Heinrich Zschokke
Hans Dampf in allen Gassen
Heinrich Zschokke

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Hans Dampf

Ein großer Mann ist, wenn er auch fällt, groß. Sein Sturz erschüttert ganze Reiche. Als Alexander starb, mußte sein ungeheures Gebiet von den Mündungen der Donau und des Nil bis zum Indus und Ganges unter Strömen Blutes vergehen, und Karls des Großen Weltreich zertrümmerte, als der Schöpfer desselben verschwand. So mußte auch, als der große Hans Dampf gestürzt ward, der Staat von Luchsenstein bis auf die letzte Spur verschwinden, und ein großer Krieg zu Land und zu Meer zwischen Frankreich und England war die Folge vom Rückzuge des Ordenskanzlers, wie sich aus der geheimen Geschichte der Höfe damaliger Zeit sehr leicht und mit Urkunden beweisen läßt, die aber zu lang und zu langweilig wären, hier eingerückt zu werden.

Der Ordenskanzler hatte nämlich kaum die Residenz verlassen, als ein französischer Extrakurier ankam, der sich nach ihm erkundigte, um ein Paket an ihn abzugeben. Diese Erscheinung machte um so größeres Aufsehen, weil das deutsche Reich damals mit Frankreich in großer Spannung war. Fürst Nikodemus ward von der Ankunft des Extrakuriers benachrichtigt, und zugleich äußerten die Feinde des vertriebenen Hans Dampf, dieser möchte wohl in verräterischem Briefwechsel mit der französischen Krone stehen. Nikodemus fand die Sache sehr wahrscheinlich, weil er seinen Hans Dampf in allen Gassen kannte, und gab Befehl, den Extrakurier zu verhaften. Dieser, schon abgereist, ward glücklich eingefangen und zurückgebracht. Er leugnete nicht, mit Hans Dampf bekannt zu sein; aber daß das für denselben mitgebrachte Paket eine Perücke sei nach der neuesten Mode, die der Kurier aus Gefälligkeit für Hans Dampf in einer der größten Hauptstädte gekauft und ihm nun nach Lalenburg gesandt habe, wollte kein Mensch glauben. Es ward also ein Begehren an den Magistrat von Lalenburg geschickt, daß derselbe das für Hans Dampf angekommene Paket übersenden und den Ordenskanzler einstweilen verhaften solle, weil in dem Paket wahrscheinlich Spuren einer großen Verschwörung gegen das heilige römische Reich enthalten sein dürften. Der Magistrat von Lalenburg gehorchte mit großem Eifer, konnte sich aber der Neugier nicht erwehren, die Schachtel zu öffnen, um die Spuren der ungeheuern Verschwörung selbst zu besichtigen. Der Anblick der majestätischen Allongeperücke setzte nun den Witz aller Ratsherren von Lalenburg in Verzweiflung, wie dies zottige Geschöpf mit dem heiligen römischen Reiche in gefährlichen Verbindungen stehen könne? Darüber ward lange beratschlagt.

Der Extrakurier mochte wegen Eile und Wichtigkeit seiner Sendung lärmen, wie er wollte, er mußte warten, bis die Sache ins Reine gebracht war. Man fand bei ihm nichts, als noch ein Paket mit den schönsten Zobel- und Hermelinpelzen, nebst einem Brief an den Aufseher der Garderobe Sr. Majestät des Königs von Frankreich. Aber der König selbst hatte die köstlichen Hermeline und Zobel bestellt, weil sie damals zur neuesten Mode in der Pariser Damenwelt gehörten und er sie seiner Geliebten zum Neujahrstage verheißen hatte. Bisher hatte nur die Gemahlin des englischen Gesandten das Vergnügen, im schönsten Hermelin es dem ganzen Hofe zuvorzutun.

