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Siebentes Kapitel

Als an jenem Freitag die Passagiere, welche von Havre aus den Eilzug um sechs Uhr vierzig Minuten nach Paris benutzen wollten, erwachten, waren sie nicht wenig überrascht: seit Mitternacht fiel der Schnee in dichten, großen Flocken; in den Straßen lag er bereits dreißig Centimeter hoch.

In der bedeckten Halle dampfte und keuchte bereits die Lison vor drei Waggons zweiter und vier erster Klasse. Als um halb sechs Jacques und Pecqueux in das Depot gekommen waren, brummten sie nicht wenig ob dieses hartnäckigen Schneefalles vom düsteren Himmel. Während sie jetzt auf ihrem Posten das Abfahrtssignal erwarteten, schweiften ihre Augen über das gähnende Portal der Halle hinaus und beobachteten das lautlose und endlose Fallen der Flocken in der Finsterniß.

»Der Teufel soll mich holen, wenn man auch nur ein Signal sieht,« meinte der Lokomotivführer.

»Wenn wir nur noch durchkommen,« sagte der Heizer.

Roubaud stand mit seiner Laterne auf dem Bahnsteig. Er hatte auf die Minute genau seinen Dienst angetreten. Manchmal schlossen sich seine von der Müdigkeit gequälten Augenlider, doch seine Wachsamkeit schlief nicht ein. Jacques hatte ihn gefragt, ob er etwas über die Passirbarkeit der Geleise wisse. Roubaud war deshalb auf ihn zugetreten, hatte ihm die Hand gedrückt und gesagt, daß bis jetzt noch keine Depesche da wäre. Als Séverine, in einen großen Mantel gehüllt, erschien, führte er sie selbst zu einem Koupee erster Klasse und half ihr dort sich einzurichten. Jedenfalls war ihm der besorgt zärtliche Blick der beiden Liebenden nicht entgangen, doch ließ er sich nichts merken. Er machte seiner Frau nur Vorwürfe, daß sie bei solchem Wetter die Reise unternehmen wolle und rieth ihr, sie aufzuschieben.

Warm eingehüllt und mit Gepäckstücken beladen drängten sich die Reisenden in der fürchterlichen Kälte dieses Morgens. Selbst der Schnee unter dem Schuhwerk thaute nicht ab. Die Waggonthüren schlossen sich schnell, ein Jeder verbarrikadirte sich in seinem Koupee. Der Perron, von dem matten Licht einiger Gaslaternen schlecht beleuchtet, blieb leer; nur die am Bug der Lokomotive angebrachte Signallaterne flammte wie ein Riesenauge und warf ihren Feuerbrand durch das Dunkel in die Weite.

Roubaud hielt jetzt seine Laterne hoch und gab das Signal. Der Zugführer pfiff und Jacques antwortete, nachdem er den Regulator geöffnet und die kleine Kurbel des Fahrregulators gedreht hatte. Man fuhr ab. Der Unter-Inspector blickte noch eine kleine Weile gelassen dem in dem Unwetter verschwindenden Zuge nach.

»Aufgepaßt,« sagte Jacques zu Pecqueux. »Keine Dummheiten heute!«

Er hatte wohl bemerkt, daß sein Gefährte vor Schlafsucht umzusinken drohte, wahrscheinlich in Folge einer Orgie am verflossenen Abend.

»O, es hat damit keine Gefahr,« stotterte der Heizer.

Gleich nach dem Verlassen der bedeckten Halle steckten beide Männer in dem Schneefall. Der Wind pfiff von Osten, die Lokomotive wurde also direct von vorn von dem Sturme gepeitscht. Da sie unter dem Schutzdach standen, in dicken wollenen Kleidern steckten und ihre Augen durch Brillen geschützt waren, hatten sie zunächst nicht viel zu leiden. Aber das Signallicht der Lokomotive war jetzt in der Dunkelheit durch die bleichen, dagegen anstürmenden Schneemassen wie fortgeweht. Während sich die Geleise sonst zwei bis drei Meter weit erhellten, schimmerten sie jetzt in einem milchigen Nebel, der traumhaft die Dinge nur in der allernächsten Nähe erkennen ließ. Die Unruhe des Lokomotivführers stieg auf den Gipfel, als er, wie auch von vornherein befürchtet, vom ersten Bahnwärtersignal ab konstatiren mußte, daß er die rothen, die Sperrung der Geleise ankündenden Laternen in der vorgeschriebenen Distanz nicht würde erkennen können. Deshalb fuhr er mit äußerster Vorsicht weiter, ohne indessen die Schnelligkeit vermindern zu können, denn der Wind setzte ihm einen mächtigen Widerstand entgegen und jede Verzögerung barg eine große Gefahr in sich.

Bis zur Station Harfleur legte die Lison eine gute Fahrt zurück. Die Höhe der Schneedecke beunruhigte Jacques noch nicht, denn sie betrug höchstens sechzig Centimeter, weil der Sturm gewiß an einen Meter wegfegte. Ihm mußte vornehmlich daran gelegen sein, die Schnelligkeit inne zu halten; er wußte wohl, daß die Tüchtigkeit eines Maschinenführers, der seine Maschine wahrhaft lieb hat, darauf beruhte, eine regelmäßige Fahrt ohne jede Erschütterung unter einem möglichst hohen Druck zu machen. Sein einziger Fehler war die Mißachtung der Signale; er lernte es absolut nicht, sich zu mäßigen, weil er nach seiner Meinung die Lison jeden Augenblick zügeln zu können sich vermaß: er fuhr des Oefteren zu weit vor und zweimal schon hatte er acht Tage feiern müssen, weil er Prellböcke in Grund und Boden gefahren. Doch an jenem Morgen spürte er die drohende Gefahr und der Gedanke, daß er das theure Leben Séverine's auf dem Gewissen hatte, verzehnfachte seine Willenskraft und hielt sie angesichts aller der auf der doppelten Flucht der Geleise bis nach Paris zu überwindenden Schwierigkeiten straff gespannt.

Auf der Brücke aus Eisenblech zwischen Lokomotive und Tender, nicht achtend der fortwährenden Erschütterungen und Stöße, stand Jacques aufrecht und beugte sich trotz des Schnees nach rechts weit hinaus, um besser sehen zu können. Durch die überlaufenen Scheiben des Schutzdaches sah er nichts, deshalb bot er sein von tausenden seiner Nadeln gegeißeltes und von der Kälte wie von den Schnittwunden eines Rasirmessers geschundenes Gesicht dem Sturm dar. Von Zeit zu Zeit zog er den Kopf zurück, um Athem zu holen, er nahm auch die Brille ab und putzte die Gläser; dann aber kehrte er wieder auf seinen Beobachtungsposten zurück und sah scharfen Auges nach etwaigen rothen Signalen aus; seine Sinne waren so absorbirt von dieser Thätigkeit, daß er wiederholt blutrothe Funken auf dem fahlen, vor ihm hin- und herwogenden Vorhange sprühen zu sehen glaubte. Plötzlich hatte er das dunkle Gefühl, daß sein Heizer verschwunden war. Eine kleine Laterne beleuchtete schwach den Wasserspiegel, damit der Lokomotivführer nicht durch ein grelleres Licht geblendet werden konnte. Auf dem Zifferblatt des Dichtigkeitsmessers, dessen Email ein eigenartiges Licht von sich gab, sah er die erzitternde blaue Nadel schnell sinken. Das Feuer ging aus. Der Heizer hatte sich, von Müdigkeit überwältigt, auf den Kohlenkasten ausgestreckt.

