Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

In den folgenden Tagen benahmen sich Jacques und Séverine, von Unruhe gepeinigt, in Havre sehr vorsichtig. Wenn Roubaud Alles wußte, warum belauschte, überraschte er sie nicht und rächte sich an ihnen eclatant? Sie erinnerten sich an seine eifersüchtigen Ausbrüche von ehedem, an seine Brutalitäten des einstigen, mit Fäusten um sich hauenden Arbeiters. Daß er so stumpfsinnig und schweigsam war, daß seine Augen so wirr umherblickten, war ihnen ein Beweis, daß er irgend einen Hinterhalt erdacht hatte, in welchem er sie fangen wollte. Deshalb wandten sie bei ihren nächsten Stelldicheins tausend Vorsichtsmaßregeln an und waren stets auf der Lauer. Roubaud's Abwesenheit aber wurde mit jedem Tage auffälliger. Vielleicht entfernte er sich absichtlich, nur, um plötzlich zurückzukehren und sie mitten in einer Umarmung zu überraschen. Allein diese Befürchtung verwirklichte sich nicht. Im Gegentheil, sein Fortbleiben dehnte sich so aus, daß er eigentlich niemals da war. Er entschlüpfte sobald er frei war und kehrte erst auf die Minute genau zurück, um seinen Dienst anzutreten. In den Wochen, in denen er am Tage Dienst hatte, frühstückte er um zehn Uhr in nur fünf Minuten, dann ging er fort und erschien erst wieder um halb zwölf. Sobald des Nachmittags um fünf Uhr sein Kollege ihn ablöste, war er sofort auf und davon und kehrte öfters erst am frühen Morgen wieder. Er genoß kaum einige Stunden Schlaf. Genau so geschah es, wenn er Nachtdienst hatte. Um fünf Uhr Morgens war er frei, zurück aber kam er erst um fünf Uhr Nachmittags, wahrscheinlich aß und schlief er außerhalb seines eigenen Hauses. Trotz dieser unsinnigen Wirthschaft war er noch eine lange Zeit hindurch die Pünktlichkeit eines Musterbeamten in Person; auf die Minute genau trat er seinen Dienst an; dabei war er oft so müde, daß ihn seine Füße nicht tragen konnten, trotzdem kam er gewissenhaft seinen Pflichten nach. In jüngster Zeit aber nahm er es nicht mehr so genau. Zweimal schon hatte Moulin, der andere Unter-Inspector, eine volle Stunde auf ihn warten müssen; als er eines Vormittags nach dem Frühstück nicht wieder erschien, hatte ihn Moulin als wackrer Kamerad sofort vertreten, um ihm eine Rüge zu ersparen. Die ganze Dienstleistung Roubaud's fiel auf diese Weise allmählich einer langsamen Desorganisation heim. Am Tage war er nicht mehr der thätige Mann, der die Züge expedirte und empfing erst nachdem seine Augen überall hin gewendet waren, um die geringsten Unregelmäßigkeiten dem Bahnhofsvorsteher zu rapportiren, der unnachsichtlich den Anderen und auch sich selbst gegenüber war. Nachts schlief er in dem großen Lehnsessel seines Bureaus einen bleiernen Schlaf. Selbst wenn er wach geworden, schien er noch weiter zu schlafen, denn er wanderte mit auf den Rücken gelegten Händen auf dem Bahnsteig auf und ab und gab die Befehle, deren Ausführung er nicht einmal prüfte, mit einer gleichgültigen Stimme. Durch die Macht der Gewohnheit ging trotzdem noch Alles gut ab, nur einmal fuhr durch seine Nachlässigkeit ein Personenzug auf einen Remisestrang. Seine Kollegen lachten über ihn und erzählten, er sei ein Trinker geworden.

In Wahrheit lebte Roubaud jetzt nur im ersten Stockwerk des Café du Commerce, in dem kleinen abseits gelegenen Saal, der nach und nach zur Spielhölle geworden war. Man erzählte sich, daß sich dort auch allnächtlich Weiber einfänden, doch hatte man bisher in der That nur eine entdecken können, das Verhältniß eines in Ruhestand versetzten Kapitäns, die mindestens vierzig Jahre alt war und ohne jede geschlechtliche Neigung dem Spiele fröhnte. Dort huldigte der Unter-Inspector der stumpfsinnigen Leidenschaft des Spieles, die nach dem Morde zufällig bei einer Parthie Piquet in ihm erwacht war. Diese Leidenschaft war gewachsen und jetzt zur gebieterischen Gewohnheit geworden, sie zog ihn von allen anderen Gedanken ab und verschaffte ihm ein wohlthuendes Vergessen. Sie besaß ihn soweit, daß er, dieser thierische Weiberfreund, jeden Gedanken an ein weibliches Wesen fahren ließ, daß das Spiel allein ihn vollständig befriedigen konnte. Die Gewissensbisse allein hätten ihn gewiß niemals so gepeinigt, daß er ein völliges Vergessen nöthig gehabt hätte, aber die Erschütterung, die seine Ehe und damit seine Existenz erfahren, hatte ihn dieser Tröstung, diesem Strudel egoistischen Glücks, das er für sich allein auskosten konnte, in die Arme geführt. Diese an seinem Ruin arbeitende Gier erstickte in ihm alles Andere. Der Schnaps würde ihm nicht schneller verfließende, freiere, leichtlebigere Stunden verschafft haben. Er kümmerte sich garnicht mehr um die Sorgen der Alltäglichkeit, sein Dasein schien von einer außerordentlichen Spannkraft gehoben, vollständig uninteressirt rührte ihn garnicht mehr ein Verdruß, über den er früher außer sich vor Wuth hätte sein können. Mit seiner Gesundheit ging es, abgesehen von der Müdigkeit der durchlebten Nächte, nicht schlecht; er wurde sogar stärker, das heißt schwammiger, und seine Lider drückten schwer auf die wirr blickenden Augen. Wenn er halb verschlafen mit trägen Bewegungen heimkehrte, brachte er nur eine souveräne Verachtung aller Dinge um sich her mit. In der Nacht, in der Roubaud die dreihundert Franken in Gold dem Fußboden entnahm, hatte er bei Herrn Cauche, dem Polizeikommissär, eine durch mehrfache Verluste angehäufte Spielschuld abtragen wollen. Dieser war ein alter, kaltblütiger Spieler; das eben machte ihn gefährlich. Er sagte zwar, er spiele nur zu seinem Vergnügen, denn er war durch seine amtliche Eigenschaft genöthigt, die Allüren des einstigen Militärs zu wahren und es war nicht weiter auffällig, daß er Vollständig in dem Café zu Hause war, weil er Junggeselle; das hinderte ihn aber garnicht, den ganzen Abend Bank zu halten und den Anderen das Geld abzunehmen. Man erzählte sich sogar, er hätte sich einige Nachlässigkeiten als Polizeikommissär zu Schulden kommen lassen und es sei ihm bereits nahe gelegt morden, zu demissioniren. Doch alles das hatte noch gute Weile; er hatte so wenig zu thun, warum größeren Eifer zeigen? Er begnügte sich damit, auf einen Augenblick auf den Perrons zu erscheinen, wo ihn Jeder respektvoll grüßte. Drei Wochen später schuldete Roubaud fast vierhundert Franken an Herrn Cauche. Er hatte ihm erzählt, daß die von seiner Frau gemachte Erbschaft ihnen jede Annehmlichkeit gestatte, aber auch lachend hinzugefügt, daß seine Frau die Schlüssel zur Kasse habe und daß er aus diesem Grunde nur langsam seine Spielschulden abzahlen könne. Als er sich eines Vormittags allein in der Wohnung befand, hob er abermals die Scheuerleiste auf und holte einen Tausendfrankschein aus dem Versteck. Er zitterte an allen Gliedern, eine solche Furcht hatte er in jener Nacht, als er die dreihundert Franken in Gold nahm, nicht empfunden. Die erste Anleihe galt ihm nur als ein zufälliges Ereigniß, während mit diesem Schein der Diebstahl begann. Eine fürchterliche Uebelkeit durchschlich immer seinen ganzen Körper, sobald er an dieses verfluchte Geld dachte, das nie zu berühren er sich geschworen hatte. Einstmals hatte er eher Hungers sterben wollen und jetzt rührte er es doch an. Wie es kam, daß seine Gewissensbisse verflogen waren, konnte er nicht sagen, wahrscheinlich Tag für Tag ein wenig, seit der Mord nach und nach eingekapselt wurde. Unten am Boden des Loches hatte er etwas Feuchtes, Widriges zu fühlen gemeint, das ihm die Angst aus allen Poren trieb. Schnell brachte er die Leiste wieder an Ort und Stelle. Er schwor, sich eher die Faust abhauen zu wollen, als sie nochmals aufzuheben. Seine Frau hatte ihn nicht gesehen, er athmete erleichtert auf und trank zu seiner Erfrischung ein großes Glas Wasser aus. Sein Herz schlug freudig erregt, denn jetzt konnte er mit diesem Gelde seine Schulden bezahlen und behielt noch etwas Kapital zum Spielen übrig.

Der Gedanke indessen, dieses Geld wechseln lassen zu müssen, steigerte wieder seine Angst. Einst war er ein braver Mann, er hätte sich freiwillig den Gerichten gestellt, wenn er nicht die Dummheit begangen, seine Frau in die Sache zu verflechten; jetzt versetzte ihn der bloße Gedanke an die Gensdarmen schon in Schweiß. Er wußte recht gut, daß das Gericht nicht die Nummern der verschwundenen Banknoten besaß und daß der Prozeß für immer registrirt und ad acta gelegt worden war, trotzdem fürchtete er sich, irgendwo das Geld wechseln zu lassen. Fünf Tage trug er den Schein mit sich herum. Gewohnheitsmäßig befühlte er ihn und gab ihm immer wieder einen neuen Platz, selbst Nachts trennte er sich nicht von ihm. Er schmiedete die verwegensten Pläne und quälte sich mit der Befürchtung von plötzlichen Zwischenfällen ab. Zuerst hatte er im Bahnhof Umschau gehalten: war es nicht das Beste, den Schein einem Kollegen zum Wechseln zu geben, der eine Kasse unter sich hatte? Nein, es schien ihm zu gefährlich. Dann wollte er an das andere Ende von Havre, und zwar ohne Dienstmütze, gehen und dort irgend etwas Gleichgültiges kaufen. Aber würde man sich nicht wundern, daß er wegen eines so geringfügigen Gegenstandes eine so große Summe wechseln ließ? Endlich entschloß er sich, die Note in dem von ihm täglich aufgesuchten Tabakgeschäft am Napoleonsgraben wechseln zu lassen, das war wohl das Einfachste. Dort wußte man, daß er geerbt hatte, die Verkäuferin konnte also nicht weiter überrascht sein. Er ging bis an die Thür, hier aber sank ihm der Muth, er schritt deshalb vorüber und wanderte bis zum Bassin Vauban hinunter, um seinen Muth wiederzufinden. Nach einem halbstündigen Spaziergange kam er noch immer unentschlossen zurück. Aber noch an demselben Abend zog er im Café du Commerce selbst in Gegenwart des Herrn Cauche in einer plötzlichen Anwandlung von Verwegenheit den Schein aus der Tasche und bat die Wirthin, ihn ihm zu wechseln. Diese hatte jedoch nicht genügend kleineres Geld, sie schickte also den Kellner damit in den Tabakladen. Man scherzte über diesen Kassenschein, der, obgleich schon zehn Jahre alt, ganz wie neu aussah. Der Polizeikommissar hatte ihn an sich genommen, ihn hin- und hergewendet und gemeint, der hätte gewiß irgendwo in einem Versteck geruht. Diese Aeußerung veranlaßte die Geliebte des Kapitäns außer Diensten, eine unendliche Geschichte von einem Schatze zu erzählen, den man unter der Marmorplatte einer Kommode aufgefunden hatte.

