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Erster Teil.
Stefan Zweig: Bildnis ihres Schicksals


Die verlorene Kindheit

 

»D'un cœur de femme il faut avoir pitié,
Quelque chose d'enfant s'y mèle à tous les âges.«

 

In der ersten Morgenröte des Jahrhunderts, im Kriegsjahre 1801 steuert eine kleine französische Karavelle Westindien zu, vierzig Tage und vierzig Nächte durch den unendlichen Ozean. Nur ganz Verwegene wagen ihr Leben damals an solche Fahrt, denn die englischen Fregatten durchkreuzen raubgierig das Meer und jagen jeder Napoleonsflagge als erwünschter Prise nach. Auf dem Verdeck zwischen Offizieren, Abenteurern, Kommissären und Kaufleuten, zwischen all den Heimatlosen des Wunsches und des Schicksals zwei weibliche Gestalten, eng aneinandergelehnt in ihrer Angst, wenn die Wellen wie gierige Tiere über Bord springen, zwei kranke und schwanke Gestalten, ein vierzehnjähriges Kind, blond und zart, eine kleine Madonna, mit ihrer sorgenvollen Mutter zur Seite. Stürme schüttern das schwanke Fahrzeug, tropische Sonne brennt auf die gerafften Segel, wenn in der Windstille das winzige Fahrzeug sich ohnmächtig in der endlos flimmernden Schwüle des Ozeans wiegt. Nachts blicken fremde Sterne herab auf das niedere Deck, wo sie auf und ab gehen, sorgenvoll und ohne Freund. Manchmal singt das kleine Mädchen mit ihrer gebrechlichen Silberstimme altmodische Romanzen, um die Mutter zu trösten und eine Heiterkeit vorzutäuschen, von der das eigene Herz nichts weiß.

Dieses vierzehnjährige blonde Mädchen unter fremden Sternen ist Marceline Desbordes, mit ihrem späteren Doppelnamen Marceline Desbordes-Valmore als Frankreichs größte Dichterin bekannt. Zu Douai in Nordfrankreich ist sie am 20. Juli 1786 geboren, in jenem flandrischen Grenzkreis, der von je der französischen Sprache die höchsten Meister des Liedes geschenkt hat: Verlaine, Samain, Rodenbach, Verhaeren, Lerberghe. Den Desbordes, einer alten Familie, steckt der Künstler im Blut. Der Oheim ist Maler, und auch der Vater, im Handwerk der Kunst verwandt, dankt behaglichen Wohlstand dem durchaus höfischen Beruf des Heraldikers und Schildermalers. Jahrzehntelang hat er die Karossen des Adels mit Emblemen geschmückt und mancherlei Prunkgerät mit Wappen und Spruch verziert. Aber die Revolution hat die Schlösser zertrümmert, die Karossen sind selten geworden und die Wappen zersplittert: aus gemächlicher Wohlhabenheit stürzt die Familie nieder in eine plötzliche Armut, und die grauen Schwestern Dürftigkeit und Sorge umschleichen das Haus. Der Erwerb ist verloren, nirgends in der Nähe Hilfe und Ersatz. Da beschließt die Mutter in phantastischer Kühnheit, Rettung von einem entfernten Verwandten in Guadeloupe zu erbitten, einem Plantagenbesitzer, von dessen Reichtum Legenden über das Meer gedrungen sind. Ohne sich von Vernunft und Gefahr abmahnen zu lassen, rüstet sie die Reise und nimmt als Begleiterin gerade das Schwächste, das Jüngste, das Liebste mit, die zwölfjährige Marceline, ein Kind, goldblond und zart, mit blaßrosig durchleuchtendem Antlitz wie das der Madonnen des van Eyck. Der Hafen wäre nahe, aber es fehlt den beiden das Geld zur Überfahrt. Nahezu zwei Jahre ziehen sie durch ganz Frankreich, ehe sie die Barschaft zusammengespart und gebettelt haben. Die Mutter ist untüchtig und schwächlich, so muß es Marceline, die Zwölfjährige, sein, die das Brot erwirbt, Tag für Tag. Im Alter der Sorglosigkeit, da andere Kinder noch mit ihren Puppen spielen, muß sie schon, wie Mignon, die Heimatlose, in Komödiantentruppen Dienst tun, muß täglich mit ihrer kindischen, fragilen Stimme Lieder singen und tanzen, um nur das Kärglichste der Notdurft zu verdienen. Und mit wie viel Tränen ist dies schmale Brot genetzt! Die Truppe, die sie aufnimmt, macht Bankrott, ein anderes Mal jagt sie eine unfreundliche Prinzipalin mit Schlägen davon, und vor dem Hungertod bewahrt sie nur das Mitleid gütiger Kameraden. Aber sie dulden alles, um nur hinüber zu gelangen ins Goldland, denn dort drüben harrt ihrer ja Reichtum, die Rettung. Sie hungern, sie betteln, sie frieren, sie darben sich durch von einem Ende Frankreichs bis zum andern, diese beiden Frauen; zwanzig Monate kämpfen sie, bis endlich in Bayonne jemand ihnen genügend Geld leiht oder schenkt, um die gefährliche Reise anzutreten. Vierzehn Jahre ist die kleine Marceline jetzt alt, aber ihre Kindheit ist unwiederbringlich untergegangen in Not und Sorge.

Und nun reisen sie über den Ozean vierzig glühende Tage, vierzig sterndunkle Nächte dem Vetter entgegen, der ihnen helfen soll. Aber ehe das Schiff landet, tauscht der Kapitän seltsame Signale mit denen am Ufer, und seine Mienen verdüstern sich. Entsetzliche Nachricht erwartet sie: Guadeloupe steht nicht mehr unter französischer Herrschaft, ein Aufstand der geknechteten Neger hat die Insel verwüstet. Und ihr Vetter, der reiche Plantagenbesitzer, auf den sie alle Hoffnungen gesetzt hatten, ist als einer der Ersten von der Meute ermordet worden. Ratlos stehen die beiden Frauen am Ufer, allein in einer ungeheuren Wildnis von Menschen und Dingen. Die Mutter trägt es nicht lange, das gelbe Fieber rafft schon in den ersten Tagen die Enttäuschte hinweg, und nun steht die vierzehnjährige Marceline ganz allein, meilenweit von der Heimat, unter fremden Menschen und Sternen, angewiesen auf das Mitleid oder Übelwollen von Unbekannten. Nichts an Grauen bleibt ihr erspart. Ein Erdbeben schüttert die Stadt, sie sieht Feuersäulen aus den harten Bergen brechen und die Häuser zusammenstürzen. Auf den Knieen bestürmt sie den Gouverneur, er solle ihr die Heimreise ermöglichen. Aber nach Wochen erst – nach namenlosen Wochen, von deren Elend niemand weiß – wird ihr Wunsch erfüllt, und siebenfach heimatlos, eine Waise, kehrt sie wieder zurück auf einem elenden Kauffahrteischiff, wieder vierzig Tage und vierzig Nächte. Das Kind ist das einzige weibliche Wesen auf dem Fahrzeug, und der Kapitän, ein trunkener und brutaler Geselle, sucht aus ihrer Verlassenheit Vorteil zu ziehen. Er stellt ihr nach, und die Erschreckte muß zu den Matrosen um Hilfe flüchten, die sie in einer Art humaner Revolte vor seinen Zudringlichkeiten schützen. Aus Rache fordert er nun Bezahlung für die Überfahrt und behält der Waise bei der Ausschiffung in Havre den kleinen Koffer zurück, der all ihre Habseligkeiten enthält. In schwarzen Trauerkleidern, ohne Geld und ohne Freunde steht die Fünfzehnjährige nun in der fremden Stadt, aber ihr Mut zur Entbehrung ist gestählt von all den bitteren Erfahrungen. Niemand weiß, wie sie sich weiter bis nach Lille geschleppt hat, wo sie einige Menschen kennt. Dort taucht sie im Jahre 1803 plötzlich auf, und freundliche Bekannte, von ihrem Schicksal gerührt, organisieren eine Theatervorstellung zu ihren Gunsten. Die Ankündigung, ein Kind, das aus dem Massaker von Guadeloupe gerettet sei, werde auftreten, bringt dem Theater einigen Zulauf und ihr genug Ertrag, daß sie endlich nach fast dreijähriger Wanderung wieder nach Douai in das Heimathaus zurückkehren kann. In traurige Stuben tritt sie dort mit ihrer bösen Botschaft ein. Der Vater bringt sich nur kümmerlich weiter, ihr Bruder, unfähig zu ernster Arbeit, ist aus Not Soldat geworden und kämpft in Spanien für Napoleon. Dunkel auch hier wie überall. Ein paar Tage bloß ruht sie aus bei den Ihren, dann wandert sie eilig weiter, um nicht länger zur Last zu fallen. Früh ruft sie das Leben: schon vom zwölften Jahre an wirft sich die ganze Notdurft der Existenz schwer auf die zwei schmalen Schultern und erdrückt ihr die Kindheit.

Die Schauspielerin

»Toujours du talent, mais trop de sensibilité.«
Der offizielle Theater-Rapport von 1814

Die guten Bürger von Lille und Rouen sehen nun in diesen Jahren, wenn die Stafetten frohe Nachricht aus Napoleons Hauptquartier melden und sie, über die Weltlage beruhigt, ihrer Schaubühne Besuch abstatten, inmitten des heimischen Klüngels mäßiger Komödianten und abgetakelter Heroinen eine rührende Gestalt: ein halbreifes Mädchen von zartem Wuchs und verschüchtertem Gebaren, ernst und doch milde, keusch und doch nicht kühl. Aus Mignon ist Ophelia geworden, die Sanfte, die Schwärmerische; aber die frühe Strenge des in Sorgen verdüsterten Antlitzes wird schön beschwichtigt durch eine anziehende Kindlichkeit, die jedes Wort und selbst die flüchtigste Geste dieses Mädchens beseelt. Ihre Erscheinung ist gewinnend. Eine lichte Aureole von Blond umschmiegt Marcelines Gesicht, von dem nicht zu sagen ist, ob es jemals wahrhaft schön gewesen sei. Sie selbst, die Bescheidene, fand sich »laide aux larmes«, und die wenigen Bilder von ihr sind ungewiß und nicht recht authentisch. Aber die Kritiken aus jenen verblichenen Provinzgazetten wissen ihren Eindruck von damals deutlich zu beleben und bezeugen trotz ihrer ledernen Pathetik im letzten doch die gleichen Vorzüge ihres Wesens, die später die Dichterin inspirierten. Hier und dort, in jeder Kunstäußerung war ihr Zauber die tiefe Aufrichtigkeit einer Seele, die jedes und auch das unwertigste Gefühl mit einer wundervollen Kraft der Expansion ins Grenzenlose ausspannte, und dann jener innerste, vom Genie ihr eingesenkte Sinn für Musik. Dazu kam damals noch der Schimmer von Anmut, der ihre kindliche Gestalt umschwebte. Etwas Unirdisches und hold Sentimentales muß ihr damals zu eigen gewesen sein, etwas von der geheimnisvollen Magie der sanften Tiere, der rührenden Anmut der Rehe, der flüchtenden Leichtigkeit der Schwalbe, Schönheit von der Schönheit der wehrlosen Wesen, denen die Natur jede Waffe versagt hat, um ihnen dafür jenen Zauber der Seele zu schenken, der Rührung und Mitleiden schafft. Und wirklich: die Wehrlosen, die Leidenden, die unschuldig Gekränkten, das sind die Rollen, die Marceline damals zugewiesen sind. Niemals spielt sie die Heroinen, die Amoureusen; denn Leidenschaft, die begehrende und große, Pathos und Emphase, das glitzernde Funkenspiel der Koketterie sind ihr fremd. Sie vermag – hier ist Grenze und Größe der Dichterin und Schauspielerin – nur darzustellen, was ihrem eigenen Schicksal nahe ist. Damals wurde ihr noch die Rolle der Verfolgten zugeteilt, die gekränkte Waise, die verachtete Schäferin, das Aschenbrödel bei den bösen Schwestern, die verfolgte Unschuld, die liebende Tochter – alle diese himmelblau sentimentalen Mädchenfiguren, die wir noch besser als von jener verstaubten Literatur aus den affektierten Bildern Greuzes und den Kupfern der Almanache kennen. Aber diese Verlogenheit durchdringt sie mit Seele, weil ihre schon in kindlichen Jahren rege Güte selbst dies künstliche Schicksal mit Ergriffenheit überfühlt. Nur die seelische Sensibilität, die auf die geringste Vibration der Menschlichkeit mit stärkstem Ausbruch des Empfindens reagiert, macht sie als Schauspielerin bedeutsam. Und dann: sie hat die Träne, die leichte und doch die echte, nicht die erpreßte der Komödianten, sondern schon damals die der Dichterin, die Träne, die aus den Quellen eines heißen Herzens stammt und, aufsteigend in die Kehle, erst die Stimme warm durchschüttert, ehe sie feucht an den Wimpern blinkt.

Abend für Abend tritt sie vor die Rampe, und viele hundert bunte Schicksale hat sie in diesen zwei Jahren zur Freude der wackeren Bürger von Lille und Rouen dargestellt. Aber ihre wahre Existenz, die hinter den Kulissen, ist monoton und matt, ein freudloses proletarisches Dasein zwischen Arbeit und Entbehrung. Wenn oben die Kerzen verlöschen, der Vorhang sinkt, eilt sie müde nach Hause, wo die beiden Kostgängerinnen, ihre Schwestern, auf sie warten, die, ärmer noch als sie selbst, an ihrem armen Leben zehren. Bei der flackernden Lampe muß sie dann noch Kostüme schneidern, Kleider waschen, Rollen abschreiben, um sich mageren Zuschuß zu verdienen, und durch ein unerhörtes Mirakel der Aufopferung gelingt es ihr sogar, ab und zu von diesen achtzig Franken Gehalt etwas nach Hause zu senden. Aber unter welchen Entbehrungen sind diese Groschen gespart! Es ist oft das nackte Brot, das sie den Ihren opfert. »Man warf mir Blumen zu,« schreibt sie später »und ich kehrte hungernd nach Hause zurück, ohne es irgend jemandem zu verraten.« Und Marcelines ganzes Grauen vor ihrem Schicksal ermißt man an dem Schrei, mit dem sie zwanzig Jahre später, selbst in tiefster Notlage, davor zurückschreckt, ihre Tochter dem Theater zu geben: »Lieber sterben, als sie das erleben lassen, was ich selbst erlebte.«

Ein gnädiger Zufall erlöst sie von der Provinz. Die Künstler von der Opéra Comique, auf einem Gastspiel in Rouen, hören ein kleines Lied, von Marceline in einem der Stücke gesungen, und die Lieblichkeit ihrer Erscheinung sowie eine seltene Beseelung des Vortrags erwecken ihre Aufmerksamkeit. Sie verhelfen ihr zu einem Engagement nach Paris, an die Opéra Comique, und mit einem Male ist sie auf anderer Bahn, ist ohne Schulung und Übung Sängerin an einer Weltbühne. Grétry, der große Meister, wendet ihr seine väterliche Zuneigung zu, nennt sie »sa chère fille« und öffnet ihr sein Haus, gute Rollen werden ihr zugewiesen, obzwar ihre Stimme, die zarte, eigentlich nicht recht ausreicht und im weiten Saale zu verhauchen droht. Aber die Musiker, auch sie wie alle andern Kollegen von ihrem kindlichen Liebreiz und der schüchternen Güte ihres Wesens gewonnen, dämpfen mit Absicht, wenn sie singt, heimlich ihre Instrumente, damit ihr Gesang nicht gedeckt werde und besser zur Geltung komme. Fünf, sechs Jahre verbringt Marceline an dieser Bühne, eine drängende, geheimnisvolle Zwischenzeit. Das Kind in ihr ist längst versunken im Anstrom der Sorgen, der Flut der täglichen Geschäfte, aber auch die Frau in ihr ist noch nicht ganz wach. Denn noch haben die beiden Stimmen in ihr nicht geklungen, die sie in ihre wahre Welt erwecken und ihr harrendes Gefühl ins Grenzenlose heben: die Liebe und mit ihr die Dichtung.

Die Liebende

»Mon cœur fui créé pour n'aimer qu'une fois.«

Sie ist nun einundzwanzig Jahre alt. Ihr Gefühl, das übermächtige, hat sich bislang nur an kindliche Demut und schwesterliche Aufopferung verschwendet, jetzt aber tastet es weiter in die Welt, dies drängende »besoin d'aimer pour aimer«. Die Frucht ihres Gefühls ist reif. Unkund seiner Bestimmung gibt sie sich in dieser Zeit leidenschaftlich der Freundschaft hin, und am meisten wendet sich Marcelines Neigung einer jungen Griechin Delia zu, einer begabten Schauspielerin des gleichen Theaters. Zeitgenössische Beschreibungen schildern sie als eine übermütige, leichtfertige, sinnliche Frau. Wie immer wirkt hier Gegensätzlichkeit des Charakters als Anziehung. In ihrem Hause begegnet Marceline dem Verführer. Hier beginnt der tragische Roman ihres Lebens. Kapitel auf Kapitel können wir ihn aus ihren Gedichten lesen, Zug um Zug den Feldzugsplan ihres Verführers, das Ermatten ihres Widerstandes, die Peripetieen ihres Gefühls verfolgen, denn dies ist das Wunderbarste dieser Dichterin, daß sie, zaghaft im Wort und keusch im Wesen, sich bis auf das Letzte verriet in ihren Versen. Ihre Seele war immer nackt im Gedicht.

