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Sechstes Kapitel

Am folgenden Morgen – einem Sonntage – gönnte sich Octave eine Stunde länger im warmen Bette. Er war wohlgemut erwacht und sagte sich: wozu denn heute sich sputen? Er befand sich übrigens wohl in diesem Geschäfte »Zum Paradies der Damen«; er streifte dort seine provinziellen Manieren ab und kam immer mehr zur Überzeugung, daß er eines Tages Frau Hédouin besitzen werde, die sein Glück machen sollte; doch war es ein Werk, das große Klugheit, ein ganzes taktisches System von Galanterie erheische, in dem sein wollüstiger, weibischer Sinn sich schon jetzt gefiel.

Er schlummerte langsam wieder ein unter fortwährendem Pläneschmieden; sechs Monate setzte er sich als Termin für sein Eroberungswerk. Mittlerweile hatte er ja Marie Pichon, diese leicht zugängliche Frau. Er brauchte ja nur die Hand auszustrecken, wenn er sie wollte, und sie kostete ihm keinen Sou. Während er auf die andere wartete, konnte er sich nichts Besseres wünschen; diese Wohlfeilheit und Bequemlichkeit rührten ihn in seinem Halbschlummer; er fand sie sehr artig und faßte den Vorsatz, künftig freundlicher mit ihr zu sein.

Alle Wetter, neun Uhr! rief er auffahrend, durch die Schläge der Uhr völlig erweckt. Man muß ja schließlich aufstehen.

Draußen fiel ein feiner Regen. Er entschloß sich, tagsüber zu Hause zu bleiben. Er wollte die Einladung der Pichons zum Essen heute annehmen, nachdem er sie wegen der alten Vuillaumes schon wiederholt zurückgewiesen. Marie werde sich dadurch sehr geschmeichelt fühlen, und er Gelegenheit finden, sie hinter den Türen verstohlen zu küssen; da sie von ihm immer Bücher verlangte, beschloß er, ihr einen ganzen Stoß Bücher zu bringen, die er in seinem Koffer hatte, der auf dem Dachboden oben stand. Als er angekleidet war, ging er hinab, um vom Hausmeister den Schlüssel des gemeinsamen Dachbodens zu holen, wo die Mieter des Hauses verschiedene, außer Gebrauch stehende Gegenstände, die ihnen in der Wohnung den Raum verlegt haben würden, in Verwahrung hielten.

An diesem feuchten Morgen erstickte man schier unten in dem geheizten Stiegenhause, dessen Wände von unechtem Marmor, dessen hohe Spiegel und Mahagonitüren mit einer Dunstschicht belegt waren. Die Mutter Pérou, ein schlecht gekleidetes, altes, armes Weib, das für vier Sous die Stunde statt der Gourdschen Eheleute die schweren Arbeiten verrichtete, war unter der Toreinfahrt damit beschäftigt, das Pflaster zu scheuern, wobei sie von der Hofseite her einem schneidenden Luftzuge ausgesetzt war.

He, Sie Alte! Reiben Sie besser, daß ich ja kein Fleckchen entdecke! rief Herr Gourd, der in warme Kleider gehüllt, auf der Schwelle seiner Loge stand.

Dann wandte er sich zu dem näher tretenden Octave und ließ sich mit der Roheit eines ehemaligen Bedienten, der jetzt seinerseits bedient sein will, über Frau Pérou aus.

Sie ist ein Taugenichts, ganz und gar nicht zu verwenden! Die hätte ich im Hause des Herrn Herzog sehen mögen! Ich bin auch entschlossen, sie hinauszuwerfen, wenn sie ihr Geld nicht besser verdient. Da bin ich gleich dabei! ... Doch Verzeihung! Was wünschen Sie, Herr Mouret?

Octave verlangte den Schlüssel. Ohne sich sonderlich zu beeilen, fuhr Herr Gourd fort, ihm zu erzählen, daß sie – er und Frau Gourd – wenn sie wollten, ganz ruhig als anständige Bürgersleute in ihrem Häuschen zu Mort-la-Ville leben könnten; allein Frau Gourd wohne gar so gern in Paris trotz ihrer geschwollenen Beine, die sie verhinderten, auch nur bis zum Fußsteige zu gehen; sie warteten nur, bis sie eine ausreichende Rente zusammenbringen, um sich dann zurückzuziehen, was sie übrigens nur mit schwerem Herzen tun würden.

Ich arbeite nicht mehr um den Bissen Brot, schloß er, und lasse mir keinerlei Verdruß gefallen ... Sie wünschen den Dachbodenschlüssel, nicht wahr, Herr Mouret? Wo haben wir den Dachbodenschlüssel hingetan, meine Liebe?

Frau Gourd saß träge am Kamin, in dem ein lustiges Feuer prasselte, und trank ihren Milchkaffee aus einer Silbertasse. Sie wußte nicht, wo der Schlüssel sei; vielleicht in der Schublade. Sie tunkte ruhig ihre gerösteten Brötchen in den Kaffee und ließ kein Auge von der Tür der hinteren Treppe am andern Ende des Hofes, der bei dem regnerischen Wetter ein noch kahleres, ungemütlicheres Aussehen hatte als sonst.

Halt, da ist sie! rief sie plötzlich, als eine Weibsperson aus der bezeichneten Türe trat.

Herr Gourd pflanzte sich jetzt vor der Loge auf, gleichsam um der Frau den Weg zu vertreten, die jetzt mit verlangsamten Schritten und besorgter Miene näher kam.

Wir passen ihr schon seit dem Morgen auf, sagte er halblaut zu Octave. Gestern abend sahen wir sie hereinkommen ... Sie kommt von dem Tischler da oben, dem einzigen Arbeiter, den wir im Hause haben – Gottlob, daß er der einzige ist! Würde der Hausbesitzer meinen Rat befolgen, so würde er lieber das Kabinett leer stehen lassen. Es ist ja ohnehin nur ein Dienstbotenzimmer, das gar nicht zu den Wohnungen zählt. Für hundertdreißig Franken jährlich lohnt es sich kaum, solche Schweinereien im Hause zu dulden.

Er unterbrach sich jetzt, um die Weibsperson in rauhem Tone zu fragen:

Woher kommen Sie?

Nun, von oben! erwiderte sie, ohne stehen zu bleiben.

Da brach er los.

Wir wollen hier keine Frauenzimmer, hören Sie? Wir haben es dem Manne schon gesagt, der Sie herbringt. Wenn Sie noch einmal hier zu nächtigen wagen, hole ich einen Schutzmann, und dann wollen wir sehen, ob Sie Ihre unsauberen Geschichten in einem anständigen Hause fortsetzen werden! ...

Lassen Sie mich zufrieden! erwiderte die Frau. Ich bin bei mir zu Hause und werde wiederkommen, wenn es mir beliebt.