Wochen verflossen. Das Geld, welches Roubaud jetzt in Händen hatte, stachelte seine Spielwuth nur noch mehr an. Er spielte nicht um hohe Summen, aber er hatte ein so scheußliches Pech, daß die zusammenaddirten täglichen kleinen Verluste schließlich einen großen Betrag ausmachten. Gegen Ende des Monats besaß er keinen Sou mehr und hatte bereits einige Louis auf Ehrenwort verloren; nun fühlte er sich ganz krank, weil er keine Karte mehr anzurühren wagte. Er kämpfte mit sich und mußte sich sogar zu Bett legen. Wie besessen kehrte der Gedanke an die noch in der Diele des Speisezimmers ruhenden neun Bankbillets in jeder Minute zu ihm zurück: er sah sie durch das Holz, er fühlte, wie sie ihm unter den Sohlen brannten. Er hätte sich ja noch einen Schein ohne Weiteres nehmen können! Aber diesmal hatte er es sich geschworen, eher seine Hand in das Feuer zu stecken, als von Neuem dort zu wühlen. Aber eines Abends, als Séverine eingeschlafen war, konnte er es nicht mehr ertragen; er fühlte sich so entsetzlich unglücklich, daß ihm die Thränen in die Augen traten; er entfernte abermals die Scheuerleiste. Wozu sich auch noch dagegen sperren. Dieses Leiden konnte er sich ersparen, denn er begriff vollständig, daß er doch einen Schein nach dem andern nehmen würde, bis keiner mehr da war.

Am folgenden Vormittag bemerkte Séverine ganz zufällig eine frische Schramme an der Leiste. Sie bückte sich und überzeugte sich von dem Vorhandensein neuer Druckspuren. Zweifellos setzte ihr Gatte das Geschäft fort. Sie war selbst betroffen von dem Zorn, der sie erfüllte, denn sie war für gewöhnlich in Geldangelegenheiten nichts weniger als interessirt und überdies glaubte auch sie sich entschlossen, eher Hungers zu sterben als diese mit Blut befleckten Banknoten anzutasten. Aber gehörten sie nicht ihr gerade so gut wie ihm? Warum verfügte er heimlich darüber und vermied es sogar, sie zu Rathe zu ziehen? Bis zum Mittagessen quälte sie sich mit Gedanken darüber ab; sie würde wahrscheinlich ebenfalls die Leiste entfernt haben, wenn nicht bei dem Gedanken, dort allein suchen zu sollen, ein Gefühl der Kälte ihr Haar gestreift hätte. Konnte der Tod nicht auf's Neue aus tiefem Loche erstehen? Tiefe kindliche Furcht machte ihr den Aufenthalt in ihrem Wohnzimmer so unangenehm, daß sie ihre Arbeit zusammenraffte und sich in ihr Schlafzimmer einschloß.

Als Beide am Nachmittag schweigend die Ueberbleibsel eines Ragouts verzehrten, kochte es in ihr heftig auf; ganz gegen ihren Willen fühlten sich ihre Augen zu der bewußten Stelle der Diele wiederholt hingezogen.

»Du hast schon wieder etwas genommen, nicht wahr?« fragte sie plötzlich.

Er hob überrascht den Kopf. »Was meinst Du?«

»O spiele nur nicht den Unschuldigen, Du weißt ganz gut, was ich meine ... Aber höre mir gut zu: ich will nicht, daß Du das thust, denn es gehört mir ebenso gut wie Dir und mich macht es krank, wenn ich weiß, daß Du daran rührst.«

Er ging für gewöhnlich allen Streitigkeiten aus dem Wege. Ihr gemeinsames Leben war nur noch eine erzwungene Berührung zweier an einander geketteter Wesen; sie sprachen tagelang kein Wort mit einander, sie kamen und gingen Seite an Seite, wie sich fremde, gleichgiltige und in sich abgeschlossene Personen. Deshalb begnügte er sich auch anstatt jeder Erklärung mit einem bloßen Achselzucken zu antworten.

Aber Severine war zu aufgeregt, sie wollte mit dieser Geldfrage endlich zu Rande kommen, worunter sie schon seit dem Tage des Verbrechens so entsetzlich litt.

»Ich verlange, daß Du mir antwortest ... Wage es doch, mir zu sagen, daß Du es nicht angerührt hast.«

»Was geht das Dich an?«

»Das geht mich sehr viel an. Heute erst fürchtete ich mich so, daß ich nicht im Zimmer bleiben konnte. Immer wenn Du dort nach Geld gesucht hast, habe ich drei Nächte hindurch die abscheulichsten Träume ... Wir sprechen nie davon. Laß also alles liegen und zwinge mich nicht, davon zu reden.«

Er betrachtete sie mit seinen großen starren Augen und wiederholte brummig:

»Was geht es Dich an, wenn ich mir etwas nehme, ich zwinge Dich doch nicht, dasselbe zu thun. Das geht nur mich allein etwas an.«

Sie wollte heftig auffahren, doch faßte sie sich schnell. Ihr Gesicht drückte ein Gefühl des Leidens und Ekels aus, während sie sagte:

»Ich verstehe Dich nicht ... Du warst trotz alledem immer ein rechtschaffener Mann und würdest Niemandem einen Sou genommen haben ... Was Du gethan hast, kann allenfalls noch entschuldigt werden, denn Du wärest wahnsinnig und hast mich ebenfalls toll gemacht ... Jetzt aber stiehlst Du dieses verfluchte Geld, das für Dich gar nicht mehr existiren sollte, zu Deinem Privatvergnügen ... Was ist denn geschehen, wie konntest Du so tief sinken?« Er hörte ihr zu und war in diesem einen lichten Augenblicke nicht wenig betroffen, schon zum Dieb herabgesunken zu sein. Die Phasen der langsamen Demoralisation verschwanden, er konnte die Kluft nicht mehr überbrücken, welche der Mord um ihn gezogen hatte, sich nicht mehr erklären, warum eine andere Existenz, fast einem neuen Dasein gleichend begonnen hatte, während sein Haushalt zerfiel, sein Weib ihm abspenstig gemacht wurde und sich ihm feindlich gesinnt zeigte. Ebenso schnell aber fiel ihm ein, daß sich daran nichts mehr ändern ließe. Er machte eine Bewegung, als wollte er so ungelegene Reflexionen davonscheuchen.

»Wenn man sich zu Hause langweilt,« brummte er, »sucht man sich natürlich außerhalb zu zerstreuen. Da Du mich nicht mehr liebst ...«

»Nein, ich liebe Dich nicht mehr.«

Er sah sie an, seine Faust schlug auf den Tisch und ein Blutstrom färbte sein Gesicht.

»Also laß auch mich in Frieden! Hindere ich Dich in Deinem Vergnügen? Urtheile ich über Dich? ... Ein rechtschaffener Mann müßte manches an meiner Stelle thun, ich thue es aber nicht. Einen Fußstoß auf den Hintern müßtest Du zunächst erhalten, daß Du gleich zur Thür herausflögest. Dann werde ich vielleicht auch nicht mehr stehlen.«

Sie war bleich wie die Wand geworden. Sie hatte es sich schon oft gedacht, daß ihr Mann an einem innern Uebel kranken müßte, denn sonst hätte er, der Eifersüchtige, gewiß keinen Liebhaber seiner Frau geduldet. Das war das Anzeichen einer moralischen, unaufhaltsam fortschreitenden Gehirnerweichung, die jeden anderen Skrupel tödtete und das ganze Gewissen desorganisirte. Doch sie wehrte sich, sie wollte nicht die Schuldige sein. Bebend rief sie:

»Und ich verbiete Dir, das Geld zu nehmen.«

Er hatte fertig gegessen. Er faltete ruhig seine Serviette zusammen, erhob sich und sagte:

»Nun, wenn Du willst, können wir ja theilen.«

Er bückte sich bereits, um die Leiste zu heben. Doch schon war sie aufgesprungen und hatte den Fuß auf die Stelle gesetzt.

»Nein, nein! Du weißt, ich will lieber sterben ... Oeffne nicht. Nein, nein, nicht vor meinen Augen!« Séverine hatte für diesen Abend ein Zusammentreffen hinter dem Bahnhof verabredet. Als sie nach Mitternacht heimkehrte, erinnerte sie sich wieder der Szene dieses Abends und schloß sich in ihrem Schlafzimmer ein. Roubaud hatte Nachtdienst, sie hatte also nicht zu befürchten, daß er kommen würde, abgesehen davon, daß er überhaupt sehr selten zu Hause schlief. Sie hatte die Oberdecke bis zum Kinn heraufgezogen, und die Lampe brennen lassen, sie konnte aber nicht einschlafen. Warum hatte sie nicht in die Theilung gewilligt? Bei dem Gedanken, aus diesem Gelde ebenfalls Nutzen ziehen zu können, fühlte sie bereits ihre Rechtschaffenheit nicht mehr so lebhaft protestiren. Hatte sie nicht auch das Vermächtniß von la Croix-de-Maufras angenommen? Sie konnte also auch das Geld sich aneignen. Dann aber schauderte sie wieder. Nein, niemals! Geld würde sie schon genommen haben, aber dieses Geld, dieses einem Todten entwendete, dieses verfluchte Mordgeld wagte sie nicht zu berühren, aus Furcht, sich daran die Finger zu verbrennen. Von neuem beruhigte sie sich. Sie überlegte, daß sie es nicht nehmen wollte, um es zu vergeuden, sondern um es anderswo an einer nur ihr bekannten Stelle zu verstecken, wo es in alle Ewigkeit schlafen konnte. Dann wäre wenigstens die Hälfte der Summe aus den Händen ihres Mannes gerettet gewesen. Er hätte dann nicht mehr triumphiren und nicht auch den ihr gehörenden Theil verspielen können. Als der Kuckuk drei Uhr rief, bedauerte sie schon aufrichtig, nicht getheilt zu haben. Es kam ihr, wie aus weiter Ferne der Gedanke, aufzustehen, die Diele zu leeren, so daß ihm nichts mehr übrig blieb. Aber sie fühlte es sie so eisig überlaufen, daß sie nicht mehr daran denken wollte. Und doch schien es besser, alles zu nehmen und aufzubewahren, ohne daß er ein Recht hätte, sich zu beklagen! Dieser Gedanke trat ihr näher und näher, während gleichzeitig ein Wille, stärker als ihre Abwehr, die unbewußten Tiefen ihres Wesens aufwühlte. Ja, sie wollte es thun, mit einem Satz war sie aus dem Bett, sie konnte nicht anders, sie schraubte den Docht der Lampe höher und ging in das Speisezimmer.