Delia spielt auch hier wie auf der Bühne die Rolle der Verführerin und Marceline die der Unschuld. Der Hauptakteur ist ein junger Dichter, Delias Geliebter, der »Olivier« der Elegieen. Die allererste Szene muß man sich ersinnen. Eines Tages (vielleicht hat Marceline eben die beiden verlassen) stellt der junge Dichter ganz absichtslos in heiterer Neugier die Frage an Delia nach ihrer Freundin Herzensangelegenheiten und staunt bei der verräterischen Mitteilung, die Zwanzigjährige noch völlig unschuldig zu wissen. Delia rät ihm lächelnd, sein Glück zu versuchen. Die Zumutung reizt und versucht ihn, sie verbinden sich beide übermütig zum Komplott, dies kühle Herz zu entflammen. Das nächste Mal schon setzt er sich an Marcelinens Seite und spricht Worte zu ihr, die sie beglücken und verwirren, er spricht mit seiner sanften Stimme, deren Schmelz sie in zahllosen Gedichten gerühmt und deren Zauber sie immer wieder unterlegen ist. Delia bleibt abseits, lächelnd und der verstatteten Abirrung ihres Geliebten neugierig froh. Unmerklich ebnet sie ihm die Wege und fördert durch Rat die leichte Mühe. Später, viel später erst begreift Marceline diese frivolen Zettelungen, später, zu spät, wie sie aufschreit:

»Ce perfide amant, dont j'évitais l'empire,
Que vous aviez instruit dans l'art de me séduire,
Qui trompa ma raison par des accents si doux,
Je le hais encore plus que vous!«

Aber anfangs ist sie nur selig und verwirrt. Sie fühlt zwar gleichzeitig Gefahr; unbewußt, mit dem Instinkte schauert sie vor der Versuchung, sie sucht zu flüchten. Eine düstere Ahnung wetterleuchtet in den Himmel voll Glück: »Je l'ai prévu, j'ai voulu fuir.« Aber ihr klarer Wille will schon nicht mehr zurück. Zwar rettet sie sich zu ihren Schwestern und vertraut ihre Angst dem Gesang und der Dichtung, die zum erstenmal an dieser erhöhten Wärme des Gefühls in ihr aufkeimt, aber das Verhängnis ist schon im Zuge, sie ist ihm verfallen.

»J'étais à toi peut-être avant de t'avoir vu,
Ma vie, en se formant fut promise à la tienne,
Ton nom m'en avertit par un trouble imprévu,
Ton âme s'y cachait pour éveiller la mienne. –
Je l'entendis un jour et je perdis la voix,
Je l'écoutais longtemps, j'oubliais de répondre,
Mon être avec le tien venait de se confondre,
Je crus, qu'on m'appelait pour la première fois.«

Er merkt ihre Verwirrung und seine Macht. Immer dringlicher werden seine Bewerbungen. Er spricht zu ihr in Délias Gegenwart, sie wagt ihm nicht zu antworten. Sie flüchtet aus dem Haus (Zug um Zug kann man die Szene aus ihrem Gedicht verfolgen), um ihm, nein, um sich selbst, ihrem eigenen Verlangen zu entgehen.

»Je fuyais tes regards, je cherchais ma raison,
Je voulais, mais en vain, par un effort suprême,
En me sauvant de toi me sauver de moi-même.«

Aber er folgt ihr auf die Straße. Sie sind zum erstenmal allein, sie erschreckt, schüchtern, mit klopfendem Herzen, er klug und berechnend. Mit unnachahmlichem Geschick weiß er an die einzige Saite ihres Herzens zu rühren, die bisher geklungen, an das Unglück. Er weiß, daß ihre Güte stärker ist als ihre Lust, und vertraut lieber dem Mitleid als Mittlerin, als stürmisch leidenschaftlicher Werbung. Er stellt sich traurig, melancholisch, heuchelt Weltschmerz und Überdruß, und sie, die Leiderfahrene, vergißt ihn zu fürchten, weil sie ihn leiden sieht und selbst das Leiden kennt. Die Tröstung scheint ihr eine Pflicht. Nun weigert sie ihm nicht mehr das Beisammensein, und rascher folgen nun die Kapitel im Roman ihrer Liebe. Ein Rendezvous wird vereinbart. Ihr ganzes Wesen fiebert ihm entgegen, vergebens sucht sie mit einem Buche ihre Ungeduld zu täuschen, aber ihr Herz spricht lauter und überschlägt alle Worte:

»Ah, je ne sais plus lire!
Tous les mots confondus disent ensemble: il vient!«

Sie kann nicht mehr lesen, sie kann nicht mehr leben, sie kann nicht mehr atmen, sie kann nicht mehr schlafen. Aber alle diese Qualen liebt sie um seinetwillen, sie liebt diese Schlaflosigkeit, weil sie von Denken durchwirkt ist, von Denken an ihn:

»Je ne veux pas dormir; oh! ma chère insomnie,
Quel sommeil aurait ta douceur?«

Und wenn er nun naht, so weiß sie nicht mehr zu fliehen, magnetisch hält seine Nähe sie fest:

»Hélas! Je ne sais plus m'enfuir comme autrefois!«

Schon ahnt sie, daß sie ganz an ihn verloren ist und jener große Sturm über ihre Sinne gekommen, den sie manchmal auf der Bühne durch fremdes Schicksal brausen sah. Ihre Angst ist längst nicht mehr Widerstreben, sie ist bloß Furcht vor dem Neuen, Furcht vor dem Glück. Sie erkennt sich erschreckt seinem Willen leibeigen und daß gar nicht mehr sie es ist, die dem Letzten noch widerstrebt. Er kann sie nehmen, wann er will, sie fühlt es, sie weiß es. Und der Aufschrei:

»Ma sœur, je n'avais plus d'appui que sa vertu«

sagt ihr ganzes Schicksal.

Er zögert nicht länger. Der Augenblick – auch einem minder Wissenden unverkennbar – ist gekommen. Er naht drängend und glühend. Ihre Tränen scheuchen ihn zurück, eine letzte kurze Sekunde lang, aber seine sanfte Stimme, diese Stimme, deren Bezauberung sie immer und immer wieder erlag, löst ihre Arme, und sie fühlt ihre Seele entfliehen in einem ersten Kuß:

»J'ai senti fuir mon âme effrayée et tremblante:
Ma sœur, elle est encore sur sa bouche brûlante!«

Alle Bedenken des Gefühls und der Vernunft sind geschwunden, Vergangenheit und Zukunft gehen unter im Überschwang, die Sinne glühen auf:

»Et tout s'anéantit dans notre double flamme!«

Nun brechen Ekstasen aus ihren Versen, Feuergarben der Lust. Wie ein Sklave in die Freiheit stürzt sie in den Kerker dieser Leidenschaft. Nur wer das Glück nie gekannt hat, nur eine Frau, der wie Marceline die ganze Kindheit in tragischer Trauer sich verdüstert hatte, kann dermaßen aufglühen im Rausch. Sie, die nie wie die andern die Liebe vorgekostet in Spielen und Träumen, wird trunken von dem brennenden Trank seiner Lippen, sie jauchzt in der Seligkeit ihres Schwachseins, sie fiebert in der Lust, unter seiner Stimme zu erschauern. Fast zu viel scheint ihr seine Nähe, kaum kann sie »le bonheur accablant« seiner Gegenwart ertragen. Aber um wie viel furchtbarer ist doch der Wahnsinn des Ferneseins. Sie leidet im Zuviel des Glückes und verlangt sich doch immer noch mehr. Immer tiefer dringt sie ein in die Liebe:

»Tu ne sauras jamais comme je sais moi-même
A quelle profondeur je t'atteins et je t'aime.«

Immer höher schwingt sich ihr Jubel auf, er zerreißt alle Dämme der Besinnung, und ihre ganze Seele flutet fessellos über in das neue Gefühl.

Tragödie

»II n'aimait pas ... J'aimais!«

Am 24 Juni 1810 trägt ein Beamter des Pariser Magistrats den Namen eines neugeborenen Kindes männlichen Geschlechts in die Register der Stadt ein und fügt der Meldung den bedeutsamen Vermerk bei: Vater unbekannt. Irgendein Freund Marcelinens dient als Zeuge, da »Olivier«, der geheimnisvolle Geliebte, nicht geneigt scheint, sich öffentlich zu bekennen. Jeder Legitimierung ihrer Beziehung, setzt er den Vorwand entgegen, sein Vater würde niemals in die Vermählung mit einer Schauspielerin einwilligen. In Wahrheit denkt er nur, das ihm lästige Verhältnis zu lösen. Marceline, mit allen Sinnen trunken von Liebe und Mutterglück, ahnt nichts von dem mählichen Erkalten seiner Leidenschaft. Sie glüht ihn an mit allen ihren Flammen, voll der Sorge um ihn gibt sie dem Fliehenden noch die zärtlichsten Wünsche mit, da er ihr ankündigt, er müsse verreisen, seinen Vater zu sehen, ihn zu überreden:

»Partir! tu veux partir! oui, tu veux voir ton père ...
Va, dans tous les baisers d'un enfant qu'il adore
Lui parler des baisers de l'enfant qu'il ignore:
Mets sur son cœur mon respect, mon amour;
Il est aussi mon pere, il t'a donné le jourl«

In Wirklichkeit promeniert der Ungetreue aber nach Italien und bleibt lange fern. Die Nachrichten von ihm fließen spärlich; aber sie, die unendlich Gütige, die Vertrauensvolle ahnt noch nicht die volle Wahrheit. Durch Zufall erfährt sie von seiner Rückkehr und zugleich das Entsetzliche, daß er längst mit einer anderen Frau in Beziehungen steht. Wie ein Blutsturz bricht die Erkenntnis aus ihr:

»Malheur à moi! Je ne sais plus lui plairel«

Mit einem Male wird sie der ganzen tragischen Wirklichkeit bewußt, und mit dem grauenhaften Irrtum erkennt sie schauernd die abgekartete Komödie, der sie zum Opfer gefallen. Sie erkennt, daß sie, auch diesmal wie so oft im Theater, ihr eigenes unendliches Gefühl an ein Spiel gewandt hat. Ihre Brust birst von Verzweiflung. Aber wem soll sie klagen, wem? Von Delia, der Freundin, ist sie verraten, alle andern Menschen hat sie vergessen, verloren über diesen einen. In dieser Herzensnot wirft sie sich an die Brust ihrer Schwester, und an sie gerichtet ist das unsterbliche Gedicht des Entsetzens, in dem die gellen Schreie der ersten Verzweiflung noch nicht in das strömende Metall der Worte eingeschmolzen sind. Spitz und heiß von ihrem Blute, durchstoßen die Schreie wie Dolche die zitternden Zeilen:

»Ma sœur, il est parti! Ma sœur, il m'abandonne!
Je sais qu'il m'abandonne, et j'attends, et je meurs!
Je meurs! Embrasse-moi! Pleure pour moi ... Pardonne!
Je n'ai pas une larme, et j'ai besoin de pleurs.
Tu gémis! Que je t'aime! Oh! jamais le sourire
Ne te rendait plus belle aux plus beaux de nos jours.«

Sie weiß, daß er ihr verloren ist, aber sie will es nicht glauben. Sie betet, sie fleht um einen Betrug, um eine Hoffnung, weil sie die Wahrheit nicht ertragen kann. Gleichsam auf die Kniee wirft sie sich vor ihrer Schwester und bettelt, bettelt um eine fromme Lüge:

»Sans retour! Le crois-tu? Dis moi, que je m'égare,
Dis, qu'il veut m'éprouver, mais qu'il n'est point barbare,
Dis, qu'il va revenir, qu'il revient ... trompe-moi,
Mais obtiens qu'il me trompe à son tour comme toi.
Va le lui demander, va l'implorer ...«

Und dabei weiß sie ihn bei einer andern, sie weiß es, sie sieht es. In weißen, schlaflosen Nächten taucht das Bild greifbar nah auf:

»Oh comme il la regarde, oh comme il est près d'elle,
Comme il lui peint l'ardeur qu'il feignit avec moi.«

Und sie flüchtet vor ihm, vor jeder Bewegung, vor seinem Blick, sie rettet sich zu ihren Schwestern auf das Land, in die Einsamkeit. Sie verläßt das Theater, sie gräbt sich ein in ihre Trauer, irgendwo in einem verlassenen Winkel Frankreichs. Das Kaiserreich stürzt um sie zusammen, die Völkerschlacht bei Leipzig wird geschlagen, die Kosaken ziehen ein in Paris, aber man spürt es nicht in ihren Versen, ihren Briefen. Ihre ganze Nation, Zeit und Raum, alles ist ihr, der echten Frau, gering gegen das Gefühl. Sie weiß nur, daß sie ihn liebt, noch immer liebt, trotzdem sie längst das verwegene Spiel durchschaut. Nur um den eigenen Stolz zu retten, das Gefühl zu entschuldigen, das dem Ungetreuen doppelt getreue, forscht sie im eigenen Verhalten nach einer Schuld. Sie sucht in sich einen Anlaß zu finden. Vergebens. Sie sucht und sucht in sklavischer Demut und muß es doch gegen den eigenen Willen verneinen:

»L'ai-je trahi? Jamais! Il eût mon âme entière;
Hélas! j'étais étreint à lui comme le lierre.«

Aber trotz alledem gelingt es ihr nicht, ihn zu hassen, ihm zu zürnen. Resigniert gesteht sie's ein:

»Ah! je ne le hais pas, je ne sais point haïr«,

und bald weiß sie, daß es mehr ist als Nicht-Hassen; beschämt, vernichtet, erniedrigt wird sie gewahr, daß sie trotz alledem noch immer Liebe für ihn fühlt. Erschreckt vertraut sie es den Versen an, erschreckt über sich selbst:

»Ma sœur, je l'aime donc toujours,
Quel aveu, quel effroi, quelle triste lumière.«

Und wie glücklich ist sie, da sie hört, daß er krank ist, wie glücklich, einen Vorwand zu finden vor sich selbst, ihn wieder lieben zu dürfen:

»Comment ne plus l'aimer quand il est malheureux.«

Endlich nach zwei Jahren Widerstand ist ihr ganz klar, daß keine Härte in ihr ist, kein Haß und kein Widerstand, und nichts als der Wunsch, ein einziger, brennender, glühender Wunsch, ihn wiederzusehen. Sie sucht, sie bettelt um eine Versöhnung, sie wendet sich an ihre Schwester, wendet sich selbst an Delia, die sie verraten hat, nur um ihn wiederzugewinnen. Bedingungslos kapituliert sie, erlöst gibt sie ihren Stolz preis:

»Fierté, j'ai plus aimé mon pauvre cœur que toi.«

Er läßt sich erbitten. Sie soll ihn wiedersehen. Und kaum daß sie es weiß, daß ihr Wunsch erfüllt werden soll, überkommt sie das alte Schreckgefühl. Sie zögert, sie sucht Entschuldigungen und findet sie schließlich:

»Dieu! sera-t-il encore mon maître?
Mais, absent, ne l'était-il pas?«

Sie weiß, daß eine neue Verbindung nicht Glück mehr sein wird wie einst, ein Glück der Wollust und des Taumels, sondern ein Glück in Tränen, Glück des Mißtrauens; aber sie nimmt das Joch freudig auf sich, obwohl seiner Schwere bewußt. Wie eine Gefangene tritt sie vor ihn hin. Ihren Stolz hat sie zertreten und ihre Scham, schauernd beugt sie den Nacken für dieses Glück der Erniedrigung:

»Prenez votre victime et rendez lui sa chaîne,
Moi, je vous rends un cœur encore tremblant d'amour.«

Constant Desbordes: Marceline Desbordes.
Bleistiftzeichnung um 1820

Er hebt die Knieende zu sich empor, ein kurzes Zwischenspiel der Versöhnung beginnt. Aber dies von Demütigung und Mitleid genietete Beisammensein ist nicht von langer Dauer. Bald verläßt er sie wieder, und diesmal wird es ein Abschied für immer. Er verstrickt sich in andere Abenteuer, seine Gestalt verlischt im Namenlosen. Marceline faßt ihr Kind, ihren letzten Besitz, und wandert wieder zurück ins Leben. Die Zuflucht ihrer Liebe ist vernichtet, aber eine andere Macht im Tausch erstanden, Tröstung ihres Unglücks: die Dichterin in ihr ist geboren. Ihr Gefühl, zurückgestoßen von dem einen, entlädt sich nun gegen das All, beschwingte Verse entäußern ihre einsame Qual, ihre niedergehaltenen Tränen werden zu aufklingendem Kristall.

Der Verführer

»Mon secret c'est un nom.«

Musik hat ihrem Schmerz die Lippen entsiegelt. Jedes flüchtigste Beben ihres Herzens ist Strophe geworden, jeden Überschwang und jedes Verzagen ihres Gefühls hat sie ein Leben lang und immer noch in der feurigen Minute des Erleidens und Wiedererleidens lyrisch bekannt. Nackt und hüllenlos hat sie dem Winde der Welt jeden Schauer ihrer Sinne, jede Schmach ihrer Seele hingegeben, aber ihre Lippen blieben bis über die Todesstunde hinaus abwehrend verschlossen, wenn es den Namen galt, den Namen jenes einen Menschen, der diesen Sturm in ihr erweckte. Alles von sich hat sie verraten. Nur ihn nicht, der sie verriet.