Nun kam der Neujahrstag, aber der Extrakurier nicht. Vergebens setzte der König den Garderobeaufseher in die Bastille und entschuldigte er sich bei der eigensinnigen Geliebten. Diese weinte vor Zorn, da sie am Neujahrstage der stolzen Britin an Pracht nachstehen mußte, und versagte dem Monarchen auch die kleinste Gunst. Der König war in höchster Verzweiflung und erhielt keine Hoffnung auf Begnadigung, bis er versprach, die hochmütige Engländerin aus Frankreich zu entfernen. Schon waren ohnehin im Kabinett die Stimmen geteilt, ob man mit England wegen einiger Ansprüche Krieg anfangen solle oder nicht? Jetzt gab der König den Ausschlag «Krieg»; der englische Gesandte mußte sogleich Paris verlassen, nicht minder die Frau Gesandtin mit dem kostbaren Pelzwerk. Blut ward in Land- und Seeschlachten stromweise vergossen; ein Staat um den andern in den Kampf verflochten; mancher ging dabei ganz zu Grunde, wie zum Beispiel Luchsenstein. Denn da der Extrakurier, nachdem er sich gerechtfertigt hatte, endlich, aber zu spät, nach Paris kam, und die Ursache seiner Verspätung meldete, ward dem Hause Luchsenstein Untergang geschworen, der Schwur erfüllt.

An allen jenen Tränen, Kriegen, Blutströmen und Staatenverwandlungen war nichts Ursache, als der Sturz des großen Hans Dampf. Wäre er in der Gnade des Fürsten geblieben, hätte er über die Perücke Auskunft geben können, wäre seine Vaterlandsliebe nicht verdächtigt und verleumdet worden: alles würde einen andern Gang genommen haben.

 
In allen Gassen

Er selbst nahm, wie gesagt, seinen Gang nach Lalenburg. Hier hatte das tausendzüngige Gerücht schon vor seiner Ankunft Kunde von seiner Verungnadigung gegeben. Sogleich nahm der wohlweise Rat den Schattenriß des Ex-Ordenskanzlers aus dem Versammlungssaal hinweg und faßte den Beschluß, künftig keinem Sterblichen bei dessen Lebzeiten mehr den Beinamen des Großen zu geben, oder ihm Denkmale zu errichten, als da sind Obelisken, Bildsäulen, Silhouetten, Pyramiden und dergleichen. Nun wollte kein Lalenburger ihm je geschmeichelt haben; nun desavouierte der Stadtrat alle an denselben ergangenen Deputationen; nun schwur jeder, er habe nie mit ihm in freundschaftlichen Verhältnissen gestanden; nun machte man Schmähschriften und Spottgedichte auf den «ex-großen Mann»; nun hieß ihn jeder den kleinen Mann; ja viele fanden ihn so klein, daß sie sich gar nicht erinnerten, ihn je gekannt zu haben. Hans Dampf mußte wirklich selbst über das kurze Gedächtnis der Lalenburger erstaunen, als er in seiner Vaterstadt ankam und ihn jeder wie einen wildfremden Menschen angaffte, und nichts von ihm wissen wollte. Das schreckte ihn aber nicht, besonders da er bemerkte, daß die Töchter sich seiner noch am besten erinnerten. Da sagte er jeder etwas Süßes und versprach jeder, sie müsse einmal Frau Bürgermeisterin werden, wenn er Bürgermeister würde. Dergleichen vergißt ein Mädchen so leicht nicht. Der Bürgermeisterschaft erwähnte er aber aus dem Grunde, weil der Amtsbürgermeister wenige Tage zuvor des nachts Hals und Bein gebrochen hatte, indem er in einen tiefen Graben gestürzt war, längs dessen Abhang der Magistrat versäumt hatte, statt des verfaulten ein anderes Geländer zu setzen. Der Seligverstorbene hatte selbst kräftig gegen Wiederherstellung des Geländers gesprochen, teils aus Sparsamkeit, teils aus dem Grunde, weil seit Menschengedenken niemand in den Graben gefallen wäre. Ohne Zweifel würde die Bürgermeisterwahl sogleich vor sich gegangen sein, wäre nicht das luchsensteinische Begehren um Verhaftung des Ex-Ordenskanzlers und Auslieferung der staatsverräterischen Perücke dazwischen gekommen. Größerer Sicherheit willen schlug man den armen Hans Dampf in Ketten und Banden und ließ ihn Tag und Nacht von siebenundfünfzig Männern mit langen Spießen in seinem eigenen Hause bewachen, wo man immer je zwei oder drei vor ein Loch in der Mauer, z. B. Fenster, Türen, sogar Dach- und Kellerlöcher, stellte. Das war ein Einfall des Stadtschreibers Mucker gewesen. Es beschäftigte die gesamte ehrbare Bürgerschaft so sehr, das alles andere darüber vergessen ward.