Jetzt zitterte Séverine auch nicht mehr. Ihr Schrecken war verflogen. Sie ging kaltblütig mit den abgemessenen Bewegungen einer Somnambule zu Werke. Sie mußte erst den Schürhaken suchen, der zum Heben der Leiste taugte. Als das Versteck geöffnet war, rückte sie die Lampe bis an den Rand des Tisches, denn sie glaubte schlecht gesehen zu haben. Aber nein, vornübergebeugt starrte sie wie entseelt hinein; das Loch war in der That leer. Jedenfalls war Roubaud zurückgekehrt, während sie zum Stelldichein gegangen war und hatte vor ihr, von denselben Gedanken geleitet, hier gearbeitet: alle Kassenscheine hatte er an sich genommen, nicht ein einziger war zurückgeblieben. Nur Uhr und Kette ruhten noch in dem Versteck, deren Gold aus dem Schutt zwischen den Stützbalken heraufleuchtete. Ein Schüttelfrost befiel sie, nährend sie halb nackt auf dem Boden lag und wohl an zwanzig Male: »Dieb! Dieb!« kreischte.

Dann mit der Geberde einer Wahnsinnigen riß sie die Uhr und Kette an sich, während eine aufgescheuchte, dicke, schwarze Spinne eilig davonkroch. Durch Klopfen mit dem Absatz des Pantoffels brachte sie die Leiste wieder an ihre Stelle, sie stellte die Lampe auf den Nachttisch und legte sich wieder zu Bett. Als sie sich erwärmt hatte, betrachtete sie aufmerksam die Uhr, welche sie nicht aus der Hand gelegt hatte und jetzt hin und her wendete. Auf dem Deckel interessirten sie die eingravirten Initialen des Namens des Präsidenten. Auf der Innenseite las sie die Nummer 2516, eine Fabrikationschiffre ... Diese Uhr war ein ganz gefährliches Spielzeug, denn das Gericht kannte diese Zahl. Doch in ihrem Zorn, nur das gerettet zu haben, kümmerte sie sich darum nicht. Es freute sie, daß nun wenigstens das Alpdrücken aufhören mußte, seit kein Leichnam mehr unter ihren Füßen zu fürchten war. Sie würde jetzt endlich in ihrer Wohnung gelassen den Fuß überall hinsetzen können. Sie ließ die Uhr unter ihr Kopfkissen gleiten, löschte die Lampe aus und schlief ein.

Am folgenden Tage hatte Jacques keinen Dienst. Er wartete, bis Roubaud in das Café du Commerce gegangen war und kam dann hinauf, um bei Séverine zu frühstücken. So oft sie es ohne Gefahr konnten, waren sie von der Partie. Während der Mahlzeit erzählte sie ihm, noch zitternd vor Entrüstung, von dem Gelde und daß sie den Versteck leer gefunden habe. Ihre Wuth gegen ihren Mann war noch nicht erschöpft, auch jetzt kam ihr derselbe Schrei wieder über die Lippen:

»Dieb! Dieb! Dieb!« Dann brachte sie die Uhr herbei, sie wollte durchaus, daß Jacques sie nähme. Sie drängte sie ihm trotz seiner Abneigung förmlich auf.

»Begreife doch, Schatz, bei Dir vermuthet sie kein Mensch. Wenn ich sie behalte, nimmt er sie mir auch noch. Lieber ließe ich ihm ein Stück von meinem eigenen Fleische ... Nein, er hat schon mehr denn zu viel. Ich hatte kein Verlangen nach diesem Gelde. Es ängstigte mich, ich hätte keinen Sou davon für mich verwandt. Aber hat er das Recht, Nutzen aus ihm zu ziehen? O, ich hasse diesen Menschen!«

Sie weinte und bestand darauf, sie bettelte so lange, bis der junge Mann die Uhr endlich nahm und sie nebst Kette in die Tasche seiner Weste gleiten ließ.

Ein Stunde verrann, Séverine saß noch immer, nur halb angezogen, auf Jacques' Knieen. Sie lehnte an seiner Schulter, einen Arm hatte sie zärtlich um seinen Hals geschlungen, als plötzlich Roubaud eintrat, der seinen eigenen Schlüssel besaß. Sie waren in flagranti ertappt, da half kein Leugnen. Der Gatte war regungslos stehen geblieben, während der Liebhaber ohne sich zu rühren auf dem Stuhl sitzen blieb. Séverine aber ließ sich nicht erst zu einer Erklärung herbei, sondern ging direct auf ihn zu und wiederholte wüthend:

»Dieb! Dieb! Dieb!«

Roubaud zögerte eine Sekunde. Dann trat er mit dem Achselzucken, mit welchem er jetzt alles abfertigte, weiter in das Zimmer hinein und griff nach der Dienstmütze, die er vergessen hatte. Sie aber verfolgte und beschuldigte ihn:

»Du hast dort gesucht, wage nicht, es zu leugnen! ... Und Du hast alles genommen, Du Dieb, Du Dieb, Du Dieb!«

Er durchschritt ohne ein Wort zu erwidern das Speisezimmer. An der Thür nur wandte er ihr seinen düsteren Blick zu:

»Bleibe mir gewogen, verstanden?«

Die Thür fiel geräuschvoll in's Schloß. Er war gegangen, er schien nichts gesehen zu haben, denn er hatte von dem Liebhaber gar keine Notiz genommen.

»Glaubst Du?« fragte Séverine nach einer längeren Pause. Dieser hatte kein Wort gesprochen, sondern sich stillschweigend erhoben. Jetzt sagte auch er seine Meinung.

»Er ist ein todter Mann.«

Sie hatten Beide denselben Gedanken. Ihrer Ueberraschung, daß der zweite Liebhaber geduldet wurde, nachdem der erste Liebhaber ermordet war, folgte der Abscheu vor dem gefälligen Ehemann. Ist erst ein Mann an diesen Punkt gelangt, dann liegt er auch ganz im Koth der Gosse.

Von diesem Tage an genossen Jacques und Séverine völlige Freiheit. Sie nutzten sie nach Kräften aus und kümmerten sich garnicht mehr um Roubaud. Je unbesorgter sie aber um den Gatten wurden, desto größer wurde auch ihre Furcht vor der Spionage der stets auf der Lauer liegenden Nachbarin, Frau Lebleu. Diese ahnte jedenfalls etwas. Jacques konnte noch so vorsichtig auftreten, er konnte es nicht verhindern, daß sich drüben lautlos die Thür ein wenig öffnete und durch diese schmale Ritze ein Auge ihn verfolgte. Das wurde auf die Dauer unerträglich, er wagte sich schon gar nicht mehr nach oben. Er riskirte es, daß sich ein Ohr an das Thürschloß legte, wenn man ihn bei Séverine wußte. Auf diese Weise war jedes Kosen unmöglich, selbst das Plaudern. Séverine war außer sich über dieses Hinderniß, ihrer Leidenschaft freien Lauf zu lassen. Von neuem begann sie den alten Krieg gegen die Lebleu wegen der Wohnung Jener. Es war notorisch, daß zu allen Zeiten der Unter-Inspector letztere innegehabt hatte. Doch jetzt lockte sie nicht mehr der herrliche Blick auf den Bahnhofsplatz und die Höhen von Ingouville, den die Fenster boten. Der wahre Grund ihres Verlangens, den sie natürlich Niemandem sagte, war der, daß jene Wohnung eine zweite Entreethür besaß, die zu einer Diensttreppe führte, Jacques hätte durch diese gehen und kommen können, ohne daß Frau Lebleu einen seiner Besuche zu ahnen brauchte. Dann endlich waren sie ganz frei.

Die Schlacht tobte fürchterlich. Diese Frage, die schon einmal den ganzen Corridor in Aufruhr versetzt hatte, kam von Neuem auf die Tagesordnung und spitzte sich von Stunde zu Stunde mehr zu. Die bedrohte Frau Lebleu wehrte sich mit dem Muthe der Verzweiflung, der Tod war ihr gewiß, wie sie meinte, wenn man sie in die dunkle, verließartige Hinterwohnung sperrte, die von dem hohen Zinkdach umzäunt wurde. Wie sollte sie, die an ihr helles, auf den weiten Horizont sich öffnendes, von dem lebhaften Treiben der Reisenden wiederhallendes Zimmer gewöhnt war, dort hinten leben können? Da der Zustand ihrer Füße ihr jede Promenade verwehrte, hieß ihr den Ausblick auf das Zinkdach eröffnen eben so viel als sie sofort tödten. Unglücklicherweise nützten ihr diese sentimentalen Ausflüchte nichts, denn sie mußte selbst gestehen, daß der unverheirathete Vorgänger Roubaud's ihr seine Wohnung nur aus Galanterie überlassen hatte; es mußte sogar ein Brief ihres Mannes existiren, in welchem derselbe sich zur Räumung dieser Wohnung verpflichtete, sobald der neue Unter-Inspector sie für sich reklamiren sollte. Bis jetzt hatte sich dieser Brief nicht wieder vorgefunden, sie konnte also sein Vorhandensein leugnen. Je mehr sich die Angelegenheit zuspitzte, desto aggressiver und rücksichtsloser wurde sie geführt. Frau Lebleu versuchte sogar die Frau Moulin's, des zweiten Unter-Inspectors, mit in das Gerede zu bringen, die, wie sie behauptete, ebenfalls gesehen hätte, daß sich Frau Roubaud von fremden Männern im Corridor umarmen ließ. Moulin war wüthend darüber, denn seine Frau, eine sanfte, höchst unbedeutende Person, die sich vor Niemanden sehen ließ, beschwor weinend, nichts gesehen zu haben. Acht Tage lang pfiff dieser Sturmwind von einem Ende des Corridors bis zum andern. Der Cardinalfehler Frau Lebleu's, der schließlich ihre Niederlage besiegeln mußte, war die hartköpfige Spionage hinter Fräulein Guichon her, der Billetverkäuferin: das Bedürfniß, sie bei einem nächtlichen Rendezvous mit dem Bahnhofsvorsteher abzufassen, war bei ihr immer mehr zu einer Manie, einer fixen Idee ausgeartet, trotzdem sie in den zwei Jahren ihres Spionirens noch nicht einmal einen Hauch hatte hören können. Daß sie trotzdem ihrer Sache gewiß war, machte sie geradezu toll. Fräulein Guichon, die wüthend darüber war, daß sie weder heimkehren noch ausgehen konnte, ohne beobachtet zu werden, that natürlich auch das Ihrige, daß Jene in die Hofwohnung verwiesen wurde: dann trennte sie eine Wohnung von der Jener, sie hatte Frau Lebleu nicht mehr sich gegenüber und brauchte nicht an deren Wohnung vorüberzugehen. Der Bahnhofsvorsteher, Herr Dabadie, der sich bis jetzt in diesen Streit nicht gemischt hatte, nahm ganz auffällig von Tag zu Tag immer mehr Partei gegen die Lebleu. Das war ein bedenkliches Zeichen.

