Heinrich Zschokke
Hans Dampf in allen Gassen
Heinrich Zschokke

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Hans Dampf

Die Nachricht von der Verhaftung des Staatsbaumeisters und vom Zorn des Fürsten von Luchsenstein, der ihn nur schlechtweg einen Hund genannt, verursachte in Lalenburg ein unglaubliches Aufsehen. Jedermann zerbrach sich den Kopf darüber, was Hans Dampf versündigt haben möchte. Ja, so groß war die Bestürzung, daß man sogar am Stadtschreiber nicht einmal den verlorenen anderthalb Ellen langen Zopf vermißte. Man sprach nur von Hans Dampf in allen Gassen, und kein Mensch zweifelte an seiner bevorstehenden Hinrichtung. Einige vermuteten, er werde enthauptet, andere, er werde gehenkt, andere, er werde wenigstens lebendig verbrannt werden. Viele bedauerten, daß diese Feierlichkeiten nicht zu Lalenburg, sondern in der fürstlichen Residenz statthaben würden; andere hingegen freuten sich darüber, weil sie so mit gutem Anlaß und Vorwand die Residenz besuchen könnten. Mehrere redeten untereinander ab, die Reise dahin zur Ersparung der Kosten gemeinschaftlich zu machen. Alle Fuhrwerke und Pferde in der Stadt wurden noch selbigen Tags vorausbestellt und in Beschlag genommen. Man ließ die Schneider rufen und zu neuen Kleidern das Maß nehmen.

Inzwischen mischte sich doch bald auch in diese Betrachtungen und frohen Rüstungen das christliche Mitleiden, wenn man des Delinquenten gedachte, der nun, seines Todes gewärtig, im Kerker schmachtete. Hans Dampf, den jedermann kannte, der mehr oder weniger in jeder Haushaltung etwas zu schaffen gehabt hatte; Hans Dampf, den alle Mütter schalten und zum Eidam wünschten; den auf der Straße alle Mädchen über die Achsel ansahen, aber immer mit freundlichen Augen unter vier Augen; – Hans Dampf, am Tische ein lustiger Zecher, im Rate ein trefflicher Redner, unter Basen und Muhmen beim Kaffee ein Erzklätscher, in der Kirche der eifrigste Beter – Hans Dampf, alles in allem, der Alcibiades von Lalenburg, im Kerker!

Die stille Wehmut des Mitleidens ergriff zuerst die Töchter, dann die Mütter, dann die Männer. Kaum trat die Dunkelheit des Abends ein, schlich manche sittige Jungfrau, die sonst seine Blicke öffentlich zu fliehen und schon vor dem bloßen Namen eines unvermählten Mannes züchtig zu erröten pflegte, mit nassen Augen über die Gasse zum Gefängnis, dem «armen Sünder», wie nun der edle Staatsbaumeister hieß, eine letzte Labung und Erquickung zuzustecken. Die eine kam mit Würsten, die andere mit Zuckerwerk, die dritte mit kleinen Pasteten, die vierte mit Mandeln und Rosinen, und so jede. «Ach, lieber gnädiger Himmel!» riefen die alten Weiber, die Dienstmägde, die Gassenbuben, welche dies bemerkten. «Sie bringen ihm schon die Henkersmahlzeit!» Und nun war unter der ganzen Bürgerschaft länger kein Haltens mehr. Denn diese Mahlzeit mit dem häßlichen Namen war eine alte Lalenburgische Übung bei zum Tode verurteilten Missetätern. Einige Tage vor deren Hinrichtung pflegte man denselben an Eß- und Trinkwaren zu reichen, was sie wünschten und nicht wünschten. Da das Staatsgefängnis ebenen Bodens mit der Straße war und seine dickvergitterten Fenster gegen diese hinaus hatte, wo im Gitterwerk eine eigene Öffnung angebracht war, um Speisen einzureichen (denn die Kerkertür durfte keinem ohne hochobrigkeitliche Genehmigung geöffnet werden), wurde nun der Platz vor dem Gitterloch bis gegen Mitternacht von Gebern nicht leer. Brot und Backwerk aller Art, Schinken, Würste, gebratene Gänse, Hühner, Enten, Tauben, Torten, Pasteten, Äpfel, Birnen usw., nebst Wein und Bierkrügen, Likörfläschchen, Riechfläschchen usw., krochen durch das Loch. Die Krämer versorgten den armen Sünder sogar mit Salz, Pfeffer, Käse, Butter, Schnupf- und Rauchtabak, so daß der Staatsbaumeister in Gefahr geraten mußte, unter dem ungeheuern Vorrat, der immerfort hineingestopft wurde, zu ersticken. Er selbst ließ sich vor den menschenfreundlichen Gebern nicht sehen und antwortete nie auf ihre liebkosenden Trostreden. Doch sagte jedem das eigene Zartgefühl: Scham und Schmerz mache, daß er sich in die Dunkelheit zurückziehe.