Damit ging sie ihres Weges, verfolgt durch die Rufe der Entrüstung des Herrn Gourd, der davon sprach, bei dem Hausbesitzer Beschwerde führen zu wollen. Hat man je gesehen! Eine solche Kreatur bei anständigen Hausleuten, die nicht die geringste Unsittlichkeit dulden! Wie es schien, war dieses von einem Arbeiter bewohnte Kabinett die Kloake des Hauses, ein übler Ort, dessen Überwachung das Zartgefühl des Herrn Gourd verletzte und den Schlaf seiner Nächte störte.

Was ist's mit dem Schlüssel? fragte Octave.

Doch der Hausmeister, wütend darüber, daß ein Mieter Zeuge davon war, wie seine Autorität mißachtet wurde, fiel jetzt über Mutter Pérou her, um zu zeigen, wie er sich Gehorsam zu verschaffen wisse. Wolle sie ihn etwa »frotzeln«, daß sie mit ihrem Besen schon wieder die Türe seiner Loge angespritzt habe? Er bezahlte sie aus seiner Tasche, um sich die Hände nicht zu beschmutzen, und müsse doch immer hinter ihr reinigen. Er werde kein Mitleid mehr mit ihr haben, möge sie vor Hunger krepieren!

Gebrochen durch diese für sie zu schwere Arbeit, fuhr die Alte fort, wortlos mit ihren dürren Armen das Pflaster zu scheuern; dieser Herr mit den breiten Schultern und dem Samtkäppchen flößte ihr einen solchen Schrecken ein, daß sie nicht einmal zu weinen wagte.

Jetzt fällt mir ein, mein Lieber, sagte Frau Gourd von ihrem Sessel aus, in dem sie den ganzen Tag ihre dicke Person briet, jetzt fällt mir ein, daß ich selbst den Schlüssel unter den Hemden versteckt habe, damit nicht die Mägde immer auf dem Dachboden da oben stecken ... Gib ihn Herrn Mouret.

Saubere Vögel, diese Mägde! brummte Herr Gourd, der von seiner langen Dienstzeit her von Haß gegen alle Dienstboten erfüllt war. Hier, mein Herr, ist der Schlüssel; ich bitte Sie, mir ihn wieder herunterzubringen, denn wo nur ein Winkel offen ist, treiben die Dienstmädchen ihren Unfug.

Um nicht über den feuchten Hof gehen zu müssen, stieg Octave auf der Haupttreppe hinauf. Im vierten Stockwerke betrat er durch die Verbindungstür, die sich neben seiner Wohnung befand, die Dienstbotentreppe. Ein langer Gang, der zweimal in einem rechten Winkel abbog, zog sich hier oben hin; der Gang war hellgelb getüncht mit einem dunkleren Streifen am Fuße der Mauer. Wie in einem Klostergange öffneten sich auf diesen Flur in regelmäßigen Zwischenräumen die gleichfalls gelb gestrichenen gleichförmigen Türen der Dienstbotenzimmer. Von dem Zinkdache schien eine eisige Kälte sich herabzusenken. Es war hier alles so kahl und sauber; dabei herrschte der widerwärtige Geruch, der in den Behausungen der Armen anzutreffen ist.

Der Dachboden lag im rechten Flügel und ging auf den Hof. Allein Octave, der seit seiner Ankunft an diesen Ort nicht gekommen war, ging über den linksseitigen Gang. Ein Anblick, der im Hintergrunde eines der Dienstbotenzimmer im Vorbeigehen durch die angelehnte Tür sich ihm bot, ließ ihn plötzlich haltmachen. Vor einem kleinen Spiegel stand ein Herr in Hemdärmeln und legte seine weiße Krawatte an.

Was, Sie sind's? rief er.

Es war Trublot. Auch er war zuerst höchst betroffen. Nie war es vorgekommen, daß jemand zu so früher Stunde da heraufkam.

Octave war eingetreten und betrachtete ihn in diesem Zimmerchen mit dem schmalen eisernen Bette, dem Toilettentisch, wo ein kleines Päckchen weiblicher Haare in dem Seifenwasser schwamm, und wo sein Frack unter Schürzen und Weiberröcken hing.

Wie, Sie schlafen mit der Köchin! rief er erstaunt.

Aber nein! erwiderte Trublot arg verlegen.

Als er einsah, wie dumm seine Lüge sei, begann er zufrieden zu lächeln.

Ei, sie ist recht drollig ... Ich versichere Ihnen, mein Lieber; es ist sehr schick!

Sooft er irgendwo zum Essen geladen war, suchte er aus dem Salon zu entkommen, um die Köchinnen am Herde in die Schenkel zu kneipen; und wenn eine einwilligte, ihm ihren Schlüssel zu geben, so verduftete er vor Mitternacht, ging hinauf in ihr Zimmer und erwartete sie dort geduldig, auf einem Koffer sitzend, in Frack und weißer Krawatte. Am folgenden Tage kam er dann gegen zehn Uhr über die Haupttreppe herab und ging stolz an der Hausmeistersloge vorüber, als ob er bei einem der Mieter einen Morgenbesuch gemacht habe. Wenn er nur bei seinem Wechselagenten rechtzeitig im Büro erschien – so hatte sein Vater nichts gegen diese Abenteuer einzuwenden. Überdies hatte er in letzter Zeit die Börse zu besorgen, das währte von zwölf bis drei Uhr. An Sonntagen geschah es nicht selten, daß er den ganzen Tag in dem Bett irgendeines Stubenkätzchens zubrachte, glücklich in die warmen Decken und Kissen vergraben.

Sie haben eines Tages ein so bedeutendes Vermögen! ... sagte Octave mit dem Ausdruck des Ekels.

Trublot erwiderte in belehrendem Tone:

Mein Lieber, Sie wissen nicht, was das ist, reden Sie nicht davon.

Er pries Julie, eine große Burgunderin von vierzig Jahren, mit einem breiten, blatternarbigen Gesichte und prächtigem Körperbau; alle Damen des ganzen Hauses seien die reinen Flöten neben ihr, keine reiche ihr auch nur bis zum Knie. Dabei ein sehr anständiges Mädchen. Zum Beweise dessen öffnete er mehrere Schubfächer und zeigte Octave einen Hut, allerlei Geschmeide, spitzenbesetzte Hemden, die ohne Zweifel der Frau Duverdy gestohlen waren. Octave bemerkte in der Tat eine gewisse Koketterie in dem Zimmerchen, eine ganze Reihe von Schachteln aus vergoldetem Karton auf der Schublade, einen roten Vorhang über die Röcke gespannt, kurz: den ganzen Staat einer Köchin, die sieh auf eine feine Person hinausspielen will.

Gegen die ist wirklich nichts zu sagen, meinte Trublot; man kann es frank und frei eingestehen. Ja, wenn alle so wären wie Julie! ...