Fünfzig Jahre jappt nun schon vergebens die französische Literaturgeschichte hinter diesem einen Geheimnis Marcelines her, Sainte-Beuve, ihr Freund und Vertrauter, allen voran. Mit Dissertationen und Kommentaren spüren sie auf allen ihren Wegen, ihren Biographieen nach, um den Namen dieses »Olivier« irgendwo aufzudecken, durch Licht und Schatten, durchs tausendfältig blühende Gestrüpp ihrer Verse folgt die ganze Meute jeder Spur, die sie arglos am Wege sinken ließ. Jedem Seufzer schnuppern sie nach, jede versickerte Träne graben sie auf: aber wunderbar und fast unbegreiflicherweise ist ihr schlichter Wille, die tiefe Scham ihres Verschweigens und die Pietät der nächsten Anverwandten bis heute noch immer stärker geblieben als ihre eitle Mühe. Mit keinem andern Namen ist er heute noch zu nennen als »Olivier«, dem Namen, den sie in ihren Versen ihm gibt und mit dem jener einzige erhaltene Liebesbrief zu ihm spricht. Siebzig Jahre, ein biblisches Menschenalter, nach ihrem Tode ist das Geheimnis noch so stark und unentweiht wie in jeder Stunde ihres Lebens.

Das wenige, das von ihm aufzuspüren gelang, weiß man nur durch sie, durch den Verrat ihrer Leidenschaft im Gedicht. Die eine Zeile bezeugt, daß er ein Dichter war und früh schon in engerem Kreise berühmt; jene andere Stelle stellt sein Alter fest, daß er um drei Jahre jünger war als sie selbst; viele Strophen rühmen die wunderbare, zärtliche, eindringliche Stimme, die sie immer und immer berauschte; und Briefe wiederum erzählen, daß er nach Italien ging und dort erkrankte. Der merkwürdigste Hinweis aber, der für die Feststellung immer entscheidend sein muß, geht von einem Gedichte aus. Dort sagt sie, daß in ihren Taufnamen ein gemeinsamer wiederkehrt. Sie sagt:

»Ton nom ...
Tu sais, que dans mon nom le ciel daigna l'écrire«,

und späterhin nochmals:

»On ne peut pas m'appeler, sans te jeter vers moi,
Car depuis mon baptême il m'enlace avec toi.«

Man mag denken, wie gierig die ganze Meute nachspürend in der Richtung dieses Fingerzeigs gestürmt ist. Marceline, Felicité, Josephe sind ihre drei Vornamen, und in der Scharade jenes andern Namens mußte also einer von ihnen wiederkehren. Dies und manch anderer flüchtiger Beweis hat die meisten verführt, Henri de Latouche als ihren Erlesenen zu vermuten. In Hyacinthe Joseph Alexandre Thabaud de Latouche ist Joseph die Bindung zu Marceline, auch der Beruf nähert sich dem Beweis, daß er ein Dichter und schon damals von einem gewissen Range war, und selbst die dritte Tatsache ist unbestreitbar, daß er als junger Mann zwei Jahre in Italien verbrachte und daß George Sand seine »sanfte und eindringliche« Stimme rühmt. Sainte-Beuve als Schnüffler und Indiskreter in Liebesdingen, der er war (durch seinen Vertrauensbruch wurden die Briefe Mussets an George Sand vorzeitig ausgeliefert), wollte auch hier den billigen Ruhm, schon zu Lebzeiten Marcelinens als Erster das Geheimnis aufgespürt zu haben. Er wollte Gewißheit und versuchte eine List, die nicht gerade edel genannt werden kann: eine Mitteilung eines Freundes ihrer besten Freundinnen mißbrauchend, der in manchen Andeutungen auf Latouche als den vermutlichen Liebhaber Marcelines hinwies, nahm er den Tod Latouches eilig zum Anlaß, einen jesuitisch geschickten Brief an Marceline zu richten, in dem er sie (als hätte er ihn nicht selbst vertraut gekannt) um Mitteilungen über seinen Charakter befragte. Seine geheime Hoffnung war, sie würde bei diesem schüchternen Klopfen alle Türen ihres Herzens öffnen und werde, sie, die aufrichtige, heroische und in ihrer Leidenschaft unbedachte Frau, in irgendeine Zeile ein gültiges Bekenntnis ihrer einstmaligen Neigung einfließen lassen.

Und Marceline Desbordes-Valmore, die Wunderbare, ließ sich leicht verleiten, ein Requiem für den Menschen zu sagen, der ihren Versen reger Anwalt gewesen und ihr den ersten Verleger verschaffte. Ein Brief, ein Dokument menschlichen Gefühls und hinreißender Güte, ist heute noch erhalten und hier zu lesen. Er gilt den Psychologen unter den Forschern als entscheidendes und letztes Argument; denn Marceline, schöner und mühsam zurückgehaltener Erregung voll, spricht hier von Latouche zwar mit Härte und Erbitterung, aber immer wieder tadelt sie gewissermaßen ihr eigenes Gefühl und hebt die Hände flehend und beschwörend zu Sainte-Beuve empor, um ihn von einem strengen Urteil zurückzuhalten. Sie schildert alles Gefährliche Latouches, dieses zynischen und in seinem eigenen Schaffen durch ein Übermaß von Geist und Ironie gehemmten Menschen; aber ihre Nachricht findet im Negativen noch ein Verdienst, da sie von ihm rühmt, daß er weitaus nicht alles Unheil verschuldet habe, das in seiner Macht gelegen sei, und daß in seinem innern Büßen schon reichliche Vergeltung wäre für die vielen Tränen, die er verursacht. Dieses Wort von den Tränen, die er verursacht, ist den Gelehrten der Bücher und Dilettanten des Herzens schon Beweis genug. Wie die Folterknechte vermerkten sie jubelnd den erpreßten Schrei, und seit diesem Tage zischelts und tuschelts durch ein Dutzend Bücher: Latouche, Latouche.

Wirklich: die Scheingründe lasten schwer in der Wagschale des Urteils. Aber in die andere Schale senkt sich unendliches Gewicht und hebt den trüben Ballast der Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten wieder empor. Dieses Gewicht ist Marceline Desbordes-Valmores Persönlichkeit, deren menschliche Eigenschaften ganz gebunden und beseelt sind durch eine beispiellose und fast gefährlich übersteigerte Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit. Es ist kaum ausdenkbar, ihr den jämmerlichen Betrug zuzumuten, daß sie jenen Menschen als einen Fremden in das Haus Valmores, ihres Gatten, eingeführt hätte, der ihre Vergangenheit kannte aus Wort, Brief und Gedicht und der das Grab ihres vorehelichen Kindes in Brüssel gesehen. Und es ist mühevoll, ihr zuzumuten, daß sie, die Unkundigste aller Verstellung, in ihren Briefen an Latouche sich plötzlich zu so demütiger und respektvoller Förmlichkeit erniedrigt hätte, sie, die an »Olivier« die brennendsten und aufgelöstesten Verse und Worte der französischen Lyrik geschrieben. Das Geheimnis ihres klaren Herzens überzeugt da ebenso als alle Beweisgründe der Vernunft.

Sollte aber tatsächlich, wie immer eindringlicher die Forscher auf eine bloß mündliche Nachrede hin behaupten, Latouche jener Olivier gewesen sein, dann bereitet jene erste Tragödie des verführten Mädchens nur noch eine viel grausamere, eine Tragödie der Mutter vor, wie kein Roman sie kühner und grausamer zu entsinnen gewagt hätte. Denn dieser Latouche, der einundzwanzigjährig mit Marceline bekannt war und ihre ersten Verse auf orthographische Fehler korrigierte, er ist ja – verwirrender Gedanke! – derselbe, der unter der Maske des biedern hilfreichen Familienfreundes mehr als fünfundzwanzig Jahre später Ondine, die Tochter Marcelinens, zu verführen sucht und die sie nur mit Mühe (ihre Briefe zittern vor Schrecken) vor ihm schützt. Derselbe Latouche, dem sie heimlich jenen Knaben geboren hatte, der unter geborgtem Vatersnamen auf dem Friedhof begraben liegt, derselbe sollte dann fünfundzwanzig Jahre, ein Vierteljahrhundert später als Verführer ihre Tochter begehren – eine Vorstellung für mich, die das Gefühl kaum zu umfassen vermag. Zwar gellen tatsächlich jene Briefe an ihren Mann, der Latouche damals freundschaftlich besucht, von schrillen Warnungsschreien: kein Gedanke wäre ja wirklich einer Mutter fürchterlicher als jener, ihr eigenes Elend von ebendemselben noch einmal an ihrem Kinde verschuldet zu sehen, und wirklich zwingt sie ihren Gatten, damals von Latouche ein Jugendbildnis zurückzufordern. Aber warum dieser Zorn bei ihr, der Verzeihenden, erst nach zwanzig Jahren, warum so späte Vorsicht bei der immer so Unbedachten? Trotz aller vorgebrachten Wahrscheinlichkeit wehrt sich deshalb mein Gefühl unwillkürlich gegen diesen Latouche und gerade gegen ihn, bis nicht ein Zufall statt Andeutungen endgültigen Beweis erbringt.

Mögen sie weiter spüren: ich weiß nichts Schöneres, als daß dieser Name noch immer nicht gefunden ist, das große Geheimnis ihres Herzens nicht unwidersprechlich entsiegelt. Denn wie wenig wäre dies, das Gewonnene: ein Name, ein Hauch von Worten in der Luft, ein flüchtiges Silbenpaar gegen das tiefsinnige Symbol der Anonymität, gegen dies, daß er nichts blieb für uns als für sie: das Namenlose in ihrem Leben, das Erlebnis. Er war nur der Ruf, die Macht, die ihr entgegentrat, die Form, in die ihre harrende aufgespeicherte Liebe einströmte, der Lehm, der zerbrochen wird, sobald der heiße Guß an ihm sich gestaltet. Er hat keine selbsttätige Bedeutung für ihr späteres Leben und hat keine Schuld. Denn wenn er mit ihrem Herzen tändelt und unbewußt jenen ungeheuren Brand verschuldet, so ist er ebensowenig verantwortlich wie ein Kind, das mit dem Zündholz spielt und eine Feuersbrunst entfacht. Die ganze Tat dieses »Olivier« war, daß er nahte, daß er die Stunde war. Er brauchte ihr nur die Tiefe zu weisen, in die ihr durch den Schutt der Sorgen, den Schlamm der Entbehrung zu lange aufgestautes Gefühl selig schäumend hinabstürzen konnte, und schon hatte er sein, hatte er ihr Schicksal erfüllt. Er gab ihr Gelegenheit zu lieben, und damit ist seine Bedeutung erschöpft. Wie er sich menschlich verhielt, bleibt gleichgültig, denn seine Macht über ihr Gefühl ist damit zu Ende. Er konnte sie dann verlassen oder mißhandeln, sie wieder aufnehmen und neuerlich verlassen, aber er konnte ihr Gefühl nicht mehr steigern und nicht mehr dämmen, es war schon jenseits seines eigenen Willens und Gewissens. Er konnte nur mehr Schmerz häufen oder Lust, ihre Stimmung verwandeln, aber nichts mehr ungültig machen, nicht mehr die aufgebrochene Blüte ihrer Leidenschaft zurückdrängen in die Knospe, diese wundervolle purpurne und unverwelkbare Blüte, die er mit flüchtigen Fingern spielend aufgeblättert.

Man kann es nachfühlen, was ihn zu ihr drängte, verstehen, was ihn lockte. Süßer noch als bei einer Halbwüchsigen die frühe Leidenschaft, mochte es ihn reizen, hier in einer Verschlossenen und Verspäteten unter der Asche von Sorge und Trauer noch einmal die Lohe mit einem Atemhauch aufglühen zu lassen. Und noch besser vermag man zu verstehen, was ihn von ihr entfernte. Er wollte ein Spiel, wollte diesem schüchternen, von allen Geistern der Not und Entbehrung aus den Gärten ihrer Kindheit gejagten Mädchen die erste Frucht zärtlicher Worte reichen. Aber die Erweckte ist eine andere. Aus ihrem schmalen Körper brechen Flammen der Exaltation, ihre Sanftheit löst sich plötzlich in einen bacchantischen Taumel der Leidenschaft, sie preßt sich mit einer unvermuteten Trunkenheit an den Erstaunten, mit einem Durst, als wollte sie von ihm allein alle Seligkeit des Himmels und der Erde trinken. Er will eine Geliebte und findet die Liebende, er begehrt in ihr die Frau, die wunderbare, die vielfältige, die neue, und sie ist die glühende, immer die gleiche. Er will die Lust, und sie gibt ihm die Liebe. Er will Stunden, und sie bietet ihm die ganze Unendlichkeit. Man sieht es deutlich aus ihren eigenen Bekenntnissen, daß er zurückschrak vor ihrer maßlosen Hingabe, vor dem vulkanischen Ausbruch ihrer Liebe, denn für sie, die Entbehrende, der niemals etwas zu eigen war von irdischem Besitz, wird das Gefühl zur Welt, und sie dehnt es zur Unendlichkeit. Übermaß ist ihr einziges Maß in der Liebe: immer lodert sie, jedes Wort, jede Regung setzt sie in Brand. Mit Tränen antwortet sie auf kleines Gelüst, mit Tränen des Jubels, mit dem Schluchzen der Verzweiflung. Tränen sind ihre einzige Sprache in der Liebe. Immer sieht er, der kühle Lovelace, in feuchte Blicke, in schauerndes Antlitz: sie hat nur diese eine Antwort, immer nur die eine:

»L'amour n'eut jamais de moi que des larmes.«

Tränen, Tränen sind ihre Welt, »pleurs« und »larmes« ihrer Verse häufigster Reim. Ihre Leidenschaft tut weh, sie ist zu heiß, sie versengt, sie verbrennt. Vergebens versucht sie selbst, dieses Übermaßes bewußt, sich zu dämpfen und ersehnt beschaulicheren Genuß. Sie möchte selbst gerne heiter werden durch die Liebe, sie als Spiel erlernen:

»Je voudrais aimer autrement.
Pour moi l'amour est un tourment,
La tendresse m'est douloureuse.«

Und dieser Kontrast zwischen ihm, dem Spielenden, und ihr, der Ekstatischen, wird immer größer im Abstand ihrer Beziehung. Sie vermag sich nicht zu mäßigen, er nicht sich zu steigern. Er, der sie emporlockte, kann ihr nun nicht mehr nach. In dem Äther des Gefühls, zu dem sie ihn aufreißen will, jappt er, der Gleichgültige, nach Luft. Und so wehrt er sich gegen diese Verkettung. Gegen ihre Güte kämpft er mit Grausamkeit, gegen ihre Hitze mit Kälte. Aber sie ist gepanzert mit ihrer Liebe, und ihre Waffe ist Vergebung. Er höhnt sie mit Untreue, und sie vergibt ihm; er quält sie mit Lüge, und sie verzeiht ihm; er flüchtet vor ihr, doch ihre Liebe läßt nicht nach. Immer tiefer treibt ihn das Verlangen, den letzten Grund ihrer Güte zu finden, ihre Hingabe zu versuchen, wie man Gott versucht. Aber er vermag nur ihr Leben zu zerstören, sie unglücklich zu machen, bleibt aber ohnmächtig gegen die dämonische Gewalt dieser Liebe, die er nicht mehr dämmen, nicht mehr zerstören kann. Stanzt er ihr Haß ins Herz, gießt er die Säuren der Selbstverachtung, die Ätzungen der Qual ihr in die Brust, so saugt ihr Gefühl all dies gierig auf und verwandelt es wieder in Liebe: sie kann sich nur steigern und nicht mäßigen. Was immer er tut, es bleibt ohne Gewalt über sie, und selbst sein Entschwinden vermag sie nicht zu berauben. Wir haben in der Weltliteratur kaum ein schöneres Beispiel von der ungeheuren Macht, die der Erste, der Verführer über das ganze Leben einer Frau ausübt, jener Erste, der ihren Körper aufschließt und das aufgesparte Gefühl aus den Adern bis zu den Lippen jagt. Denn dieser Mensch – oder schon der Traum von ihm – zehrt im Leben der Desbordes-Valmore das Edelste an Liebesfähigkeit auf, das Göttliche, das Maßlose, den Überschwang. Was sie später gibt, ist gemessene Güte, Dankbarkeit, Ehrfurcht, Sinnlichkeit, aber immer nur Einzelnes, nie jener elementare Ausbruch ihres ganzen Wesens, dies Ausstürzen ihrer Weiblichkeit. Ein anderer Mann tritt später an ihre Seite, und sie ist ihm treu als Gattin, aber in seinen Armen noch bekennt sie: »Je ne sais pas comme on oublie.« Nur durch höchste Aufrichtigkeit vermag sie dies seltene und doch so seelenwahre Wunder der zwiefachen Liebe zu erfüllen, denn noch als alte Frau fühlt sie sich in manchen Stunden nicht dem erwählten Manne, sondern dem erträumten zu eigen. Wie Wetterleuchten zuckt aus jenen Fernen immer wieder Bezauberung in ihr längst beruhigtes Leben hinüber; fünfzigjährig, auf einer entbehrungsreichen Komödiantenreise mit ihrem Gatten in Italien, fühlt sie vor der neuen Landschaft nur den einen Schauer, daß »seine« Schritte vor dreißig Jahren hier geweilt, und unvermutet bricht aus einem Briefe des Jahres 1836 an die Freundin der bekennende Schrei: »Das einzige Herz, das ich mir von Gott erbeten hätte, hat das meine nicht gewollt.« Nie kann sie, im Glück und im Elend nicht, jenen Ersten vergessen. Treu dem Gatten, ist sie, die Dankbare, auch treu dem Gefühl, nie verleugnet die Frau in ihr jenen fernen und fast schon mythischen Gott ihrer Kindheit, der sie zum Weibe schuf: in Valmore liebt sie treu den Mann und ihrer Kinder Vater, und in dem Entschwundenen, in »Olivier«, ebenso treu das Phantom ihrer Träume, das Übermaß ihres eigenen Gefühls. In »Olivier«, dem Verführer, liebt sie ein ganzes Leben lang die Liebe.