Andere Streitigkeiten machten die Situation noch verwickelter. Philomène trug ihre frischen Eier jetzt zu Séverine und benahm sich sehr frech gegen Frau Lebleu, wenn sie dieser begegnete; und da diese ihre Thür absichtlich offen ließ, um jeden Vorübergehenden zu ärgern, so waren die Schimpfereien der beiden Frauen nachgerade etwas Alltägliches. Diese Intimität Séverine's mit Philomène war aus den vertraulichen Botschaften entstanden, die Jacques durch Letztere übermitteln ließ, seit er selbst nicht mehr zu kommen wagte. Die Eier bildeten nur den Vorwand ihrer Besuche, in Wahrheit überbrachte sie Jacques' Mittheilungen über die Verlegung des Stelldicheins, warum er am Abend vorher hatte vorsichtig sein müssen und wie lange er mit Philomène geplaudert habe. Wenn irgend ein Hinderniß Jacques vom Kommen abhielt, verweilte er gern in dem Häuschen Sauvagnat's, des Depotchefs. Er begleitete seinen Heizer Pecqueux dorthin, wenn er sich zerstreuen und den Abend nicht allein verbringen wollte. Selbst wenn der Heizer es vorzog, die Matrosenkneipen aufzusuchen, ging er zu Philomène, ertheilte ihr einen Auftrag für Séverine, setzte sich und blieb dort. So nach und nach in das Geheimniß dieses Liebesverhältnisses eingeweiht, erwärmte sie sich immer mehr dafür, denn sie hatte bisher nur brutale Liebhaber kennen gelernt. Die kleinen Hände und die höflichen Manieren dieses traurigen Menschen mit den sanften Mienen däuchten ihr noch nie gekostete Süßigkeiten. Von Pecqueux's Liebeleien war sie nachgerade übersättigt, waren es doch mehr Rohheiten als Zärtlichkeiten, während ein vom Locomotivführer an die Frau des Unter-Inspectors gerichtetes Wort ihr selbst wie eine verbotene Frucht schmeckte. Eines Tages vertraute sie sich Jacques an, sie beklagte sich über den Heizer, der nach ihrer Meinung trotz seines ewigen Grinsens ein heimtückischer Mensch und wenn er betrunken, jeder schlechten That fähig war. Es fiel Jacques auf, daß sie ihren mageren, brünstigen, trotz allem immer noch begehrenswerthen Pferdekörper mit den leidenschaftlichen Augen jetzt mehr als früher pflegte, weniger trank und das Haus sauberer hielt. Als ihr Bruder eines Abends den Ton einer Männerstimme bei ihr vernahm, trat er mit erhobener Hand in ihr Zimmer, um sie zu züchtigen; als er jedoch den Besuch erkannte, hatte er ihm einen Schnaps angeboten. Jacques fühlte sich so gut aufgenommen, von seinem Schauer geheilt und schien sich aus diesem Grunde dort zu gefallen. Deshalb zeigte auch Philomène eine immer lebhaftere Freundschaft für Séverine und eine entsprechend größere Feindschaft gegen Frau Lebleu, die sie eine alte Gans nannte.

Als sie eines Nachts den beiden Liebenden hinter ihrem Gärtchen begegnete, begleitete sie dieselben im Dunkeln bis zur Remise, in der sie sich noch nach wie vor niederließen.

»Sie sind zu gut. Die Wohnung kommt Ihnen zu. Ich an Ihrer Stelle würde sie an den Haaren herausziehen ... Löschen Sie ihr eine!«

Aber Jacques war nicht für Gewaltthätigkeiten.

»Nein, Herr Dabadie hat die Sache bereits in die Hand genommen, es ist besser zu warten, bis sich Alles von selbst macht.«

»Noch ehe der Monat herum ist,« erklärte Séverine, »schlafe ich in ihrem Zimmer und wir können uns dort zu jeder Zeit sehen.«

Trotz der Dunkelheit fühlte Philomène, wie jene bei dieser Hoffnung den Arm des Geliebten zärtlich preßte. Sie ließ sie allein, um in ihr Haus zurückzukehren. Aber als sie dreißig Schritt weit gegangen war, blieb sie, von der Dunkelheit begünstigt, stehen. Das Zusammensein der Beiden regte sie furchtbar auf. Sie fühlte keine Eifersucht, aber ohne es zu wissen das Bedürfniß, ebenso zu lieben und geliebt zu werden.

Jacques' Gemüth verdüsterte sich von Tag zu Tag; zweimal schon hatte er einen Vorwand erfunden, um Séverine nicht zu treffen; daß er jetzt häufiger bei den Sauvagnat verweilte, war auch ein Grund, um ihr aus dem Wege zu gehen. Trotzdem liebte er sie noch immer, ja sein Verlangen nach ihr war ein so glühendes, daß es kaum noch übertroffen werden konnte. Aber in ihren Armen überkam ihn wieder sein altes Uebel und dieser fürchterliche Schwindel machte sein Blut erstarren; schnell und ängstlich mußte er sie wieder verlassen, fühlte er doch die Bestie zum Beißen bereit. Er versuchte durch weite Spaziergänge sich müde zu machen, er versah Aushülfedienste, er verbrachte zwölf volle Stunden mit durchrütteltem Körper und von dem Winde ausgedörrten Lungen auf seiner Locomotive. Seine Kameraden schalten auf diesen harten Beruf eines Locomotivführers, der, wie sie sich ausdrückten, nach zwanzig Jahren einen Menschen mit Haut und Haaren aufgefressen hatte. Ihm wäre es am liebsten gewesen, gleich gefressen zu werden; er konnte nicht genug müde werden und fühlte sich nur glücklich, wenn ihn die Lison davontrug, er an nichts weiter zu denken und nur die Signale zu sehen brauchte. Kam er in der Endstation an, dann war er so todtmüde, daß er sich nicht einmal mehr zum Rasiren die Zeit nahm. Aber beim Erwachen kam ihm derselbe quälende Gedanke wieder. Er hatte sich auch wieder für seine Lison zu erwärmen versucht, er konnte stundenlang an ihr herumputzen und verlangte von Pecqueux, daß die Achsen wie flüssiges Silber glänzten. Die Inspectoren, die unterwegs zu ihm stiegen, beglückwünschten ihn. Er aber schüttelte den Kopf und blieb unzufrieden, denn er wußte sehr wohl, daß die Locomotive seit jenem Feststecken im Schnee nicht mehr so rührig und ausdauernd wie früher war. Bei der Ausbesserung der Kammern und Schäfte war ihr zweifellos ein Theil ihrer Seele, jenes geheimnißvollen, lebensähnlichen Gleichgewichts abhanden gekommen, das der Zufall in die Montirung webt. Jacques litt schmerzlich unter diesem Verfall der Lison, er brachte bei seinen Vorgesetzten ganz unvernünftige Beschuldigungen gegen sie vor, er verlangte ganz unnütze Ausbesserungen und klügelte gern unpraktische Verbesserungen aus. Da man sie ihm abschlug, wurde er nur noch verbitterter. Er war überzeugt, daß die Lison krankte und man in Zukunft keinen Staat mehr mit ihr machen konnte. Seiner Zärtlichkeit sank der Muth: wozu noch Jemand lieb haben, wenn er doch alles, was er liebte, tödten mußte? Und er übertrug auf seine Geliebte diese Erbitterung verzweifelter Liebe, die kein Leiden und keine Ueberanstrengung heilen konnte.

Séverine fühlte sehr wohl, daß Jacques wie ausgewechselt war. Diese Thatsache berührte sie sehr schmerzlich, denn sie mußte annehmen, daß er ihr böse war, seit er alles wußte. Wenn sie ihn an ihrem Halse zittern fühlte und er vor ihrem Kuß jäh zurückwich, so geschah es nach ihrer Meinung, weil er sich plötzlich an alles erinnerte und sie ihm Entsetzen einflößte. Sie hätte es deshalb nimmermehr gewagt, das Gespräch auf diese Dinge zurück zu leiten. Sie bereute es, gesprochen zu haben, daß das Verlangen nach ihrem Geständniß unvermuthet über sie gekommen war, in jenem fremden Bett, in welchem sie Beide für einander erglühten; sie erinnerte sich nicht einmal mehr daran, daß das Bedürfniß nach diesem Geständniß sie von jeher gequält hatte, sie wußte nur, daß sie sehr zufrieden darüber gewesen war, kein Geheimniß mehr vor ihm zu haben. Und sie liebte und begehrte ihn mehr als je, seitdem er alles kannte. Ihre Leidenschaft war unersättlich, das Weib war endlich in ihr erwacht, einem Geschöpf, das nur zum Lieben geschaffen schien und doch noch nicht Mutter war. Sie lebte nur durch Jacques und machte aus ihrem Begehr, ganz in ihn aufzugehen, kein Hehl; es war ihr einziger Traum, ein Theil von seinem Fleische zu sein. Sie war so sanft und duldsam wie früher und hätte es am liebsten gesehen, daß sie vom Morgen bis Abend wie eine Katze in seinem Schoß schlummerte. Heute erstaunte sie darüber, daß sie hatte theilnehmen können an jenem fürchterlichen Drama, und daß sie aus dem Schmutz ihrer Jugend noch unbefleckt und jungfräulich hervorgegangen war. Wie lag alles das ihr heute so fern, sie lächelte sogar darüber und würde nicht einmal ihrem Manne mehr gezürnt haben, wenn er ihr nicht lästig gefallen wäre. So aber wuchs ihre Abneigung gegen diesen in demselben Maße, wie ihre Liebe und ihre Hingebung für den andern sich mehrten. Jacques, der von allem wußte, dem sie jetzt ganz allein angehörte, war ihr unumschränkter Gebieter, nur ihm wollte sie überallhin folgen, nur er hatte das Recht, über sie wie über jeden beliebigen Gegenstand nach Gutdünken zu verfügen. Sie hatte sich seine Photographie erbeten, die Lippen auf das Bild gedrückt schlief sie ein, sehr unglücklich darüber, daß er so elend ausschaute, ohne das Richtige errathen zu können, was ihn so sehr quälte.

So lange sie sich noch nicht in der neuen, noch zu erobernden Wohnung in aller Ruhe sehen konnten, blieb es mit ihren Stelldicheins im Freien beim Alten. Der Winter ging zu Ende und der Monat Februar brachte sehr mildes Wetter. Sie dehnten ihre Spaziergänge aus und lustwandelten stundenlang durch die mächtige Bahnhofsanlage. Er vermied es, sich irgendwo aufzuhalten, hing sie sich ihm aber allzuschwer an den Hals und war er deshalb genöthigt, sich niederzulassen und ihre Begier zu befriedigen, so verlangte er, daß es im Dunkeln geschähe, denn er fürchtete sie zu erwürgen, sobald er einen kleinen Streifen ihrer nackten Haut sähe: so lange er nichts erblickte, hoffte er noch der Bestie Widerstand zu leisten. In Paris, wohin sie ihm noch immer an jedem Freitag folgte, schloß er sorgfältig alle Vorhänge mit der Ausrede, daß das helle Licht sein Vergnügen beeinträchtige. Ueber diese allwöchentliche Reise sprach sie mit ihrem Manne kein Wort mehr. Den Nachbarn gegenüber galt das Uebel am Knie nach wie vor als Vorwand, überdies hatte sie jetzt die Ausrede, daß sie ihre alte Amme, die Mutter Victoire, besuchen müßte, deren Heilung im Hospital sehr lange währte. Beiden bereitete diese Fahrt eine angenehme Abwechslung, er gab an diesen Tagen besonders Acht auf die gute Aufführung seiner Locomotive, sie freute sich, ihn weniger umdüstert zu sehen und dann machte auch die Reise selbst ihr noch immer vielen Spaß, trotzdem sie die geringsten Bodenerhebungen, die geringsten Baumgruppen auswendig kannte. Von Havre bis Motteville reichte die weite, von lebendigen Hecken eingerahmte und mit Obstbäumen bestellte flache Ebene; bis Rouen hob und senkte sich die öde Gegend. Hinter Rouen rollte sich die Seine auf, die man bei Sotteville, Oissel und Pont-de-l'Arche passirte; dann sah man sie auf der weiten Ebene, sehr verbreitert, immerwährend wieder auftauchen. Von Gaillon ab hatte man sie beständig linker Hand, ihre flachen Ufer waren von Weiden und Ulmen eingerahmt. Der Bahndamm führte am Fuße der Hügel entlang; erst in Bonnieres verließ man sie, um sie plötzlich in Rosny, beim Verlassen des Tunnels von Rolleboise wiederzufinden. Sie glich einem trauten Reisegefährten. Noch dreimal passirte man sie, ehe man in Paris ankam. Es kamen Mantes mit seinem aus den Bäumen auftauchenden Kirchthurm, Triel mit seinen, wie weiße Flecken erscheinenden Gypsgruben, Poissy, durch das man mitten hindurchfuhr, die beiden grünen Mauern des Waldes von Saint-Germain, die Lilienböschungen von Colombes, endlich tief unten das Weichbild des schon vom Pont d'Asnières erblickten Paris mit dem fernen Arc de Triomphe, mit seinen verpesteten, mit Fabrikschornsteinen gespickten Baulichkeiten.