In diesem Augenblick ward von der Dienstbotentreppe her ein Geräusch vernehmbar. Es war Adele, die heraufkam, um sich die Ohren zu waschen, weil Frau Josserand ganz wütend ihr verboten hatte, das Fleisch zu berühren, wenn sie sich nicht die Ohren mit Seife reinige. Trublot streckte den Kopf vor und erkannte sie.

Schließen Sie rasch die Türe! sagte er unruhig; und verhalten wir uns jetzt still.

Er spitzte die Ohren und hörte die schwerfälligen Tritte Adelens sieh nähern.

Mit der schlafen Sie auch? ... fragte Octave, überrascht durch Trublots Blässe und merkend, daß dieser eine Szene fürchte.

Jetzt beging Trublot eine Feigheit.

Nein, wahrhaftig nein! Mit diesem Abwaschlappen nicht! ... Für wen halten Sie mich denn, mein Lieber?

Er setzte sich an den Rand des Bettes und wartete, bis er sich später vollends ankleiden würde; er bat auch Octave, sich still zu verhalten. Beide blieben unbeweglich, bis Adele ihre Ohren gereinigt hatte, was gute zehn Minuten in Anspruch nahm. Sie hörten, wie sie einen wahren Sturm in ihrem Waschbecken verursachte.

Es liegt noch ein Zimmer zwischen diesem und dem ihren, bemerkte Trublot leise, ein Zimmer, das an einen Tischler vermietet ist, der den ganzen Korridor mit seinen Zwiebelsuppen verpestet. Heute früh ist mir davon schier übel geworden. Die Zwischenwände der Dienstbotenzimmer sind in den modernen Häusern so dünn wie ein Blatt Papier. Ich begreife die Hausbesitzer gar nicht. Das ist durchaus nicht moralisch. Man kann sich ja gar nicht mehr in seinem Bette umdrehen ... Ich finde es sehr unbequem.

Als Adele hinabgegangen war, beendigte er seine Toilette, wobei er sich der Pomade und der Kämme Juliens bediente. Da Octave ihm gesagt hatte, daß er auf dem Dachboden zu tun habe, wollte er durchaus ihn dahin begleiten, weil er – wie er sagte – jeden Winkel in diesem Stockwerk kenne.

Als sie an den Türen der Kabinette vorbeikamen, nannte er in vertraulichem Tone jede Zofe. In diesem Winkel des Ganges wohnt neben Adele die Zofe der Frau Campardon, ein raffiniertes Frauenzimmer namens Lisa, dann ihre Köchin Victorie, eine sitzengebliebene Person von siebzig Jahren, die einzige, die er respektiert; dann Franziska, die erst gestern bei Frau Valerie in Dienst getreten ist und die ihren Koffer vielleicht schon nach vierundzwanzig Stunden wieder hinter der ärmlichen Bettstatt hervorholen wird, welche eine solche Völkerwanderung von Kammerzofen sieht, daß man sieh immer erst informieren muß, ob keine neue da ist, bevor man heraufkommt, »um zu warten« ...

Dann ein ruhiges Ehepaar, das bei den Mietern im zweiten Stock bedienstet ist; dann der Kutscher dieser Leute, von dem er mit der Eifersucht des hübschen Mannes sprach, weil er ihn in Verdacht hatte, daß er von Tür zu Tür gehe, um sein Liebesglück nicht ohne Erfolg zu versuchen; endlich am andern Ende des Ganges noch Clémence, die Kammerfrau von Frau Duverdy, die allabendlich die Besuche des Haushofmeisters Hyppolit mit einer Regelmäßigkeit empfängt, die sonst nur unter Eheleuten anzutreffen ist; zuguterletzt noch die kleine Louise, eine fünfzehnjährige Waise, die Frau Juzeur adoptiert hat, und die in der Nacht saubere Dinge hören muß, wenn sie keinen allzu festen Schlaf hat.

Lassen Sie die Türe des Dachbodens offen, mein Freund, sagte Octave, als dieser die Bücher an sich genommen hatte. Sie begreifen – wenn der Dachboden offen ist, kann man sich verstecken und warten.

Octave ließ sich bewegen, die Wachsamkeit des Herrn Gourd zu täuschen, und stieg mit Trublot in das Zimmer Juliens hinab, weil letzterer seinen Überrock daselbst zurückgelassen hatte. Dann wieder konnte er seine Handschuhe nicht finden; er schüttelte alle Unterröcke, warf die Bettdecken durcheinander und verursachte einen solchen Staub, einen solchen Geruch von unsauberer Wäsche, daß Octave schier erstickte und rasch das Fenster öffnete.

Dieses Fenster ging auf den engen Lichthof, von wo sämtliche Küchen des Hauses das Licht empfingen. Er neigte sich vor in diesen feuchten Schacht, aus dem die fettigen Gerüche von schlecht gereinigten Ausgußröhren aufstiegen; plötzlich aber zog er den Kopf zurück, weil er Stimmen vernahm.

Das ist der übliche kleine Morgentratsch, sagte Trublot, der jetzt auf allen Vieren kriechend seine Handschuhe unter dem Bette suchte. Hören Sie nur zu!

Es war Lisa, das Stubenmädchen der Campardon, das, an die Fensterbrüstung der Küche gelehnt, allerlei Fragen an Julie, die Köchin der Duverdy, die zwei Stockwerke tiefer ebenfalls am Fenster stand.

Es ist endlich »gemacht«, wie? fragte Lisa.

Es scheint, erwiderte Julie, den Kopf erhebend. Nur daß sie ihm die Hose nicht ausgezogen hat, sonst hat sie alles getan. Hyppolit ist dermaßen angewidert aus dem Salon zurückgekehrt, daß er eine Magenverstimmung bekommen haben muß.

Wenn wir nur den vierten Teil dessen täten! ... meinte Lisa.

Jetzt verschwand sie einen Augenblick, um eine Bouillon zu nehmen, die Victoire ihr brachte. Sie lebten im besten Einvernehmen, die beiden, und schonten gegenseitig die Laster der andern; die Kammerzofe schwieg über die Trunksucht der alten Köchin; diese hingegen schwieg über die Ausgänge der Zofe, von denen sie immer mit gebrochenen Gliedern und blau umränderten Augen zurückkam.

Ach, Kinder, sagte Victorie, die sich neben Lisa hinausneigte: ihr seid jung; wenn ihr soviel gesehen habt wie ich! Bei dem alten Campardon gab es eine Nichte – ein erwachsenes Mädchen – das durch die Schlüssellöcher spähte, um das Treiben der Männer zu sehen ...

Das sind saubere Geschichten! murmelte Julie mit der Miene einer anständigen Person. An Stelle der Kleinen vom vierten Stock würde ich Herrn August mit Maulschellen traktiert haben, wenn er es gewagt hätte, mich im Salon zu berühren. So ein lockerer Zeisig!

Jetzt vernahm man ein schallendes Gelächter aus der Küche der Frau Juzeur.