Die Verlassene

»Toutes les humiliations tombées sur la terre
à l'adresse de la femme, je les ai reçues.«

An Pauline Duchambge

Am Tage, da ihr Geliebter sie verlassen hat, verläßt sie Paris. Sie hofft, sein Fernsein besser zu ertragen in der Ferne, und flüchtet vor seiner Nähe, der ersehnt-verhaßten, nach Brüssel, wo sie am Théâtre de la Monnaie Anstellung findet, und zwar eine vortreffliche. Anfangs wird sie dort wenig beachtet, denn drei Stunden von der Stadt donnern die Kanonen von Waterloo, und der Zusammenbruch des Kaiserreiches übertönt Gespräch und Gesang. Die Tragödie der Welt ist zu laut und zu nahe, als daß man auf den falschen Donner der Bühne hörte.

Aber bald wird man ihrer mit Bewunderung gewahr. Ihre Kunst ist reif geworden im Erlebnis, aus der schmerzgeweiteten Brust bricht nun voller der dramatische Aufschrei. Jetzt erst wird sie die Heroine. Ihr Wesen, einst nur fähig, kindliche Schüchternheit, Einfalt und Bangen zu verkörpern, vibriert nun von Sinnlichkeit und Leidenschaft, ihr Schmerzruf hat eine wundervolle Resonanz aus tiefstem Empfinden, und die gesprochenen Verse beseelt der melodische Rhythmus ihrer Dichtung.

Erfolg hat aber niemals für Marceline Desbordes-Valmore Glück bedeutet. Nur als Lärm hat sie ihn empfunden, als Schall aus der Ferne, niemals körperlich, nie als Welle, die ihr Leben heben oder senken konnte. Sie weicht allen Versuchungen aus, sie riegelt sich ab gegen die Welt, sie klammert sich an das einzige, was ihr geblieben ist, an ihr Kind:

»Gage adoré de ses tristes amours«,

und sucht in den unschuldigen Zügen das fremde und geliebte Gesicht. Sie will ihr Leben abschließen, beschränken, begrenzen. Aber das Schicksal hat eine seltsame Feindschaft gegen sie. Ein Fluch ist ihr geschworen von einem unbekannten Gott, der ihr Rast versagt. Ihr Schmerz, der fruchtbare, soll ewig feuerflüssig erhalten werden, und so wühlt das Schicksal ihn immer von neuem auf, so wie man die strömende Erzglut beständig bewegt erhält, damit sie nicht Schlacken bilde und zu früh in kalten Formen erstarre. Immer wieder wird ihr Neues gegeben, aber immer nur zur Leihe, immer etwas geschenkt, darin ihre Sehnsucht sich einwurzeln könne, um es dann ihr zu entreißen und das Erdreich ihrer Seele schmerzhaft aufzuwühlen. Kaum läßt das Leben ihr Rast, so mengt sich der Tod in ihr Geschick. Ihre Freundin, die einzige, von der sie Zuspruch und Gespräch in diesen Tagen hat, bald darauf ihr Vater, sterben plötzlich hin, und wenige Wochen später wird auch ihr Letztes durch Krankheit bedroht, der fünfjährige Knabe. Wie eine Rasende kämpft sie gegen das Verhängnis zwei Monate lang, aber es ist vergebens:

»Après soixantes jours de deuil et d'épouvante
Je criais vers le ciel: Encore, encore un jour!
Vainement! J'épuisais mon âme tout entière ...
Je criais à la mort: Frappe-moi la première!
Vainement! Et la mort, froide dans son courroux
En moissonnant l'enfant, ne daigna pas atteindre
La mère expirante à genoux.«

Der Knabe stirbt. Innerhalb eines einzigen Jahres hat sie alles verloren, was ihr das Schicksal geschenkt:

»J'ai tout perdu, mon enfant par la mort
Et mon ami par l'absence.«

Ihre Verzweiflung ist unbeschreiblich. Aus ihren Briefen brechen wilde Schreie, die nichts anderes mehr ersehnen als den Tod. Sie ist wieder so arm, so verlassen wie damals, als sie im schwarzen Kleide, eine Waise, am Landungsplatz in Havre stand, aber nun noch viel mehr, weil ihr Leben geschwächt ist von dem früh verlorenen Kind und ihre Seele zerrissen von der Verachtung des Geliebten. Nun erst, da sie Besitz gefühlt, wird die Entbehrung zum Schmerz. Vergebens sucht sie ein Ende. Von dem Tod hält sie die Gläubigkeit zurück, so sucht sie der Welt zu entweichen durch Flucht. Wie eine Nonne in ihre Zelle, gräbt sie sich lebendig ein. Sie will nichts mehr haben, nichts mehr hören, an nichts mehr sich binden, da ihr doch alles genommen wird. Die flüchtigen Stunden der Komödie sind die einzigen, da sie zu Menschen spricht, und da sind es nicht ihre Worte, sondern erlernte. Jedes wirkliche Wesen ist ihr Feind, jeder Blick tut ihr weh, denn alles wird Vergleich und Erinnerung. Der Kelch ist voll. Es gibt aus diesen Jahren ein Gedicht »Les deux mères«, das in einer Szene ergreifend schildert, wie selbst unschuldigster Anlaß in der Gequälten die Narben aufsprengt. Ein Kind naht ihr auf der Straße, freundlich mit in Liebe ausgebreiteten Händen tappt es ihr näher, und sie, fast auf den Knieen fleht sie das Fremde an, ihr nicht zu nahen, denn es ist Erinnerung:

»Vous qui m'attristez, vous n'avez en partage
Sa beauté ni sa grâce où brillait sa candeur.
Oh! mon petit enfant, mais vous avez son âge
C'en est assez pour déchirer mon cœur.«

Und mit dem verlorenen Kinde scheint auch ihre Jugend zu Ende. Ein Flor des Leidens umschleiert ihre Augen; sie, die nie heiter war, ist nun düster geworden und herb. Die vielen Tränen haben den Schmelz der Jugend von ihren Wangen gewaschen, die Stimme ist brüchig und weigert sich dem Gesang. Unendlich ist ihre Einsamkeit. Sie lebt in der Welt wie Ariadne, die Verlassene, auf der wüsten Insel Naxos, nur der Klage und dem Gebet. Bacchus, der glühende, der Gott der Trunkenheit, hat sie verlassen, der Rausch der Liebe ist geschwunden, und nun wartet sie nur auf einen mehr, auf den Tod. Sie hört ihn nahen, schon breitet sie ihm die Arme entgegen, um hinzusinken aus dieser Welt in das ewige Dunkel. Aber sie ahnt nicht, daß, der naht mit beflügelten Schritten, Theseus ist, der Befreier, sie nochmals zurückzuführen ins lebendige Leben.

Valmore

Il n'y a rien de si sincère que mon cœ ur,
Je ne puis le donner qu'en donnant ma vie.«

Im Theater ist damals als Partner heroischer und leidenschaftlicher Konflikte ein junger Schauspieler engagiert, Valmore, vom weiblichen Publikum Brüssels bald der »schöne Valmore« genannt. Sproß einer adeligen Familie, Neffe eines kaiserlichen Generals, der in der Schlacht an der Moskwa sein Leben gelassen, hatte er sich dem Theater durchaus nur um künstlerischer Neigung willen verschrieben. Zu spät gekommen in der Weltgeschichte, um auf der Lebensbühne unter Napoleon zu kämpfen, will er Held und Konquistador zumindest im Spiele sein. Er ist sieben Jahre jünger als sie, darstellerisch zwar nur mäßig begabt, aber doch gewinnend durch seine ritterliche Erscheinung und die fast herrische Aufrichtigkeit seines Wesens. In den Stücken geben sich die beiden oft das Stichwort der Liebe von Mund zu Mund, er hat die Werbung, sie den Widerstand, und aus dieser regen Gewohnheit des Tausches erborgter Gefühle wächst allmählich eine gewisse menschliche Vertrautheit.

Und dann – in der Biographie Marcelinens ist jede Episode immer dramatisch motiviert –, diese beiden Komödianten, die hier Zufall oder Bestimmung auf den Brettern eines Provinztheaters zusammenführt, diese beiden fremden Existenzen, haben vor vielen Jahren einander gestreift. Vor sechzehn Jahren, als die Halbwüchsige nach Guadeloupe reiste und in Bordeaux um ein paar Franken auf der Schaubühne agierte, hat sie dort in befreundeter Familie einen kleinen Knaben auf den Knieen geschaukelt. Sie hat mit ihm geplaudert, sich an seiner klugen Anmut gefreut und schon damals mit ihm unschuldig schwesterlichen

Kuß getauscht. Ihre Lippen kennen einander: dieser Knabe aus Bordeaux, dieser lang vergessene Gespiele einer Stunde, war Valmore gewesen. Das Entsinnen der kindlichen Episode flicht rasche Freundschaft zwischen den Erwachsenen.

siehe Bildunterschrift

David d'Angers: Marceline Desbordes.
Medallion um 1832

Valmore aber erwidert ihr Gefühl der Freundschaft mit lebhafterer Neigung, und allmählich erwächst ihm der Wunsch, sich der verehrten Frau dauernd zu verbinden. Noch wagt er nicht, sich zu erklären, er hat Scheu vor dem Wort. Ein schöner männlicher Stolz verbietet ihm stürmische Werbung, um sich die rasche Abweisung der Erschreckten zu ersparen. Kund ihres Unglücks weiß er vielleicht, daß man die tiefe Resignation ihres Herzens erst Stufe um Stufe mit sachter Hand, wie eine Kranke wieder emporführen müsse ins Vertrauen. So wählt er des Wortes behutsamere Form: den Brief. Obwohl ihr täglich nah, schreibt er ihr einen Brief, in dem er sich gewillt erklärt, die Redlichkeit seiner Gefühle durch eheliche Liebe zu erweisen.

Marceline erhält den Brief, sie erschrickt und will den werbenden Worten nicht glauben. Sie blickt in den Spiegel: das Salz der Tränen hat ihre Wangen aufgelaugt, der Schmerz mit spitzem Stichel den Augen Furchen eingegraben, sie fühlt sich verbraucht, unwertig und verblüht. Einunddreißig ist sie den Jahren nach und innerlich viel älter, er aber, der Jugendfrische, vierundzwanzig, – wie darf sie da ihn binden, sie, die selbst gebunden ist an Erinnerung und, wie ihr dünkt, an untilgbares Leid? Denn selbst in dieser Sekunde des Glücks fühlt sie, daß ihr Herz nichts vergessen kann, daß Olivier, des Unbekannten Bild, ewig in ihrer Seele brennt. Sie ist entschlossen zur Treue, zur Abwehr. Aber doch, es lockt so seltsam, noch einmal das Leben zu beginnen, noch einmal aus diesem unendlichen Abgrund von Trauer und Entbehrung emporzusteigen in das Licht.

Sie antwortet Valmore in einem Brief, der ablehnt und doch zögert zugleich. Er will Absage aussprechen und scheut sich doch, unwiderruflich zu werden. Sie bittet ihn, sie zu schonen. »Versuchen Sie nicht, mein Herz mit Gefühl zu erfüllen, ich habe so viel gelitten, und traurig wie ich bin, tauge ich nicht mehr zur Liebe.« Sie warnt und warnt, sie verneint die Möglichkeit eines neuen Gefühls und bezeugt es ihm doch durch ihre Furcht vor neuer Prüfung und die Bitte, sie zu schonen. Sie bietet ihm an, Brüssel zu verlassen, wenn das Beisammensein mit ihr ihn quäle, sie warnt und wehrt ab. Aber doch, sie findet kein Wort, das ein hartes Nein sagt. Denn dies ist zu neu, zu selig schön für die Enterbte, dieser ungewohnte Schauer, zum erstenmal nicht nur zu lieben, sondern einmal auch wahrhaft geliebt zu sein.

Valmore mißversteht sie. Er meint, ihr Zögern bedeute, er sei zu gering für sie, die gefeierte Schauspielerin, die Erste des Theaters. Noch kennt er nicht die ganze Tiefe ihrer Glücklosigkeit. Er will sich entfernen, aber schon ruft sie ihn zurück. Sie beeilt sich, ihm zu antworten, ihm zu versichern, wie sehr sie ihn achte, und in dieser Hochschätzung klingt schon ein erster Unterton von Neigung. Valmore wird sicherer, er wirbt nun dringender und heißer. Immer weicher wird der Ton in ihren Briefen, immer nachgiebiger. Sie will es noch nicht glauben, daß man sie wieder zum Leben erlösen will, und glaubt es doch schon. Sie schämt sich ihres eigenen Wankelmuts, nach so großem Gefühl so bald eines zweiten fähig zu sein, und ersehnt es doch schon mit allen Sinnen. So fremd ist ihr das Glück geworden, daß sie sich davor fürchtet und beinahe wieder ihr Leid zurückwünscht:

»Je tremble d'être heureuse et je verse des larmes;
Oui, je sens que mes pleurs avaient pour moi des charmes
Et que mes maux étaient mes biens.«

Sie ist sich bewußt, daß sie nicht vergessen kann, aber sie fühlt sich stark genug, auch mit einer Wunde im Herzen einem andern Manne sich zu vereinen. Sie hat ihn gewarnt, sie warnt ihn bis zum letzten Augenblick. In Aufrichtigkeit bietet sie ihm ihr ganzes Leben dar, aber er begehrt es stark und glühend, und mit einem gewissen Jubel stimmt sie schließlich zu.

Es ist rührend, in diesen ihren Briefen zu lesen, wie fremd sie dem Glück geworden ist. Ein Wunder von Gott ist ihr diese Wendung. Sie kann es gar nicht begreifen, sie faßt es kaum, dieses vergessene Wort, dieses verlorene Gefühl. Gleichsam aus einem Kerker taumelt sie an das Licht, und ihre Augen sind blind, sie wagt nicht zu schauen. »Wie, das Leben ist also doch das Glück?« stammelt sie in einem Brief, einen Tag nach der Vermählung: »Ich bin glücklich! Wie doch meine ganze Seele sich auftut diesem vergessenen Wort, das für immer ausgelöscht schien.« »Sag mir, Geliebter, wo ich bin, sag mirs doch, ich weiß es nicht mehr. Laß mich noch einmal einen solchen Brief lesen, der mir das Herz verbrennt.« Sie stammelt, sie taumelt unter diesen ersten Tagen. Und was das Wundervollste ist, das Unwahrscheinlichste, daß dieses Glück über ein ganzes Leben hin dauert. Denn in ihrem ersten Erlebnis ist sie eine andere geworden. Sie ist nun fähiger, einen Mann zu beglücken, weil sie resignierter ist. Sie will nicht mehr alle Himmel umfassen, sie will nicht mehr glücklich sein, sondern als wahre Frau nur glücklich machen. Nichts begehrt sie für sich fortan, alles nur für ihn. Ein wunderbarer Kampf beginnt nun in diesen beiden für viele Jahre, ein Kampf der Demut gegen Demut. Beide fühlen sie sich minderwertig, einer gegen den andern. Er empfindet ihre Überlegenheit als Schauspielerin, als Dichterin, fühlt den Adel ihrer Menschheit und beugt sich vor ihr. Sie wieder spürt nur das eine, das Wunderbare, in einer immer wieder erneuten Dankbarkeit, daß er jünger ist als sie, sieben Jahre, und er ihr freudig seine strahlende Jugend geschenkt hat, und sie beugt sich vor ihm. Er hat sie ins Leben gehoben und Kinder aus ihrem abgestorbenen Leib erweckt, dafür dankt sie ihm Tag für Tag. In den Briefen der alternden Frau brennt gleich heiß wie in denen am Tage der Vermählung ihre Glut, und er wiederum faßt ungelenk, um einmal in ihrer Sprache zu sprechen, seine Gefühle in Versen zusammen. Keines ihrer Liebesgedichte ist vielleicht so rührend als dies Gedicht, das sie erweckt, dieser ungeschickte Versuch eines nüchtern-redlichen Menschen, Worte in Reime zu pressen, um auch ihr in ihrer Weise zu dienen. Die entsetzliche Angst, er, der Jüngere, könnte sie, die Alternde, betrügen und mißachten, sie möchte nochmals verstoßen werden von der Liebe, schwindet selig dahin. Tag für Tag erstaunt sie immer wieder aufs neue, noch immer geliebt zu sein, und bewundert seine Redlichkeit. Immer bleibt sie die Erstaunte, daß auch ihr Liebe gelte, immer die Dankbare. Und nun endlich darf sie sich hingeben, verschwenden, aufopfern, Tag für Tag, und die furchtbare Mühsal ihres äußeren Lebens macht dies Opfer zu einem unaufhörlichen.