»Verfluchter Söffel!« schrie Jacques wüthend und schüttelte ihn derb.

Pecqueux raffte sich auf und entschuldigte sich mit unverständlichem Grunzen. Er hielt sich kaum aufrecht, aber die Macht der Gewohnheit trieb ihn wieder an sein Geschäft, er zerkleinerte die Kohlen mit dem Hammer und warf die Kohlen mit der Schippe regelrecht vertheilt über die Gluth; mit dem Besen fegte er den Schutt fort. Die Thür des Kessels blieb einen Augenblick offen und der rückwärts wie ein glühender Kometenschweif über den Zug flatternde Wiederschein des Feuers schien den Schnee in Brand zu stecken, während das Wasser in großen goldnen Tropfen durchsickerte.

Hinter Harfleur begann die drei Meilen lange bis nach Saint-Romain reichende Steigung, die bedeutendste der ganzen Strecke. Der Locomotivführer machte sich sehr aufmerksam an das Manövriren; er erwartete bei der Auffahrt auf dieses, selbst bei schönem Wetter sehr rauhe Terrain einen starken Windstoß. Die Hand am Hebel des Fahrtregulators sah er die Telegraphenstangen an sich vorüberfliegen; er versuchte an ihnen sich über die Schnelligkeit auszufinden. Diese verminderte sich stark, die Lison ächzte unter dem Widerstand des mit wachsender Gewalt einherjagenden Schneesturmes. Mit der Fußspitze öffnete Jacques die Thür der Feuerung, der Heizer, halb im Schlaf, verstand und schürte das Feuer, um den Druck zu vermehren. Die Thür röthete sich jetzt und tauchte beider Beine in einen violetten Schimmer, doch fühlten sie in dem eisigen Luftstrome nicht die versengende Gluth. Auf einen Wink seines Vorgesetzten hob Pecqueux den Schaft des Aschkastens aus, um den Zug besser durchzulassen. Sofort stieg die Nadel des Manometers auf zehn Atmosphären, die Lison arbeitete mit ihrer ganzen Kraft. Da der Locomotivführer jedoch auch das Niveau des Wassers fallen sah, mußte er die kleine Kurbel des Injectors in Bewegung setzen, wodurch sich der Druck verminderte. Bald hob er sich jedoch wieder, die Maschine keuchte und spuckte wie ein mit Flankenhieben angetriebenes Pferd, dessen Glieder man krachen zu hören glaubt. Er schnauzte sie an, als sei sie eine gealterte und nicht mehr kräftige Frau, für die man nicht mehr die Zärtlichkeit von ehedem empfindet.

»Diese faule Lise wird niemals hinaufkommen!« murmelte er hinter den dicht geschlossenen Zähnen, er, der unterwegs sonst nie sprach.

Pecqueux sah ihn in seinem Halbschlaf erstaunt an. Was hatte er jetzt gegen die Lison. War sie nicht noch immer die brave, gehorsame Locomotive mit der gefügigen Schnellfüßigkeit, daß es ein Vergnügen war, sie in Bewegung zu setzen, und mit der guten Dampfanlage, daß sie von Paris bis Havre den zehnten Theil an Kohlen ersparte? Der Locomotive, die wie sie so vorzüglich montirt war, daß der Dampf wunderbar abschnitt, konnte man schon einige Unvollkommenheiten zu gute halten, ebenso wie man einer Wirthschafterin nicht zürnen wird, die sich gut führt und sparsam ist. Sie verbrauchte zweifellos zu viel Schmiere. Und wenn schon? Deshalb schmierte man sie eben und damit gut.

»Sie wird nicht hinaufkommen, wenn man sie nicht schmiert,« wiederholte Jacques in diesem Augenblick fast außer Athem.

Was er noch keine drei Male in seinem Leben gethan hatte, that er jetzt: er ergriff die Kanone mit Schmieröl, um die Locomotive während der Fahrt zu ölen. Er kletterte über den Steg und bestieg die Brüstung, um am Kessel entlang zu gehen. Das war ein überaus gefährliches Unterfangen: seine Füße glitten von dem schmalen, durch den Schnee schlüpfrig gewordenen eisernen Streifen ab, der Schnee blendete ihn und der Sturm drohte ihn wie einen Strohhalm davon zu wehen. Die Lison mit dem an ihrer Flanke kauernden Manne verfolgte keuchend ihren Weg in der Dunkelheit und öffnete sich eine tiefe Bresche durch die ungeheure weiße Decke. Sie schüttelte ihn und trug ihn von dannen. Als er die vordere Querstange erreicht hatte, bückte er sich zu dem Schmierloch des rechtsseitigen Cylinders nieder; mit der einen Hand hielt er sich an der Brüstungsstange und unendliche Mühe kostete es ihn, sein Werk zu vollenden. Denselben Weg mußte er wie ein schleichendes Insect auf der andern Seite noch einmal machen, um den linken Kolben zu schmieren, er kam völlig erschöpft und bleich zurück, er hatte den Tod vorüberstreifen gefühlt.

»Verwünschte Schindmähre!« murmelte er.

Von diesem ungewohnten Grimm über ihre Lison betroffen konnte sich Pecqueux nicht enthalten, seiner Gewohnheit nach scherzend zu sagen:

»Sie hätten mich das machen lassen sollen: das Schmieren der Damen verstehe ich ausgezeichnet.«

Ein wenig munter geworden, stand er ebenfalls jetzt auf seinem Posten und überwachte die Geleise auf der linken Seite. Gewöhnlich konnte er besser sehen als sein Vorgesetzter. Aber in diesem Sturme war nichts zu erkennen, sie, denen doch jeder Kilometer dieser Strecke so vertraut war, vermochten kaum die Orte zu erkennen, die sie passirten: die Geleise verschwanden in dem Schnee, die Hecken, selbst die Häuser schienen verschlungen zu sein, eine einzige, endlose Ebene, ein Chaos von unbestimmter Weiße schien vor ihnen ausgebreitet, in das die Lison, wie vom Wahnsinn gepackt, auf's Geradewohl hineinzugaloppiren schien. Noch nie hatten sich diese beiden Männer so brüderlich eng an einander gekettet gefühlt wie jetzt; auf dieser durch alle möglichen Gefahren dahinrollenden Locomotive fühlten sie sich einsamer und von aller Welt verlassener als in einem abgesperrten Zimmer. Und dazu diese erdrückende Verantwortlichkeit für die Menschenleben, die sie hinter sich herschleppten.

