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Dritter Teil.
Autobiographische Fragmente


Marceline Desbordes-Valmore hat wenig Autobiographisches hinterlassen (außer ihren Gedichten und Briefen, die ja nichts sind als ein einziger leidenschaftlicher Selbstverrat ihres Lebens und Gefühls). Nie hat sie, die Bescheidene, ihr Dasein, ihr Werk für wichtig genug befunden, um es dokumentarisch zu erörtern oder festzulegen. Die folgenden biographischen Selbstdarstellungen sind darum nur Fragmente, aus Briefen und Werken beinahe zufällig gewählt: ihr ganzes tragisches Leben zu schildern, hat die Dichterin nur in Versen den Mut gefunden.

An Sainte-Beuve

Ich bin in Douai zur Welt gekommen, der Heimatstadt meines Vaters, am 20. Juni 1786. Ich war sein jüngstes Kind und das einzige, das blond war. Man begrüßte mich mit Begeisterung, entzückt über mein helles Haar, das man an meiner Mutter so bewunderte. Sie war schön wie eine Heilige, man hoffte, ich würde ihr völlig gleichen; aber ich habe ihr nur wenig ähnlich gesehen, und wenn man mich lieb hatte, so war es um anderer Eigenschaften als der Schönheit willen.

Mein Vater war Wappenmaler für Equipagen und Chorstühle. Sein Haus lag neben dem Kirchhof der kleinen Pfarrgemeinde Notre-Dame in Douai. Ich hielt es für groß, dieses liebe Haus, das ich mit sieben Jahren verlassen hatte. Seitdem habe ich es wiedergesehen, es ist eines der ärmsten in der Stadt. Und dennoch liebe ich dieses Wahrzeichen einer schönen, vielbeweinten Zeit über alles in der Welt. Ich habe nur dort den Frieden und das Glück gekannt, aber auch ein großes, abgrundtiefes Leid, als mein Vater keine Wappen mehr zu malen hatte.

Ich war vier Jahre alt, als der große Umsturz in Frankreich erfolgte (die Revolution von 1789). Zwei Großonkel meines Vaters, die bei der Aufhebung des Edikts von Nantes nach Holland geflüchtet waren, boten meiner Familie ihr ungeheures Erbe an, sofern man uns Kinder zum protestantischen Glauben übertreten ließe. Diese beiden Onkel waren hundertjährige Greise. Sie lebten als Junggesellen in Amsterdam, wo sie einen Buchverlag gegründet hatten. Sie haben auch von mir Bücher gedruckt.

Man hielt einen Familienrat. Meine Mutter weinte sehr. Mein Vater war unschlüssig und drückte uns ans Herz. Schließlich lehnte man das Anerbieten ab, um nicht unsere Seelen zu verkaufen, und wir verblieben in einer Not, die von Monat zu Monat grausamer wurde und zu solcher inneren Zerrissenheit führte, daß ich seitdem für alle Zeit schwermütig geblieben bin.

Meine Mutter, voll Mut und Unbedacht, ließ sich von der Hoffnung hinreißen, ihrer Familie das Dasein zu erleichtern, indem sie sich zu einer in Amerika lebenden und reich gewordenen Verwandten aufmachte. Von den vier Kindern, die vor dieser Reise zitterten, nahm sie nur mich mit. Ich tat es gern; aber als ich das Opfer gebracht, hatte ich für immer meinen Frohsinn verloren. Ich verehrte meinen Vater, als wäre er der liebe Gott selber. Die Städte, die Straßen und Hafenplätze, wo er nicht zu finden war, flößten mir Entsetzen ein; ich hing mich an das Kleid meiner Mutter, als wäre dort mein einziger Schutz.

Als wir in Amerika, in Guadeloupe, ankamen, war die Cousine inzwischen verwitwet und durch die Neger von ihrer Besitzung vertrieben; die Kolonie stand in hellem Aufruhr, und das gelbe Fieber herrschte überall. Die Mutter konnte den Schlag nicht ertragen. Sie starb – mit einundvierzig Jahren! Ich selbst an ihrer Seite war dem Tode nahe. Man führte mich fort, fort von dieser durch den Tod fast entvölkerten Insel, und von Schiff zu Schiff wurde ich meinen nun völlig verarmten Verwandten in Frankreich wieder zugeführt.