Lisa, die sich gerade gegenüber befand, schaute scharf hinüber und sah Louise, die mit ihren frühreifen fünfzehn Jahren sich bei den Gesprächen der Mägde sehr zu amüsieren seinen.

Dieser kleine Maulaffe spioniert uns nach vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Es ist blöd, daß man uns einen solchen Fratz auf den Hals ladet. Man wird bald nicht mehr plaudern können ...

Sie konnte ihren Satz nicht vollenden, denn das Geräusch eines Fensters, das plötzlich irgendwo geöffnet ward, verscheuchte die Teilnehmer an diesem gemütlichen Morgenplausch. Es war eine Weile still, dann knüpfte das Gespräch wieder an. Die Plaudernden hatten geglaubt, daß Frau Valerie oder Frau Josserand sie überrascht hätten.

Keine Gefahr, sagte Liesa. Sie sind bei ihren Waschbecken; ihre Haut beschäftigt sie zu sehr, als daß sie uns langweilen möchten. Es ist der einzige Augenblick des Tages, wo man Atem schöpfen kann.

Bei Ihnen gehen die Dinge noch immer gleichmäßig? fragte Julie, die eine Möhre schabend wieder ans Fenster getreten war.

Immer das nämliche, erwiderte Victoire. Es ist aus; sie ist »verstopft«.

Die anderen lachten höhnisch, gekitzelt durch dieses Wort, das eine der Damen des Hauses vor ihnen entkleidete.

Was fängt da Ihr Architekt, der lockere Zeisig, an?

Mein Gott, er hält es mit der Base.

Sie lachten noch lauter; doch bemerkten sie jetzt in der Küche der Frau Valerie das neue Stubenmädchen Franziska. Sie hatte ihnen vorhin durch das öffnen des Fensters einen solchen Schreck verursacht. Man war zuerst sehr höflich gegeneinander.

Sie sind's, Fräulein?

Ach ja, Fräulein. Ich suche mich hier einzurichten; aber diese Küche ist gar zu ekelhaft.

Sie müssen sich mit recht viel Geduld wappnen, wenn Sie da bleiben wollen. Ihrer Vorgängerin waren die Arme ganz zerkratzt durch das Kind, und sie war durch ihre Herrin den ganzen Tag dermaßen herumgehetzt, daß wir sie oft bis hierher weinen hörten.

Ich denke selbst, es wird nicht lange währen. loh danke Ihnen indes für die Auskunft.

Wo ist Ihre Herrin? fragte Victoire neugierig.

Sie ist soeben ausgegangen, um bei einer befreundeten Dame zu frühstücken.

Lisa und Julie verrenkten sich schier die Hälse, um einen Blick miteinander auszutauschen. Sie kannten diese Dame sehr gut. Das wird ein drolliges Frühstück mit dem Kopf nach unten und den Beinen nach oben! Wie kann man nur so verlogen sein! Sie bedauern zwar den Gatten nicht, er verdient noch Schlimmeres; aber ein solches Betragen wie das dieser Frau macht dem Menschengeschlechte doch Schande.

Da ist der Schmutzlappen! sagte Lisa, die jetzt das Erscheinen Adelens in der Küche der Josserands bemerkte.

Jetzt stieg aus diesem feuchten Schachte eine Flut von unflätigen Schmähungen gegen Adele auf, gegen das schmutzige und ungeschlachte Vieh, auf dem das ganze Haus herumtrat.

Schau, schau, die hat sich gar gewaschen! man sieht es gleich!

Unterstehe dich noch einmal, die Eingeweide vom Fisch, in den Hof hinunterzuwerfen, dann werde ich hinaufkommen und dich damit waschen!

Geh' Hostien essen, du Pfarrersdirne! Ihr müßt wissen, sie behält davon zwischen den Zähnen, um sich die ganze Woche damit zu nähren.

Adele neigte sich verblüfft, zum Fenster hinaus; dann rief sie ihnen zu:

Laßt mich in Ruhe, sonst werde ich euch begießen!

Das Geschrei und Gelächter ward nur noch lauter.

Hast sie gestern verheiratet, deine Herrin? Sie lernt vielleicht von dir, wie man die Männer festhält? ...

So ein Taugenichts! in einem Hause zu bleiben, wo man sich das Essen abgewöhnt hat! Das erbittert mich am meisten gegen sie! ...

Adelens Augen füllten sich mit Tränen.

Ihr könnt nichts als schimpfen! blökte sie. Ist es meine Schuld, wenn hier nichts gegessen wird?

Das Gespräch ward immer lauter; Lisa und Franziska, das Stubenmädchen, tauschten sehr herbe Worte aus, als plötzlich Adele – alle Schmähungen vergessend und nur dem Zusammenhangsgefühl gehorchend, ausrief:

Still! Die Gnädige ist da!

Es ward totenstill im Hofe. Alle machten sich jetzt in der Küche zu schaffen; aus der Tiefe des dunklen engen Hofes stieg nur der üble Geruch des Ausgusses empor, gleichsam der Hauch aller Unflätigkeiten, die in den Familien verheimlicht, hier aber von den Dienstleuten schonungslos hervorgezerrt werden.

Sie sind alle sehr herzig miteinander, begnügte sich Octave zu bemerken.

Dann neigte er sich hinaus und betrachtete die Mauern, gleichsam verdrossen darüber, daß er nicht vom ersten Augenblick durchschaut hatte, was hinter dem falschen Marmor sich barg.

Wo zum Teufel hat sie die Handschuhe, hingesteckt? fragte Trublot, der alles, sogar das Nachtkästchen durchsucht hatte.

Endlich entdeckte er sie im Bette selbst, ganz zerdrückt und warm. Er warf einen letzten Blick in den Spiegel, legte den Schlüssel an den vereinbarten Platz unter einen am Ende des Flures stehenden Kredenztisch, den irgend ein Mieter zurückgelassen hatte und ging dann in Begleitung Octaves hinunter. Er war zugeknöpft bis an den Hals, um Frack und weiße Krawatte zu verbergen; als man an der Wohnung der Josserand vorbei und auf der Haupttreppe angekommen war, hatte er seine zuversichtliche Haltung vollständig wiedergewonnen.

Auf Wiedersehen, mein Lieber, sagte er mit erhobener Stimme. Ich war besorgt und habe mich nach dem Befinden der Damen erkundigt. Sie haben vortrefflich geschlafen ... Auf Wiedersehen!

Octave blickte ihm lächelnd nach. Er entschloß sich, den Dachbodenschlüssel später zurückzugeben, und begab sieh zu den Campardon zum Frühstück. Ihn interessierte hauptsächlich Lisa, die bei der Tafel bediente. Sie trug ungewöhnliches, ruhiges und angenehmes Benehmen zur Schau, nur in ihrer herben Stimme glaubte er noch einen Nachhall der unflätigen Reden von vorhin zu entdecken. Sein Empfinden für das Weib hatte ihn bei diesem Mädchen mit dem platten Busen nicht getäuscht.