Jacques, den Pecqueux's Neckerei zuerst wie vor den Kopf stieß, lächelte schließlich und unterdrückte den Zorn, der ihn zu übermannen drohte. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um zu streiten. Der Schnee fiel stärker, der Vorhang am Horizont verdichtete sich. Man fuhr noch immer die Höhe hinauf, als plötzlich der Heizer seinerseits in der Ferne ein rothes Signal zu entdecken glaubte. Er machte seinen Vorgesetzten darauf aufmerksam. Doch schon war es nicht mehr zu sehen, seine Augen hätten geträumt, so pflegte er in solchen Fällen zu sagen. Dem Locomotivführer, der nichts gesehen hatte, klopfte das Herz; ihn beunruhigte diese Hallucination des Andren, er verlor das Vertrauen zu sich selbst. Er bildete sich ein, jenseits dieses bleichen Gewimmels von Flocken unendliche schwarze Formen und mächtige Massen gleich riesigen, nächtlichen Wolken unterscheiden zu können, die vor der Locomotive wogten und herandrängten. Es war ihm, als ob eingestürzte Abhänge und Berge den Schienenweg sperrten, als ob der Zug an ihnen zerschellen müsste. Von Furcht gepackt, zog er am Ventil der Dampfpfeife und lange anhaltend, verzweiflungsvoll gellte ihr Pfiff. Wie ein Schrei der Klage übertönte er den Sturm. Und wie erstaunte er, daß er zur rechten Zeit gepfiffen hatte, denn mit voller Geschwindigkeit durchsauste der Zug den Bahnhof von Saint-Romain, von dem er sich noch zwei Kilometer entfernt geglaubt hatte.

Die Lison hatte jetzt die fürchterliche Steigung hinter sich und konnte nun ohne besondere Anstrengung weiterfahren. Jacques durfte etwas aufathmen. Von Saint Romain bis Bolbec steigt die Strecke fast unmerklich, bis an das andere Ende des Plateaus ging wahrscheinlich Alles gut. Nichtsdestoweniger rief er in Beuzeville, wo er einen Aufenthalt von drei Minuten hatte, den Bahnhofsinspector zu sich und verhehlte ihm nicht seine Befürchtungen angesichts der noch immer zunehmenden Schneedecke: er würde sicherlich nicht bis Rouen kommen, er hielte es für gerathen, eine zweite Maschine vorzulegen, in Beuzeville ständen ja so wie so stets Reservelocomotiven. Der Bahnhofsvorsteher meinte indessen, er hätte keine dahingehende Befehle und glaubte nicht, diese Maßnahme verantworten zu dürfen. Was er thun konnte, war, daß er ihm fünf bis sechs hölzerne Schaufeln gab, um im Falle der Noth die Schienen freizuschaufeln. Pecqueux nahm sie in Empfang und schichtete sie in einer Ecke des Tenders auf.

Auf dem Plateau setzte die Lison ihre Fahrt in der That mit der richtigen Schnelligkeit ohne zu große Mühe fort. Trotzdem arbeitete sie sich ab. Von Minute zu Minute mußte der Locomotivführer die Thür zur Feuerung öffnen und Kohlen auflegen lassen. Und jedesmal flammte über dem düsteren Zug, dem einzigen schwarzen Punkt inmitten dieses weißen Bahrtuches der feurige Kometenschweif in die Nacht hinaus. Die Uhr zeigte ein Viertel vor acht Uhr, der Tag dämmerte herauf, aber man unterschied kaum in dem unendlichen weißen Wirbel, der von einem Horizont bis zum andern den Himmelsraum ausfüllte, seinen fahlen Wiederschein. Diese trübe Klärung, in der sich noch immer nichts unterscheiden ließ, beunruhigte in noch weit höherem Maße die beiden Männer, welche, die Augen trotz ihrer Brillen voll Thränen, in die Weite zu sehen sich abmühten. Ohne die Kurbel des Fahrtregulators aus der Hand zu lassen, zog der Locomotivführer vorsichtiger Weise unaufhörlich das Ventil der Dampfpfeife und es klang wie schmerzliches Weinen durch diese Schneewüste.

Ohne Zwischenfall passirte man Bolbec, dann Yvetot. In Motteville machte Jacques dem Unter-Inspector, der ihm keine zuverlässigen Nachrichten über die Beschaffenheit des Weges geben konnte, abermals Vorstellungen. Es war noch kein Zug hier eingetroffen, mittels Depesche war gemeldet worden, daß der Pariser Bummelzug in Rouen eingetroffen sei und dort festliege. Die Lison dampfte matt und müde über die drei Meilen sanfter Steigung bis Barentin. Jetzt erwachte bleich der Tag, aber es schien, als rührte dieser durchsichtige Schimmer nur vom Schnee her. Er fiel noch dichter, es war, als wäre der Himmel geborsten und seine Trümmer sänken im eisigen Grauen des Morgens auf die Erde. Der Wind nahm mit dem Tage an Heftigkeit zu, die Flocken wurden wie Kugeln dahingejagt, alle Augenblicke mußte der Heizer zur Schaufel greifen, um die Kohlen des Tenders zwischen den Wänden des Wasserbehälters frei zu schippen. Rechts und links erschien die Landschaft den beiden Männern so undeutlich wie in einem flüchtigen Traum: die meilenweiten flachen Felder, die von lebendigen Hecken eingefaßten Weideplätze, die mit Obstbäumen eingehegten Chausseen waren ein einziges, kaum von niedrigen Schwellungen unterbrochenes weißes Meer, eine zitternde, blasse Unendlichkeit, in deren Weiß Alles aufging. Der Lokomotivführer, das Gesicht gepeitscht von der Windsbraut, die Hand an der Kurbel, begann jetzt fürchterlich von der Kälte zu leiden.

Bei der Ankunft in Barentin näherte sich der Bahnhofsvorsteher, Herr Bessière, aus eigenem Antriebe der Locomotive, um Jacques mitzutheilen, daß man von la Croix-de-Maufras her mächtige Schneemassen melde.

»Ich glaube, Sie werden noch passiren können,« setzte er hinzu, »aber Sie werden Arbeit haben.«

»Zum Donnerwetter!« legte da der junge Mann los, »habe ich es nicht schon in Beuzeville gesagt! Was hätte das geschadet, wenn der Vorspann verdoppelt worden wäre? ... Nun sitzen wir hübsch in der Patsche!«

Der Zugführer kroch aus seinem Gepäckwagen und gab seinem Aerger ebenfalls Ausdruck. Er war fast erstarrt in seiner Wachtkoje, erklärte er, nicht im Stande zu sein, ein Signal an einer Telegraphenstange zu erkennen. Eine wahre Fahrt im Dunkel trotz aller dieser Helle!

»Sie sind also gewarnt,« schloß Herr Bessière.

Die Reisenden wunderten sich bereits über diesen verlängerten Aufenthalt auf der eingeschneiten Station, auf welcher man nicht einmal einen einzigen Ruf eines Beamten, noch ein Zuschlagen von Thüren hörte. Einige Scheiben wurden heruntergelassen und Köpfe herausgesteckt, die einer sehr starkleibigen Dame und zweier reizender Blondköpfe, jedenfalls ihre Töchter und Engländerinnen; weiterhin der einer sehr hübschen, jungen brünetten Frau, die ihr viel älterer Gatte mit Gewalt zurückziehen wollte. Zwei Männer, ein junger und ein alter, hatten sich mit dem halben Körper hinausgelehnt und sprachen von einem Waggon zum andern. Als Jacques rückwärts blickte, sah er auch, daß Séverine sich hinausgebeugt hatte und mit angstvoller Miene ihn ansah. O, wie besorgt mußte das liebe Geschöpf sein und wie blutete ihm das Herz, sie in solcher Gefahr zu wissen. Er würde sein ganzes Blut dafür gelassen haben, hätte er sie jetzt schon in Paris gesund und unverletzt abliefern können.

»Fahren Sie nur los,« meinte der Bahnhofsvorsteher. »Wozu erst alle Welt beunruhigen?«

Er selbst gab das Signal. Der Zugführer pfiff und sprang in den Gepäckwagen. Nachdem die Lison mit einem langen Klageschrei geantwortet, rollte sie davon.