Die Locomotive bohrte sich in den Tunnel von Les Batignolles und gleich dahinter landete man in dem hallenden Bahnhof. Bis zum Abend gehörte der Tag ihnen. Auf der Rückfahrt war es schon Nacht, sie schloß ihre Augen und durchlebte noch einmal das genossene Glück. Aber jedesmal, am Morgen wie am Abend, beugte sie beim Vorüberfahren an la Croix-de-Maufras den Kopf vor und warf vorsichtig einen Blick hinaus, ohne sich selbst zu zeigen. Sie konnte darauf zählen, daß vor der Barriere Flore die umhüllte Fahne präsentirte und den Zug mit ihren flammenden Blicken musterte.

Seit das Mädchen die Umarmung der Beiden an jenem Schneetage belauscht, hatte Jacques Séverine vor Flore wiederholt gewarnt. Er kannte die ihm schon von Jugend auf nachstellende leidenschaftliche Liebe dieses wilden Kindes, und er ahnte, daß ihre jungfräulich energische Eifersucht einen tödtlichen und zügellosen Haß ausbrütete. Andrerseits mußte sie von vielem wissen, denn ihm fiel immer wieder ihre Bemerkung ein, daß der Präsident Beziehungen zu einer Dame hatte, die jetzt verheirathet sei und die Niemand verdächtige. Wußte sie das, so konnte sie sich auch das Verbrechen zusammenreimen: zweifellos hatte sie die Absicht, zu sprechen oder zu schreiben, kurz sich durch eine Denunziation zu rächen. Aber Tage und Wochen waren verflossen, ohne daß etwas Besonderes vorfiel, noch immer sah er sie stolz aufgerichtet auf ihrem Posten mit der Fahne in der Hand. Er hatte das Gefühl, als ob ihre glühenden Augen ihn schon träfen, sobald sie seine Locomotive in der Ferne zu Gesicht bekam. Ihr Blick fand ihn durch den Qualm, nahm ihn völlig gefangen und begleitete ihn beim Getöse der Räder auf seiner blitzschnellen Fahrt. Und gleichzeitig mit ihm wurde der Zug selbst gemustert, durchbohrt, durchsucht vom ersten bis zum letzten Waggon. Und ihr Auge fand auch immer die Nebenbuhlerin, die jetzt jeden Freitag, wie sie wußte, mit Jacques fuhr. Was nützte es Séverine, daß sie, durch das Verlangen, jene sehen zu wollen, gebieterisch angespornt, ihren Kopf nur ein ganz klein wenig nach vorn beugte: sie wurde gesehen und Beider Blicke kreuzten sich wie Schwerter. Heißhungrig entfloh der Zug, nur sie blieb ohnmächtig am Boden kleben, wüthend über das Glück, das er in sich barg. Sie schien zu wachsen, jedenfalls kam es Jacques so vor, so oft er sie wiedersah. Ihr Nichtsthun in der ganzen Angelegenheit machte ihn sehr besorgt, er fragte sich vergebens, welcher Plan in diesem, so düster blickenden großen Mädchen reifte, deren marmorner Erscheinung er nicht aus dem Wege gehen konnte.

Auch der Zugführer, Henri Dauvergne, war Beiden unbequem. Er hatte ebenfalls Dienst bei dem Zuge am Freitag und bewies der jungen Frau eine aufdringliche Liebenswürdigkeit. Ihr Verhältnis zu dem Locomotivführer war ihm bekannt und er hoffte, daß auch an ihn vielleicht die Reihe kommen würde. Wenn Roubaud bei der Abfahrt von Havre gerade Dienst hatte, boste er sich über die ihm nicht verborgen bleibenden Aufmerksamkeiten Henri's: er reservirte ein Koupee für Séverine, half ihr beim Einsteigen und sah persönlich nach der Heizung. Eines Tages hatte sogar der eigene Gatte, der übrigens nach wie vor mit Jacques sprach, als wäre nichts vorgefallen, diesen durch ein Blinzeln mit den Augen auf das Gebahren des jungen Menschen aufmerksam gemacht, als wollte er Jacques fragen, ob er so etwas litte. Bei gelegentlichen Zänkereien mit seiner Frau ließ er es durchblicken, daß er sie im Verdacht habe, es mit Beiden zu halten. Séverine bildete sich eine Zeitlang ein, daß auch Jacques das glaubte und wurde sehr traurig gestimmt. Unter Schluchzen und Weinen betheuerte sie ihm ihre Unschuld und daß sie sich eher tödten als ihm untreu sein würde. Er hatte sie, trotzdem er sehr bleich war, gehätschelt, umarmt und sie damit beruhigt, daß er sie immer für ehrbar gehalten hätte, er hoffte also, daß Niemand deshalb zu sterben brauchte.

Die ersten Abende des März brachten so scheußliches Wetter, daß sie ihre Stelldicheins aufgeben mußten; aber die Reisen nach Paris, diese wenigen Stunden der Freiheit genügten Séverine nicht mehr. Ihr verlangte danach, Jacques ganz für sich zu haben, mit ihm gemeinsam leben und Tag und Nacht bei ihm zubringen zu können. Ihre Abneigung gegen ihren Mann wuchs, das tägliche Gebundensein an diesen Menschen trieb sie in eine krankhafte, unerträgliche Aufregung hinein. So sanft und nachgiebig sie sonst als Frau auch war, sobald es sich um ihn handelte, fuhr sie aus der Haut, wenn er ihr nicht sofort ihren Willen ließ. In solchen Augenblicken schien es, als senkte sich der tiefe Schatten ihrer dunklen Haare auch auf das durchsichtige Blau ihrer Augen nieder. Sie wurde wild, sie warf ihm vor, ihre Existenz vergiftet zu haben, so daß ein ferneres Leben an seiner Seite unmöglich war. Hatte er nicht Alles herbeigeführt? Daß ihr eheliches Leben in Trümmer gegangen war, daß sie einen Liebhaber hatte, war es nicht sein Verschulden? Seine schwerfällige Gelassenheit, der gleichgültige Blick, mit dem er ihrem Zorn begegnete, sein runder Rücken, sein aufgeblasener Bauch, diese ganze schwammige Fettmasse, die sich in behäbigem Glück gefiel, regte sie, die so furchtbar duldete, vollends auf. Mit ihm zu brechen, auf und davon zu gehen und irgendwo ein neues Leben zu beginnen, einen anderen Gedanken kannte sie nicht mehr. O wie schön, von vorn anzufangen, die Vergangenheit auszulöschen, wieder fünfzehn Jahre alt zu sein, zu lieben und geliebt zu werden, so zu leben, wie sie damals vom Leben träumte! Acht Tage lang trug sie einen Plan zur Flucht mit sich herum: sie wollte mit Jacques nach Belgien fliehen und sich dort als junges, arbeitsames Paar niederlassen. Sie behielt aber diesen Gedanken für sich, denn es hatten sich ihrer Absicht sofort Hindernisse in den Weg gestellt; ihre Lage war dann eine höchst bedenkliche, die sie stets zittern machen würde, und vor Allem verdroß es sie, in diesem Falle ihrem Manne ihr Vermögen zurücklassen zu müssen, das baare Geld und la Croix-de-Maufras. Sie hatten das Ganze zu Gunsten des überlebenden Theiles testirt. So lange die Frau als gesetzliche Pflegerin darüber verfügen konnte, band ihre Macht ihm die Hände. Deshalb hätte sie es vorgezogen, lieber hier zu sterben, als sich durch ihre Flucht eines Sous zu berauben. Als er eines Abends todtenblaß nach oben kam und ihr erzählte, er sei so dicht vor einer Locomotive über die Schienen gegangen, daß der Puffer ihn schon gestreift hatte, dachte sie daran, daß sie nach seinem Tode frei sein würde. Sie sah ihn mit ihren großen Augen starr an: warum wollte er durchaus nicht sterben, nun sie ihn nicht mehr liebte und er aller Welt unbequem war?

Von nun an nahm Séverine's Traum eine andere Gestaltung an. Sie stellte sich vor, daß Roubaud bei einem Unglücksfall um das Leben gekommen war und daß sie mit Jacques nach Amerika reiste. Sie waren bereits verheirathet, hatten la Croix-de-Maufras verkauft und ihren ganzen Besitz in baares Geld verwandelt. Hinter sich ließen sie keine Furcht zurück; sie verließen das Vaterland, um, Eines im Arme des Anderen, neu geboren zu werden. Dort drüben gab es nichts, was sie vergessen wollte, sie könnte an den Beginn eines neuen Lebens glauben. Hier war sie um ihr Glück betrogen worden, dort wollte sie das Glück von Grund auf kennen lernen. Er würde gewiß bald eine Beschäftigung finden und auch sie könnte gewiß irgend etwas unternehmen, mit einem Worte, dort drüben winkte das mit Kindern gesegnete Glück, ein neues, arbeitsames, zufriedenes Leben. Des Morgens, wenn sie allein im Bett lag oder wenn sie bei ihrer Stickereiarbeit saß, suchte sie derselbe Traum heim, sie verbesserte ihn, malte ihn sich mehr und mehr aus und fügte unaufhörlich glückverheißende Einzelheiten hinzu, so daß sie sich mit Freuden und Glücksgütern schließlich geradezu überbürdet sah. Sie, die früher so ungern ausging, sah jetzt mit Vorliebe der Abfahrt der großen Dampfschiffe zu: sie ging zur Landungsbrücke hinunter, ließ sich dort nieder und folgte dem Rauche des Schiffes, bis er sich am Horizont mit den Nebeln der offenen See mischte; ihr zweites Gesicht spiegelte ihr dann vor, sie stände bereits mit Jacques auf Deck und sei, fern von Frankreich, auf dem Wege zu dem geträumten Paradiese.