Allein das Zartgefühl war diesmal im Irrtum und der Staatsbaumeister gar nicht im Staatsgefängnis. Als ihn um die Mittagsstunde der Platzmajor dahin geführt hatte, fand sich, daß das Staatsgefängnis zwar im besten Zustand sei, aber übel verwahrt. Die Tür konnte weder verschlossen noch verriegelt werden, weil Schloß und Riegel eingerostet am mürben Holz hingen. Dies war aber nicht Folge einer Nachlässigkeit des löblichen Rats der Stadt und Republik, sondern eines vierzigjährigen Prozesses zwischen der Stadt und der Landschaft (nämlich den paar zu Lalenburg gehörigen Dörfern) über die Streitfrage: ob die Gefängnisse müßten von der Stadt unterhalten werden, welche das Recht zum Einkerkern hätte; oder von der Landschaft, deren Bewohner die Pflicht hätten, sich einsperren zu lassen? Denn daß ein Staatsbürger ins Gefängnis gekommen, war seit Menschengedenken unerhört. Dieser Prozeß war vor dem großen Rat der Republik seit vierzig Jahren behandelt und noch unbeendet. Alle Jahre war zwischen den Vorstehern der Stadt und den Vorstehern der Landschaft deswegen ein Versöhnungsmahl auf sogenannte »ungerechte Kosten« veranstaltet worden, um dabei die streitführenden Parteien gütlich zu vergleichen. Weil aber beiderlei Vorstehern Wein und Braten des Versöhnungsmahls sehr gut schmeckte, kam die Versöhnung nie zustande, teils um nicht die Hoffnung zu einem künftigen neuen Schmaus zu verlieren, teils weil man immerfort auf Kosten des Unrechthabenden schmausete und keiner Unrecht haben wollte.

Der Platzmajor hatte die kleinen Mängel an der Tür sogleich vermöge seines natürlichen Scharfblicks erkannt und die Tür, statt zu verschließen, auf der Stelle vernagelt, ja zu allem Überfluß noch durch den Stadtschreiber obrigkeitlich versiegeln lassen. Außerdem stand allezeit ein Stadtwächter mit der Partisane davor. Der Gefangene machte dem Wächter sogleich die triftige Frage: wie er als Gefangener sich in besonderen Fällen, die zur Leibes- und Lebensnotdurft gehören, zu verhalten habe. Dem Wächter fiel die Frage auf und schien ihm wichtig genug, deswegen dem Platzmajor und Stadtschreiber, die noch nicht weit entfernt waren, nachzulaufen und Verhaltungsbefehle einzuholen. Währenddem versuchte der Staatsbaumeister die Beschaffenheit der Tür, und weil auf der Stelle, wo sie nicht versiegelt und vernagelt war, die Türangeln beim ersten Druck auf den wurmstichigen Pfosten wichen, ging; er hinaus, rückte Tür und Angel wieder ein und begab sich zur Hinterpforte weg nach Hause, ohne bemerkt zu werden.

Der treue Wächter kam zurück und brachte den unbarmherzigen Befehl des Stadt- und Platzmajors: der Gefangene möge sich in solchen Fällen helfen, wie er könne. Die Schildwache äußerte darüber zugleich ihr aufrichtiges Mitleiden. Weil aber der Staatsgefangene dem Partisanenträger keine Silbe erwiderte, ungeachtet derselbe wohl eine Viertelstunde lang erzählte, tröstete und guten Rat gab, schwieg dieser endlich auch und begnügte sich, von Zeit zu Zeit Nagel und Siegel zu beobachten.