Damals war das Theater für sie und für mich eine Art Hilfsquelle geworden. Man lehrte mich singen. – Ich versuchte, die Muntere zu spielen, aber ich war besser in schwermütigen und leidenschaftlichen Rollen. Das entspricht auch besser meinem Schicksal. Ich lebte oft allein, weil es mir so gefiel. Man berief mich ans Theater Feydeau. Alles deutete auf eine glänzende Zukunft; mit sechzehn Jahren war ich Sozietärin, ohne es verlangt oder erhofft zu haben. Aber mein bescheidener Anteil beschränkte sich damals auf achtzig Franken im Monat, und ich kämpfte mit einer unsäglichen Armut.

Ich mußte meine Zukunftsaussichten der momentanen Not opfern und kehrte, im Interesse meines Vaters, in die Provinz zurück.

Mit zwanzig Jahren mußte ich dem Gesang entsagen, weil ich Schmerzen dabei hatte und weinen mußte – aber mein kranker Kopf war stets voll Melodieen, und ein immer gleicher Rhythmus gab, mir unbewußt, meinen Gedanken Form.

Ich mußte sie niederschreiben, um den fiebernden Klängen zu entgehen, und man sagte mir, es sei eine Elegie.

Herr Alibert, der meine sehr angegriffene Gesundheit zu heilen suchte, riet mir, da kein anderes Mittel helfen wollte, damit fortzufahren. Das versuchte ich, ohne je etwas gelesen oder gelernt zu haben, so daß es mir qualvolle Mühe schuf, meine Gedanken in Worte zu kleiden. Dies ist gewiß der Grund der Unklarheiten, die man mir zum Vorwurf macht, die ich jedoch selbst nicht beheben konnte. Ich änderte, ohne bessern zu können, und ich hatte nie die Kraft, mich mit diesen Aufzeichnungen von Dingen, die ich vergessen wollte, lange zu beschäftigen, – ich hatte so viel anderes zu tragen! Ich bin, wie jedermann, zum Leiden auf der Welt – und man sollte eher richtig denken, als richtig sprechen lernen. Wenn ich gut sprechen höre, fühle ich mich hingerissen, ohne mehr dabei zu empfinden als eine köstliche Träumerei. Zur Selbsterkenntnis aber hilft es mir gar nichts.

Allererste Liebe

Ich stand an der Tür des Elternhauses; es war nicht mehr Tag und noch nicht Nacht. Ich erblickte ihn durch den zarten Schleier, der zur Abendstunde in den Straßen schwebt. Seine Schritte eilten, wie ein Engelshaupt blickte sein Kopf mit den blonden Locken nach unserm Hause. Er kam aus dem Friedhof hinter unserm alten Wall; er kam herbei. Wir sahen uns ernsthaft an, wir sprachen leise und wenig. Guten Abend, sagte er, und ich empfing aus seinen Händen, die er mir hinstreckte, eine Anzahl großer Blätter; er hatte sie von den Bäumen auf dem Wall geholt, um sie mir zu bringen. Ich nahm sie mit Freuden; ich betrachtete sie lange, und ich weiß nicht, welche Verwirrung meine Blicke schließlich zu Boden zog. Sie blieben auf seinen nackten Füßen haften, und der Gedanke, daß er sich an der Baumrinde verletzt hatte, machte mich traurig. Er erriet es, denn er sagte: »Es ist nichts!« Wieder blickten wir uns an, und plötzlich grüßte ihn mein Herz: ich sagte mit schwacher Stimme, die nicht beben sollte: »Leb wohl, Henry!« Er war zehn Jahre alt, ich sieben.

Großer Gott! Welch einen Reiz behalten doch solche kindliche Freundschaften! Sein Bild ist meinem Gedächtnis mit derselben Frische eingegraben, die jene grünen Blätter ausströmten, als Henry sie in meine Hände legte.