Manchmal fällt noch ein leichter Schatten vergangener Zeiten in ihr Glück. Valmore leidet im geheimen sehr, immer zu spüren, wie unvergessen jener andere ist. Er hatte gehofft, nun werde ihm, der sie nochmals die Liebe gelehrt, mit ihrem Leben auch ihre Dichtung gelten. Das Bild jenes andern, der sie gequält und verachtet, werde verschatten im erneuten Glück. Aber Marceline Desbordes-Valmore ist unfähig zur Lüge. Ihre Dichtung, die aus dem traumgewordenen Erleben der Jugend aufsteigt, scheint geheime Gesetze zu haben, gegen die sie selbst nichts vermag. Inmitten ihrer Ehe schreibt und veröffentlicht sie jene schmerzvollen Elegieen an Oliver, den einst Geliebten, und Valmore, der all ihre lebendige Liebe hat, muß den Druck von Versen überwachen, die einem andern gelten. Seltsamere Qual ward nie einem Gatten ersonnen. Aber Dichtung ist stärker als ihr bewußter Wille. Nicht das Glück inspiriert diese Frau, sondern das Tragische, nur die Träne erlöst ihr das Wort, und darum gelten ihre Verse einzig dem, der ihr Gefühl zur Qual der Liebe aufrief, und fast nie jenem, der sie beglückte. In Valmore liebt sie den Mann, den Gatten, in Olivier die Liebe selbst, die Quelle des Leides, das ihr tiefstes Glück aufwühlt. Sie bezeugt in ihrer unendlichen Aufrichtigkeit, daß im Leben einer Frau doppelter Raum für Liebe ist, für die der Wirklichkeiten und die des Ideals, und daß das Unvergessene, im Leibe längst erstorben, in den tiefsten Schluchten des weiblichen Gefühls unerreichbar verborgen bleibt, daß Erlebnisse nicht absterben mit dem Erlebten. Sie sieht Valmore leiden an ihren Geständnissen, aber sie vermag ihre Dichtung nicht zu beherrschen: ihre Aufrichtigkeit ist stärker als ihr Wille. Sie ist machtlos gegen die eigene poetische Gewalt. Vergeblich müht sie sich, ihm seine Eifersucht auf die Verse auszureden:

»Ces poésies qui pèsent sur ton cœur«;

sie fügt ihrem Mädchennamen als Dichterin immer den seinen bei, nennt sich Marceline Desbordes-Valmore, um öffentlich ihre Verbindung zu bekunden. Alle kleinen Listen des Herzens wendet sie an, sie beschuldigt sich der Übertreibung, und ist zweifellos aufrichtig in der Sekunde der Verzweiflung, da sie ihre Dichtung verflucht, weil sie Mißstimmung aussäe zwischen ihnen. Wie selig ist sie darum, wenn sie auch ihm etwas zu vergeben hat. Spät, mit siebenundvierzig Jahren, gesteht er ihr, der Vierundfünfzigjährigen, daß, er sie mehrmals betrogen habe. Und beinahe beglückt antwortet sie ihm in dem wundervollen Brief: »Es wäre ein Wunder, hättest Du den Versuchungen Deines Alters und Deines Berufes entgehen können! Glaube mir, es ist einzig wichtig, daß sie nicht die Unzerreißbarkeit unseres Bundes vernichten konnten. Keiner Frau nehme ich es übel, Dich liebenswert gefunden zu haben, mein teurer Freund. Viel eher hätten sie es mir nicht vergeben dürfen, Deine Frau zu sein und – offen gesagt – ein solches Glück nicht zu verdienen.« So, mit Güte und Aufrichtigkeit knüpfen sie immer aufs neue das Band, das sie aneinanderhält; selbst die Armut, die ewige und unerträgliche ihrer Tage, kann die Reinheit ihrer Existenz nicht vergiften. Immer findet ihre Hingebung neue Formen des Aufschwungs und schließlich auch die edelste Wendung: sie verzichtet ganz die Geliebte zu sein, um des neuen Glückes willen, ihn neu und anders lieben zu dürfen. Früh blinkt ihr Schnee auf dem Scheitel, und nun umgibt sie Valmore, den Gatten, mit einer wundervollen Mütterlichkeit. Er wird gleichsam ihr ältestes Kind, das Sorgenkind, dem sie sich müht, eine Stellung zu finden, den sie behütet, pflegt und berät. Sie muß ihn, den schlechten Provinzschauspieler, der nirgends ein Engagement findet, in Rouen ausgepfiffen, in Paris nirgends angenommen wird, immer wieder trösten über die schmerzhaften Niederlagen seiner Eitelkeit, sie muß den zweifelhaften Komödianten und doch wackern Mann dreißig Jahre darüber hinwegtäuschen, daß sie es ist, die mit Arbeit und Qual die ganze Familie erhält. Erst wie der künstlerische Wahn ihm zerrinnt und er eine kleine Stellung an der Bibliothek findet und nun nichts mehr ist als Vater und Gatte, kommt eine Art Ruhe in den zerrissenen Haushalt. In den späteren Briefen mischen sich der Leidenschaft des Gefühls immer mehr und mehr hausmütterliche Ratschläge bei, die Ehe wandelt sich in Mutterschaft und Geschwisterlichkeit. Und aus der Ferne ihrer Jahre, dem gefährlichen Unterschied des Alters, wird durch ihre Güte und Resignation immer neue Nähe und ein noch innigerer Verein.

Die Nomade

»Depuis l'âge de seize ans j'ai la fièvre
et je voyage.«

Die Not und Entbehrung ist nun aus ihrem Herzen gescheucht. Aber sie läßt ihr liebstes Opfer nicht und umstellt von außen ihr Leben. Vergeblich sucht das Komödiantenpaar nach einem Nest. Die Brüsseler Truppe löst sich bald auf, sie streben nach Paris; aber Valmore, dessen mindere Qualitäten als Schauspieler mit dem Schwinden der Jugendlichkeit immer sichtlicher werden, erweist sich dort als Hemmnis für ein gemeinsames Engagement. Wieder wirft sie die Welle in die Provinz zurück von Strand zu Strand, jahrelang treiben sie dort, von allen Stürmen des Mißgeschicks gejagt und herumgefegt, zwanzig, dreißig Jahre, nirgends heimisch, überall wieder vertrieben. Nächtelang, tagelang, mit kleinen Kindern und dem ganzen Hausrat wandern sie von Ort zu Ort, immer wieder wird ihr ganzer Lebensbestand auf Karren geladen, immer wieder Kontrakte und Kündigungen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Ein paar Jahre ruhen sie in Lyon, aber es ist Rast auf einem Vulkan, denn die Industriestadt ist fiebrig aufgewühlt von Arbeiterrevolten, in den Straßen werden die Menschen niederkartätscht, und dem Volke vergeht bald das Gelüst auf Komödie.

Der Traum der Kunst ist längst erloschen, es ist nur ein hartes Metier, das die beiden um ihrer Kinder willen betreiben, Broterwerb, Handwerk ohne Redlichkeit, dem Mißgunst und Neid bald die letzte Freude nehmen. Selbst zwischen ihnen beiden droht Zwietracht emporzuwuchern, denn immer deutlicher zeichnen sich die Erfolge Marcelinens von den zweifelhaften Triumphen ihres Mannes ab; doch diese Gefahr bietet erwünschte Gelegenheit, die Größe ihrer Hingabe zu beweisen. Rasch entschlossen gibt sie den Beruf auf, läßt die Heroine, um nichts mehr zu sein als Hausfrau und Mutter, Heldin des Tages. Unglück und Kindbett haben ihren Körper matt gemacht, ihre Stimme durchsiebt. Empfindlich für Mißachtung, gleichgültig gegen Ruhm, ist sie längst schon müde, täglich fremden Menschen ihre Tränen zu geben; ein Grauen faßt sie an, wenn sich abends die Lichter entzünden, ein Grauen, die Furchen ihres Gesichts mit Schminke zu füllen, und kaum daß sie resigniert hat, so jubelt sie schon über ihren Entschluß. »Nicht mehr Theater zu spielen, ist eine Art Glück, das ich bis zu Tränen empfinde.«

Nun ist er, Valmore, das Haupt der Familie, Erwerber und Erhalter. Sorge wächst ihm damit zu, aber auch Selbstgefühl. Zuerst kämpft er noch in den großen Städten, aber in Lyon ausgepfiffen, meidet er die besseren Bühnen und schleppt sich von Provinz zu Provinz. Marceline bleibt in den ersten Jahren seine Begleiterin, dann aber fordern die Kinder ihre Gegenwart, und nur von ferne vermag sie ihn mit Briefen aufzumuntern. Sie verschweigt ihm zärtlich die tausend Sorgen, die ihr den Tag zerstücken und die Nacht wegstehlen. Denn sie kämpft einen tagtäglichen heroischen Kampf, um ihre kärgliche Existenz zu sichern; und diese große Dichterin, der Frankreich schönste und unvergeßliche Verse dankt, ist in allen Jahren der Entbehrung gleichzeitig der einzige Dienstbote des ganzen Hausstandes. Sie näht die Kleider der Kinder, sie wäscht, sie schneidert, sie kocht; nachts nach aller Mühe und Sorge schreibt sie sentimentale Novellen und Romane, um ein paar Franken zu verdienen. Sie arbeitet dreißig Jahre wie eine Verzweifelte, sie verkauft ihren letzten Schmuck, den Ring, den er ihr zur Vermählung gab; sie sucht nach Stellungen, sie bettelt beinahe, und an dieser Ärmsten der Armen hängen noch andere Lasten. Der Bruder, in englischer Gefangenschaft, quält unablässig um Geld, sie muß sich von ihrem eigenen Nichts etwas absparen, um ihm einen Notpfennig zu senden; die Familie ist in ewiger Bedrängnis, sie hilft auch ihr; in die Gefängnisse von Lyon bringt sie das letzte Brot von ihrem Tisch. Sie muß Briefe wochenlang liegen lassen, weil ihr das Geld fehlt, sie zu frankieren. Sie bleibt oft zu Hause, weil ihre Kleider und Schuhe zu schlecht sind für die Gasse. Ihr einziger Trost sind die kleinen Gedichte, die sie, über den Stickrahmen gebeugt, bei der Arbeit ersinnt, und die kleinen Lieder, jene wundervollen Kindergedichte, mit denen sie Hippolyte, Ondine und Ines, ihre drei Kinder, einschläfert.

Und dabei: wie klein sind ihre Wünsche! In eine Nußschale lassen sie sich pressen: Ruhe, ein wenig Rast, etwas Sonnenschein und ein bißchen Grün. Sie träumt – wie andere von Kronen und von Karossen – von irgendeinem stillen Haus auf dem Lande, von einem kleinbürgerlichen Glück, von einer ganz einfachen Existenz. Nur den Mann nahe haben, nur wissen, wovon man am nächsten Tage lebt, nicht sehen müssen, wie er beschämt und todesmüde von irgendeinem Mißerfolg in einem lächerlichen Winkel Frankreichs sich heimschleppt, und nicht immer mit übermenschlicher Anstrengung täglich das Lächeln erlügen müssen, um ihn zu begrüßen. Aber sie muß die Nomade bleiben, zwanzig, dreißig Jahre. Sie schreit auf zu Gott:

»Défendez aux chemins de m'amener encore.«

Aber die Wege schleppen sie weiter: durch alle Länder muß sie irren, und ihre Füße sind wund. Im Postwagen nach Italien, wo Valmore einer Truppe verpflichtet ist, schreibt sie mit zitternder Hand:

»Ah, les arbres du moins ont du temps pour fleurir,
Pour répandre leurs fruits à la terre et mourir.
Ah! je crains de souffrir, ma tâche est trop pressée
Ah! laissez-moi finir ma halte commencée
Oh! Laissez-moi m'asseoir sur le bord du chemin
Mes enfants à mes pieds et mon front dans ma main
Je ne puis plus marcher.«

Aber Gott erhört sie nicht. Selbst in Paris hat sie, die Fünfzigjährige, noch nicht Rast. Vierzehnmal übersiedelt sie, immer vom Elend von einer Wohnung zur andern gejagt, immer ist da der fünfte oder sechste Stock der einzige, wo sie die Miete erschwingen kann. Und ihre Füße sind wund. Sie zählt die Stufen von Wohnung zu Wohnung, hundert Stufen, hundertzwanzig, hundertdreißig, und ein Jubelschrei bricht aus ihr, wie sie endlich den Freunden berichten kann, daß sie in der Rue St. Honoré um 27 Stufen niedriger wohnt. »Im zweiten und dritten Stockwerk wohnen, das war mein Traum«, seufzt sie auf. Ein kleiner Balkon mit ein paar Blumen muß ihr das Grün ersetzen, von dem sie träumt, in zwei, in drei Zimmern drängt sich ihre, ihres Mannes und ihrer drei Rinder Existenz zusammen. Ihre ganze Kraft wendet sie an diesen widerlichen, winzigen Kampf, die jeden Monat fehlenden zwanzig und dreißig Franken zu erobern, immer bleibt diese Existenz im Kleinlichen befangen, und so fremd sind ihr wirkliche Summen geworden, daß, wie ihr einmal vierhundert Franken Pension als Geschenk des Königs durch die Güte von Freunden vermittelt werden, sie von einer »inondation d'argent« jubelt. Dabei müht sie sich, ihre ganze Sorge, ihr Elend dem eigenen Manne zu verbergen. 1842 schreibt sie: »Alles, was ich an weiblichem Genie, an Schweigen und an Worten kenne, wende ich an, um diesen großen und niedrigen Kampf meinem lieben Mann zu verschweigen, der das nicht acht Tage ertragen könnte. Ich rette seinen Stolz um den Preis meiner Erniedrigung, und erst nach meinem Tode wird er erfahren, durch welche unschuldigen Schliche, durch welche Tränen, die einzig Gott und ich kennen, ich bis zum heutigen Tag das traurige Geheimnis des Brotes gerettet habe, das noch nie an unserem und unserer Kinder Tisch fehlte. Auch Frost haben sie noch niemals gelitten.« Aber dann schreit sie wieder auf: »Die Armut tötet mich, ich ersticke an diesen Geldnöten, die mein Leben aufzehren, wie die Motten das Tuch.«

Das geht zehn, das geht zwanzig und dreißig Jahre. Sie versteht es selber nicht mehr. »Wie ist es denn möglich,« schreibt sie, »daß man Tag und Nacht arbeitet und doch nicht genug verdient, um zu leben!« Dazu kommt, daß Valmore, von allen Bühnen refüsiert, selbst nichts mehr verdient. Mit dreiundfünfzig Jahren weiß sie nichts mehr »pour inventer leur existence«. Es ist der ewige Bankrott. Zwar hat der Sohn schon eine kleine Anstellung, aber das kann nicht genügen, und nun muß sie in die letzte Erniedrigung sich ergeben, muß sie, die Stolze, die ein Geldgeschenk von Madame Récamier zurückwies, bei allen Ministerien, bei allen Freunden betteln, in den Vorzimmern der Theater herumschleichen, um Valmore einen Posten zu verschaffen, um seinen Stolz zu retten, der unter allen diesen Enttäuschungen sich selbstmörderisch in Anklagen ergießt und seine ursprüngliche Heiterkeit verdüstert hat. Endlich gelingt es, ihn mit zweihundert Franken monatlich in der Bibliothèque nationale als Hilfsbeamten unterzubringen. Mit einem Jubelschrei begrüßt Marceline seine Ernennung; aber schon ist wieder andere Sorge bereit, ihr die des Geldes und des Erwerbes abzulösen.

Es ist kein einziger heller unbesorgter Tag in ihrer Existenz, und es wäre entsetzlich, ihr Schicksal nachfühlend zu beschreiben, wäre das Leiden nicht die Kraft ihrer Seele und der rauschende Quell ihres Gedichts.

Menschlichkeit

»Peut on être juste et ne pas plaindre
tout ce qui respire? De là souvent ces élans
d'imprudente piété qui m'ont fait croire
à des fausses larmes. J'aime mieux en
avoir été victime que sentir mon cœur
se briser.«

Die Leidenden allein wissen um das Leiden: überall erkennt darum Marceline Desbordes-Valmore mit schwesterlichem Blick jedes irdische Unglück. Über sie, die von Sorgen fast Erdrückte, schütten noch alle andern ihre Sorgen hin. Kaum weiß sie selbst, wie für den nächsten Tag das Brot für sich und ihre Kinder zu schaffen, und noch drängt der Bruder, der entlassene Soldat, der arbeitslose Oheim, der greise Schwiegervater um Geld an sie heran. Und sie gibt, ehe sie sich selber nimmt. In allen Vorzimmern der Ministerien kennt man sie, die ewige Petentin. Bald bettelt sie für eine arme Witwe, eine entlassene Schauspielerin, bald fordert sie Befreiung eines armen Sträflings, bald rennt sie die Sohlen durch um 500 Franken für die Heimreise eines jungen Italieners – nie aber bittet sie für sich. Man lese ihre Briefe: ununterbrochen ist sie, die selber Notleidende, Fürsprecherin alles irdischen Elends; alle ihre literarischen Verbindungen nutzt sie einzig, fremde Not zu erleichtern.