Frau Campardon war übrigens nach wie vor entzückt von ihr und höchlich erstaunt darüber, von ihr nicht bestohlen zu werden, was auch richtig war, weil ihr Laster einen ganz andern Namen hatte. Auch war das Stubenmädchen so gut zu Angela, daß die Mutter vollständiges Vertrauen faßte.

Diesen Morgen verschwand Angela bei dem Nachtisch, und man hörte sie in der Küche laut lachen. Octave erlaubte sich die Bemerkung, es sei vielleicht nicht gut, daß man sie so frei mit den Dienstboten verkehren lasse.

Ach, es ist dabei nichts zu befürchten, erwiderte Frau Campardon mit ihrer schmachtenden Miene. Victoire ist eine Person, die meinen Mann zur Welt hat kommen sehen, und Lisas bin ich vollständig sicher. Überdies zerreißt mir das Kind den Kopf. Sie hüpft den ganzen Tag um mich herum, daß ich schier toll werde.

Der Architekt kaute mit ernster Miene an seiner Zigarre.

loh selbst habe die Anordnung getroffen, sagte er dann, daß Angela jeden Nachmittag zwei Stunden in der Küche zubringe. Ich will, daß sie eine Hauswirtin wird. Sie steht fortwährend unter unserer Obhut, und Sie werden sehen, welches Juwel wir aus ihr machen.

Octave ließ den Gegenstand fallen. An manchen Tagen fand er den Architekten sehr dumm. Campardon lud ihn ein, mit ihm in die Rochus-Kirche zu gehen, wo heute ein berühmter Prediger zu hören sei, doch Octave lehnte ab. Er verständigte Frau Campardon, daß er nicht zum Mittagessen kommen werde, und schickte sich an, in sein Zimmer hinaufzusteigen; da fühlte er den Dachbodenschlüssel in der Tasche. Er entschloß sich, den Schlüssel sogleich hinabzutragen.

Aber oberhalb des Treppenabsatzes interessierte ihn ein unerwarteter Anblick. Die Türe des Zimmers, das an den sehr feinen Herrn vermietet war, dessen Namen man nicht nannte, war geöffnet. Das war ein Ereignis, denn die Tür blieb immer versperrt, gleichsam in Grabesruhe versenkt. Seine Überraschung stieg noch höher; er suchte mit den Blicken den Arbeitstisch des Herrn und entdeckte an dieser Stelle den Winkel eines großen Bettes, als er plötzlich eine kleine Dame, schwarzgekleidet, das Gesicht hinter einem dichten Schleier verborgen, bemerkte. Hinter ihr schloß sich die Tür geräuschlos wieder.

Er ging sodann, sehr neugierig geworden, der Dame auf den Fersen nach, um zu erfahren, ob sie hübsch sei. Aber sie schwebte mit scheuer Eile davon und streifte kaum mit ihren winzigen Stiefelchen die Treppenstufen, im Hause keine andere Spur als die ihres Eisenkrautparfüms zurücklassend. Als er im Hausflur anlangte, war sie verschwunden, und er bemerkte bloß Herrn Gourd,; der in der Vorhalle stand und sie sehr demütig grüßte, indem er sein Käppchen lüftete.

Als der junge Mann dem Hausmeister den Schlüssel zurückgegeben hatte, beeilte er sich, ihn zum Reden zu veranlassen.

Sie sieht sehr fein aus, sagte er. Wer ist sie eigentlich?

Das ist eine Dame, erwiderte Herr Gourd.

Er wollte nichts weiter hinzufügen. Aber er zeigte sich zugänglicher bezüglich des Herrn vom dritten Stockwerke. Ein Mann der besten Gesellschaft, der dieses Zimmer mietete, um darin ruhig eine Nacht in der Woche zu arbeiten.

Schau, schau! Er arbeitet! unterbrach ihn Octave. Was denn?

Er hat uns die Führung seiner Wirtschaft anvertraut, fuhr Herr Gourd fort, als habe er die Frage nicht gehört. Sehen Sie, er zahlt sehr gut ... Wenn man jemandem die Wirtschaft führt, weiß man bald, ob man's mit was Rechtem zu tun hat. Der hier ist der anständigste Mensch, den es nur geben kann: das sieht man an seiner Wäsche.

Er mußte jetzt beiseite treten, und auch Octave trat einen Augenblick in die Loge ein, um den Wagen der Mieter vom zweiten Stockwerke, die ins Boulogner Gehölz fuhren, vorüber zu lassen. Die Pferde bäumten sich, vom Kutscher mit straffen Zügeln zurückgehalten, und als der geschlossene Landauer in der Vorhalle durchrollte, waren durch die Wagenfenster zwei schöne Kinder sichtbar, deren lächelnde Köpfchen die unbestimmten Profile von Vater und Mutter verbargen. Herr Gourd wandte sich zurück, höflich, aber kalt.

Das sind Leute, die nicht viel Lärm im Hause machen; bemerkte Octave.

Niemand macht Lärm, sagte trocken der Hausmeister. Jedermann lebt, wie er's versteht, das ist alles. Es gibt Leute, die zu leben verstehen, und wieder Leute, die nicht zu leben verstehen.

Die Leute vom zweiten Stockwerke wurden strenge beurteilt, weil sie niemanden besuchten. Trotzdem schienen sie reich zu sein; aber der Mann arbeitete in Büchern, und Herr Gourd sprach mißtrauisch, mit verachtender Miene von ihm, um so mehr als man nicht wußte, was das Ehepaar da drinnen treibe mit dem Anschein, als ob es keines Menschen bedürfe und stets vollkommen zufrieden sei. Das kam ihm nicht geheuer vor.

Octave öffnete eben die Türe des Stiegenhauses, als Valerie zurückkehrte. Er drückte sich höflich beiseite, um sie vorbeigehen zu lassen.

Sie befinden sich wohl, gnädige Frau?

Ja, mein Herr, ich danke.

Sie war ganz atemlos. Während sie hinaufging, betrachtete er ihre schmutzigen Stiefelchen und dachte dabei an das Frühstück mit dem Kopfe nach unten und den Beinen nach oben, von dem die Dienstboten vorhin sprachen. Zweifelsohne kam sie zu Fuß zurück, weil sie keine Droschke finden konnte. Ein fader, warmer Geruch entstieg ihren feuchten Röcken. Die Müdigkeit, eine gewisse Mattigkeit in allen ihren Gliedern zwang sie, sich von Zeit zu Zeit wider Willen mit der Hand auf die Rampe zu stützen.

Welch häßlicher Tag, nicht wahr, gnädige Frau?

Schrecklich, mein Herr ... Und dabei so schwül.

Im ersten Stockwerk grüßten sie einander. Aber mit einem raschen Blick hatte er ihr arg mitgenommenes Gesicht bemerkt, ihre vom Schlafe aufgedunsenen Augenlider, ihr zerzaustes Haar unter dem in aller Eile aufgesetzten Hute. Immer weiter hinaufsteigend, dachte er darüber nach, von Neugierde und Zorn erfüllt. Nun – warum nicht mit ihm? Er ist weder dümmer noch häßlicher als die anderen.