Was ist aus Henry geworden? Von welchen Augen mag er das eingefordert haben, was er in meinen erstaunten und vertrauenden Blicken sah? Ich erinnere mich nicht, ob er schön war. Seine Züge, sein Mund sind mir entschwunden; nur seine Augen sprechen noch zu mir. In ihnen spiegelte sich unbewußt seine Seele. Die kurzen Worte, die er mit leiser Stimme hinwarf, – mein Ohr kennt noch ihren Tonfall, und jetzt weiß ich, daß sie mich ergriffen. Damals war mir das nicht bewußt. Ich stand nur und wartete auf Henry, ohne mich von der Stelle zu rühren, ohne den Kopf von jener Richtung abzuwenden, aus der er auftauchen mußte ... und er kam. Er kam immer, ohne mir je gesagt zu haben, daß ich ihn erwarten sollte. Das Glück segne ihn dafür!

Aus einer Autobiographie

Das gelbe Fieber, das bei Pointe-à-Pitre seine Verheerungen fortsetzte, fand nichts, was es mir noch nehmen könnte. Ich war allein und wollte mich auf einem Fahrzeug einschiffen, das, ehe es nach Frankreich segelte, zur Vervollständigung seiner Ladung in Basse-Terre vor Anker gehen sollte.

Es war Nacht, solch eine helle Nacht, die eine Gegend völlig verwandelt und aus einer Stadt eine ganz neue andere Stadt zu schaffen weiß. Der Anblick dieser hier war mir so unerträglich, daß ich, in dem Hause, welches mich nach dem Aufruhr und dem Tode meiner Mutter aufgenommen hatte, mich in einem dunklen kleinen Hinterzimmer verkroch. Ich wartete darauf, die alte Uhr an der Wand, die geräuschvoll die Sekunden tickte, die Stunde der Abreise schlagen zu hören. Da kam der Gouverneur und machte mir, zugleich im Namen seiner Frau, das Angebot, mich in seiner Familie aufzunehmen, damit ich zur Rückkehr nach Frankreich eine günstigere und ungefährlichere Gelegenheit abwarten könne.

Er benachrichtigte die Witwe, daß ich mich den Gefahren dieses Schiffes nicht aussetzen möge, das in der Tat recht gebrechlich und kaum mehr war, als ein großes, überdecktes Boot. Seine Ladung für Europa, bestand aus Stockfisch und Walfischtran, und an Proviant führte es nur einige Stücke Pökelfleisch und Schiffszwieback mit sich, den man mit dem Hammer zerschlagen mußte. Das Feuer im Kompaßhäuschen und in den Schloten war das einzige, was diese so lange Reise für uns erhellen sollte.

»Sie wird sterben,« sagte der Gouverneur zu der jungen Witwe, die bereits Tränen vergoß, – »ich sage Ihnen, Madame, sie wird sterben!«

Alle ihre Worte klangen durch die Bretterwand zu mir herüber, keins aber änderte meinen Entschluß, abzureisen. Man kam und holte mich; ich sollte selber Antwort geben. Ich weinte, aber nichts erschien mir so grauenhaft, als hier zurückbleiben zu müssen; so lehnte ich das Anerbieten ab. Ich glaube, ehe ich mich dazu entschlossen, hätte ich lieber dasselbe getan, was ein kleiner Negerjunge vom Hause versuchte, der mir bei der Abfahrt nachschwamm: ich wäre ins Meer gesprungen, im Glauben, in meinen Armen Kraft genug zu besitzen, um bis nach Frankreich zu schwimmen.

Das Entsetzen vertrieb mich von dieser bewegten Insel. Vor wenigen Tagen hatte mich ein Erdbeben, während ich vor dem Spiegel stand und meine Zöpfe flocht, aufs Bett niedergeworfen. Ich hatte Angst vor den Mauern, hatte Angst vor dem Rascheln des Laubes, dem Wehen der Luft. Die Vögel schienen mich zur Reise aufzurufen. Hier, inmitten eines ganzen Volkes, das nur den Tod oder die Trauer um Tote kannte, erschienen mir nur die Vögel lebendig, weil sie Schwingen besaßen. Der Gouverneur konnte keinen andern Dank von mir erlangen, als liebenswürdige Worte und einen Abschiedsgruß. Ich sehe noch immer sein bekümmertes Gesicht vor mir, als er ging, mich meinem Schicksal überlassend, das ihm verhängnisvoll zu sein schien. Es war das erstemal, daß ich selbst über mein Los entschied, und ich legte es allein in Gottes Hände, da ich keinen andern Herrn und Führer mehr besaß.