Denn fremde Not ist ihr härter als die eigene. Als in Lyon der Aufstand ausbricht, schreibt sie die wunderbaren Worte: »Man errötet, daß man zu essen, daß man warm und zwei Kinder zu haben wagt, während die anderen nichts besitzen.« Alle Härte des Gerichts, jedes Urteil ist für sie, die nur Milde kennt, ein nie zu beschwichtigendes Entsetzen. »Wenn ich ein Schafott sehe, verkrieche ich mich unter die Erde und kann nicht essen, nicht schlafen.« Und als der Zufall will, daß sie bei ihren hundert Quartieren einmal gegenüber einem Gefängnis wohnt, wagt sie keinen Blick mehr aus dem Fenster. Nie kann sie begreifen, daß man bestraft, statt zu verzeihen. »Um sechs Franken willen, um zehn Franken willen, wegen eines Zornausbruches, für eine fieberhaft geäußerte Meinung schickt man Menschen in die Galeeren!« Ihr Herz kann das nicht verstehen: ihr sind im russischen Sinn alle Übeltäter nur »Unglückliche«, und allem Unglück fühlt sie sich verwandt. Darum verwendet sie, die Gehetzte, die Gejagte, noch ihre ganze Willenskraft, um zu helfen. Sie dringt einmal in einem Gefängnis bis zum Direktor vor, um Entlassung für einen Sträfling zu verlangen; und als sie das Haus mit den Riegeln und vergitterten Gelassen mit guter Botschaft verläßt, atmet sie auf: »Ich fühlte mich wie im Himmel, als ich das Haus verließ.« Sie bettelt bei Theatern um Rollen für Zurückgesetzte, bei dem König für eine Witwe; und als Martin, ein Landsmann von ihr, Minister wird, schreibt sie ihm im Patois seiner Heimat, um ihn milde zu stimmen. Sie steht müde und krank von ihrem Bette auf, um einem Freunde einen verfallenen Pfandbrief zu retten: jeder Appell an das Mitleid reißt eine Kraft aus der Hinfälligen unverweigerlich empor, denn hier fühlt sie sich angerufen im wahren Namen und Kern ihres Wesens. Trösten ist ihr ein vitales Bedürfnis: im Wohltun strömt sie die ganze überschwengliche Gefühlsmacht, die einmal der unselig Geliebte verachtet, nun auf alle Verachteten aus.

Dieser Blick für das Leiden ist unvergleichlich bei Marceline Desbordes. Man lese ihre Schilderungen Italiens: zum erstenmal betritt sie Mailand, aber sie sieht nicht die marmorn gepflasterten Straßen mit den Karossen wie Stendhal, nicht die amoureuse wollüstige Luft des Südens: ihr erster Blick sieht die vielen Bettler an den Kirchentüren, die zerlumpten Kinder, die Elendsquartiere, sie durchschaut den Jammer, der unter diesem Luxus sich scheu verbirgt. Und in den Kirchen ergreift sie nur die Darstellung des leidenden Christus und die heilige Demut der Märtyrer. Irgendeine urtümliche Einstellung wendet ihren Blick immer den Geprüften zu: sie hat keine Wahl, denn sie sieht nur durch Ergriffenheit. Bei den Aufständen steht ihr Herz zu dem ewig besiegten Volke, bei dem »herrlichen, dem sublimen Volke«. »Armes Volk,« schreit sie einmal auf, »so voll Zuversicht und Frömmigkeit, es hat auch diesmal nichts erhalten als das Recht, für seine Kinder zu sterben ... Wir gehören zum Volk durch unser Elend und unsere Überzeugung.« Nur die Zurückgestoßenen liebt sie wahrhaft, die selbst Zurückgestoßene. Und vielleicht weil sie so zärtlich, so wissend das Leiden fühlt, kommt gleichsam angelockt immer wieder von allen Seiten alles Unglück zutraulich zu ihr. Sie ist die Beichtigerin ihrer Freundinnen, die Trösterin ihres Mannes, dem sie über seine theatralischen Niederlagen mit rührender Lüge hinweghilft; immer ist ihre Wohnung überschwemmt von Menschen, die von ihr, der Ärmsten, noch etwas begehren, zumindest die Wohltat ihres Mitgefühls. »Jede Kleinigkeit von dem, was Dich quält, ist mir wichtig«, schreibt sie einmal einer Freundin – wahrhaftig, sie hat geradezu Durst nach tröstender Tat und saugt mit unendlicher Liebeskraft alles Leiden an sich. Trotz der eigenen Fülle und Überfülle hat sie noch immer Raum für andere Not und immer Tränen bereit; fast scheint es, daß sie sich von ihren Sorgen nur rettet durch das Mitgefühl. Vermöchte sie nicht immer in fremde Not zu entfliehen, sie erstickte an der eigenen.

siehe Bildunterschrift

Hilaire Ledru: Marceline Desbordes
Gemälde um 1840

Niemals aber kann der oft erlittene Undank oder ein Unrecht ihre milde und duldende Seele zu Zorn auftreiben. Sie ist unfähig jeder Erbitterung. Man weiß, wie sie Olivier verziehen, der sie ins Elend stieß; und selbst gegen jene, die ihr wahrer Widerpart sind, gegen die Reichen, gegen die Hartherzigen, gegen die Selbstsüchtigen ballt sie niemals die Faust. »Ah, die Reichen, die Mächtigen, die Richter,« so schreit sie einmal auf, »sie gehen ins Theater, nachdem sie eine Todesstrafe ausgesprochen haben.« Nur diesen Schreckensruf hat sie, aber keine wirkliche rachgierige Empörung, weil sie nicht hassen kann und weil sie diese Art Menschen einfach nicht versteht. Sie sind ihr fremd, alle die nicht Mitleid kennen, die nicht geben – »nein, die Reichen fühlen nicht mit uns, Pauline,« schreibt sie an ihre Freundin, »die Reichen von heute kommen und erzählen einem mit so viel Rückhaltlosigkeit ihren eigenen Jammer, daß man gezwungen ist, mit ihnen mehr Mitleid zu haben als mit sich selbst.«

Nein, die Reichen fühlen nicht mit ihr, der ewig Entbehrungsvollen, und sie versteht die Reichen nicht. Sie versteht nie und nie einen Menschen, der sich verwehrt und verhält, der sich nicht ausströmt in der weichen Lust des Helfens und Gebens. Und aus ihrem ewigen Elend staunt sie nur fremd, ohne Haß, ohne Bitterkeit zu diesen Kalten und Versperrten empor wie zu Wesen, die nicht ganz ihresgleichen sind, weil ihnen gerade das fehlt, was sie als ihren einzigen Reichtum empfindet: die strömende Barmherzigkeit, das ewig sich verschenkende Gefühl. Und zutiefst in ihrem innerlichsten immer verzeihenden Herzen bemitleidet sie vielleicht sogar die Mitleidslosen als die Ärmsten unter den Armen.

Die Dichterin

»Moi seule en mon chemin et pleurante au milieu,
J'ai dit ce que jamais femme ne dit qu'à Dieu.«

Entrechtete des Schicksals, Enterbte des Glücks, »Paria der Liebe«, war Marceline Desbordes-Valmore auch als Dichterin nicht begütert. Die fürstliche Schatzkammer der Sprache blieb ihr ein Leben lang verschlossen. Nie kann sie den heißen Leib ihres Gedichts mit den funkelnden, glitzernden, schillernden Edelsteinen seltener Worte, den kunstvollen Spangen ziselierter Fügungen, dem uralten Kronschatz ererbter und erworbener Kultur schmücken. Sie hat nichts, um ihrem Gefühl Befreiung zu kaufen, als die kleine Münze der täglichen Sprache, das Diktionär eines Bürgers, beinahe eines Kindes. Marceline Desbordes-Valmore ist Autodidaktin und ihre Bildung eher unter dem Mittelmaß der Zeit. In ihrer kurzen Jugend hat sie wenig gelernt, spät ist sie zur Schule gekommen: »A dix ans je ne savais rien que d'être heureuse«, und früh schon von der Kindheit ins Leben gerissen, haben ihr Not und Sorge die Bücher aus der Hand geschlagen. Niemals ließ ihr das Schicksal genügend Ruhe, ihre Bildung zu bessern. Nicht einmal das Geringste, die Rechtschreibung, bemeistert diese große Dichterin. Ein gut Teil ihrer Verse mußte erst für den Druck nachgefeilt werden, und in ihren Briefen wimmeln sprachliche Fehler wie Fische im Bach. Jedes Fremdwort wird ihr zur Klippe. In einem Briefe schreibt sie einmal von den Äquinoktien, die die große Hitze verschuldeten, und fügt in ihrer Demut dem raren Wort voll Besorgnis die Entschuldigung bei: »Ich habe das von andern gehört, denn du weißt ja, ich bin nicht gebildeter als die Bäume, die sich heben und neigen, ohne zu wissen warum.« Marceline Desbordes-Valmores Kunst ist kunstlos. Ihre Reime sind kärglich, die Bilder kaum andere als diejenigen, die man bei Blaustrümpfen und Dilettanten findet, die süßlich romantischen Vergleiche von der Blume, die sich im Winde wiegt, der Rose, die sich entblättert, der Schwalbe, die sich ihr Nest sucht, dem Blitz, der aus heiterm Himmel zuckt. Sie ist wenig vielfältig in den Versformen, und schon das Sonett ist ihr, der Armen im Reime, zu schwer. Sie ist mittellos in ihrer Kunst, sie hat nichts als die abgegriffenen Kupfermünzen der täglichen Sprache, um sie gegen ihr Gefühl zu tauschen, das kostbare; sie hat nichts als die schlichten Worte, wie Rilke sagt: »die im Alltag darben«, die kleinen, die einfachen, die wundervollen Worte, »les mots, les pauvres mots, les mots divins, qui font pleurer.« Auch ihren dichterischen Besitz schafft sie sich ganz allein; nicht die Sprache ist es, die sie zur Dichterin macht, die von Fremden übernommene, sondern nur das, was sie der eigenen Brust entäußert, ein unendliches Gefühl und dann, jene höchste Macht ihres Wesens: die Musik.

Marceline Desbordes-Valmore ist ganz Musik, weil sie ganz Seele ist. Jene höchste Gewalt ist ihr geschenkt, jene irdisch-unirdische Gewalt, die aus den sieben Tönen, aus der Oktave, das Weltall des Empfindens aufbaut. Die kältesten, die nüchternsten Worte werden transparent und durchleuchtend von dem feurigen Rhythmus des Gefühls. Nichts ist Bau, Umriß, Bildung, Nachahmung, Problem, Konstruktion in ihren Gedichten, alles fließend, schwebend, aufklingend, schwingend, alles ist Musik, Verklärung. Sie durchseelt den ärmsten Reim, das schlichteste Wort, sie bindet das mit Mühe Gefügte in ein seliges Band.

Musik ist der Sinn, Musik auch der Anlaß ihrer Dichtung. Denn nicht Ambition, nicht Nachahmung hat sie wie die meisten der Poesie zugeführt. Marceline liebt als junges Mädchen die Gitarre. Ihr feines Gehör behält die Melodieen, die sie im Theater, die sie auf der Straße gehört, und zu arm, die Texte, die Bücher zu kaufen, dichtet sie sich selbst zu Hause in den vielen einsamen Stunden melancholische Romanzen und kleine Lieder zu der innen nachklingenden Melodie. Unmerklich, ganz unbewußt wie die Blumen auf den Feldern empor zu Gott blühen, wächst aus diesem arglosen Spiele die ernste Neigung, die Leidenschaft zum poetischen Bekenntnis. Und wie dann ihre Stimme matter wird und sie dem Gesang entsagen muß, flüchtet sie ganz hinüber von dem gesungenen in das geschriebene, in das gesprochene Wort. »Die Musik begann in ihr,« schreibt Sainte-Beuve, »sich von selbst in Dichtung zu verwandeln, die Tränen sanken nieder in ihre Stimme, und so entblühten die Verse eines Tages von selbst ihren Lippen.« Sie dichtet jahrelang nicht für die Welt, sie singt bloß ihr eigenes Leid in Schlaf, »pour endormir son pauvre cœur«. Die Mutterlose und Kinderlose, die Fremde in der Liebe ersinnt sich selbst die Tröstung im Lied.

Sie weiß es selbst kaum, daß sie dichtet, und hat es ein Leben lang nie verstanden, daß sie »Dichterin« war. Es drängt in ihrer Brust, Schmerzen quellen auf und drohen die Brust zu sprengen, sie steigen empor und würgen die Kehle, aber ihren Lippen sind sie schon Melodie. Sie seufzt, sie weint, sie betet, sie klagt in ihren Gedichten, und was andere Frauen in den Kirchen ihrem Beichtiger vertrauen, was in Küssen erlöst wird oder in Klagen und Tränen einsam untergeht, alles das wird hier durch Musik der Seele Schwingung und befreite Melodie. Sie erzählt sich immer nur selbst, sie spricht Monologe aus der tiefen Traumhaftigkeit ihres Wesens und vergißt ganz, daß auch andere diese Stimme je hören könnten. Darum sind ihre Gedichte auch so unerhört aufrichtig, so ganz ohne Scham. Sie sind nur Durchbruch des Gefühls, Zerreißen der von Schmerz gespannten Hülle des Lebens durch innere Gärung. Diese Verse, oft sind sie nur Schreie, manchmal Klage, manchmal Gebet, immer aber beseelte Stimme. Sie sind nicht das Gefundene und Gefügte, sie sind das bloß Ausgeströmte, das Zufällige, denn Marceline Desbordes-Valmores Genie ist das der Unmittelbarkeit. Am Nähtisch hingesummt, zwischen der Arbeit und den Sorgen, oder abgestreift von den farbigen Flügeln des Traums, kommen ihr diese Verse zugeflogen, Schmetterlingshaft und leicht. Niemals sind sie durch die Magie des Willens hergezwungen, nirgends ist Schwere von Absicht in ihnen, kaum sind sie anderes als melodisch bewegte Luft. Das Gedicht »Ma demeure«, ist es nicht ein reiner Seufzer, verhauchend in Musik? Man höre es klingen, dies Trostgebet einer armen Seele:

Ma demeure est haute
Donnant sur les cieux,
La lune en est l'hôte
Pâle et sérieux.

En bas que l'on sonne,
Qu'importe, aujourd'hui?
Ce n'est plus personne
Quand ce n'est pas lui!

Vis à vis la mienne
Une chaise attend,
Elle fut la sienne,
La nôtre, un instant.

D'un ruban signée
Cette chaise est là,
Toute résignée
Comme me voilà!

Diese Aufrichtigkeit gibt ihren Gedichten höchsten und einzigen Wert. Eben weil diese Dichtungen nichts der Phantasie danken und alles dem Erlebnis, sind sie so frauenhaft. Es sind die Jahreszeiten der Seele, und nie seit Sappho hat man so tief und schön durch den Schleier der Dichtung in ein Frauenherz, nie so nackt eine Seele im Bade des Gefühls gesehen. Erröten, Zögern, Angst, Scham und Bedacht (sie spricht ja im Traum), all das ist ihr fremd. Wir lauschen wie in ein fremdes Zimmer diebisch hinein in ihr Leben. Aber sie, die Entschleierte, ist so rein, so edel und keusch, daß sie uns alle Beschämung des Lauschers erspart. Wir wissen von ihr tiefstes Erlebnis und wissen damit von allen Frauen durch diese eine, die aufrichtig war, und dem dichterischen Wert fügt sich derart ein unabschätzbarer dokumentarischer bei. Denn beispiellos in der Weltliteratur ist dies selige Wunder restloser Aufrichtigkeit, dem zu Dank man hier aus kleinen Liedern, Zeile um Zeile, ein Frauenschicksal, eine ganze Biographie aus Gedichten aufbauen kann, ohne daß sich irgendwo eine Lüge darin fände, eine Verschönerung oder Heuchelei. In tiefer Unbesorgtheit vermag man hier jenes Wunder der Kristallisierung des Gefühls zu betrachten, das sich sonst dem Tag und der Erkenntnis verschließt, die Mysterien der Schwangerschaft, die Schauer des ersten Liebesempfindens, das Grauen des Alterns, Schauer und Glück vor dem neuen Erlebnis der doppelten Liebesfähigkeit, die Qual der Entfremdung der Kinder durch das Leben, das Verströmen der sinnlichen Liebe in die Gottesliebe, in Religion. Nirgends in einem Dichter ist das Gefühl transparenter und so selbst Dichter gewesen als in den Versen der Desbordes-Valmore, und die Leugnung Sainte-Beuves ist ihr höchstes Lob: »Elle n'est plus poète, elle est la poésie même.« Sie ist selbst nicht die Dichterin, sondern das Gefühl dichtet gleichsam durch sie hindurch.