Jacques fühlte sofort, daß der Zustand des Dammes sich verändert hatte. Hier gab es keine Ebene, keinen bis in die Unendlichkeit aufgerollten dicken Schneeteppich mehr, durch den die Locomotive wie ein Dampfboot sich arbeiten konnte und eine Furche hinter sich zurückließ. Man kam jetzt in das wellige Gelände, zwischen die Berge und Thäler, die gleich einer hohl gehenden See bis Malaunay den Erdboden aufbeulten. Hier hatte sich der Schnee ganz verschiedenartig aufgehäuft, stellenweise waren die Geleise vollständig frei, stellenweise hatten mächtige Massen einzelne Uebergänge völlig verstopft. Der Wind, der die Höhen frei fegte, warf Alles in die Schluchten. Es mußten daher die Hindernisse Schritt für Schritt genommen werden, denn die kleinen freien Strecken führten stets zu vollkommenen Wällen. Es war jetzt ganz hell geworden, die wüste Landschaft mit ihren schmalen Schluchten und ihren jähen Abhängen glich unter ihrer Schneedecke der Trostlosigkeit eines mitten im Sturme eingefrorenen Oceans.

Noch nie hatte Jacques die Kälte so empfunden wie gerade jetzt. Die tausende von feinen Krystallnädelchen erweckten in ihm das Gefühl, als blute sein Gesicht; in seinen erstarrten Händen hatte er gar kein Gefühl mehr, er zitterte, als er bemerkte, daß er den Hebel des Fahrtregulators garnicht mehr spüre. Als er den Ellbogen hob, um das Ventil der Dampfpfeife zu öffnen, meinte er, daß sein Arm wie abgestorben an seiner Schulter hängen müßte. Die fortwährenden Erschütterungen drohten ihm die Eingeweide zu zerreißen, und ob seine Füße ihn noch trügen, vermochte er wirklich nicht zu sagen. Mit der Kälte zugleich peinigte ihn eine unüberwindliche Müdigkeit. Sein Hirn war wie eingefroren, er fürchtete, ohnmächtig zu werden, nicht mehr zu wissen, ob er noch führte, denn schon ganz maschinal und zähneklappernd sah er den Zeiger des Manometers sinken. Alle die Geschichten bekannter Hallucinationen fuhren ihm durch den Kopf. Lag da vorn nicht ein abgehauener Baumstamm quer über den Schienen? Hatte er über jenem Gebüsch nicht eine rothe Fahne flattern sehen? Hörte man nicht trotz des betäubenden Lärms der Räder in jedem Augenblick Petarden platzen? Er konnte nichts Bestimmtes versichern, er wiederholte sich, daß er eigentlich anhalten müßte und konnte sich dennoch nicht dazu entschließen. Einige Minuten litt er unter dieser Tortur, doch der Anblick von Pecqueux, der wiederum schlafend auf den Kohlen lag und wahrscheinlich von der fürchterlich angewachsenen Kälte überwältigt worden war, brachte ihn so in Zorn, daß ihm warm wurde.

»O, Du Hund!«

Er, der sonst den Lastern seines Untergebenen gegenüber so nachsichtig war, tractirte ihn mit Fußtritten so lange, bis er sich erhoben hatte. Der Andere war so stumpfsinnig, daß er nur grunzte und zur Schaufel griff.

»Gut, gut, es ist genug!«

Der Ofen war frisch geheizt, der Druck stieg. Es war auch höchste Zeit, denn die Lison mußte jetzt durch ein Thal, in welchem der Schnee über einen Meter hoch lag. Mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft drang sie in allen ihren Theilen erzitternd, vorwärts. Einen Augenblick war sie außer Athem und es schien, als wollte sie hier stehen bleiben, wie ein Schiff, das eine Sandbank streift. Die hohe Schneedecke, welche bereits auf den Decken der Waggons lastete, erschwerte, ihr nicht wenig die Arbeit. Mit diesem weißen, über sie ausgebreiteten Tuche glitten sie schwarz durch dieses weiße Geflimmer. Und auch der Locomotive Glieder waren von Streifen Hermelins eingefaßt, dessen anschauende Flocken wie flüssiger Regen hernieder rieselten. Aber diesmal machte sie sich doch noch, trotz dieses kolossalen Gewichtes, frei und passirte diese schlimme Stelle. Und jetzt sah man den Zug hoch oben bequem über eine große Kurve in diesem losen, milchigen Treiben dahingleiten wie einen Schattenstreifen in einem von blendendem Weiß überquellenden Lande der Träume.

Dahinter begannen wieder die Schluchten. Jacques und Pecqueux, die das Husten der Lison wohl gehört hatten, wappneten sich gegen die Kälte und die Müdigkeit. Aufrecht standen sie auf ihrem Posten, den sie selbst sterbend nicht verlassen durften. Die Locomotive büßte jetzt abermals etwas von ihrer Schnelligkeit ein. Zwischen zwei Böschungen vollzog sich langsam, ohne jede Erschütterung, der Stillstand. Als ob man alle ihre Räder zugleich mit Leim bestrichen hätte, blieb sie athemlos, eingepreßt kleben. Sie rührte sich nicht mehr, ohnmächtig hielt sie der Schnee gefangen.

»Da haben wir es,« fluchte Jacques. »Heiliges Donnerwetter!«

Er blieb noch einige Sekunden auf seinem Platze und öffnete alle Ventile, um zu sehen, ob sich das Hinderniß nicht bewältigen ließe. Als er die Lison jedoch ohne jeden Erfolg keuchen und sich abmühen sah, schloß er den Regulator und schimpfte wie toll darauf los.

Der Zugführer beugte sich aus der Thür des Gepäckwagens und Pecqueux rief ihm zu:

»Wir sitzen fest!«

Der Mann sprang in den Schnee, in welchem er bis über die Kniee versank. Er näherte sich der Lokomotive und die Drei hielten Kriegsrath ab.

»Wir können nur versuchen, das Geleise freizuschaufeln,« sagte der Locomotivführer. »Zum Glück haben wir Schippen mit. Rufen Sie Ihren Schlußschaffner her, wir vier werden bald die Räder frei haben.«

Man winkte dem Schlußschaffner, der bereits seinen Waggon verlassen hatte. Es wurde diesem das Durchwaten schwer, oftmals versank er vollständig. Dieser Aufenthalt auf freiem Felde inmitten dieser weißen Oede, der laute Schall der sich streitenden Stimmen, der sich durch den Schnee arbeitende Schaffner –alles das beunruhigte die Reisenden. Abermals senkten sich die Fenster. Man rief, man fragte, ein allgemeines, schnell wachsendes Durcheinander wurde laut.

»Wo sind wir ... Warum fahren wir nicht weiter? ... Was ist los? ... Mein Gott, ist ein Unglück geschehen?«

Der Zugführer fühlte die Nothwendigkeit, Jedermann zu beruhigen. Gerade, als er sich den Waggons näherte, fragte ihn die Engländerin, deren rothes Antlitz von zwei reizenden Mädchengesichtern eingerahmt wurde, mit fremdländischem Accent:

»Es ist doch nicht gefährlich, mein Herr?«

»Nein, nein, meine Dame,« antwortete er. »Nur ein wenig Schnee. Wir fahren sofort weiter.«

Das Fenster hob sich wieder und man hörte von rosigen Lippen den lebhaften Tonfall englischer Worte dringen. Die beiden Mädchen lachten höchst vergnügt.