Um Mitternacht fuhr ich ab, und als die Trennungsstunde schlug, schickte die Witwe, die mich mit ihren Leuten begleitet hatte, die Dienerschaft nach Hause zurück und entschloß sich, mir auch für die Überfahrt von fünfunddreißig Meilen, die von der einen zur andern Insel zurückzulegen sind, das Geleit zu geben. Als die Matrosen mich ins Boot trugen, das uns zu dem auf der Reede liegenden Schiff hinführen sollte, hatte ich mir die Augen mit der Hand bedeckt, um die Tränen der herzlich guten Frau nicht sehen zu müssen. Zu meiner großen Überraschung fand ich sie dann neben mir im Boot; ruhig und zufrieden saß sie da, wie nach einem edlen, siegreich bestandenen Kampf.

Sie brachte mich bis nach Basse-Terre, wo sie Bekannte hatte; sie nährte noch immer die Hoffnung, mir eine angenehmere Überfahrt nach Europa beschaffen zu können. Wir mußten Tage lang warten, ehe wir in See gehen konnten, und während all der Zeit nahm sie mich innig in Schutz; wir betrachteten das Schauspiel, das uns auf allen Seiten umgab, und sprachen nichts mehr.

Auf der einen Seite breitete das uferlose Wasser seine ungeheure Fläche, schwarz und glänzend unter einem Mond, der sich in jeder irrenden Woge vervielfältigte. Vor uns entfaltete der Hafen seine stille Belebtheit, die nur am Tanz der Lichter von Schiff zu Schiff erkennbar war, und rückwärtsschreitend verließ ich ihn, um ihn lange vor Augen zu behalten, und er erschien mir ganz anders, als an jenem stürmischen Tag meiner Ankunft hier.

Mitten aus diesen Dingen, deren Bild mir unauslöschlich eingegraben ist, sah ich – mein Gott, ich hatte es mir oft geträumt! – sah ich meine Mutter mit ausgebreiteten Armen zu mir ans Land eilen ... Ich weiß keine Erinnerung, die trauriger wäre. Was bedeutet alles Folgende und wie ich heimgelangte, mein Los in Frankreich zu erfüllen, das mir alles, doch dem ich nichts war. Du Liebe zum Lande unserer Wiege, sei gesegnet, du süßes und trauriges Mysterium – gleich jeder anderen Liebe! ...

Aufzeichnungen aus Italien

Meine erste Sorge bei der Ankunft in Mailand war, zur Post zu eilen. Die Sonne, der Staub hatten uns durstig gemacht nach einem Brief von meinem Sohn und von Dir, und ich habe noch immer nichts vorgefunden, trotz der sechs Tage Reise-Verzögerung in Lyon und Turin. Ich werde Dir erst in einigen Tagen von jener Stadt berichten. Ein trauriges Herz verfinstert jede Schönheit. Ich wage augenblicklich nicht zu sagen, welchen Eindruck sie mir gemacht hat, sondern will es aufschieben, bis ich Eure ersten Nachrichten erhalten habe. Der Bericht würde heute ganz anders ausfallen.

Nach der langen Fahrt auf völlig schattenloser Straße in glühender Hitze waren wir von der Sonne verbrannt und glichen jeder einem lebendigen Staubhaufen. – Die Direktoren erwarteten uns freundlicherweise am Posthof und luden uns ein, andere Wagen zu besteigen, die uns mit solcher Schnelligkeit mitten durch die Stadt führten, daß es mir war, als würde ich von einem Traum gefächelt.