Im dritten Stockwerke erwachte vor der Tür der Frau Juzeur die Erinnerung an sein Versprechen vom Tag zuvor. Ein Gefühl der Neugierde überkam ihn bezüglich dieser kleinen, so zurückhaltenden Frau mit den grünen Augen. Er läutete. Frau Juzeur kam selbst, ihm zu öffnen.

Ah, mein lieber Herr, sind Sie liebenswürdig! ... Treten Sie doch ein!

Die Wohnung war von einer Freundlichkeit, die ein wenig dumpfig roch: überall Tapeten und Vorhänge, die Möbel von einer Eiderdunen-Weichheit, die Luft lauwarm. Im Salon, wo die doppelten Vorhänge die andächtige Stimmung einer Sakristei hervorriefen, mußte Octave auf einem sehr breiten und niedrigen Sofa Platz nehmen.

Hier die Spitzen, sagte Frau Juzeur und erschien mit einer Schachtel, die mit allerlei weiblichem Tand gefüllt war. Ich will jemandem ein Geschenk damit machen und bin begierig, den Wert der Spitzen kennen zu lernen.

Es war ein Stück alter englischer Spitzen von seltener Schönheit. Octave prüfte sie mit Kenneraugen und schätzte sie auf dreihundert Franken. Ohne länger zu warten, beugte er sich dann, da beider Hände eben in den Spitzen wühlten, herab und küßte ihre Finger, Finger so schmal und klein wie die eines kleines Mädchens.

Aber, Herr Octave, in meinem Alter. Wo denken Sie bin! murmelte Frau Juzeur ohne jeden Groll.

Sie zählte zweiunddreißig Jahre und nannte sich sehr alt. Sie machte ihre gewohnte Anspielung auf ihre Unglücksfälle: mein Gott! ja; nach zehn Tagen der Ehe war der Grausame eines Morgens fort und kam nicht wieder, kein Mensch wußte weshalb.

Sie begreifen, wiederholte sie, ihre Augen zur Decke erhebend, daß nach solchen Schlägen es mit einer Frau zu Ende ist.

Octave behielt ihre kleine warme Hand, die sich in der seinigen verlor und drückte von Zeit zu Zeit flüchtige Küsse auf die Finger. Sie wandte ihre Blicke ihm wieder zu, betrachtete ihn mit einer unbestimmten und zärtlichen Miene; dann sagte sie in mütterlichem Tone das einzige Wort:

Kind!

Er glaubte sich ermutigt und wollte sie um die Taille fassen; aber sie entwand sich ihm ohne Heftigkeit und entschlüpfte seinen Armen lachend mit einer Miene, als denke sie, er scherze nur.

Nein, lassen Sie mich, wenn Sie wollen, daß wir gute Freunde bleiben.

Also nicht? fragte er leise.

Was nicht? Was wollen Sie sagen? Ach, meine Hand, so viel Sie wollen!

Er ergriff wieder ihre Hand. Aber diesmal öffnete er sie und küßte sie auf die innere Fläche. Die Augen halb geschlossen, sein Benehmen immer als Scherz auffassend, spreizte sie die Finger auseinander wie eine Katze, die ihre Krallen hervorstreckt, damit man sie unter den Pfoten kitzle. Sie gestattete ihm nicht weiter als bis zum Handgelenk zu gehen. Am ersten Tage war dies die geheiligte Linie, wo das Übel begann.

Der Herr Pfarrer kommt! meldete plötzlich Luise, von einem Gange zurückkehrend.

Die Waise hatte eine gelbe Farbe und die zerstörten Züge der Mädchen, die man an den Haustüren aussetzt. Sie brach in ein blödes Lachen aus, als sie den Herrn gewahr wurde, der aus der Hand von der gnädigen Frau aß. Aber auf einen Blick von dieser zog sie sich zurück. Ich fürchte sehr, daß ich aus ihr nichts Rechtes machen werde, bemerkte Frau Juzeur. Schließlich muß man es versuchen, eine dieser armen Seelen auf den rechten Weg zu leiten ... Warten Sie, Herr Mouret, gehen Sie hier.

Sie führte ihn in den Speisesaal, um den Salon dem Priester zu überlassen, den Luise hineinführte. Hier lud sie ihn ein, auf einen Plausch wiederzukommen. Sie werde wenigstens einen Gesellschafter haben; sie sei immer so allein, so traurig! Glücklicherweise finde sie Trost in der Religion.

Abends gegen fünf gewährte es Octave eine gewisse Erholung, sich bei den Pichon zum Essen einzufinden. Dieses Haus erschreckte ihn allmählich. Nachdem er sich anfänglich von der reichen Vornehmheit des Treppenhauses mit einem provinzialen Respekt hatte erfüllen lassen, ging er jetzt zu einer übertriebenen Verachtung über im Hinblick auf das, was er hinter den hohen Mahagonitüren zu erraten glaubte. Er kannte sieh gar nicht mehr aus: diese Bürgersfrauen, deren Tugend ihn anfangs befremdete, schienen ihm jetzt dem ersten Winke zu gehorchen; und sowie eine von ihnen Widerstand leistete, war er voll Überraschung und Groll.

Marie errötete vor Freude, als sie ihn das Paket Bücher auf das Büfett legen sah, die er für sie am Morgen geholt hatte.

Sind Sie artig, Herr Octave! wiederholte sie. Danke, danke! Wie gut es sich trifft, daß Sie so zeitig gekommen sind! Wollen Sie ein Glas Zuckerwasser mit Kognak? das fördert den Appetit.

Er nahm an, um ihr gefällig zu sein. Alles erschien ihm liebenswürdig bis auf Pichon und die Vuillaume, die rings um den Tisch herum plauderten, langsam ihre Unterhaltung von jedem Sonntage wiederkäuend. Marie lief von Zeit zu Zeit in die Küche, wo sie einen Hammelbraten bereitete. Er wagte, sie scherzend bis dorthin zu verfolgen; vor dem Herde faßte er sie um den Leib und küßte sie auf den Nacken. Ohne den geringsten Schrei, ohne das mindeste Zittern wandte sie sich um und küßte ihn ihrerseits mit ihren stets kalten Lippen. Diese Frische erschien dem jungen Mann köstlich.

Was ist's mit Ihrem neuen Minister? fragte er Herrn Pichon, in das Zimmer zurücktretend.

Der Beamte fuhr erschrocken in die Höhe. Soll es wieder einen neuen Unterrichtsminister geben? Er wußte nichts davon; in den Büros beschäftigte man sich niemals damit.

Das Wetter ist so schlecht! setzte er dann ohne Übergang fort. Nicht möglich, eine reine Hose zu behalten.