Eines Abends im März wagte sich der junge Mann zu ihr hinauf. Er erzählte ihr bei dieser Gelegenheit, daß mit seinem Zuge ein ehemaliger Schulgenosse von Paris gekommen sei, um nach New-York zu fahren und dort eine neue Erfindung, eine Knopfmaschine, auszubeuten. Dieser brauchte einen Mechaniker als Theilnehmer und hatte ihm ein Anerbieten gemacht. Das wäre eine herrliche Gelegenheit, man brauchte nur dreißigtausend Franken einzuschießen und ein Gewinn von Millionen stände unter Umständen in Aussicht. Er sagte das nur gesprächsweise und fügte gleich hinzu, daß er das Anerbieten selbstverständlich ausgeschlagen habe. Trotzdem war ihm das Herz noch ein wenig schwer, denn es ist hart, auf ein Glück verzichten zu müssen, das man schon so gut wie in der Hand hat.

Séverine hörte wie abwesend zu. Verwirklichte sich jetzt ihr Traum?

»O, wir können morgen reisen,« flüsterte sie.

Er sah überrascht auf. »Wie, wir können reisen?«

»Ja, sobald er todt ist.«

Sie nannte Roubaud nicht, aber eine entsprechende Kopfbewegung hinterließ keinen Zweifel, wer der er war. Er hatte begriffen und machte eine unbestimmte Bewegung, als wollte er ausdrücken, daß er leider nicht todt wäre.

»Wir werden reisen,« sagte sie mit langsamer, tiefer Stimme, »und dort drüben glücklich sein! Die dreißigtausend Franken erhalten wir durch den Verkauf meines Besitztums und es würde noch etwas zu unserer Einrichtung übrig bleiben ... Du würdest zeigen, was Du kannst, während ich ein trautes, kleines Heim einrichte, in welchem wir uns mit ganzer Seele lieben können ... O, wäre das schön, wäre das schön!«

Und leise fuhr sie fort:

»Fern von jeder Erinnerung, vor uns nur neue Tage.«

Er fühlte, wie ihn ein mächtiges Gefühl des Glückes durchzog, ihre Hände fanden und drückten sich instinctiv, keiner sprach mehr, von dieser schönen Hoffnung völlig in Anspruch genommen. Sie brach zuerst das Schweigen.

»Du solltest noch einmal zu Deinem Freunde gehen, ehe er abreist und ihm sagen, daß er auf Dich warten soll, ehe er einen Theilhaber nimmt.«

Er staunte abermals.

»Warum das?«

»Mein Gott, weiß man denn? Vor einigen Tagen –die Lokomotive –eine einzige Sekunde –und ich war frei ... Des Morgens kann man noch ganz vergnügt und am Abend schon todt sein.«

Sie sah ihn starr an und wiederholte:

»O, wäre er erst todt!«

»Du willst doch nicht, daß ich ihn tödte?« fragte er und versuchte zu lächeln.

Dreimal sagte sie nein, aber ihre Augen, diese Augen einer zärtlichen Frau, die mit grausamer Wollust alles ihrer Leidenschaft opfert, sagten ja. Er hatte einen Andern getödtet, warum sollte ihm nicht Gleiches mit Gleichem vergolten werden? Dieser Gedanke keimte plötzlich in ihr als richtige Folge, als unumgängliches Ende auf. Ihn tödten und auf und davon gehen, nichts einfacher als das. War er todt, war auch alle Qual zu Ende und alles konnte von Neuem begonnen werden. Eine andere Lösung war in ihren Augen nicht mehr möglich, ihr Entschluß stand durchaus fest, trotzdem sie mit einem leisen Erzittern ihrer Stimme nein sagte, weil ihrer Grausamkeit noch der Muth fehlte.

Er lehnte am Büffet und zwang sich noch immer zu einem Lächeln. Er hatte soeben das dort liegende Messer bemerkt.

»Wenn Du willst, daß ich ihn tödte, so mußt Du mir auch das Messer dazu reichen ... Die Uhr habe ich schon, ein kleines Museum wäre also fertig.«

Er lachte noch stärker. Sie aber entgegnete ernst:

»Nimm das Messer.«

Und als er es in die Tasche geschoben hatte, lediglich um den Scherz bis auf die Spitze zu treiben, umarmte er sie.

»Gute Nacht also ... Ich gehe sofort zu meinem Freunde und sage ihm, daß er mich erwarten soll ... Wenn es Sonnabend nicht regnet, wollen wir uns hinter dem Hause Sauvagnat's treffen. Abgemacht? ... Nun sei hübsch ruhig, wir werden Niemand tödten, es ist zum Lachen.«

Trotz der vorgerückten Stunde ging Jacques zum Hafen hinunter, um das Hotel aufzusuchen, in welchem sein Freund, der am nächsten Tage abreiste, übernachten wollte. Er erzählte ihm von einer in Aussicht stehenden Erbschaft, erbat sich vierzehn Tage Bedenkzeit und wollte ihm dann endgiltigen Bescheid zukommen lassen. Als er durch die großen, düsteren Alleen zum Bahnhof zurückging, überlegte er erst verwundert den soeben gethanen Schritt. Der Entschluß, Roubaud zu tödten, stand also schon völlig fest, da er bereits über dessen Frau und Geld verfügte? Nein, gewiß nicht, er hatte sich noch zu nichts entschlossen, er traf nur Vorsichtsmaßregeln, falls er sich noch entschließen sollte. Doch jetzt tauchte die Erinnerung an Séverine in ihm auf, an ihre heiße Hand, ihren starren Blick, der ja sprach, während ihr Mund nein sagte. Ohne Frage wünschte sie es, daß er Jenen tödtete. Ihm wurde ganz wirr, sollte er es wirklich thun wollen?

In der Rue François-Mazeline angelangt, konnte er neben dem bereits schnarchenden Pecqueux keinen Schlaf finden. Gegen seinen Willen arbeitete sein Gehirn diesen Mordplan aus, es legte die Fäden dieses Dramas zurecht und rechnete die entferntesten Folgen aus. Er suchte und erörterte in sich die Gründe für und die Gründe gegen. Bei näherem kaltblütigen Nachdenken waren die meisten für. War Roubaud nicht das einzige Hemmniß seines Glückes? War er todt, konnte er seine angebetete Séverine heirathen, die, wie er sich nicht verhehlen konnte, schon jetzt ihm allein gehörte. Mit ihr erhielt er Geld, ein ganzes Vermögen. Er konnte seinen harten Beruf an den Nagel hängen, wurde selber Herr da drüben in Amerika, in welchen Lande, wie die Kameraden sagten, die Mechaniker das Gold mit Schaufeln einheimsen. Wie im Traume entrollte sich ihm das Bild eines neuen Lebens: ein leidenschaftlich geliebtes Weib, sofort zu gewinnende Millionen, ein Leben ohne jede Entbehrung, voll unbegrenzten Genießens. Und um diesen Traum zu verwirklichen, war nur eine Bewegung nothwendig, einen Mann niederzuschlagen, eine Bestie, eine Pflanze, die den Weg versperrt und die man deshalb vernichtet. Und nicht einmal interessant war dieser fette, halb kopfschwache Kerl, dessen thörichte Spielwuth jede einstige Energie untergraben hatte. Warum ihn schonen? Kein einziger Umstand sprach zu seinen Gunsten. Alles verurtheilte ihn, denn auf jede Frage gab es nur die eine Antwort, das Interesse der Anderen forderte seinen Tod Noch zu zögern wäre unklug und feige.

Jacques, dem der Rücken brannte, lag auf dem Bauch. Blitzschnell warf er sich plötzlich herum, als er einen so lange ihm noch unbestimmt vorschwebenden Gedanken wie eine scharfe Spitze sich in sein Gehirn bohren fühlte. Warum tödtete er, der schon von Kindheit auf tödten wollte, dem diese fixe Idee zu einer fürchterlichen Qual geworden war, diesen Roubaud nicht? Vielleicht würde dieses Opfer seiner Mordgier genügen und er nicht nur ein gutes Geschäft machen, sondern auch gleichzeitig geheilt werden. Welch ein Glück, geheilt zu sein, nicht mehr dieses Brennen im Blut zu fühlen, Séverine zu besitzen, ohne das fauchende Erwachen dieses Erbübels fürchten zu müssen, das ihm nur ausgeweidete Weiber an den Hals hängen wollte! Der Schweiß drang ihm aus den Poren, er sah sich mit dem Messer in der Faust Roubaud die Kehle durchbohren, wie jener es mit dem Präsidenten gehalten und fühlte befriedigt und gesättigt das warme Blut über seine Hände strömen. Er war entschlossen ihn zu tödten, damit gewann er die Heilung, die angebetete Frau, ein Vermögen. War es ihm durchaus bestimmt, Jemanden zu tödten, so sollte es dieser sein, dann wußte er wenigstens, daß es eine durch das Interesse und die Logik gebotene That der Vernunft war.

Als sein Entschluß gefaßt war, schlug es gerade drei Uhr. Jacques nickte bereits ein, als ein jäher Schauder ihn im Bett emporfahren ließ. Ja, mein Gott, hatte er denn das Recht, diesen Mann zu tödten? Wenn ihn eine Fliege ärgerte, so konnte er sie mit einem Schlage zermalmen. Als ihm eines Tages eine Katze durch die Beine kroch, hatte er ihr mit einem Fußstoße, allerdings ohne es zu wollen, die Glieder zerbrochen. Aber diesen Mann, sein Ebenbild! Er mußte nochmals alle Gründe hervorkramen, die ihm ein Recht auf den Mord zusprachen, das Recht der Starken, welche die Kleinen fressen, weil sie ihnen im Wege sind. Er liebte die Frau des Anderen und diese Frau wollte frei sein, um ihn heirathen und ihm ihr Vermögen zuwenden zu können. Dieses Hinderniß brauchte nur aus dem Wege geräumt zu werden. Wenn im Walde zwei Wölfe sich um eine Wölfin streiten, beißt nicht auch der stärkere den anderen zu Schanden? Und als in früheren Zeiten die Menschen ebenso wie die Wölfe sich in den Höhlen verbargen, gehörte da nicht die begehrte Frau dem der Bande, der sie sich aus dem Blute des Anderen zu erobern verstand? So lautete das Gesetz des Lebens, ihm mußte man gehorchen, nicht den Skrupeln, die eine spätere Zeit erfunden hatte. Nach und nach schien ihm sein Recht ein unumstößliches und sein erster Entschluß stand wieder in allen Theilen fest: schon vom nächsten Tage an wollte er Ort und Stunde ausdenken, den Act vorbereiten. Es war zweifellos das Beste, Roubaud des Nachts auf dem Bahnhofe während einer seiner Runden niederzustechen und damit gleichzeitig den Anschein zu erwecken, als ob überraschte Diebe ihn getödtet hätten. Dort hinter den Kohlenhaufen wußte er einen geeigneten Platz, dorthin konnte man ihn locken. Trotz seines Versuches einzuschlafen, malte er sich die Szene vollständig aus, er überlegte, wo er sich aufstellen, wie er zustoßen sollte, um ihn auf der Stelle todt hinzustrecken. Und während er sich die kleinsten Einzelheiten vorstellte, tauchte stumm, aber unbeugsam der Widerwille, der innere Protest gegen das Verbrechen in ihm auf. Und dieser Zwiespalt seiner Gefühle ermunterte ihn wieder vollends. Nein, er wollte doch nicht tödten! Es schien ihm ungeheuerlich, unausführbar, unmöglich. Der civilisirte Mensch, die aus der Erziehung gewonnene Kraft, der langsame und unzerstörbare Aufbau der Ueberlieferungen empörten sich in ihm. Du sollst nicht tödten, er hatte es mit der Milch der Generationen in sich eingesaugt, sein verfeinertes, mit Skrupeln ausstaffirtes Gehirn stieß den Mord mit Abscheu von sich, sobald er ihn zu begründen versuchte. Ja, tödten aus Selbstschutz in einer instinctiven Anwandlung, das ginge noch an, aber tödten mit Vorsatz, aus Interesse und Kalkul, das zu thun fühlte er sich nie, niemals im Stande!