Alle Straßen sind mit blauen Quadern eingefaßt, die nur für Fußgänger bestimmt sind, so daß man beim Spazierengehen die Häuserwände streift. Die Straßenmitte gehört den Wagen, deren Eleganz bemerkenswert ist. Viele haben vier Pferde, Wagenzier und reiches Zaumzeug. Die Damen sitzen zur Schau wie in den Logen, sehr würdevoll und mit viel Geschmack gekleidet. Vor allem wissen sie sich mit ihrem meist schönen Haar wundervoll zu schmücken: sie lassen es von der Schläfe bis zur Brust in langen Ringeln niederfallen, denen sie, trotz der ungewöhnlichen Hitze, der sie sich aussetzen, Haltbarkeit zu verleihen wissen. Ich habe viele entzückende Frauen gesehen ... Ihr Blick ist auf der Promenade kalt und hochmütig, ihre Haltung aufrecht, frei und würdig.

Die Bevölkerung scheint in zwei Gattungen zu zerfallen, die voneinander sehr verschieden sind: die eine gesund, hochgewachsen, vollkommen; die andere verkrüppelt, elend, schleppend. Vor den Türen, auf den Wegen, in den Kirchen – überall mißgestaltete Zwerge, mit Kröpfen behaftet oder verkrüppelten Gliedern, die sie auf Krücken stützen. Es ist für alle, die nicht durch die Gewohnheit abgestumpft sind, ein trauriger Anblick. Unter der ärmeren Klasse sind nur wenige Familien von der Heimsuchung verschont. Zum Glück knüpft sich daran ein frommer Aberglaube; man hütet diese Unglücklichen als den guten Genius der Familie, der die bescheidene Gestalt angenommen hat, um das Haus vor allem Unheil zu bewahren.

... Unser Hausherr führte uns eines Abends zur Kirche San Ambrosio, die so hochberühmt ist, daß wir sehr danach verlangten, sie zu sehen.

... Ich glaubte, wie damals von Santa Maria, gleich beim ersten Anblick ergriffen und geblendet zu werden von dem leichten, aufstrebenden Schwung des Bauwerks – das ist aber nicht so. Alles ist streng und düster; man glaubt in die frühen Mysterien des Christentums einzutreten. Das Kloster, das die Kirche umgibt, die nackten Mauern, die Höfe, in denen das Unkraut wuchert, die kaum noch erkennbaren Freskomalereien, die gotischen massiven Tore – alles zeugt von den Kämpfen, denen die Religion in ihren Anfängen ausgesetzt war. Ich glaubte mich unter der Erde zu befinden, gleichsam erdrückt von den vierzehn Jahrhunderten, die diese Kirche bedrängt haben, die sich dennoch unerschütterlich zu halten weiß. Man berichtet, daß eine eherne Schlange, hoch oben auf einer Marmorsäule, sich aufgerichtet und die Geburt des heiligen Ambrosius verkündet habe. – Zwei eiserne Portale bieten alles, was Menschenarbeit Wundersames leisten kann: Kunst, Ausdauer, glühende Gottesverehrung sprechen aus jeder, mit unbeschreiblicher Feinheit ziselierten Gruppe. Man ist ein Nichts vor solchen Dingen. Ihre Besitzer kennen ihren Wert so gut, daß sie diese Wunder der Kunst hinter doppelten Gittern und zweimal verschlossenen Türen verwahren. Eins der Schlösser ist ein Löwenkopf, und der Schlüssel wird in sein Maul gesteckt ...

Alles, was ich an Musik in Mailand höre: abends im Theater, in den Schulen, den Kirchen, bis hinauf zum Klang der Glocken, ist weit entfernt von Träumerei und sanftem Leid: alles hat den Charakter eines a cantate, einer Bravour-Arie, und es ist kein leichtsinniges Urteil, das ich da ausspreche. Die Stimmen der Leute, so ansprechend in Béarn, so feierlich in Deutschland, sind hier fast ebenso roh und kreischend wie in Lyon; das Land der Falschsinger und Schreier – bis auf einige schöne Ausnahmen. Wenn ich Dich hier hätte, so würde ich Dich vor allem in den Dom führen und rund um die Stadtmauern, von wo man allerorten diesen Dom wie eine köstliche Vision erblickt ...