Frau Vuillaume sprach von einem Mädchen der Vorstadt Batignolles, das sich schlecht aufgeführt hatte.

Sie glauben mir nicht, mein Herr, sagte sie. Sie war vollkommen wohlerzogen; aber sie langweilte sich so sehr bei ihren Eltern, daß sie sich zweimal vom Fenster auf die hinunterstürzen wollte... Man werde heutzutage nicht mehr klug aus der Welt.

Man lasse die Fenster vergittern, sagte einfach Herr Vuillaume.

Das Essen war köstlich. Die ganze Zeit über dauerte diese Unterhaltung fort an der bescheidenen Tafel, die eine kleine Lampe beleuchtete. Pichon und Herr Vuillaume kamen auf das Beamtenpersonal des Ministeriums zurück und hörten nicht mehr auf, von den Chefs und Unterchefs zu sprechen. Der Schwiegervater gab denen aus seiner Zeit den Vorzug; dann erinnerte er sich, daß sie schon gestorben seien. Der Schwiegersohn hingegen sprach von den neuen und verlor sich dabei in eine unlösbare Verwirrung von Namen. Die beiden Männer jedoch, ebenso wie Frau Vuillaume kamen in einem Punkt überein, nämlich, daß der dicke Chavignat, derselbe, dessen Frau so häßlich sei, vielzuviel Kinder erzeugt habe. Das sei töricht bei seinen Vermögensverhältnissen. Octave lächelte, angeregt und zufrieden. Seit langer Zeit hatte er keinen so angenehmen Abend verbracht; er schloß sogar damit, daß er Chavignat im Tone der Übersetzung tadelte. Marie besänftigte ihn mit ihrem klaren Unschuldsblick ohne irgendeine Gefühlsregung darüber, daß sie ihn in der Nähe ihres Gatten sitzen sah. Sie bediente beide, jeden nach seinem Geschmack. Schlag zehn Uhr erhoben sich die Vuillaumes. Pichon setzte seinen Hut auf. Allsonntäglich begleitete er sie bis zum Omnibus. Diese Gewohnheit, ihnen seine Achtung zu bezeigen, hatte er gleich nach seiner Heirat angenommen, und die Vuillaumes würden sich sehr verletzt gefühlt haben, wenn er sich's hätte einfallen lassen, sich dieser Pflicht wieder zu entschlagen. Sie gingen stets zusammen in die Richelieu-Straße, die sie langsamen Schrittes hinaufwandelten, wobei sie nach dem Omnibus, der nach Batignolles fuhr, spähten, der immer vollständig besetzt an ihnen vorbeifuhr. Bei solchen Gelegenheiten geschah es oft, daß Pichon bis nach der Vorstadt Montmartre ging; denn er würde sich nicht erlaubt haben, seinen Schwiegervater und seine Schwiegermutter zu verlassen, bevor er ihnen in den Wagen geholfen hatte. Da sie sehr langsam gingen, brauchte er nahe an zwei Stunden für den Hin- und Rückweg.

Auf dem Treppenabsatz schüttelten sie einander freundschaftlich die Hände. In die Wohnung zurückgekehrt, sagte Octave ganz ruhig zu Marie:

Es regnet, Julius wird vor Mitternacht nicht nach Hause kommen.

Da man Lilitte zeitig schlafen gelegt hatte, nahm er Marie sofort auf den Schoß, trank mit ihr aus derselben Schale einen Rest Kaffee wie ein Gatte, der sich glücklich fühlt, daß seine Gäste fort sind, sich wieder einmal in seinem Hause heimisch fühlt und durch einen kleinen Familienschmaus etwas angeheitert, bei geschlossenen Türen mit seinem Weibchen nach Herzenslust scherzen und lachen kann.

Die Hitze machte die Luft schwül in dem engen Gemach, wo ein Gericht von Schneeiern einen Vanilleduft zurückgelassen hatte. Er küßte das Kinn der jungen Frau, da hörten sie plötzlich an die Türe kratzen. Marie hatte nicht einmal eine Anwandlung von Furcht; sie ging die Türe öffnen. Es war Saturnin Josserand, der blödsinnige Bursche. Sooft er vom Hause entkommen konnte, kam er, durch ihre Sanftmut angelockt, um mit ihr zu plaudern; und sie stimmten miteinander sehr gut überein; sie pflegten zehn Minuten lang zu bleiben, ohne zu sprechen, und tauschten von Zeit zu Zeit unzusammenhängende Bemerkungen aus.

Octave, der sehr ärgerlich war, öffnete nicht einmal den Mund.

Wir haben Gäste, stammelte Saturnin. Ich kümmere mich den Teufel darum, daß sie mich nicht zu Tische setzen, darauf hab' ich den Riegel zurückgeschoben und bin hergekommen. Das heißt nun »drangekriegt«!

Man wird besorgt sein; Sie sollten nach unten gehen, sagte Marie, als sie die Ungeduld Octaves bemerkte.

Doch der blöde Junge lachte ganz entzückt. Dann erzählte er in seiner schwerfälligen Sprache alles, was zu Hause geschah. Er schien jedesmal hauptsächlich zu kommen, um sein Herz zu erleichtern.

Papa hat wieder die ganze Nacht gearbeitet, Mama hat Berta geohrfeigt. Sagen Sie: ist's so schlimm zu heiraten?

Da Marie keine Antwort gab, fuhr er noch lebhafter fort:

Ich mag nicht aufs Land gehen ... Wenn sie sie nur anrühren, erdrossele ich sie allesamt, das kann ich leicht in der Nacht, während sie schlafen ... Sie hat eine Handfläche so weich wie Briefpapier, aber die andere ist ein garstiges Mädchen ...

Er fing dasselbe von vorne an, wurde irre, kam nicht dazu, das auszudrücken, was er eigentlich zu erzählen gekommen war. Endlich nötigte ihn Marie, zu seinen Eltern zurückzugehen, ohne daß er die Anwesenheit Octaves bemerkt hätte.

Dieser fürchtete, wieder gestört zu werden, und wollte daher die Frau in sein Zimmer hinüberführen; aber sie weigerte sich, und ihre Wangen wurden plötzlich hochgerötet. Da er sich diese Schamhaftigkeit nicht erklären konnte, wiederholte er ihr, daß sie wohl Julius würden zurückkommen hören, und daß sie Zeit haben werde, in ihre Wohnung zu schleichen. Allein als er sie mit sich zerrte, wurde sie vollends böse und zeigte die Entrüstung einer Frau, der man Gewalt antut.

Octave stand noch auf dem Treppenabsatz, verwundert über diesen unerwarteten Widerstand, als der Lärm eines heftigen Streites vom Hofe hinaufdrang. Es ist ausgemacht: alles kommt ihm heute in die Quere; er hätte besser getan, sofort schlafen zu gehen. Ein solcher Höllenlärm um diese Stunde war so ungewöhnlich, daß er endlich ein Fenster öffnete und lauschte. Unten schrie Herr Gourd:

Ich sage Ihnen, Sie gehen da nicht hinein! ... Der Hausherr ist benachrichtigt, er wird selber herunterkommen, um Sie vor die Türe zu setzen! ...