 
In allen Gassen

Es war ein wirkliches Meisterstück von Reise, welche der Staatsbaumeister aus dem Gefängnis durch die Stadt nach seiner Wohnung machte, ohne bemerkt zu werden. Er brach in den Hinterhof des Staatsgebäudes durch einen geräumigen Stall, der auch gegen die dahinter liegende Gasse einen Ausgang hatte. In diesem Stalle wurden die obrigkeitlichen Schweine gemästet, welche bei dieser Gelegenheit froh waren, ins liebe Freie zu kommen. Von da sprang der Flüchtling in ein nahes Bäckerhaus, welches einst ein Ganzes mit dem nach der entgegengesetzten Straße stehenden Hause gewesen war. Er wußte zwar, daß seit der Teilung alles vorsichtig vermauert, auf dem Estrich jedoch noch eine Kommunikationspforte offen gelassen worden sei. Behend war er die Treppen hinauf, und weil die Pforte von Mehlsäcken verrammelt war, stürzte er dieselben aus dem nahen Erker in solcher Geschwindigkeit auf die Gasse, daß, ehe der sechste Sack platzend den Boden erreichte, Hans Dampf schon auf der andern Seite hinaus über die Gasse mit einem Sprung in des Platzmajors Haus war, worin sich ein Durchgang nach dem Gäßchen befand, in welchem vor kurzem Meister Pretzel das berühmte Unglück mit den Töpfen gehabt hatte. Ein neues Hindernis. Der Platzmajor hatte den Durchgang mit einem neuen Gänsestall verbaut, worin er, weil er den Gänse- und Federnhandel trieb, in mehreren Etagen bei dreißig dieser frommen Tiere übereinander nährte. Zum Glück war der Stall nicht massiv gebaut; das hölzerne Lattwerk flog links und rechts davon, und der Staatsbaumeister war schon in seinem eigenen Hause, ehe die Gänse alle durch ihr Geschrei und Umherflattern der ganzen Stadt ihre Freude wegen ihrer Erlösung bezeugen konnten.

So sehr auch ganz Lalenburg von den großen Ereignissen dieses Morgens überrascht und beschäftigt war, so daß man für nichts anderes mehr Sinn zu haben schien, als von der Verhaftung des edeln Hans Dampf, von dem fürstlichen Kurier und der im Ratssaale zerrissenen Depesche zu plaudern: mußte es doch kein geringes Aufsehen erregen, als sich plötzlich die Schweine des löblichen Rates, mit einem L gebrandmarkt, durch die Stadt verbreiteten; dann in einer andern Gasse die Luft vom aufsteigenden Mehlstaube der herabfallenden, platzenden Säcke verfinstert ward, und zuletzt die Gänsescharen des Stadt- und Platzmajorats schreiend über alle Dachgiebel flogen. Niemand konnte begreifen, woher diese Wunder alle in den verschiedensten Gegenden zu gleicher Zeit? Einige Politiker argwöhnten, es möge von Anhängern des verurteilten Staatsbaumeisters ein allgemeiner Aufruhr beabsichtigt sein. Der Stadtschreiber Mucker aber soll zu verstehen gegeben haben, er würde glauben, Hans Dampf sei wieder in allen Gassen rege, wenn er ihn nicht in demselben Augenblicke erst versiegelt und vernagelt hätte, da Schweine, Mehlsäcke und Gänse ins Publikum kamen.

Inzwischen verschlang der Gedanke an die große Sache des Vaterlandes, besonders an die erwartete feierliche Hinrichtung, jede Rücksicht auf geringere Gegenstände, besonders da schon folgenden Morgens der fürstlich-luchsensteinische Kurier im vollen Galopp mit einer neuen Depesche zur Stadt hereingesprengt kam. Sogleich ertönte die Ratsglocke. Die Bürgermeister und Ratsherren eilten in Mänteln und Degen zur außerordentlichen Sitzung mit Gebärden voll Tiefsinns und Ernstes. Viel Volks lief neugierig auf dem öffentlichen Platz zusammen, noch mehr aber, als eine fürstlich-luchsensteinische Kutsche kam, um den Gefangenen abzuholen.

Die Sitzung ward eröffnet. Der Bürgermeister setzte die Brille auf, erbrach den großen Brief in Gegenwart der Versammlung und hob nun mit lauter Stimme zu lesen an:

«Wir Nikodemus, Fürst zu Luchsenstein, Graf zu Krähenburg, Baron zu Dachsfelden, Herr zu Sauwinkel und Fuchsbergen usw. usw. entbieten den wohlweisen Bürgermeistern und Rat der löblichen Stadt und Republik Lalenburg unsern gnädigen Gruß zuvor. Ehrenfeste, Liebe, Getreue! Als wir mißfällig vernommen, daß unser an euch erlassenes Missiv verloren gegangen, welches von Wort zu Wort also gelautet hat: ›Dieweil einer eurer trefflichen Angehörigen, genannt Hans Dampf, zu einem unserer Hofjäger geredet, wie er sich unterfangen wolle, jeden Hund vernünftig sprechen zu lehren, und uns dies besonderermaßen wohlgefallen, so soll uns kein Preis zu teuer sein, wenn er unserm Leibhund Fidele die menschliche Sprache beibringen kann, als welche demselben, ungeachtet seines natürlichen Verstandes, sehr schwer fällt, wiewohl er schon dermalen das Deutsche, zum Teil auch Französische und sogar Italienische versteht, ohne es jedoch selbst zu reden. Wir ernennen den quästionierlichen Hans Dampf einstweilen zu unserm Hofrat, weisen ihm tausend Gulden zur ersten Einrichtung an und werden diesen guten Kopf, wenn er reüssiert, zum Erzieher unserer Prinzen machen, sobald dieselben erwachsen sein werden.‹ Als erwarten wir von euch, Ehrenfeste, Liebe, Getreue, ihr werdet diesen unsern Hofrat Hans Dampf unverzüglich an uns anher senden ohne Verzug. Damit geschieht unser gnädiger Wille.»

Mit den sichtbarsten Zeichen des Erstaunens hörte die löbliche Ratsversammlung diese Vorlesung an. Kein Einziger, vom Stadtschreiber und ersten Ratsherrn an bis zum Weibel an der Tür, war da, der nicht das Maul noch zwei Minuten lang aufgesperrt behielt, auch da nichts mehr zu hören war. Selbst der regierende Bürgermeister, nachdem er Brief und Brille vor sich niedergelegt, behielt vom Vorlesen den Mund offen und starrte außer sich in die leere Luft hin.

Einige verwunderten sich über den Leibhund Sr. Durchlaucht, der schon in drei Sprachen bewandert war; andere über Hans Dampfs bisher unbekannt gewesene Geschicklichkeit, Tiere reden zu lehren; andere betrachteten mit Ehrfurcht die Würden und Ämter, zu welchen der Staatsbaumeister plötzlich emporsteigen sollte, da man gerade das Gegenteil erwartet hatte; andere zitterten nun vor der Rache des großen Mannes, der aus dem Gefängnis in die Nähe eines Thrones versetzt, Stadt und Republik Lalenburg in seiner Gewalt hatte. Die Totenstille des Erstaunens verwandelte sich plötzlich in ein heftiges Geschrei, weil jeder zuerst reden und zu Protokoll geben wollte, er habe in gestriger Sitzung gegen die Verhaftung des Staatsbaumeisters protestiert. Keiner war dabei verlegener, als der arme Stadtschreiber Mucker. Während die andern in Lobeserhebungen des göttlichen Hans Dampf ausbrachen, den sie den Stolz und die Zierde ihrer Vaterstadt nannten; während sie herrechneten, was sie ihm den Abend vorher aus treuer Anhänglichkeit durchs Gitterloch des Staatsgefängnisses von köstlichen Speisen und Getränken zugesteckt hatten, kaute Mucker seine Schreibfeder zuschanden, und machte Pläne, sich mit dem Erbfeind zu versöhnen.

Er trug also zuerst darauf an, eine Deputation des Rates müsse den fürstlichen Hofrat aus dem Gefängnis abholen und im Triumph zum Rathaus führen; hier müsse wegen gestrigen Mißverständnisses förmlich um Verzeihung gebeten, dem Hofrat der Ehrenplatz zur Rechten des regierenden Bürgermeisters eingeräumt und ihm das fürstliche Schreiben vorgelesen werden; dann wollte und sollte er, der Stadtschreiber nämlich, feierliche Abbitte tun und sich und die Vaterstadt in die Gewogenheit des erhabenen Mitbürgers empfehlen, damit Hans Dampf nicht gegen Lalenburg, wie Coriolan einst gegen Rom, zöge.

Man muß sich über diesen plötzlichen Umschwung der Gesinnungen gar nicht wundern. Mit den Umständen änderten sich bei ihnen Grundsätze, Freundschaften, Feindschaften, Versprechungen, Schwüre und Neigungen so sehr, daß die, welche gestern, im Glück aufgeblasen, dem andern Fußtritte gaben, heute vor dem Gleichen untertänigst auf allen Vieren krochen. Das hieß bei ihnen Weltlauf, Politik und Feinheit, und sie befanden sich recht wohl dabei, so schief es auch oft dabei ging.


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