Ich beginne stündlich ein paar Aufzeichnungen für Dich, und ich werde durch tausend kleine Pflichten, die mich nicht aufatmen lassen, daran gehindert. In Paris war es die Hausglocke, die mich jeden Augenblick aufscheuchte, um die oft so öden, so anstrengenden Besuche über mich ergehen zu lassen, denen ich mich nicht entziehen konnte, weil mein Dienstmädchen ein zartes Gewissen hatte und ihr Seelenheil nicht mit der Lüge, ich sei nicht zu Hause, aufs Spiel setzen wollte. Hier bin ich davor geborgen, keine Seele sucht mich. Das Läuten der Glocken, das Krähen der Hähne, die Schüsse in den Trauerspielen des Theaters – aus dessen Wandelgängen man in dasselbe Gärtchen hinuntersieht, das unten vor meinem einzigen Fenster liegt –, das ist die ganze Begleitung zu dem immer eiligen Takt meines Herzens, das stets voll Liebe für Dich ist; aber ich muß mich oft bescheiden, an Dich zu denken, ohne zum Schreiben Zeit finden zu können. Wir haben keine Hilfe im Haushalt, und meine Tage erschöpfen sich in dieser Tätigkeit, die mir in ihrer vollen Schwere nicht leicht wird, denn die Hitze ist ungeheuer und der Mangel an Küchengeräten groß. Oft, wenn ich durch die Straßen irre, auf dem Wege zur Post oder sonstwohin, verweilt meine Vorstellung bei der seltsamen Lage, in der ich mich mit meiner Familie befinde. Da vor allem mache ich von der traurigen Freiheit Gebrauch, herumzulaufen, zu reden, zu weinen, während ich durch verlassene Gassen eile, vorbei an fremden Häusern bis zu einer gastlichen Kirche, in die ich mich flüchte, als suchte ich durch eine Hintertür im Hause meines Vaters Zuflucht. Hier bin ich gewiß, daß man mich hört. Ich werfe mich auf die Kniee, schlage das Kreuz und verweile kummervoll auf diesen Marmorfliesen, von denen niemand mich vertreiben darf – das ist eine große Gnade, die ich mit Dir teile, denn Dein Herz ist in mir. –

Würdest Du die Kirche San Popolo sehen, Du würdest sie nie vergessen. Da ist eine Darstellung der Szene, wie Jesus den Aposteln die Füße wäscht, halbkreisförmig im Hintergrund eines Altars; dieser Hintergrund wirkt wie ein wirkliches Zimmer, worin die zwölf in Holz geschnittenen Gestalten in Lebensgröße einen so packenden Eindruck machen, daß man zu sehen meint, wie sie sich bewegen. Die gegenüberliegende Kapelle zeigt Jesus vor den Richtern. Ich begreife die Macht solcher Darstellungen, aus denen die wahre Kunst uns grüßt. Ist nicht eine meiner unauslöschlichsten Erinnerungen die an den gegeißelten Heiland, der hinter der verlassenen Kirche, in der ich sechs Jahre früher die Taufe empfangen hatte, im Grase lag? Und dann im Hofe eines Franziskanerklosters, wo wir Verstecken spielten, eine Mutter Gottes mit den sieben Schmerzen, eine Holzfigur, die hinter einem Gitter stand und mir so voll Leid erschien, daß ich ganze Stunden dort in Betrachtung verbrachte und in mir ihren Schmerz nachzufühlen vermeinte ...

Drei Priester singen und tragen drei brennende Kerzen durch den Tag. Ein Priester eröffnet den Zug mit einem goldenen Kruzifix. Ein Mann folgt, mit einer kleinen lackierten Kiste auf dem Rücken; sie ist von grüner Farbe, und ihre Form ist nicht so bedrückend wie jene, die wir in Frankreich unsern Särgen geben. Das war der Leichenzug eines armen Kindes aus dem Volke, dem wir durch die Straße folgten, dem »Borgo di Porta Romana«. Das Volk drängte sich in den Straßen, sang, schrie und rannte durch Staub und Sonne, und die Menge, die Platz machte, um den Priester vorüber zu lassen, hatte kein Auge für den armen kleinen Sarg.