Der Tag brach bereits an, als Jacques ein wenig einschlummerte, aber sein Schlaf war ein so leichter, daß sich der abscheuliche Kampf in ihm fortsetzte. Die folgenden Tage waren die schmerzlichsten seines Lebens. Er ging Séverine aus dem Wege, er hatte ihr sagen lassen, daß er sie am Sonnabend nicht erwarten würde, denn er fürchtete sich vor ihren Blicken. Aber am Montag mußte er sie wiedersehen, und wie er richtig befürchtet hatte, vermehrten ihre blauen, sanften, so unergründlich tiefen Augen wieder seine Angst. Sie sprach kein Wort von seinem Vorhaben, keine Bewegung, keine Silbe drängten ihn dazu. Aber aus ihren fragenden bittenden Augen sprach nichts Anderes als dieses. Er wußte nicht, wie er sich vor ihrer Ungeduld und ihrem Vorwurf rechtfertigen sollte; immer wieder fand er sie auf sich gerichtet, immer wieder las er aus ihnen das Erstaunen, daß er noch zögern könnte, glücklich zu werden. Als er von ihr ging, zog er sie rasch und heftig an sich, um ihr verstehen zu geben, daß er entschlossen sei. Er war es in der That, er war es bis er die letzte Stufe der Treppe hinter sich hatte. Dann begann von Neuem der Kampf seines Gewissens. Als er sie am übernächsten Tage wiedersah, stand ihm die Feigheit, daß er vor einer nothwendigen That zurückschrecke, deutlich auf dem bleichen Gesicht mit den unstät blickenden Augen geschrieben. Sie hing wortlos schluchzend an seinem Halse und schien sich fürchterlich unglücklich zu fühlen; er war wie verdreht und glaubte sich selbst verachten zu müssen. So oder so mußte er damit zu Ende kommen.

»Am Donnerstag dort unten, willst Du?« fragte er leise.

»Ja, am Donnerstag, ich werde auf Dich warten.«

Die Nacht von Donnerstag zum Freitag war kohlrabenschwarz. Ein sternenloser, von den dichten, undurchsichtigen Nebeln des Meeres erfüllter Himmel spannte sich über Havre aus. Wie gewöhnlich war Jacques zuerst zur Stelle und wartete hinter dem Hause der Sauvagnat auf Séverine. Die Finsterniß war eine so dicke, daß er ihr leichtfüßiges Kommen erst wahrnahm, als sie ihn bereits streifte, worüber er erschrak. Gleich lag sie in seinen Armen, nicht wenig beunruhigt, daß sie ihn zittern fühlte.

»Ich habe Dir Furcht eingejagt,« flüsterte sie.

»O, nicht doch, ich habe Dich ja erwartet ... Komm', es kann uns heute Niemand sehen.«

Die Arme um die Hüften geschlungen, wanderten sie über das weite Terrain. Auf dieser Seite des Depots brannten nur sehr wenige Gaslaternen, an manchen, besonders dunklen Stellen fehlten sie vollständig, während sie vom Bahnhof her wie helle Sternchen herüberblinkten.

Lange wandelten sie wortlos dahin. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt, hob ihn öfters und küßte ihm das Kinn; er beugte sich dann zu ihr hernieder und gab ihr als Erwiderung einen Kuß auf die Schläfe, auf die Wurzeln der Haare. Ein einziger, banger Ton von den fernen Kirchen kündigte die erste Morgenstunde an. Sie sprachen nicht und doch vernahmen sie ihre beiderseitigen Gedanken in ihrer Umarmung. Sie dachten nur an das Eine, so oft sie beisammen waren, wurden sie nur von diesem einen Gedanken beherrscht. Der Kampf tobte fort, warum noch darüber unnütze Worte verlieren, wo es allein zu handeln galt? Als sie sich zärtlich an ihm emporrichtete, fühlte sie in seiner Hosentasche das Messer. Er war also doch entschlossen?

Doch ihre Gedanken bewegten sie zu mächtig, um noch länger schweigen zu können, ihre Lippen öffneten sich und flüsterten kaum hörbar:

»Er kam eben nach oben, zuerst wußte ich nicht, was er wollte, dann sah ich ihn nach seinem Revolver langen, den er vergessen hatte ... Er wird jedenfalls eine Runde machen wollen.«

Wieder schwiegen sie, doch zwanzig Schritte weiter begann er zu sprechen:

»In der letzten Nacht ist hier Blei gestohlen worden ... Er wird zweifellos hierher kommen.«

Sie erzitterte. Beide verstummten und machten ganz kleine Schritte. Ein Zweifel war in ihr aufgestiegen: war es wirklich das Messer, das seine Tasche aufbauschte? Zweimal bückte sie sich, um ihrer Sache gewiß zu sein. Als aber ihr Reiben an seinem Beine ihr noch keine Gewißheit verschaffte, ließ sie die eine Hand sinken und fühlte. Ja, es war das Messer. Ihm war ihre Absicht nicht entgangen. Heftig zog er sie an seine Brust und flüsterte ihr in's Ohr:

»Er wird gleich kommen. Du wirst frei sein.«

Der Mord war beschlossen, sie meinten nicht mehr zu gehen, sondern von einer unbekannten Macht über den Erdboden getragen zu werden. Ihre Sinne hatten an Schärfe zugenommen, ihre Hände krampften sich schmerzhaft, der leiseste Hauch von ihren Lippen wurde mit einem Druck der Fingernägel erwidert. Sie vernahmen jedes fernhin durch die Finsterniß verhallende Geräusch, das Keuchen der Locomotiven, gedämpfte Stöße, hallende Schritte. Sie sahen die Nacht, die schwarzen Haufen von allen möglichen Gegenständen, als ob der Nebel vor ihren Blicken gefallen wäre. Eine Fledermaus strich vorüber, sie konnten ihrem Fluge kreuz und quer folgen. An der äußersten Ecke eines Kohlenhaufens blieben sie unbeweglich stehen, mit Augen und Ohren lauschten sie, ihr ganzes Wesen spannte sich. Jetzt flüsterten sie.

»Hast Du nicht dort unten einen Alarmruf gehört?«

»Nein, es war ein in die Remise geführter Waggon.«

»Aber dort links geht Jemand. Der Sand hat geknirscht.«

»Nein, es sind Ratten, die in dem Haufen wirthschaften, die Kohle bröckelt ab.«

Weitere Minuten vergingen. Plötzlich reckte sie sich an ihm empor.

»Da ist er.«

»Wo? Ich sehe nichts.«

»Er ist eben um den Frachtgüterschuppen herumgebogen und kommt direct auf uns zu ... Da! Sein Schatten geht an der weißen Mauer entlang!«

»Du glaubst, daß dieser dunkle Punkt ... Er ist also allein?«

»Ja, allein, ganz allein.«

In diesem entscheidenden Augenblick warf sie sich ihm abermals wie toll um den Hals und ihre glühenden Lippen suchten die seinen. Es war das ein inniger Kuß lebendigen Fleisches, als wollte sie ihm Blut von ihrem Blut einflößen. Wie heiß sie doch ihn liebte und wie sehr sie Jenen verfluchte!

O, sie hatte es an zwanzig Male schon wagen und selbst dieses Geschäft verrichten wollen, um ihm den Schrecken zu ersparen, aber ihre Hände waren hierzu zu schwach, sie fühlte sich hierzu viel zu sanft, so etwas bedurfte einer Männerfaust. Mit diesem langen Kuß gab sie ihm allen Muth, den sie besaß, das Versprechen ihm ganz zu dienen. Fleisch von ihrem Fleisch. Eine Locomotive pfiff in der Ferne und klagte melancholisch durch die öde Nacht; mit regelmäßigen Stößen sauste irgendwo ein Riesenhammer auf ein Eisen nieder, während die vom Meere heraufgestiegenen Nebel wie ein wildes Heer am Himmel sich ballten und fortwälzten und von Zeit zu Zeit die funkelnden Zungen der Gaslaternen auszulöschen drohten. Als sie endlich seinen Mund freigab, fühlte sie nichts mehr in sich, sie glaubte vollständig in ihn aufgegangen zu sein.

Er hatte mit einem Griff das Messer aufgeklappt, gleich darauf stieß er einen wilden Fluch aus.

»In des Teufels Namen, er geht wieder!«

In der That wandte sich der bewegliche Schatten, nachdem er sich ihnen bis auf fünfzig Schritte genähert hatte, nach links und entfernte sich mit dem ruhigen Schritte eines Nachtwächters, den nichts aus seiner Gelassenheit bringen kann.

Sie drängte ihn vorwärts.

»Komm', so komm doch.«

Beide glitten, er vorn, sie dicht hinter ihm, wie Jäger hinter dem Wilde lautlos dahin. An der Ecke der Reparaturwerkstätten verloren sie ihn einen Augenblick aus den Augen, dann fanden sie ihn höchstens zwanzig Schritte vor sich wieder, als sie behende einen Remisenstrang überschritten, um ihm den Weg abzuschneiden. Sie mußten die kleinsten Vorsprünge der Mauer als Versteck wählen, ein einziger falscher Schritt würde sie verrathen haben.

»Wir werden ihn nicht fassen,« brummte er. »Wenn er den Weichensteller erreicht, entkommt er uns.«

Sie flüsterte ihm wieder in den Hals hinein:

»Geh, geh nur.«

In diesem Augenblick, inmitten dieses weiten, in Finsterniß getauchten Terrains und der nächtlichen Trostlosigkeit des großen Bahnhofs war er zu Allem entschlossen, kam ihm doch diese Einsamkeit wie eine Mitschuldige vor. Seine Aufregung wuchs, während er seinen flüchtigen Schritt beflügelte, nochmals hielt er sich die Gründe vor, die diesen Mord als eine weise, berechtigte, logisch bekämpfte und logisch erklärliche That hinstellten. Er übte nur ein ihm zukommendes Recht aus, das Urrecht alles Lebens, denn dieses Blut des Anderen gebrauchte er unumgänglich für sein eigenes, ferneres Leben. Er brauchte nur dieses Messer ihm in den Hals zu bohren und das Glück war sein.

»Wir werden ihn nicht bekommen, wir werden ihn nicht bekommen,« wiederholte er wüthend, denn er sah den Schatten jetzt das Weichenstellerhäuschen passiren. »Verflucht, da geht er hin.«

Im selben Augenblick aber packte sie ihn mit ihrer nervigen Hand am Arm und zog ihn an sich.