Weiter hinten rief der ältere Herr dem Zugführer zu, während seine junge Frau ihr niedliches Braunköpfchen zu zeigen wagte:

»Warum hat man keine Vorsichtsmaßregeln getroffen? Das ist unerträglich ... Ich komme von London und muß Geschäfte halber heute früh in Paris sein. Ich werde die Gesellschaft für jeden Verzug verantwortlich machen.«

»Ich kann nur wiederholen, mein Herr, daß wir in drei Minuten weiterfahren werden.«

Die Kälte war unerträglich, der Schnee flog in die offenen Koupees, die Köpfe verschwanden, die Scheiben wurden hochgezogen. Doch merkte man an dem dumpfen Gesumm, welche Angst und Bewegung in den geschlossenen Räumen herrschten. Nur zwei Scheiben blieben gesenkt. Ein Amerikaner von einigen vierzig Jahren lehnte aus einem Fenster und sprach mit einem von ihm durch drei Koupees getrennten jungen Menschen aus Havre sehr interessirt über die Befreiungsarbeiten.

»In Amerika steigt Jedermann aus und greift zu den Schaufeln.«

»O, das hier hat nichts zu sagen. Im vorigen Jahre saß ich zweimal ebenso fest. Mein Beruf zwingt mich, alle acht Tage nach Paris zu reisen,«

»Und mich beinahe alle drei Wochen, mein Herr.«

»Wie, von New-York?«

»Ja, mein Herr, von New-York.«

Jacques leitete die Arbeit. Er hatte Séverine an der Thür des vordersten Waggons bemerkt, in welchem sie sich immer einquartirte, um ihm so nahe als möglich zu sein. Er hatte ihr einen bittenden Blick zugeworfen; sie verstand, daß sie sich nicht diesem eisigen Winde aussetzen sollte, der ihr in das Gesicht schnitt, und zog sich zurück. Er dachte nur an sie und arbeitete flott darauf los. Er bemerkte jetzt, daß der Grund des Stillstandes, das Festfahren im Schnee nicht von den Rädern herrührte –die hätten auch die dicksten Lagen durchschneiden können -, sondern von dem zwischen ihnen hängenden Aschkasten, vor welchem sich mächtige Schneebündel aufgesackt hatten. Es kam ihm ein Gedanke.

»Der Aschkasten muß abgeschraubt werden.«

Der Zugführer widersetzte sich zunächst. Der Lokomotivführer stand unter seinen Befehlen und er wollte nicht erlauben, daß etwas an der Maschine geändert würde. Schließlich ließ er sich überzeugen.

»Gut, aber Sie übernehmen die Verantwortlichkeit.«

Das war ein schwieriges Geschäft. Lang ausgestreckt unter der Lokomotive und mit dem Rücken tief im Schnee mußten Jacques und Pecqueux fast eine halbe Stunde lang fleißig arbeiten. Zum Glück waren im Werkzeugkasten auch Schraubenzieher vorräthig. Endlich, nachdem sie an zwanzig Male Gefahr gelaufen, sich zu verbrennen oder zerschmettert zu werden, hatten sie den Aschkasten losgeschraubt. Nun steckte er aber noch immer unter der Maschine fest. Er war von enormem Gewicht und aus den Rädern und Cylindern nicht herauszubekommen. Sie faßten schließlich zu vieren an und schleppten ihn über die Schienen fort bis auf die Böschung.

»Jetzt vorwärts mit Schaufeln!« sagte der Zugführer.

Fast eine volle Stunde schon saß der Zug in dieser Einöde fest und die Angst der Reisenden war gestiegen. Alle Minuten senkte sich eine Scheibe und irgend wer fragte, warum man nicht weiterfahre? Unter Geschrei und Thränen brach eine wahre Panik aus, die Krisis der Angst stieg auf den Gipfel.

»Es ist jetzt genug fortgeschaufelt,« erklärte Jacques. »Steigen Sie nur ein, das Uebrige werde ich besorgen.«

Er stand mit Pecqueux abermals auf seinem Posten, und als die beiden Schaffner ihre Plätze wieder eingenommen hatten, drehte er selbst den Hahn der Ableitungsröhren auf. Der mit Zischen herausfahrende heiße Dampf vernichtete vollends die noch an den Rädern hängenden Schneemassen. Er drehte dann die Kurbel und ließ die Lokomotive rückwärts gehen. Langsam rückte der Zug an dreihundert Meter zurück, um Spielraum zu haben. Das Feuer wurde so geschürt, daß der erlaubte Druck überschritten wurde, dann drängte er die Lison mit ihrem ganzen Gewicht und dem des an ihr hängenden Zuges gegen die den Weg sperrende Mauer. Es gab einen Krach, wie wenn ein Holzhauer seine Axt mit fürchterlicher Gewalt in einen Baum treibt, die eisernen und gußeisernen Glieder der Lokomotive schienen zu bersten. Und doch sprengte sie nicht das Hinderniß, rauchend und von dem Stoße erbebend saß sie wieder fest. Noch zweimal mußte das Manöver wiederholt werden, zweimal noch wich sie zurück und bohrte sie sich wieder in den Schnee. Und jedesmal erzitterten ihre Glieder, wenn sie mit ihrem Athem eines wuthschnaubenden Riesen die Brust auf das Hinderniß drängte. Jetzt schien sie Luft zu schöpfen, ihre metallenen Muskeln spannten sich zu einer letzten Kraftanstrengung an und sie passirte die Stelle; schwerfällig schob sich der Zug hinterdrein durch die beiden durchfurchten Schneemauern.

»Ein gutes Thier trotz alledem!« brummte Pecqueux.

Jacques nahm, halb geblendet, seine Brille ab und putzte ihre Gläser. Sein Herz schlug heftig, er spürte die Kälte nicht mehr; doch plötzlich erinnerte er sich der tiefen Schlucht, die sich ungefähr dreihundert Meter vor la Croix-de-Maufras befand; dieselbe öffnete sich genau in der Windrichtung, dort mußte sich eine Unmasse Schnee aufgehäuft haben. Dort war die Klippe, an der er nach seiner Ueberzeugung zweifellos stranden mußte. Er beugte sich hinaus. Hinter der nächsten Kurve erschien dieser Engpaß wie ein mit Schnee gefüllter, geradliniger Graben. Es war jetzt heller Tag und fortwährend noch sanken die Flocken auf dieses grenzenlose, schimmernde Weiß hernieder.

Mit mittlerer Geschwindigkeit rollte jetzt die Lison dahin, da sie kein besonderes Hinderniß vor sich hatte. Man hatte vorsichtiger Weise die vorderen und die Schlußlaternen brennen lassen und das weiße Leuchtfeuer der Maschine schimmerte wie ein Cyklopenauge bleich in den Tag hinein. Mit diesem offenen Auge näherte sie sich jetzt jener Schlucht. Die Lison schien jetzt kurz und stoßweise zu athmen, wie ein sich fürchtendes Pferd. Starke Erschütterungen suchten sie heim, sie scheute und setzte ihre Fahrt nur unter der geschickten Hand ihres Führers fort. Dieser hatte abermals die Thür zur Feuerung öffnen lassen, damit der Heizer das Feuer lebhafter entfachen konnte. Und jetzt war es nicht mehr ein feuriger Sternschweif der Nacht, sondern ein Wirbel von dichtem, tiefschwarzem Rauch, der den bleichen Schauer am Himmel befleckte.