Am andern Tag zog an der nämlichen Stelle eine lange Reihe von Priestern mit Fackeln vorüber, die mit trauriger Ohnmacht gegen die Strahlen der vollen Sonne ankämpften. Frauen, Männer, Kinder, mit brennenden Totenkerzen in den Händen, überfluteten singend die Straße. Inmitten dieses Geleites und unter einem weißen Schleier, dessen Enden von acht kleinen Klagemädchen getragen wurden, schwebte ein leichter Sarg dahin, bedeckt von weißem silberbestickten Atlas und wundervollen Blumenkränzen. Die jungen Mädchen, die Trägerinnen dieser Last, lächelten und lachten; sie waren festlich gekleidet und trugen strahlend weiße, mit Perlen und Bändern verzierte Schleier. Diesmal war es eine reiche Mutter, die weinte. Wir beteten auch für dieses Leid, das für jedes Mutterherz gleichermaßen schmerzlich ist.

Gestern, am 22. August, hat uns Valmore spazieren geführt, und wie stets, begannen wir den Weg mit einer Kirche, diesmal der Passionskirche ...

Was in diesem düsteren und geheimnisvollen Bau am meisten fesselt, das ist ein doppelter Sarkophag aus weißem Marmor, auf ungeheuren Löwenfüßen ruhend, der sich unter der dunklen Kuppel vor der Sakristei erhebt. Die ganze Struktur dieser beiden Zwillingssärge, die sich übereinander erheben, ruft den Geist zur Sammlung und schmerzlichen Bewunderung. Wir konnten uns nicht losreißen ... Während die Arbeiter auf den Gesimsen und den Sockeln der hohen Statuen standen und die schwarzen, mit gelben Tressen umsäumten Draperieen herunternahmen, die auf den Hallenboden niederrauschten, ließen die Schüler der musikalischen Lehranstalt, die hier gewissermaßen der Kirche zugeteilt scheint, ihren herrlichen Gesang ertönen, andere wieder spielten Geige oder Piano, und die Sonne ließ im Untergehen alle Engel der Hauptfront rosig erstrahlen, und die erzenen Gestalten, deren jede ein Werkzeug des Leidens Christi in Händen hielt, schienen sich schön und traumvoll hinwegschwingen zu wollen, fort von den Qualen Jesu Christi und seiner Mutter, die sie weinend umstanden. Es erfüllt mit beständiger Pein, daß man diese Szene für jene, die sie nicht mit Augen sehen können, mit dem Stift nicht festhalten kann. Und daß man anderseits keine Worte findet, um ihren Eindruck auf uns wiederzugeben, ist ein anderer großer Schmerz, der allzuspät ein trübes Licht wirft auf die Unwissenheit, derer man sich nie so sehr bewußt geworden war wie in diesem Augenblick ...

 

Das Glockenläuten ist hier unerträglich. Es zerreißt die Luft und ist so schrill wie die Stimmen der Frauen in Italien. Wenn sie sich unterhalten, meint man, sie seien zornwütend; ihre Stimme springt mit unglaublicher Leichtigkeit von den höchsten Tönen zum dröhnenden Kontra-Alt hinab, so daß man gar nicht fassen kann, die wegen ihrer Reize und ihres Adels berühmteste aller Sprachen zu vernehmen, es sei denn, daß man sie liest oder singen hört; gesprochen aber ist es, um davonzulaufen. War das der Grund, weshalb die sanfte und reine Stimme, der fließende Vortrag und die gefühlvolle Tongebung von Mademoiselle Mars, ihr perlendes Lachen, ihr ergreifendes Weinen hier ein Erstaunen und eine Begeisterung geweckt haben, die unbeschreiblich ist? ...