Inzwischen hatte Fürst Nikodemus sich beim Anschauen der Perücke von der Unschuld des Ex-Ordenskanzlers vollkommen überzeugt. Die alte Zuneigung für denselben war wieder erwacht, und nicht nur sendete er demselben mit einem verbindlichen Schreiben die gewaltige, lockenreiche Kopfhaube zurück, sondern zur Entschädigung für die Gefangenschaft stellte er ihm auch frei, sich eine Gnade auszubitten.

Dies war zu Lalenburg kaum ruchbar geworden, als neuer Aufruhr entstand; denn nun besorgte jeder, Hans Dampf werde sich aus Rache, wo nicht die Zerstörung von ganz Lalenburg, doch Kopf und Kragen derer ausbitten, die ihn so streng behandelt hatten. Die siebenundfünfzig Wächter liefen sogleich mit ihren Spießen davon; dagegen stürmten Schmiede, Schlossermeister, Spengler usw. mit Hämmern, Zangen, Brecheisen herbei, die ersten zu sein, welche die Ketten des Gefangenen lösten; fünfundzwanzig Jungfrauen erklärten ohne Hehl öffentlich, die verlobten Bräute des fürstlichen Günstlings zu sein; Ratsdeputationen erschienen mit Entschuldigungen ihres Verfahrens; das Dekret wegen der großen Männer ward feierlich vernichtet und die Dampfische Silhouette wieder im Ratssaal aufgehängt; und der Stadtschreiber Mucker, kräftig unterstützt vom Stadt- und Platzmajor Knoll, war der erste, welcher, um sich der Huld des großen Mannes zu empfehlen, ihn öffentlich zum Bürgermeistertum in Vorschlag brachte. Der Wankelmut des Volks, das heute Hosianna, morgen Kreuzige ruft, war zu Lalenburg einheimisch wie in allen Zeiten bei allen andern Völkern. Er ist eine Wirkung der Unwissenheit bei den meisten, des Leichtsinns bei vielen, der Selbstsucht und des Eigennutzes da, wo der Sinn des Bessern noch nicht geboren oder schon erstorben ist. In der Republik Lalenburg, muß man gestehen, war weder ein griechisch- noch französisch-leichtsinniges Völkchen daheim, sondern ein altkluger, ehrbarer, steif und langsam denkender Menschenschlag. War die Rede vom Haben, Erwerben, Geldmachen und Rechnen: so mußte man den Lalenburgern nachsagen, sie waren, obgleich unwissend in allen übrigen, sehr klug in diesen Dingen. Eigennutz war also die Haupttriebfeder ihres Wankelmuts, was sonst bei andern zivilisierten Völkern nie der Fall zu sein pflegt, ihres Heldenmuts, ihres Hochmuts, ihres Übermuts, aber auch ihrer Demut und Feigheit. Hans Dampf, der größte Mann seines Jahrhunderts in Lalenburg, weil er die größte Ausnahme von der Lalenburger Regel war, kannte sein Volk und wußte es zu behandeln. Er kannte die Herren des Rates, die in stillen Zeiten dick aufgeblasen, keinem Ochsen aus dem Weg traten und sich für Übernatürlichgeborene hielten, bei der geringsten Besorgnis von Gefahr aber Mücken für Elefanten ansahen, und feig und kriechend auch das Niederträchtigste taten, wenn es sich, wie sie zu sagen pflegten, mit Ehren tun ließ. Er kannte sie und nahm danach seine Maßregeln.


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