin, Dich mit meinem Jammer mitzubelasten; er ist gegenwärtig groß.

Die unter Trompetengeschmetter vorüberziehenden Kanonen bereiten mir Schmerz. Doch was vermag das Gebet meines Herzens in einer so schrecklichen Bedrängnis! ...

[Paris,] den 19. April 1856.

Du mußt nicht beunruhigt sein, weil ich Dich all die Tage nicht gesehen habe, mein guter Engel. Ich bin infolge einer großen Erschütterung, die mich sehr mitgenommen hat, zu äußerster Ruhe gezwungen. Ich werde Dir im einzelnen mündlich berichten, weshalb mein Kopf heute so angegriffen ist ... Wie habe ich an Dich gedacht! Daran, was Du durch Herrn de Champigny gelitten hast. Sind wir nicht wie zwei Bände des gleichen Werkes? Ein Wort wird Dich aufklären: Nach sechzehnjährigem Schweigen erhebt sich die Tochter der Madame Branchu wie ein Ungewitter und fordert unverzüglich eine Summe von ... samt den fünf Prozent Zinsen ... in einem Ton, als brülle ein Kriegsschiff los. Erstaunen und Entsetzen haben mir mit allem, was ihr Name Furchtbares in mein Leben getragen, ans Herz gegriffen – mehr noch, als die Forderung an sich, zu einer Zeit, da ich keine zwei Sous hatte, um einen Brief an Dich zu frankieren. Wie bin ich herumgelaufen, um wenigstens einen Teil der Summe zu beschaffen ... In der Nacht vom Montag hatte ich einen Blutsturz. Ich glaubte meinen letzten Augenblick gekommen. Der Arzt sagt, dieser Anfall sei recht wohltätig für mich gewesen; die nachfolgende Schwäche aber kannst Du Dir vorstellen, Du, die mir in allem so ähnlich ist ...

[Paris,] den 9. Januar 1857.

Vor fünf Tagen vermeinte ich die Kraft zu haben, Dich aufzusuchen und Dir persönlich auf Deinen letzten Brief zu antworten. Eine äußerst heftige, äußerst unerwartete Erkältung hat mein Fieber mehr als je gesteigert. Meine Liebe, Gute! Es ist unmöglich, Dir die traurige Geistesschwäche zu schildern, in die alles das mich versetzt. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon solche Tage durchgemacht habe. Ich muß es annehmen, da ich jederzeit in jeder Weise viel gelitten habe; doch ich bin zu erschöpft, um mir überhaupt von etwas Rechenschaft zu geben ...

Wieso erstaunt es Dich, in die Vergangenheit so jung zurückzukehren? Sind wir nicht immer jung? Woher kommt es, daß Du fast bekümmert bist über diesen unwiderleglichen Beweis unserer Unsterblichkeit? Unser Dasein kann erlahmen, aber nicht enden. Wir hören nicht auf, zu sein, das darfst Du mir glauben. Es gibt nicht eine Nacht, in der ich nicht meine kleinen Kinder wieder in den Armen, auf meinem Schoß halte! Gewiß, sie sind es selbst! Du darfst gleich mir völlig überzeugt sein, daß sie wirklich am Leben sind, indessen das unsere nur unter Not und Angst und Trauer dahinfließt. Ich behaupte daher, daß jene Liebe, von der Du so oft in Deinen traurigsten Stunden ganz unerwartet ergriffen wirst, ein Teil Deiner selbst ist, und daß Du dann nur die Spiegelung davon erblickst ... Das ist ein schönes, tiefes Feuer, Du solltest darum nicht klagen. Es ist der Sinn dessen, was Du Dir damals nicht erklären konntest. Es ist Deine Seele, die ihrem Hang zur ewigen Liebe folgt.

 

... Gestern waren die beiden Prinzessinnen bei mir, um mich gewaltsam zum Diner zu entführen. Du weißt, welches Entsetzen ich davor habe, in der Stadt zu speisen. Sie haben mich statt aller Antwort im Bett gefunden. Welch ein grotesker Unterschied zwischen ihrem und meinem Los! Ich hatte noch einen Franken in der Schublade, für den neuen Monat – und Victoire raste ... Und da sagen diese guten Damen: »Madame Valmore versteht so gut sich einzurichten.« Die Schwiegertochter der einen hat eine Rente von fünfhunderttausend Franken.

Donnerstag, 3. Dezember (1857).

Wie herrlich liebevoll Du bist, mir zu schreiben, ohne daß ich Dir antworten kann, Pauline! Wie wohltuend ist Deine Teilnahme in dieser furchtbaren Zeit. Ich umarme Dich im Geiste. Jede Kleinigkeit von dem, was Dich quält und angeht, ist mir wichtig. Das bedeutsamste Wort Deines Briefes ist dies: »Es geht mir besser!« Ja, das ist ein wenig Himmelsfreude. Ich weiß, daß es überall Stürme gibt, selbst unter redlichen Menschen. Die Liebe allein, die göttliche Liebe, kann sie beschwichtigen; und Du hast diese Liebe. Wende sie an!

Samstag.

Du siehst: ich habe nicht fertig schreiben können. Ich denke an Dich ... und ich verstumme, um meine Leiden ohne Aufheulen tragen zu können. Ich führe ein unmögliches Dasein. Ich weiß nichts mehr vom wirklichen Leben – wenn dies das wirkliche Leben ist! Mein gutes Herz, ich kann Dir nur einen Kuß senden und immer wiederholen, wie unwandelbar ich Dir verbunden bin. Meine Schmerzen sind unbeschreiblich. Ich kann nirgends zur Ruhe kommen.

Guter Engel, komm nicht! Pflege Dich; es ist ein Verbrechen gegen unsere Liebe, sich zu vernachlässigen. Ich sehe es ein! Ich tue alles, meinen Zustand erträglich zu machen, aber nichts [hilft]. Du hast, recht mit allem, was (Du) über diese Krankheit sagst.

Ich wollte Dir lieber selbst dies Geschreibsel senden, als meinen lieben Hippolyte schreiben lassen. So siehst Du doch wenigstens meine Schrift und den getreuen Namen (Deiner)

Marceline


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