 

31. August. Wir haben etwas unendlich Trauriges gesehen – mir wenigstens erschien es so. Wir haben Maria-Louise gesehen, über ihre Jahre hinaus gealtert, trotz ihrer reichen Kleidung und ihrer Jasminhaube – die rätselhafte Maria-Louise, deren Herz undurchdringlich bleibt, deren verschlossenes Antlitz keine Bewegung verrät. Ich aber war ergriffen, als ich in dem schmalen Gang, der ihre und unsere Loge verband, notgedrungen ganz nah an ihr vorüber mußte, so daß ihr Kleid mich streifte. Ich gestehe es, zum erstenmal im Leben suchte ich einem Menschen ins Gesicht zu sehen, der in einer recht bescheidenen und dunklen Loge verborgen sein wollte. Aber der Fürst Metternich – und vor allem seine weiß und goldene Uniform hatten sie verraten. Mademoiselle Mars, der ich eilends mitteilte, daß der Arm, den sie soeben berührte, der Maria-Louisens sei, tat alles, was man nur tun kann, ohne den Anstand zu verletzen, um diese reglose Frau zu veranlassen, sich umzuschauen. Sie kam nicht zum Ziel. Als ich sah, daß sie sich erhob und fortging, fand ich mich wie unwillkürlich neben ihr. Sie schritt vorgebeugt, als suche sie die schlecht erhellten Treppenstufen zu erkennen. Ihr sehr leichtes und sehr weites weißes Gewand berührte mich. Ihr Antlitz erschien mir auffällig schmal und gerötet, doch sanft und ruhig. In diesem ergreifenden Moment hatte ich fast eine Vision ich sah den Kaiser tot und den König von Rom, gleichfalls wie einen Schatten, die in diesem frostigen Korridor hinter ihr herschritten, und es wurde mir schwer, das Ende von »Jeanne de Naples« abzuwarten, dessen schrecklichen Schluß sie wahrscheinlich nicht hatte mitansehen wollen ...

 

19. September. Ich denke und schreibe an Dich beim dumpfen Lärm des Rades, das drunten im Hofe gedreht wird, um Sorbett zu bereiten; dies ständig brausende Geräusch macht meine Gedanken, wie mir scheint, zu summenden Fliegen, die sich nicht aufschwingen können. Meine Gedanken kriechen am Boden und summen und beschweren mir das Herz. Drüben in der italienischen Schule singen die Kinder mit absichtlich kreischender Stimme ihre Choräle. Auf den umliegenden Dächern, in gleicher Höhe mit unserem Fenster, klatscht der Regen in Strömen, und das Zimmer ist so feucht, daß die untapezierten Wände Tränen weinen. – Italien! Sage mir, lehre mich, was dein schöner Himmel den Elenden bietet, wenn Wolken ihn verhüllen! Und es gibt viele Elende um uns her, viel Unglück außer unserm Unglück. – Mailand, immer noch Mailand! Ist es nicht in Italien, wo Tasso den Verstand verloren hat? ... Diese anscheinend so öde Stadt birgt in einem Hospiz zweitausend Kranke und Sieche.

Ein Traum

Aus »L'atelier d'un peintre«, 1833.

... In letzter Nacht ward mein Schlummer von einer Vision gewiegt und erschüttert: Ich durcheilte ein einsames riesiges Haus, dessen Türen alle weit offen standen. Der Engel des Todes verfolgte mich, er kam durch die unbewohnten Gemächer, und ich vernahm das Rauschen seiner Schwingen in der Luft, durch die ich selber hinglitt, ohne den Boden zu berühren; ich litt, ich betete, ich war atemlos und fast von ihm ereilt. Das offene Fenster bot mir den einzigen Ausweg, den ich mit den Augen suchte und mit einem Herzen, das meine Brust zu sprengen drohte: ich reckte die Arme, ich gab mich der Luft ganz hin, ich schwebte, zu meiner großen Freude, zu meiner so unendlichen Freude, daß ich erwachte und mich knieend in meinem Bette fand, in einer Finsternis, die der Mond tröstlich erhellte. Es war, als sähe er mich an und spräche: »Hab keine Angst!« Ich schlief auch wieder ein, bis in den hellen Tag ...


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