Die Lison fuhr weiter. Jetzt war sie am Eingang zur Schlucht. Links und rechts waren die Böschungen völlig vergraben und die Geleise vollständig verweht. Die Schlucht glich einem von einem milden Strome ausgehöhlten, bis an den Rand mit Schnee gefüllten Loche. Noch fünfzig Meter weit rollte die Maschine athemlos, langsamer und langsamer dort hinein. Der Schnee, den sie fortstieß, bildete bald eine Barrikade um sie her, eine empörte Fluth, die sie zu verschlingen drohte. Einen Augenblick schien sie aus den Schienen gehoben, besiegt zu sein. Aber noch einmal strengte sie ihre Muskeln an und rollte noch dreißig Meter vorwärts. Doch das war das Ende, der letzte Todeskampf gewesen. Die Schneemassen fielen vornüber, begruben die Räder und alle Theile des Mechanismus, um die sich schon vorher Ketten von Eis geschlungen hatten. Jetzt hielt die Lison ganz still und hauchte in der großen Kälte ihren letzten Athem aus. Er erlosch und unbeweglich, todt stand sie da. »Da haben wir es«, meinte Jacques, »ich habe es ja vorausgesehen.«

Er wollte sofort die Lokomotive wieder rückwärts gehen lassen, um das Manöver noch einmal zu versuchen, aber diesmal rührte sich die Lison nicht mehr vom Fleck. Sie weigerte sich, vorwärts wie rückwärts zu fahren, von allen Seiten eingeschlossen blieb sie träge und stumpfsinnig, wie festgenagelt am Boden stehen. Auch der Zug hinter ihr, der bis an die Thüren im Schnee steckte, schien wie ausgestorben. Der Schneefall hörte nicht auf, sondern trieb noch dichter als zuvor, in langen Streifen vom Sturme hier hereingepeitscht. Maschine und Waggons, die schon halb bedeckt waren, mußten bald ganz verschwinden, es war wie ein großes Einsargen in der überwältigenden Stille dieser weißen Einöde. Nichts rührte sich mehr, der Schnee breitete sein Leichentuch aus.

»Schon wieder?« fragte der Zugführer und beugte sich aus dem Gepäckwagen.

»Futsch!« erwiederte Pecqueux lakonisch.

Diesmal war die Lage in der That eine höchst kritische. Der Lokomotivführer pfiff in kurzen Intervallen den jämmerlichen Klageton der Einöde. Aber der Schnee fing den sich verlierenden Schall auf, der in Folge dessen in Barentin nicht gehört werden konnte. Was thun? Sie waren nur vier Mann, wie hätten sie jemals solche Unmassen bewältigen können. Hier wäre ein ganzes Personal nöthig gewesen. Es war eine dringende Notwendigkeit, Hilfe herbeizuschaffen. Das Schlimmste war, daß unter den Reisenden eine abermalige Panik ausbrach.

Ein Schlag öffnete sich, die hübsche Brünette sprang aus dem Waggon, denn sie glaubte, es wäre ein Unglück geschehen. Der ihr nachfolgende betagte Kaufmann schrie:

»Ich werde dem Minister schreiben. Es ist eine Schande!«

Das Jammern der Frauen, wüthende Männerstimmen drangen aus allen Gelassen, deren Scheiben herunterrasselten. Nur die beiden kleinen Engländerinnen lächelten höchst vergnügt. Als der Zugführer alle Welt zu beruhigen suchte, fragte ihn die Jüngere auf Französisch, aber mit englischer Betonung:

»Hier halten wir also an, mein Herr?«

Mehrere Männer waren ausgestiegen, trotzdem sie bis an den Bauch einsanken. Der Amerikaner fand sich auf diese Weise mit dem jungen Mann aus Havre zusammen; Beide tappten sich nach der Lokomotive durch, um besser sehen zu können. Sie wiegten die Köpfe.

»Vier bis fünf Stunden wird es dauern, bis das da weggeschafft ist.«

»Wenigstens, und dann gehören noch zwanzig Arbeiter dazu.«

Jacques bewog den Zugführer, den Schlußschaffner nach Barentin zu schicken, um Hilfe herbeizuholen. Weder er noch Pecqueux konnten die Lokomotive allein lassen. Der Beamte entfernte sich, man verlor ihn am Ende der Schlucht bald aus den Augen. Er mußte vier Kilometer zurücklegen, konnte also vor zwei Stunden nicht wieder da sein. Jacques verließ in der Verzweiflung einen Augenblick seinen Posten und lief zum vordersten Waggon. Er bemerkte soeben Séverine, die das Fenster heruntergelassen hatte.

»Fürchten Sie nicht,« sagte er hastig. »Sie können unbesorgt sein.«

Sie antwortete ebenso, ohne ihn zu duzen, denn sie hätten möglicher Weise gehört werden können.

»Ich habe keine Furcht. Ich bin nur Ihretwegen besorgt gewesen.«

Diese Worte thaten ihnen wohl, sie waren wieder getröstet und lächelten sich an. Als Jacques sich umwandte, sah er zu seiner großen Ueberraschung Flore, dann Misard und noch zwei Männer, die er zuerst nicht erkannte, auf der Böschung erscheinen. Sie hatten das jämmerliche Pfeifen vernommen und waren herbeigeeilt. Misard, der dienstfrei war, hatte gerade den beiden Kameraden Weißwein aufgetischt. Es waren das der Kärrner Cabuche, den der Schnee zu feiern zwang und der Weichensteller Ozil, der von Malaunay durch den Tunnel gekommen war und Flore trotz des schlechten Empfanges noch immer mit Anträgen verfolgte. Sie, die muthig und tapfer wie ein Mann war, begleitete Jene wie eine wahre Landstreicherin aus Neugierde. Daß der Zug dicht vor ihrer Thür stecken geblieben, war für ihren Vater wie für sie ein bedeutsames Ereignis, ein außerordentliches Abenteuer. In den fünf Jahren ihres dortigen Aufenthaltes hatten sie die Züge stündlich, Tag und Nacht, bei schönem Wetter wie beim Sturme, wie der Wind so schnell an sich vorüberfahren sehen. Der Wind, der sie herbeigeweht, entführte sie auch wieder, noch nie hatte ein einziger seine Fahrt verlangsamt, sie sahen ihn fliehen, sich verlieren, verschwinden, ohne weiter etwas von ihm zu wissen. Die ganze Welt zog an ihnen vorüber, auf Dampfesflügeln wurde die Masse der Menschheit vorbeigefahren, sie aber kannten nur die blitzartig gesehenen Gesichter, die sie nie wieder erblickten, höchstens, daß ihnen einige wenige Züge bekannt waren, weil sie sie an bestimmten Tagen immer wieder erblickten, und auch an ihnen vermißten sie die Namen. Und jetzt scheiterte auf einmal ein Zug mitten im Schnee bei ihnen: die natürliche Ordnung der Dinge war mit einem Male umgekehrt, sie füllten jene unbekannte Welt, die ein Zufall hier festbannte, von Angesicht zu Angesicht sehen, und sie blickten sie an mit den erstaunten Augen von Wilden, die an die Küste gekommen sind, an welcher Europäer Schiffbruch gelitten haben. Diese offenen Thüren zeigten in Pelze gehüllte Frauen, die Männer in dicken Ueberröcken waren ausgestiegen, –dieser ganze mit einem Male über dieses Eismeer ausgeschüttete Luxus machte sie starr vor Erstaunen.