»Sieh nur, er kommt zurück.«

Roubaud war in der That umgekehrt. Er wandte sich nach rechts, dann kam er wieder auf sie zu. Vielleicht hatte er auf seinem Rücken die dunkle Empfindung von den seine Spur verfolgenden Mördern gehabt. Er setzte seinen Weg ruhigen Schrittes fort, wie ein gewissenhafter Wächter, der erst heimkehren will, nachdem er alles in Augenschein genommen hat.

Jacques und Séverine rührten sich nicht mehr vom Flecke. Zufällig waren sie gerade hinter der vorspringenden Ecke eines Kohlenhaufens stehen geblieben. Sie drückten sich mit dem Rückgrat fest an ihn, als wollten sie in ihn hineinkriechen und waren in dem Tintenmeer mit einem Male völlig verschwunden. Sie hielten den Athem an.

Jacques sah Roubaud direct auf sich zukommen. Noch trennten sie dreißig Schritte, doch mit jedem Schritte verminderte sich regelmäßig der Abstand, als schlüge der unerbittliche Balanzier des Schicksals den Tact. Zehn Schritt und nochmals zehn Schritt: gleich hatte er ihn vor sich, er brauchte nur den Arm zu erheben, ihm das Messer in den Hals zu stoßen und ihn von rechts nach links zu ziehen, um den Schrei zu ersticken. Die Sekunden däuchten ihm endlos; ein solche Fluth von Gedanken durchtobte die Leere seines Schädels, daß ihm jede Zeitmessung abhanden ging. Noch einmal zogen alle Gründe, die ihn zu dieser That drängten, an ihm vorüber, er erlebte bereits den Mord, er wußte seine Ursachen und seine Folgen. Noch fünf Schritte. Sein bis zum Platzen angespannter Entschluß stand unerschütterlich fest. Er wollte tödten, er wußte, warum er tödtete.

Jetzt noch zwei Schritt, da mit einem Mal ging in ihm alles kopfunter, kopfüber. Nein, er konnte diesen wehrlosen Mann nicht heimtückisch morden. Das Grübeln konnte ihn nicht zum Mörder machen, er gebrauchte kein Instrument zum Morde, er mußte ihn aus Hunger oder Leidenschaft zerfleischen können. Was konnte er dafür, daß das Gewissen aus den überlieferten Ansichten einer langsamen Gerechtigkeitsvererbung sich zusammensetzte! Er fühlte sich nicht berechtigt zu tödten und was immer auch er sich einzureden suchte, dieses Recht konnte er nie in Anspruch nehmen.

Roubaud schritt gelassen vorüber. Sein Ellbogen streifte beinahe die gegen die Kohlen Lehnenden. Ein einziger Athemzug hätte sie verrathen, aber sie blieben starr wie Todte. Kein Arm erhob sich, kein Messer blitzte. Nichts rührte sich in der Finsterniß, nicht einmal ein Schauder. Roubaud war schon zehn Schritt weit entfernt und noch immer war ihr Rücken wie angenagelt an die Kohle; athemlos blieben sie stehen, als fürchteten sie den einsamen, wehrlosen Mann, der sie soeben fast berührt hatte und so friedlich seinen Weg fortsetzte.

Jacques stöhnte vor Wuth und Schande.

»Ich kann nicht, ich kann nicht!«

Er wollte sich an Séverine lehnen, sich auf sie stützen, ihn verlangte es nach ihrer Entschuldigung, ihrer Tröstung. Aber ohne ein Wort zu verlieren, entwand sie sich ihm. Er streckte seine Hände nach ihr aus, doch ihre Kleider glitten ihm durch die Finger, er vernahm nur noch ihre flüchtigen Schritte. Vergebens folgte er ihr, denn dieses plötzliche Verschwinden nahm ihm vollends den Kopf. Hatte sie sich über seine Schwachheit geärgert? Verachtete sie ihn? Die Vorsicht empfahl ihm, ihr nicht nachzugehen. Doch als er sich allein in dieser mächtigen, nur von den gelblichen Thränen der Gaslaternen unterbrochenen Oede befand, befiel ihn eine grenzenlose Hoffnungslosigkeit. Er machte, daß er davonkam und vergrub seinen Kopf tief in die Kissen, um den Fluch zu ersticken, der auf seinem Dasein ruhte.

Zehn Tage später, gegen Ende März triumphirten endlich die Roubaud über die Lebleu. Die Verwaltung hatte ihre, von Herrn Dabadie unterstützte Beschwerde berechtigt gefunden, denn auch der bewußte Brief, in welchem sich der Kassirer verpflichtete, die Wohnung zu räumen, sobald ein neuer Unter-Inspector sie reklamirte, war von Fräulein Guichon beim Durchsuchen alter Rechnungen in dem Bahnhofsarchiv gefunden worden. Frau Lebleu war außer sich über ihre Niederlage, sie erklärte sich sofort zum Ausziehen bereit; wenn man durchaus ihren Tod wollte, dann lieber gleich. Drei Tage lang hielt dieser denkwürdige Umzug den Corridor in Aufregung. Selbst die kleine, dünne Frau Moulin, die man nie kommen und gehen sah, betheiligte sich, indem sie Séverine's Arbeitstisch von einer Wohnung in die andere trug. Philomène aber war ganz in ihrem Element. Sie hatte gleich in der ersten Minute ihre Hilfe angeboten, sie schnürte Bündel, schleppte und rückte die Möbel und besetzte die Vorderwohnung, noch ehe ihre Bewohnerin sie verlassen hatte. Sie war es, die Frau Lebleu aus ihrem Heim trieb, während beider Mobiliar noch einen unentwirrbaren Knäuel bildete, denn Alles war untereinander gekommen. Sie entwickelte für Jacques und alles, was er liebte, einen so auffallenden Eifer, daß in dem erstaunten Pecqueur ein Verdacht aufstieg. Er fragte sie mit seiner rachsüchtigen Trunkenboldsmiene, ob sie jetzt mit seinem Maschinenführer schliefe, er wolle sie nur warnen, sich nicht abfassen zu lassen, denn sonst würde er mit ihnen Beiden abrechnen. Ihr Herz schlug noch stärker wie sonst für Jacques, sie wollte ihm und seiner Geliebten dienen in der stillen Hoffnung, dadurch, daß sie sich zwischen Beide drängte, auch etwas von ihm zu haben. Als sie den letzten Stuhl herübergeschleppt hatte, flog die Thür zu. Plötzlich bemerkte sie noch einen von der Kassirersfrau vergessenen Puff, sie öffnete die Thür wieder und warf ihn auf den Corridor. Der Umzug war vorüber.

Nun nahm das Leben allmählich wieder seinen monotonen Verlauf. Während die Gicht Frau Lebleu in ihren Sessel in der Hofwohnung bannte, wo sie zu sterben glaubte und mit dicken Thronen in den Augen nichts weiter sah, als das den Himmel abschließende Zinkdach, saß Séverine an einem Fenster der schönen Vorderwohnung und stickte an ihrem nicht fertig werdenden Fußkissen. Unter ihr das fröhliche Leben des Auffahrtplatzes, der ununterbrochene Strom der Fußgänger und Wagen. Schon schmückte der vorzeitige Frühling die Spitzen der großen, die Bürgersteige umsäumenden Bäume mit jungem Grün. Darüber hinaus entrollten die fernen Ufer von Ingouville ihre buschigen, von weißen Landhäusern unterbrochenen Abhänge. Und doch war sie überrascht, so wenig Freude an der Erfüllung ihres Traumes, an ihrer so heiß begehrten Wohnung voller Licht, Leben und Sonne zu empfinden. Die Mutter Simon brummte, weil sie ärgerlich war, in ihren Gewohnheiten gestört zu sein und auch sie wurde zeitweilig ungeduldig und vermißte ihr einstiges Loch, in welchem man wenigstens den Schmutz weniger sah. Roubaud hatte ihr vollständig den Willen gelassen. Er schien mitunter garnicht zu wissen, daß sein Nest ein anderes geworden war, oft irrte er sich und wunderte sich höchlichst, daß sein Schlüssel nicht in das alte Schloß paßte. Im Uebrigen nahm der Verfall der Wirtschaft seinen Fortgang, er erschien immer seltener in der Wohnung. Eine kurze Zeit schien er unter dem Erwachen seiner politischen Gedanken wieder aufzuleben; natürlich brannten sie ihn nicht, denn er vergaß keinen Augenblick die Geschichte mit dem Unterpräfecten, die ihm beinahe die Stellung gekostet hatte. Aber seit das durch die allgemeinen Wahlen erschütterte kaiserliche Regiment eine fürchterliche Krisis durchmachte, triumphirte er, er wiederholte gern, daß diese Leute glücklicher Weise nicht immer die Herren bleiben würden. Uebrigens genügte ein freundschaftlicher Wink von Herrn Dabadie, dem es durch Fräulein Guichon gesteckt worden war, ihn zu beruhigen. Jetzt, wo Frau Lebleu, von der Trauer getödtet, täglich schwächer wurde und das Leben im Corridor ruhig und einträchtig dahinfloß, warum neue Verdrießlichkeiten heraufbeschwören, noch dazu der Regierung wegen. Roubaud mokirte sich im Grunde genommen über die Politik so gut wie über alles Andere! Ohne Gewissensbisse zu empfinden und täglich fetter werdend, ging er mit gleichgültigem Rücken leisen Schrittes seinen eigenen Weg.

Seit Jacques und Séverine sich stündlich sehen konnten, war ihre beiderseitige Scham gewachsen. Jetzt hinderte nichts mehr ihr Glück; er konnte auf der anderen Treppe zu ihr gelangen, so oft es ihm beliebte und ohne Furcht belauscht zu werden. Die Wohnung gehörte ihnen, er hätte sogar dort schlafen können, wenn er die Kühnheit gehabt hätte, aber diese gewollte, von beiden gebilligte und trotzdem unerfüllte und nicht durchgeführte That hatte eine unüberschreitbare Mauer zwischen Beiden aufgerichtet. Ihn drückte die Schande seiner Schwachheit, er fand sie jedesmal verstimmter und unglücklicher über das unnütze Warten. Selbst ihre Lippen suchten sich nicht mehr, denn diesen halben Besitz hatten sie bis zur Hefe ausgekostet. Es gab für sie nur noch ein einziges Glück, die Abfahrt, die Heirath da drüben und ein neues Leben.

Eines Abends fand Jacques Séverine in Thränen. Als sie ihn sah, hing sie sich an seinen Hals und schluchzte noch stärker wie zuvor. Sie hatte schon öfter so geweint, doch hatte seine Umarmung sie bisher noch stets beruhigen können. Doch je stärker er sie diesmal an sein Herz drückte, um so stärker schien ihre Verzweiflung sich zu äußern. Er wußte nicht, was er mit ihr beginnen sollte und nahm ihren Kopf zwischen seine beiden Hände. Er sah ihr tief in die feuchten Augen und verstand, warum sie so verzweifelte. Sie bedauerte es, eine Frau zu sein und daß es ihre duldsame Milde nicht zuließ, selbst zu morden.

»Verzeihe mir und warte noch ein wenig. Ich schwöre Dir, es soll bald geschehen, sobald ich kann.«

Sofort ruhte ihr Mund auf dem seinen, als wollte sie diesen Schwur dort besiegeln. Und wieder küßten sie sich so innig und so ewig, als flösse ihr ganzes Sein durch diese Brücke ihres Fleisches ineinander.


 << zurück weiter >>