Musik hat die Dichtung ihr zugebracht, Musik trägt sie von ihr fort in die Welt. Freundinnen und Fremde vertonen ihre kleinen Lieder; sie staunt, sie will es nicht glauben, daß sie mit einmal beflügelt in die Welt wegstreben. Wie einst in der Liebe, so geht es der Glückentwöhnten auch im Ruhm, sie kann ihn nicht fassen, kanns nicht denken, daß diesen kleinen Versen, die sie zwischen der Arbeit, halb im Spiel, halb im Traum ersonnen, irgendein Wert, eine Bedeutung innewohnen könne. Die Dichtung, das war ihr doch nur ein Opiat, ein kleines Glück gegen die großen Schmerzen, eine Selbsttäuschung, der Liebe in Lust und Qual verwandt:

»Comme une douleur plus tendre il a sa volupté«, und nun kommen Menschen, große berühmte Dichter, und feiern dies als Literatur. Sainte-Beuve begrüßt die Verse mit einem Hymnus; Balzac, der freundliche Koloß, schleppt sich keuchend und dampfend die hundertdreißig Stufen zu ihrer Wohnung hinauf, um ihr seine Bewunderung zu sagen; Victor Hugo jubelt schon als Knabe ihr zu. Mit Tränen und Schauer wehrt sie alle Lobpreisungen als unverdient ab, fast fürchtet sie Hohn in dieser Werbung der Welt wie einst in jener Valmores. Kein Ruhm läßt sie diese tiefinnerliche Bescheidenheit je verlieren. Sie ist »stupide de joie«, wenn man ihr ein paar freundliche Worte sagt; und als Lamartine, der Berühmteste seiner Zeit, mit einem prachtvollen Gedicht sich grüßend an sie wendet, schauert sie zusammen wie unter Engelsruf. In dem Gedichte der Antwort, das die schönen Zeilen mit noch schöneren erwidert, lehnt sie allen Ruhm erschreckt ab:

»Oh n'as tu pas dis le mot gloire
Et ce mot je ne l'entends pas.«

Immer und immer wieder weist sie auf die Nichtigkeit ihrer kleinen Person hin:

»Je suis trop buissonnière, et ce n'est pas aux champs
Qu'il faut apprendre à moduler ses chants,
Il faut, ce qui me manque, une sévère école
Pour livrer sa pensée au vent de la parole.«

Vor dem kleinsten Dichter, dem letzten Dilettanten beugt sie sich und reicht gleichsam knieend Madame Tastu, irgendeiner Goldschnittlyrikerin, schülerhafte Huldigung. Ein ganzes Leben lang begreift sie nicht, was Literatur ist. In den dreihundert Briefen, die man von ihr kennt, mag man vergebens eine Zeile suchen, die diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten gilt, in wundervoll unzerstörbarer Naivität unterschätzt sie ihren eigenen Wert, wie sie den fremden erhöht. Latouche, den Autor der Fragoletta, diesen zweifelhaften Freund, nennt sie einen »homme d'immense génie« und fühlt sich ihm ein Leben lang verpflichtet, weil er die Silben in ihren Versen nachzählte und ihr einen Verleger fand. Auch hier ist sie immer die Gebeugte, die Hingegebene – »née à genoux«, wie sie einmal sagt. Selbst die Literatur vermag nichts gegen die beseelte Schüchternheit ihres Wesens.

Niemals, niemals kann sie das Wunder erfassen, daß ihr kleines enges armseliges Leben, ihre geknechteten scheuen Gefühle irgendeines andern Menschen Interesse und Neigung finden könnten. Es sind doch nur ihre Tränen, die hier im Verse überfließen, flüchtige Kristalle vom Widerstreit des äußern Lebensfrostes und innerer Glut, wie Eisblumen auf die Spiegelfläche ihres Schicksals hingezaubert. Und wirklich, »larmes et pleurs« sind die beiden Worte, die wieder und wiederkehren durch ihr ganzes Werk, der ewige Kehrreim aller ihrer Gedichte, Schmerz und Mißgeschick, die wirklichen Sterne ihres Lebens, sind auch die einzigen Inspiratoren ihrer Dichtungen gewesen. Aber allmählich weitet sich das Gefühl, zweigt vom persönlichen Erlebnis ab und strömt über in das große Mitleiden. Ihr eigenes Leben löst sich in ein Weltgefühl. Der romantische selbstgefällige Schmerz, den sie unwillkürlich von schlechten Byronschen Nachbildern ihrer Zeit übernommen, erhebt sich durch eine innere Güte allmählich zum tragischen Glücksgefühl, und gleichzeitig schwindet aus der Sprache aller romantische Bombast. Ihre Stimme, die leise klingende, wird stark im Anruf der andern; Schwesterschaft mit aller irdischen Qual läßt sie in ihren späteren Versen ein erhebendes Pathos finden. In Versen ruft sie alle Erniedrigten an:

»Vous surtout qui souffrez, je vous prends pour mes sœurs,
Pleureuses de ce monde ou je passe inconnue.«

Alle Mütter fühlt sie klagen in ihrer eigenen Stimme, alle Tränen der Welt strömen den ihren zu, tausend Seufzer beschwingen ihr Gedicht. Und in Lyon, der Stadt im Aufstand, wird die Klage zur Anklage, der Ruf zum Schrei. Aus dem schüchternen Kinde, der Leichtverführten, ist durch Liebe die Frau geworden, und durch Mutterschaft und Schmerz wird sie Mensch und Mitmensch. Sie klagt an, die deutet mit zitternden Fingern auf die Kanonen, die lebende Menschen, Väter, Frauen und Mütter niederkartätschen, und unbewußt ruft eine bewegte Zeit sie zur großen sozialen Dichterin empor. Sie schildert das Elend der Arbeiter, den Hohn der Reichen und die Komödie der Gerichte, sie wendet sich an die ganze Menschheit und hebt ihre Stimme auf zu Gott. Alles Unglück hat in ihr Bruderschaft:

»Je me laisse entraîner où l'on entend des chaînes,
Je juge avec mes pleurs, j'absous avec mes peines,
J'élève mon cœur veuf au Dieu des malheureux,
C'est mon seul droit au ciel et j'y frappe pour eux.«

Ihre Liebe hat sich in Weltliebe verwandelt, alle Sentimentalität ist im Sturm des Schicksals weggeweht, und wenn sie die Stimme jetzt zur Klage erhebt, so gilt es längst nicht eigenem Schicksale mehr, sondern sie, die Demütige für sich selbst, spricht herrisch und kühn für die Menschheit. Laut, voll und drohend orgeln ihre Verse empor zu dem Schöpfer aller Qualen, zu dem Herrn des Schmerzes. Nicht die Frau spricht mehr von Sehnsucht und Entbehrung weiblichen Gefühls, sondern das Namenlose zum Namenlosen, und die letzten, die schönsten Verse der Desbordes-Valmore sind nur mehr Zwiesprache der leidenden Kreatur mit ihrem Schöpfer, mit Gott.

Die Frau

»Tant qu'on peut donner on ne peut pas mourir.«

Sie ist die wahre Frau, weil die Liebe der Sinn und die Tat ihres ganzen Lebens ist. Ihre Leidenschaft nährt sich nicht an der Gegenliebe, der zufälligen und unbegrenzten, sondern vom Liebesbedürfnis, dem in ihr unendlichen und unvergänglichen. Nicht von außen wird das Erlebnis, das einmalige, in sie geschüttet, sondern von innen quillt es empor, aus den unergründlichen Schächten ihres Herzens. Es ist da kein Anfang und kein Ende, alles strömt ineinander, gepreßt von den Zuflüssen der Seele, Kindesliebe, Leidenschaft, Gattentreue, Mutterschaft, um schließlich im Grenzenlosen der Gottesliebe zu münden, der sie unbewußt vom Anbeginn zugestrebt: »Seigneur qui ne cherchait l'amour dans votre amour.« Von einem Ende ihres Lebens bis zum andern flutet dieser Strom mit unablässiger Welle. Ihr Gefühl wird nie müde, sie läßt nicht ab, sich hinzugeben an ihren Gatten, an die Kinder, an die Freunde, an die Welt und an Gott. Immer bleibt sie die unendlich Ergriffene, die Schenkende, die Duldende, und wenn ihre Liebe wandert vom ersten Mann zum zweiten, von den Kindern zur Kirche, so ist diese Wanderschaft nur höchste Treue an ihrem innern Lebenswillen, der sich entäußern muß. Nie ist es das Geschehen, der Anlaß, immer nur das Gefühl, das ihr Erleben zur Größe spannt. Jener Verführer ist auf den Brettern ihres Lebens nichts als der Bote, der das Stichwort bringt und die Tragödie des Herzens anklingen läßt, dann tritt er ab und verschattet im Dunkel; aber das große Spiel, das die Liebe mit ihr begonnen hat, endet nicht mit ihm, sondern mit ihrem eigenen Leben. Sie, die Erweckte, singt Jubel und Schmerz unablässig aus erregter Brust, die Arie ihrer Seele hat kein Ende bis zum letzten Tag.

Ich weiß keine Dichterin, die so wenig Schauspielerin ihres Gefühls war als Desbordes-Valmore, die Komödiantin des Berufs. Sie ist nicht die Heroine (wie George Sand, wie Charlotte Corday, Jeanne d'Arc und Theroine de Méricourt), sondern nur die Heroische des Alltags, sie ist nicht die große Liebhaberin, die grande amoureuse (wie die Pompadour, wie die Lespinasse, wie Ninon de Lenclos), sondern bloß die Liebende und darum die Entsagende. Ein ganzes Leben opfert sie im Tempel ihres Herzens dem Gotte des Gefühls. Sie gibt klaglos alles, was sie ihrem Leben abringen kann: dem Geliebten ihre Reinheit, dem Gatten ihre tägliche Mühe und Kraft, den Kindern ihre Sorge, dem Gefühle die Verse und dem Himmel ihr Gebet. Sich versagen wäre für sie Sterben: »Tant qu'on peut donner on ne peut pas mourir.« Nichts behält sie darum für sich, und was ihr etwa zufällt, der Ruhm der Bühne und später jener der Dichtung, diese Geschenke des Schicksals weist sie wie eine Unwürdige ab. Die Ungeschmückte will sie bleiben, die Dienerin, die Magd fremden Lebens, sie will schenken und nicht beschenkt sein, ihr Geben nicht durch Gegengabe geschmälert sehen. Aus allen ihren Stunden, den dunklen und trüben, flicht sie Kränze für andere Stirnen und streut die Blüten ihrer Dichtung verschwenderisch auf den geliebten Namen. Das Glück der Beschenkten war ihr versagt; so sucht sie, wahre Frau, die sie ist von jener verwölkten Kindheit an bis zur Todesstunde, Kraft und Erhebung in einer beispiellosen Hingabe, in einer Hingabe ohne Frage, ohne Verpflichtung, ohne Bedingung, so wie sie einst nur aus Gebenslust sich dem fremden Manne hingab. Sie selbst hat das Glück verlernt und findet es nur in der Verwandlung, andere beglückt zu sehn. Immer tritt sie zurück, und wenn sie bittet, wenn sie zu Gott aufschreit, so ist es für den Gatten und für die Kinder, selbst klaglos bereit, zu verschwinden, zu vergehen, und ihr süßester Wunsch:

»D'être abeille et mourir dans les fleurs.«

Das Schicksal hebt sie nicht auf in seine seligen Arme, so bleibt sie zu seinen Füßen und demütigt sich, und allmählich wird ihr das Leiden nicht mehr der Feind, der sie überfällt, sondern der Freund, der getreue. Und will Freundliches ihr nahen, so fürchtet sie ein Fremdes, ihr nicht Zugeteiltes darin. Sie weicht scheu vor ihm zurück. Immer wenn es naht, wenn Valmore um sie wirbt, wenn ihren Versen ein freundliches Wort gesagt wird, so schauert sie zusammen, sein Nahen bringt ihr Angst:

»Je tremble d'être heureuse.«

Ihr Glück, das weiß sie bald, sind die Tränen, und sie liebt sie wie ein Glück, dem entfremdet zu werden sie sich fürchtet. Allmählich mischt sich Süße in ihr Erleiden, und ohne Zwang, aus innerster Lebensnot, wird sie Meister ihres Schmerzes und selig im Leiden. Ähnlich wie es in Gottfried Kellers Versen heißt, darf sie von sich sagen:

»Ein Meister bin ich worden
zu tragen Schmerz und Leid,
und meine Lust zu leiden
ward meine Seligkeit.«

Dulden ist ihre wahre Welt, und ihre Klage verwandelt sie in Gebet: »Prier ce sont nos armes«, sagt sie von sich und allen Frauen, weil sie erkennt, daß die Frau nur durch Leiden und nicht durch Lust in die große Gemeinsamkeit eingefügt ist, daß Empfangen ihr Erleiden sein muß und in alle Süße des Körpers und der Seele ihr Schmerz unverweigerlich gemengt ist.

Kein neues Unglück kann sie darum irremachen: ihre Liebe ist nicht abzutöten, ihr Gefühl nicht zu zerstören. Bei der ersten Enttäuschung schrie das gequälte Herz noch auf, zu neu war ihr der Schmerz. Aber schon damals war es nur erschreckte Klage, nicht Zorn und nicht Anklage, schon damals suchte sie alle Schuld in Bestimmung, in Selbstschuld zu verwandeln:

»II me faisait mourir et je disais, j'ai tort.«

Schon damals verzeiht sie ihm, sie verzeiht der Freundin, die ihn verlockt hat, denn sie muß sichs bekennen: »Je ne sais pas haïr.« Immer ist sie das Opfer, die Ausgenützte, aber darum nicht die Enttäuschte. Ihre Familie klebt parasitisch an ihrem Leben, aber nie hat sie es beklagt mit einem Wort. Latouche, der falsche Freund, sucht ihre Tochter zu verführen; und doch, wie dann Sainte-Beuve an seinem Todestage jenen Brief an sie richtet, schreibt sie in ihrem Briefe eine brennende Apologie. Ihrem Verführer findet sie das wundervollste Wort der Vergebung, das je eine Frau gesprochen:

»J'en parle à Dieu sans son injure
Pour que Dieu l'aime autant que moi.«

Für jeden findet sie eine Entschuldigung, und alle jene, die sie gequält und erniedrigt haben:

»Ceux qui m'ont affligée en leur dédain jaloux,
Ceux qui m'ont fait descendre et marcher dans l'orage,
Ceux qui m'ont pris ma part de soleil et d'ombrage,
Ceux qui sous mes pieds ont jeté des cailloux.«

für sie alle erhebt sie ihre Stimme zu Gott:

»Oh, qui se peut venger? Oh par votre abandon
Seigneur! par votre croix dont j'ai suivie la trace,
Par ceux qui m'ont laissé la voix pour crier grâce,
Pardon pour eux! pour moi! pour tous! pardon! pardon!«

Und auch ihm selbst, Gott, verzeiht sie, daß er ihr von fünf Kindern vier genommen, daß er seinen dunklen Engel gegen alle entboten, die ihr teuer waren. Nicht Klage richtet sie an ihn um diesen herbsten Verlust, sondern nur Bitte für andere Mütter, und es ist eine heroische Güte des Verzichtes in diesem Gebet:

»Oh Sauveur! soyez tendre au moins aux autres mères
Par amour pour la vôtre et par pitié pour nous,
Baptisez leurs enfants de nos larmes amères
Et relevez les miens tombés à vos genoux.«

Er hat seinen ganzen Zorn gegen sie gesandt; aber sie, die Liebesreiche, vermag ihm nicht zu zürnen, und je mehr er sie züchtigt, desto glühender liebt sie ihn.

In dieser scheinbaren Schwäche, dieser grenzenlosen Selbstdemütigung ruht die Kraft, der wunderbare Heroismus der Marceline Desbordes-Valmore. Ihr Leben ist das einer Heldin, einer Heiligen, und Descaves findet ihr den schönsten Namen »Notre Dame des Pleurs«. Glut ist ihr Widerstand. So wie ihr magerer gebrechlicher Körper mehr als fünfzig Jahre sich, allen Krankheiten trotzend, weiterträgt, so überwindet ihr Charakter alles Unglück. Die Kraft anderer wird zu Taten und Worten, ihr Bestes an Kraft aber verzehrt sich im Schweigen, und alle Verse verraten zu wenig, was für Qualen sie litt in den täglichen Kämpfen und Tagwerken, in den Entbehrungen und Erniedrigungen, wie verzweifelt sie das Lächeln erkämpfte, das sie abends dem müden Manne entgegenbringt, und den Heroismus, viermal vom Totenbett ihrer Kinder noch einmal aufzustehen und nochmals in ein so furchtbares Leben hinein. Diese in tausend Stunden gestählte Kraft, gegen die Verzweiflung zu ringen und unentwegt sich der Liebe zu wahren, ist das Mirakel, das sie glühend erhält bis zum letzten Tag, das sie Dichterin sein läßt bis zum letzten Vers. Andern Frauen erlischt meist das Gefühl mit der Liebe, andern Dichterinnen kühlt die Leidenschaft aus mit dem Erlebnis, sie aber verwandelt und steigert grenzenlos ihr Gefühl. Vom Geliebten zum Gatten, vom Manne zu den Kindern und von den Kindern zu Gott trägt sie ihre Hingebung, aber niemals lischt die heilige Flamme aus. Alles, was das Leben in ihre Glut wirft, Ekel, Qual, Bitterkeit, es nährt nur ihr Lodern, und die Sechzigjährige dient ihr noch hingebungsfroher als die Halbwüchsige. Die Flamme, die, einst nur reichte bis zu den Lippen des Geliebten, ihre Kinder wärmte und den Gatten umschlang – in den letzten Jahren schlägt sie empor bis zu Gott und wird eins mit seiner ewigen Glut.

Marceline Desbordes-Valmores Leben führt über den Kalvarienberg aller Leiden; und damit sie auch das Höchste an Lust und Tiefste an Qualen kenne, drückt das Leben auf ihr blutendes Haupt die dunkle Dornenkrone der Mutterschaft.