Flore hatte Séverine sofort erkannt. Sie, die dem Zuge Jacques' stets auflauerte, hatte schon seit einigen Wochen die Anwesenheit dieser Frau in dem Eilzuge am Freitag früh bemerkt. Sie hatte diese Beobachtung um so bequemer gehabt, als Séverine jedesmal beim Vorüberfahren an der Barriere den Kopf heraussteckte, um ihre Besitzung la Croix-de-Maufras zu besichtigen. Die Augen Flore's färbten sich dunkel, als sie jene jetzt so vertraut mit dem Lokomotivführer sprechen sah.

»Da ist ja auch Frau Roubaud!« rief Misard, der Séverine ebenfalls erkannt hatte und sofort seine unterwürfige Miene aufsteckte. »Das haben Sie schlecht getroffen! ... Sie dürfen dort nicht bleiben, Sie müssen zu uns kommen!«

Jacques hatte dem Bahnwärter die Hand gedrückt und unterstützte jetzt das Anerbieten.

»Er hat Recht ... Wir werden vielleicht für einige Stunden hier festliegen. Sie würden inzwischen vor Kälte umkommen.«

Séverine weigerte sich, sie sei gut geschützt, meinte sie. Die dreihundert Meter durch den Schnee erschreckten sie ein wenig. Flore näherte sich jetzt ebenfalls, sie sah Séverine mit ihren großen Augen fest an und sagte endlich:

»Kommen Sie, ich werde Sie tragen.«

Ehe Séverine noch zugestimmt, hatte Flore sie bereits mit ihren kraftstrotzenden Männerarmen umfaßt und wie ein kleines Kind hochgehoben. Sie setzte sie jenseits der Schienen auf einer freigewehten Stelle ab, an der die Füße nicht versanken. Die Reisenden lachten höchst erstaunt über dieses Wunder. Das war ein Mädchen! Ein Dutzend solcher und der Weg wäre früher als in zwei Stunden frei gewesen.

Das Gerücht von dem Vorschlage Misard's, daß man in das Haus des Bahnwärters flüchten konnte und dort voraussichtlich Feuer, vielleicht Brod und Wein finden würde, pflanzte sich von einem Waggon zum andern fort; die Panik hatte sich gelegt, als man begriffen, daß eine unmittelbare Gefahr nicht vorläge. Nichtsdestoweniger blieb die Lage eine höchst kritische: die Heizungen kühlten ab, es war neun Uhr, man bekam Hunger und Durst, auch ließ die Hilfe sehr auf sich warten. Das konnte ewig dauern, wer weiß, ob man nicht hier auch noch würde übernachten müssen. Es bildeten sich zwei Lager, die einen, die ganz verzweifelten, wollten ihre Koupees garnicht verlassen, sondern sich mit verbissener Wuth auf die Polster ausstrecken, sich fest einhüllen und so den Tod erwarten; die anderen wollten den Weg durch den Schnee wagen, in der Hoffnung, es dort besser zu finden und namentlich, um dem niederdrückenden Gefühl angesichts dieses gescheiterten, eingefrorenen Zuges zu entfliehen, es bildete sich eine Gruppe; zu ihr gehörten der alte Kaufmann mit seiner jungen Frau, die Engländerin mit ihren zwei Töchtern, der junge Mann aus Havre, der Amerikaner und vielleicht noch zehn Andere. Sie machten sich marschfertig.

Jacques hatte Séverine ebenfalls zum Fortgehen bewogen. Ganz leise hatte er ihr versprochen, sobald er abkommen könnte, ihr Nachricht zu geben. Als Flore sie noch immer mit ihren düstern Augen anstarrte, hatte er wie ein alter Freund gemüthlich zu ihr gesagt:

»Also abgemacht. Du wirst diese Damen und Herren zu Euch führen ... Ich behalte Misard und die Uebrigen hier. Wir wollen sehen, was wir schaffen können, bis die Andern kommen.«

Cabuche, Ozil und Misard griffen zu den Schaufeln und schlossen sich Pecqueux und dem Zugführer an, die bereits den Schnee bearbeiteten. Die kleine Mannschaft bemühte sich zunächst, die Lokomotive frei zu machen, sie schaufelte den Schnee unter den Rädern hervor und warf ihn über die Böschung. Niemand sprach mehr, man hörte nur das schweigsame Hasten inmitten des düstern Schweigens der weißen Landschaft. Als der kleine Trupp der Reisenden abmarschirte, warf man noch einen letzten Blick auf den Zug, der wie ein dünner schwarzer Faden aus der dichten, ihn erstickenden weißen Hülle hervorragte. Man hatte die Thüren geschlossen, die Scheiben hochgezogen. Stumm und bewegungslos stand er wie todt da. Noch immer fiel der Schnee mit einer stummen Hartnäckigkeit und hüllte ihn langsam und sicher ein.

Flore hatte Séverine abermals in ihre Arme nehmen wollen. Aber diese hatte es ausgeschlagen, sie wollte, wie die Anderen, zu Fuß gehen. Die dreihundert Meter wurden nicht ohne Mühe zurückgelegt: in der Schlucht namentlich sank man mehrfach bis zu den Achselhöhlen ein, zweimal mußte zur Rettung der halb untergegangenen dicken Engländerin geschritten werden. Ihre Töchter lachten unentwegt. Die junge Frau des alten Herrn, mußte sich bequemen, als sie ausglitt, die Hand des jungen Mannes aus Havre zu nehmen, während ihr Gatte mit dem Amerikaner über Frankreich herzog. Als man die Schlucht hinter sich hatte, wurde der Weg weniger beschwerlich. Man ging über eine Anhöhe, die kleine Gesellschaft schritt im Gänsemarsch. Der Wind drohte sie herunterzuwerfen und sie vermied sorgfältig die unter dem Schnee doppelt gefährlichen und trügerischen Kanten. Endlich war man zur Stelle, Flore brachte die Reisenden in der Küche unter; aber nicht Jedem konnte ein Sitz eingeräumt werden, denn wohl an zwanzig Menschen bewegten sich in dem ziemlich geräumigen Gemach. Erfindungsreich holte sie Bretter herbei und formte mit Hilfe der Stühle schnell zwei Bänke zurecht. Einige Hand voll Holz warf sie auf das Feuer, dann machte sie eine Bewegung, die ausdrücken sollte, daß sie nun alles gethan habe, was sie habe thun können. Sie hatte bei alledem kein Wort gesprochen, mit ihren grünlich schimmernden, weit geöffneten Augen und der kühnen Miene einer riesigen Wilden sah sie auf diese ihr fremde Welt. Nur zwei Gesichter waren ihr schon seit Monaten bekannt: die des Amerikaners und des jungen Mannes aus Havre; sie examinirte sie jetzt, wie man ein endlich gefangenes, brummendes Insect anblickt, das nicht mehr weiterfliegen kann. Sie kamen ihr als etwas ganz Besonderes vor, denn genau so hatte sie sich jene doch nicht vorgestellt, von denen sie übrigens nichts weiter kannte als ihre Gesichtszüge. Die anderen Leute schienen nach ihrer Meinung von verschiedenen Rassen zu stammen, vom Himmel gefallene Bewohner einer unbekannten Welt zu sein, die sie mit zu sich in die Küche genommen und deren Kleidungen, Sitten, Gedanken sie nie für möglich gehalten hätte. Die englische Dame erzählte der jungen Kaufmannsfrau, daß sie nach Indien zu ihrem Sohne, einem hohen Würdenträger, reise, und diese scherzte, daß sie es das erste Mal, wo sie ihren Gatten nach London begleitet hatte, wohin sich derselbe zweimal im Jahre begab, so schlecht getroffen habe. Alle lamentirten bei dem Gedanken, in dieser Einöde gefangen zu sitzen; wie sollte man es anfangen, hier zu essen und zu schlafen! Flore hörte ihnen unbeweglich zu. Sie war dem Blick Séverine's begegnet, die auf einem Stuhle vor dem Herde saß; sie winkte sie in das nebenan gelegene Zimmer.