Warum? Vor die Türe! antwortete eine tiefe Stimme. Zahle ich meine Miete nicht? Geh' hinein, Amalie, und wenn der Herr dich berührt, wird's einen Spaß absetzen.

Es war der Arbeiter von oben, der nach Hause gekommen war in Begleitung des Frauenzimmers, das am Morgen fortgejagt worden. Octave neigte sich vor; aber in dem schwarzen Hofloch konnte er nur große schwankende Schatten wahrnehmen, auf welche die im Hausflur brennende Gaslaterne einen Lichtstrahl warf.

Herr Vabre! Herr Vabre! rief plötzlich der von dem Schreiner herumgestoßene Hausmeister in dringendem Tone. Kommen Sie schnell: sie will hinein.

Ungeachtet ihrer schlechten Beine war Frau Gourd den Hausherrn holen gegangen, der gerade an seinem großen Werke arbeitete. Er kam herunter. Octave hörte ihn wiederholt sagen: Das ist eine Schande, das ist abscheulich, ich werde in meinem Hause dergleichen niemals dulden!

Dann wandte er sich an den Arbeiter, den seine Gegenwart anfangs einzuschüchtern schien:

Schicken Sie dieses Weib weg, sogleich, hören Sie? ich mag keine Weiber im Hause.

Aber das ist ja mein Weib, rief der Handwerker außer sich. Sie ist im Dienst, sie kommt einmal des Monats, wenn ihre Dienstgeber es ihr erlauben. Ist das eine hübsche Geschichte! Ich werde mir von Ihnen nicht verbieten lassen, mit meinem Weibe zu schlafen.

Dieser Einwand machte beide stutzig, den Hausherrn wie den Hausmeister.

Ich kündige Ihnen, stammelte Herr Vabre. Inzwischen aber verbiete ich Ihnen, mein Haus als unanständigen Ort zu behandeln ... Gourd, werfen Sie diese Kreatur auf die Straße ... Ja, ich bin kein Freund von solchen Späßen. Ihr hättet sagen müssen, daß Ihr verheiratet seid ... Schweigt! Untersteht Euch nicht mehr zu widersprechen!

Der Tischler, sonst ein guter Kerl, der außer Zweifel sich einen kleinen Spitz angetrunken hatte, sagte endlich lachend:

Das ist doch ganz sonderbar ... Da der Hausherr dich nicht einlassen will, geh' zu deiner Herrschaft zurück, Amalie. Wir werden ein andermal einen Jungen machen. Wahrhaftig, es war nur, um einen Jungen zu machen ... Gewiß, ich nehme Ihre Kündigung an! Ich möchte auch sonst in dieser Bude nicht bleiben! Da geht's gar sauber her! Da wohnt ein hübscher Haufen Mistvolk beisammen! Das will kein Weib im Hause, duldet aber in jedem Stocke Putzpüppchen, die in ihren vier Wänden ein wahres Hundeleben führen. Dieses Affengezücht! Dieses Philistergeschmeiß!

Amalie war weggegangen, sie wollte ihrem Manne nicht noch größeren Verdruß verursachen, während er, ohne sonderlich zu grollen, fortfuhr zu brummen. Herr Gourd gab unterdessen Herrn Vabre, der wieder hinaufging, sein Schutzgeleite, wobei er sich etwas laut zu denken erlaubte. Was für ein schmutziges Pack doch der Pöbel ist! Ein Arbeiter sei genug, um das ganze Haus zu verpesten!

Octave schloß das Fenster. In dem Augenblick aber, als er zu Marie zurückkehren wollte, stieß jemand an ihn, der sachte in den Flur einbog.

Wie? Sie sind es schon wieder! sagte er, als er Trublot erkannte.

Der letztere blieb einen Augenblick sprachlos, dann sagte er grinsend:

Ja, ich bin es, ich habe bei den Josserand gespeist und gehe jetzt hinauf ...

Octave war empört.

Mit dieser Schlumpe Adele! ... Sie schwuren doch, Sie täten's nicht ...

Hierauf reckte sich Trublot mit vergnügter Miene und sagte:

Ich versichere Ihnen, mein Lieber, das ist sehr schick...

Sie hat eine Haut, wie Sie sich es nicht vorstellen können!

Dann erging er sich in Ausfällen gegen den Arbeiter, der mit seinen unsauberen Weibergeschichten verursacht hatte, daß er auf der Dienstbotentreppe beinahe ertappt worden sei. Er mußte über die Haupttreppe zurückkommen. Als er sich dann rasch entfernte sagte er noch:

Erinnern Sie sich, daß ich Sie nächsten Donnerstag zur Geliebten des Herrn Duverdy führen will. Wir werden zusammen speisen.

Das Haus war wieder in jene andächtige Ruhe, in jenes fromme Schweigen versunken, das aus den keuschen Schlafzimmern zu kommen schien. Octave war wieder in das Zimmer Mariens gegangen, die eben die Kopfkissen des Ehebettes zurechtlegte. Trublot, der oben den Sessel mit dem Waschbecken und einem Paar alter Pantoffeln verlegt fand, hatte sich auf das schmale Lager Adelens gesetzt, und wartete in Frack und weißer Halsbinde. Als er den Schritt Juliens erkannte, die heraufkam, um zu Bett zu gehen, hielt er seinen Atem zurück, da er ewig Furcht vor einem Weibergezänke hatte. Endlich erschien Adele ganz aufgebracht und faßte ihn beim Kragen.

Es ist doch garstig, wie du mich behandelst, wenn ich bei Tische bediene!

Was? wie ich dich behandle?

Gewiß! Du schaust mich ja gar nicht an. Du kannst nie sagen »darf ich bitten«, wenn du Brot verlangst. Heute abend, als ich den Kalbsbraten herumreichte, stelltest du dich, als kenntest du mich gar nicht ... Ich hab's satt, sag' ich dir; das ganze Haus wirft mir schon tödliche Grobheiten zu. Wenn du's auch noch mit den anderen hältst, wird's mir endlich zu bunt!

Sie entkleidete sich ganz wütend, warf sich auf das alte Gestelle hin, daß es krachte und kehrte ihm den Rücken zu. Er mußte sich auf das Bitten verlegen.

Der Arbeiter im anstoßenden Zimmer, der seinen Spitz noch nicht los hatte, sprach unterdessen mit sich selbst so laut, daß der ganze Flur ihn hören konnte.

Ei! das ist doch sonderbar, daß man einem verbietet, mit seinem Weibe zu schlafen! Kein Weib will er in seinem Hause dulden! Geh', alter Spießer, steck' jetzt deine Nase einmal in die vermieteten Wohnungen, um zu sehen, was da vorgeht! ...


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