Mater dolorosa

»Enfants priez pour moi, j'ai tant prié pour vous.«

Hingabe war ihres Lebens Sinn und die Mutterschaft darum ihre höchste Berufung. Hier war ihrer Opferfreude, der so oft verschwendeten, Beständigkeit geboten und ihres Empfindens fast religiöser Reinheit unschuldige Antwort. Hier durfte sie dienen ohne Ende und ohne Dank, ihr Blut mühen für eigenes Blut. Einzig in diesem weiblichsten der Gefühle lischt ihres demütigen Lebens Angst, die Unwürdige zu sein und ein Glück nicht zu verdienen. Die Verschüchterung ihrer Seele wird im Anblick ihrer Kinder von einem neuen Gefühl gescheucht: zum ersten Male begreift sie, daß Gott auch ihr, der Enterbten, gütig sein kann:

»Dieu dans ma pauvreté me laissait être mère.«

In dem Sturm ihres Lebens ist hier eine kleine Insel Seligkeit, und man kennt die Stimme, die sonst so sorgenvolle, nicht mehr, wenn Marceline von ihren Kindern spricht. Der Flor von Melancholie ist gesunken, und die Träne, die aufquellende, trübt nicht mehr ihre selige Melodie. Ein Jubel, den Liebe sie niemals lehrte, springt hoch:

»Un enfant! un enfant! ô seule âme de l'âme!
Palme pure attachée au malheur d'être femme!
Éloquent défenseur de notre humilité,
Fruit chaste et glorieux de la maternité,
Qui d'une langue impie assainit la morsure
Et de l'amour trahi ferme enfin la blessure!
Image de Jésus qui se penche vers nous
Pour relever sa mère humble et née à genoux.«

Diese brennende Mütterlichkeit umspannt die kleinen Leben von ihrer frühesten Stunde bis in die Mannheit, sie beginnt schon im Vorgefühl der Erwartung, sie flügelt ihrem Nahen schon voraus, und niemals hat eine Mutter für mein Empfinden ein schöneres Gedicht geschrieben, als sie zur Geburt ihres Sohnes Hippolyte. Das Mysterium der Schwangerschaft verwandelt ein tiefes Blutempfinden in eigenstes seligstes Erlebnis, sie mahnt – noch matt von Schmerzen, die längst verrauscht sind im Glück – das Kind an all dis süßen Sorgen der Erwartung, wie sie aus Gebeten Glied um Glied seines Körpers schuf, wie seine Sinne durchwebt sind von ihren Träumen und sein ganzes Leben glühend vorgeahnt aus ihren Wünschen. Die selige Stunde der Geburt beneidet noch die des dunklen Verbundenseins, und im schönsten Worte ergießt sich die ganze Glut ihrer Erwartung:

»J'aurais voulu voir Dieu pour te créer plus beau.«

Körper von Körper gelöst, senkt sie noch ihre Seele in die halbbewußte zurück und durchglüht sie mit Sorgen der Liebe. Und wie die Kinder dann aufwachsen, ist sie ihre einzige Dienerin. Sie wacht über ihren Schlaf und ihre Angst. Sie macht sich kindlich mit ihnen, ihre Verse lernen die Sprache lallender Lippen sprechen, sie erfindet, die Kindliche, ihrem Mädchen ein Gedicht zum Einschlafen, das unsterblich geworden ist in der französischen Literatur und das jedes Kind in der Schule heute mit seiner kleinen Stimme lernen und sprechen muß. Es ist das Gebet »L'oreiller«, das schönste Abendgebet der Welt:

»Cher petit oreiller, doux et chaud sous ma tête,
Plein de plume choisie, et blanc, et fait pour moi!
Quand on a peur du vent, des loups, de la tempête,

Cher petit oreiller, que je dors bien sur toi!
Beaucoup, beaucoup d'enfants pauvres et nus, sans mère,
Sans maison, n'ont jamais d'oreiller pour dormir;

Ils ont toujours sommeil. O destinée amère!
Maman! douce maman! cela me fait gémir.

Et quand j'ai prié Dieu pour tous ces petits anges
Qui n'ont point d'oreiller, moi j'embrasse le mien.
Seule, dans mon doux nid qu'à tes pieds tu m'arranges,
Je te bénis, ma mère, et je touche le tien!

Je ne m'éveillerai qu'à la lueur première
De l'aube; au rideau bleu c'est si gai de la voir!
Je vais dire tout bas ma plus tendre prière:
Donne encore un baiser, douce maman! Bonsoir!«

Noch ehe sie sprechen können, beseelt sie so ihre stummen Lippen in Musik. Und für den Sohn, wie er zum ersten Male zur Schule geht, schreibt sie jene entzückende kleine Erzählung vom »L'ecolier«, um ihn zum Fleiße anzufeuern; und die haben seitdem tausend Mütter tausend Kindern vorgesprochen, wenn sie zum erstenmal mit ihrem Ranzel zur Schule trotten. Sie muß sich nicht zwingen zu diesen Versen, sich nicht kindlich machen um der Kinder willen, denn sie selbst wird selig an diesen kleinen Strophen. In diesen Kinderliedern erwacht plötzlich etwas in ihr, das ganz vergessen und verschüttet lag: ihre eigene Kindheit. Von dem Lächeln der Kinder reflektiert eine Heiterkeit in ihr Leben zurück, sie findet in entzückenden melodischen Versen kleine schalkische Wendungen, ihr Herz, das verschattete, blüht wieder auf in Heiterkeit. Zum erstenmal atmet sie unbesorgt. Die Armut um ihr Leben trifft sie stark und gepanzert, denn' Mutterschaft, das neue Glück, umgürtet ihren Leib, der Tod kann ihr nichts mehr anhaben, das Schicksal hat keine Macht über sie. Jubelnd ruft sie aus:

»J'ai des enfants! leurs voix, leurs haleines, leurs jeux
Soufflent sur moi l'amour qui m'alimente encore;
J'ai, pour les regarder, tant d'âme dans les yeux!
Mon étoile est si bien nouée à leur aurore!
On m'a blessée en vain, je ne peux pas mourir:
J'ai semé leurs printemps, je dois les voir fleurir.«

Aber dieser großen Dulderin ist aller irdische Besitz nur als Pfand flüchtig gegeben, und sie muß ihn auslösen mit allen ihren Tränen. Der Tod steht zwischen ihr und dem Glück. Das erste Kind, das Kind des Unbekannten, hat ihr der Tod genommen, und auch das erste, das sie Valmore schenken darf, stirbt nach wenigen Wochen. Dann scheint das Unheil beschwichtigt mit diesen ersten beiden Opfern ihrer Liebe, drei werden den Verlorenen nachgeboren und überwachsen die Kindheit: Hippolyte ihr Sohn und die beiden Töchter Ondine und Ines. Zwanzig Jahre lang darf sie sich ihrer freuen. Sie zieht sie heran, und schon bringen sie Gefahr in ihr Leben. Ondine, die ältere, ein kokettes, kluges und ambitiöses Mädchen, wird von der Literatur lebhaft verlockt; Sainte-Beuve wünscht sie zur Frau, sie weist ihn zurück; aber mit einem Male muß Marceline entdecken, daß Latouche, der freundschaftlich in ihrem Hause verkehrt (in dem manche Biographen den Verführer, den »Olivier« Marcelines und den Vater ihres unehelichen Kindes sehen), sich mit allen Künsten bemüht, und nicht ganz vergeblich, die Nähe und Vertrautheit des Umgangs zu mißbrauchen. Aufgescheucht in ihrer Angst schreibt Marceline innige Briefe an ihre ferne Tochter, die erhalten sind und in rührender Fürsorge sie vor dem eigenen Schicksal warnen. An der Angst wacht noch einmal das Grauen der früh erlebten Leiden auf. Tage der Aufregung und Monate des Entsetzens stürzen jetzt in ihr Leben. Wie sie ihr Kindheitsglück im Betrachten verdoppeln durfte, will nun auch die Tragödie des grausamen Verführtseins im Kinde sich erneuern. Sie muß das Kind schützen, sie, die keine Mutter damals hatte, die sie zurückriß vor ihrem Elend, schützen (der Gedanke ist kaum zu fassen): vor vielleicht ebendemselben »Olivier«, dem gleichen Verführer oder zumindest der gleichen Verführung. Aber es gelingt, Ondine zu warnen und sie bald darauf mit einem einfachen und nüchternen, achtbaren Mann zu vermählen.

Zu retten, um sie zwiefach zu verlieren. Denn jetzt, da sie gesichert scheint, führt das Schicksal seinen ersten Schlag. Ines, die jüngere Tochter, stirbt mählich hin an Schwindsucht, dann folgt ihr im Tode das einzige Enkelkind, das Ondine geboren, und wenige Jahre darauf an der gleichen Krankheit, zur Verzweiflung der Mutter, Ondine selbst. Alle die Lichter, die ihr Leben erhellten, löschen aus mit ihren Augensternen, und ebenso, wie einst in der Liebe, sieht sie nun im Schicksal einen finstern Hohn, eine Ironie des Glückes, die ihr Herz zerschneidet. Ihre Krone rollt in den Staub, mit einmal ist sie »la mère découronnée«; ihr Stolz, ihr Vertrauen sind gebrochen, die sieben Schwerter der Madonna durchbohren jetzt ihre Brust. Und als wären diese teuren Existenzen gleichsam unterirdisch miteinander verwurzelt gewesen, so stürzt jetzt plötzlich der ganze Wall ein, mit dem sie ihr Leben gefestigt glaubte. Ihr Onkel, ihr Bruder, ihre Freundin sterben, fast alle zu gleicher Zeit, in diesen entsetzlichen Jahren: wie Niobe sieht sie, versteinert vor Gram, einen nach dem andern unter den Pfeilen des Schicksals sinken.

Vor der Liebe konnte sie flüchten, doch nicht vor dem Tod. Gegen ihn ist sie machtlos. Nun ist, sie fühlt es, alles endgültig verloren. Die Liebe ihres alternden Gatten vermag ihr, der weißhaarigen Frau, keine neuen Kinder mehr zu erwecken. Ihre Familie ist zersprengt, die Freunde entschwunden, nichts kann sie mehr begnaden auf dieser Welt. Aus dem Trümmerfeld ihres Lebens glüht ihre Sehnsucht jetzt nur den Himmel mehr an. Sie hat nur Gott mehr, um ihn zu lieben, und sie bietet ihm das einzige, das Letzte, was sie besitzt, ihren Schmerz:

»Je vous donnerai tant de larmes
Que vous me rendrez mes enfants.«

Zu ihm sprechen jetzt alle ihre Verse, zu ihm allein heben sich ihre Blicke. Die Erde hat für sie keine Heimstatt übrig, nur zurück will sie in die andere Welt, wo ihre Kinder sind und alles, was sie in diesen dumpfen Jahren geliebt. Verzweifelt pocht sie an die Himmelstür, sie weist ihre Wunden und ihre Armut:

»Ouvrez, je ne suis plus suivie
Que par moi-même et par la vie.«

Sie weist ihre Wunden, sie bietet ihre Tränen, all ihren Schmerz breitet sie ihm hin.

Ihr Leiden ist höchstes Anrecht geworden, und was einst ihre Seligkeit war, das nennt sie jetzt Gott als Sinnbild des äußersten Schmerzes, da sie empor will in sein Herz:

»Laissez moi passer – je suis mère.«

Hingang und Unsterblichkeit

»Moi je pars, moi je passe
Comme à travers les champs un filet d'eau s'en va;
Comme un oiscau s'enfuit, je m'en vais dans l'espace
Chercher l'immense amour, où mon cur s'abreuva.«

Sie ist nun eine alte Frau, allein in der Welt. Armut und Trauer umschnüren ihr enges Schicksal mit schwarzem Rand. Das Feld ihres Lebens ist nach sechzig Jahren Mühe brach geblieben. Umsonst hat die Pflugschar des Leidens ihr Leben durchpflügt, Sturm hat alle Saaten verweht. Eine letzte Freundin hat sie noch, und der schreibt sie in diesem Jahr das Geheimnis ihrer Entrücktheit: »Höre mich an, ich bin heute in die Kirche gegangen und habe dort acht Kerzen angezündet, acht Kerzen, arm wie ich selbst. Sie waren für acht Seelen, für meine Seele, für Vater, Mutter, Bruder, Schwestern und Kinder. Ich habe sie brennen gesehen und verbrennen und glaubte sterben zu müssen. Ich sage es nur Dir allein: es war ein Besuch bei Gott.« Aber bald hat sie niemand mehr für vertrautes Wort, auch diese, die Letzte, Pauline Duchambge, geht ihr voraus. Nur zu Ihm, der nicht antwortet und doch alles hört, geht jetzt ihre Klage. Alle Verse, die Marceline Desbordes-Valmore noch schreibt, die letzten begnadetsten Gedichte sind Zwiesprache mit Gott. Sie hebt ihr tränenüberströmtes Antlitz zum Himmel empor, um die Erde nicht mehr zu sehn, die alles Leben von ihr getrunken hat. Sie hat längst Abschied genommen:

»Tous mes étonnements sont finis sur la terre,
Tous mes adieux sont faits, l'âme est prête à jaillir.«

Jeder Tag ist ihr zur Last, und die sechzig Jahre stillen Leidens drängen sie nun ungestüm weg aus dieser vereinsamten Welt. Niemandem ist nun ihre Liebe, die unendliche, zu Dienst, und so fühlt sie sich ohne Sinn. Aus der Resignation wird Ungeduld, jede Stunde zwischen Menschen und Häusern Qual:

»De chaque jour tombé mon épaule est plus légère.«

Abgekehrt ist ihr Blick von dieser Welt und nur einzig in die Ferne gerichtet, in Zukunft und Vergangenheit.

So sieht sie Michelet »ivre d'amour et de mort«, trunken von Liebe und von Tod. Und aus dieser Trunkenheit entstehen ihre letzten Gedichte, die schon ganz entirdischt und von Gottesgefühl magisch durchleuchtet sind wie das Dunkel einer Kirche von farbig gebrochenem Sonnenlicht. Alles hat ihr das Leben entwenden können, nur nicht die Glut des Gefühls. Aber nicht wie eine Fackel flattert sie mehr in Leidenschaft, sondern brennt fromm und windstill wie ein ewiges Licht. »Mon âme n'est pas éteinte, elle est montée plus haut.« Durch die immer dünnere Hülle ihrer Körperlichkeit glüht heißer die Seele durch, kaum ist sie selbst es noch, die spricht. Immer ist sie in diesen Versen die schon Aufsteigende, die schon Befreite, immer schon nahe bei Gott und nahe seinem Herzen. Schauernd reicht sie ihm die »Couronne effeuillée« ihres Geschicks zurück:

»J'irai, j'irai porter ma couronne effeuillée
Au jardin de mon père où revit toute fleur;
J'y répandrai longtemps mon âme agenouillée:
Mon père a des secrets pour vaincre la douleur.

J'irai, j'irai lui dire, au moins avec mes larmes:
»Regardez, j'ai souffert ...« Il me regardera,
Et sous mes jours changés, sous mes pâleurs sans charmes,
Parce qu'il est mon père il me reconnaîtra.

Il dira: »C'est donc vous, chère âme désolée!
La terre manque-t-elle à vos pas égarés?
Chère âme, je suis Dieu: ne soyez plus troublée;
Voici votre maison, voici mon cur, entrez!«

O clémence! ô douceur! ô saint refuge! ô Père!
Votre enfant qui pleurait vous l'avez entendu!
Je vous obtiens déjà puisque je vous espère
Et que vous possédez tout ce que j'ai perdu.

Vous ne rejetez pas la fleur qui n'est plus belle;
Ce crime de la terre au ciel est pardonné.
Vous ne maudirez pas votre enfant infidèle,
Non d'avoir rien vendu, mais d'avoir tout donné.«

Ein Jahr noch weilt, sie, nur mit den Sinnen, auf der Welt, der sich ihr Gefühl längst entwand. Und endlich, am 23. Juli 1859, nimmt sie der Tod zu sich. Auf dem hohen Friedhof von Montmartre wird sie begraben, nahe bei Heinrich Heines Ruhestatt, und in Douai, dort in dem kleinen grauen Kirchlein, in. dem sie die Taufe empfangen und als Mädchen gespielt, spricht der Priester für ihre Seele das letzte Gebet. Aber in der dunklen und erhabenen Kathedrale des Ruhms lesen alle großen Dichter Frankreichs ihr die Totenmesse. Baudelaire, Samain, Victor Hugo, Anatole France, jeder sagt seine Litanei der Liebe als. Dank für die ihre, jeder spricht ihrer großen. Seele dichterisches Gebet, und das schönste vielleicht Verlaine:

»Telle autre gloire est, j'ose dire, plus fameuse,
Dont l'éclat éblouit mieux encore qu'il ne luit:
La sienne fait plus de musique que de bruit,
Bien que de pleurs brûlants écumeuse et fumeuse.

Mais la bonté du cur, mais l'âme haute et pure
Tempèrent ce torrent de douleur et d'amour
Et, se mêlant à la douceur de la nature,
A sa souffrance aussi, de nuit comme de jour

Promènent sous le ciel tout pluie et tout soleil
A chaque instant, avec à peine des nuances,
Un large fleuve harmonieux de confiances
Vives et de désespoirs lents, et, non pareil.

Il chante, l'ample fleuve au capricieux cours,
L'hymne infini de toute la tendresse humaine
Où la fille et l'amante et la mère ont leurs tours,
Où le poète aussi, dans l'horreur qui nous mène,

Vient mêler son sanglot qui finit en prière
Universelle, et la beauté même d'un art
Issu du sang lui-même et de la vie entière,
Rires, larmes, désirs et tout, comme au hasard.«

Jeder hat seine Flamme des Gedichts entzündet an der ihren, und so reicht eine leuchtende Kette von Versen von ihrer Welt herüber bis zu unserer Zeit. Allmählich erst blinkt Ruhm auf ihrem vergessenen Namen. Ihre Briefe entdecken die heroische Tragödie, die ihr unscheinbares, geknechtetes Leben selbst den Nächsten verschwieg, und weisen eine beispiellose Harmonie der Dichtung und des Lebens, einen Zwieklang voll Schmerzenssüße, wie ihn kaum eine Dichterin schöner aus ihrem Schicksal löste. Und wir erst, die Späteren, erkennen ehrfurchtsvoll das höchste Geheimnis ihres Lebens und ihrer Kunst, die edelste Formel des Dichters: das Leiden müde zu machen durch unendliche Liebe und die Klage tönend durch ewige Musik.


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