»Mutter,« so meldete sie Séverine an, »hier ist Frau Roubaud ... Hast Du ihr etwas zu sagen?«

Phasie lag mit gelbem Gesicht und geschwollenen Beinen im Bett, seit vierzehn Tagen schon war sie so krank, daß sie nicht mehr aufstehen konnte. In dem ärmlichen Zimmer, dessen gußeiserner Ofen eine fürchterliche Hitze ausstrahlte, verbrachte sie die Stunden damit, ihre fixe Idee in ihrem Kopfe hin- und herzuwälzen. Sie hatte keine andere Zerstreuung als das Dröhnen der mit voller Kraft vorübersausenden Eilzüge.

»Ah, Frau Roubaud,« murmelte sie, »gut, gut!«

Flore erzählte ihr von dem Unfall und von der Menge Menschen, die sich im Nebenzimmer befand. Aber alles das rührte sie nicht.

»Gut, gut,« wiederholt sie mit derselben müden Stimme.

Einen Augenblick wurde es in ihrem Kopf etwas lichter, sie richtete sich etwas auf und sagte: »Madame will vielleicht ihr Haus sehen, die Schlüssel hängen neben dem Schrank, wie Du weißt,«

Séverine wollte nicht. Ein Schauer überlief sie bei dem Gedanken, nach la Croix-de-Maufras durch diesen Schnee in diesem bleichen Lichte zurückkehren zu sollen. Nein, nein, sie wollte nichts sehen und zog es vor, in dieser behaglichen Wärme zu bleiben und zu warten.

»So setzen Sie sich doch, Frau Roubaud,« bat Flore. »Hier ist es noch etwas besser als nebenan. Ich weiß nicht, woher wir das viele Brod für alle diese Leute nehmen sollen. Aber wenn Sie Hunger haben, für Sie ist immer ein Bissen da.«

Sie hatte ihr einen Stuhl hingeschoben und zeigte sich fortwährend aufmerksam gegen sie; sie kämpfte sichtbar gegen die angeborene Schroffheit an. Aber ihre Augen verließen die junge Frau nicht, als wollte sie in ihr lesen und sich Gewißheit verschaffen über eine Frage, die sie sich selbst schon seit einiger Zeit vorlegte. Und unter diesem Zwange fühlte sie das Bedürfniß, um Séverine herum zu sein, ihr in das Gesicht zu blicken, sie zu berühren, um endlich klar zu sehen.

Séverine dankte ihr und nahm neben dem Ofen Platz. Sie zog es in der That vor, mit dieser Kranken allein in einem Zimmer zu bleiben, denn hier, so hoffte sie, würde Jacques sich ihr am bequemsten nähern können. Zwei Stunden verstrichen, die große Hitze überwältigte sie, sie schlief ein, nachdem sie vom Landleben geplaudert. Plötzlich riß Flore, die alle Augenblicke in die Küche gerufen wurde, die Thür auf und sagte in ihrer rauhen Stimme:

»Tritt hier herein, hier ist sie!«

Es war Jacques, der sich von der Arbeit weggestohlen hatte, um gute Nachrichten zu bringen. Der nach Barentin geschickte Schaffner hatte dreißig Soldaten mitgebracht, die von der Verwaltung in Erwartung irgend welcher Unfälle nach bedrohten Punkten dirigirt werden sollten. Alle diese waren mit Beilen und Schaufeln fleißig bei der Arbeit. Aber es würde noch lange dauern, vielleicht bis in die Nacht.

»Es geht Ihnen jedenfalls nicht zu schlecht, also haben Sie Geduld,« setzte er hinzu. »Nicht war, Tante Phasie, Sie werden Frau Roubaud nicht verhungern lassen?« Phasie hatte sich beim Anblick ihres großen Jungen, wie sie ihn nannte, mühsam aufgerichtet und sah ihn an, sie hörte ihn lebhaft und glücklich plaudern. Als er sich ihrem Bett näherte, meinte sie:

»Ganz gewiß, ganz gewiß! O da bist Du ja, mein großer Junge, Dich also hat der Schnee festgehalten ... Und das sagt mir dieses Thier nicht!«

Sie wandte sich mit den letzten Worten an ihre Tochter.

»Sei wenigstens höflich, bleibe bei den fremden Damen und Herren, beschäftige Dich mit ihnen ein wenig, damit sie der Verwaltung nicht erzählen, daß wir wie die Wilden sind.«

Flore hatte sich zwischen Séverine und Jacques aufgepflanzt. Einen Augenblick schien sie zu zögern und überlegte, ob sie nicht dem Befehl ihrer Mutter zum Trotz hier bleiben sollte. Aber sie sagte sich, daß sie doch nichts sehen, daß die Gegenwart der Mutter jenen Fesseln auferlegen würde! Und so ging sie ohne ein Wort zu erwidern fort, nachdem sie Beiden noch einen langen Blick zugeworfen.

»Sie liegen, Tante Phasie,« fragte Jacques mit bekümmerter Miene, »ist die Krankheit schlimmer geworden?«

Sie zog ihn an sich, sie nöthigte ihn, sich auf den Rand des Bettes zu setzen und ohne weitere Rücksicht auf die Gegenwart der jungen Frau, die aus Discretion sich etwas aus der Nähe des Bettes entfernt hatte, beichtete sie ihm so leise sie konnte.

»Ja, ja, sehr schlimm, es ist ein wahres Wunder, daß Du mich noch am Leben findest ... Ich wollte Dir nicht schreiben, weil solche Dinge sich nicht so leicht beschreiben lassen ... Beinahe war es mit mir schon vorbei, jetzt geht es wieder etwas besser und ich glaube, daß ich dieses Mal noch davonkommen werde.«

Er sah sie prüfend an, ihn erschreckte der Fortschritt der Krankheit und er fand an ihr in der That nicht eine Spur ihrer einstigen Schönheit wieder.

»Also noch immer Krämpfe und Schwindel, arme Tante Phasie?«

Doch sie drückte ihm die Hand, daß sie ihn schmerzte und fuhr mit noch gedämpfterer Stimme fort:

»Denke Dir, ich habe ihn überrascht ... Du weißt ich hätte meine Zunge lieber den Hunden gegeben als nicht zu wissen, wo hinein der seine Arznei mischte. Ich trank und aß nur von dem, was er selbst nahm und trotzdem fühlte ich Abend für Abend das Brennen im Magen ... Hat er mir doch richtig Gift in das Salz gemischt! Eines Abends habe ich es gesehen ... Und ich habe Salz in Menge genommen, um alles zu reinigen!«

Seit der Besitz von Séverine Jacques geheilt zu haben schien, hatte er des Oefteren an diese Geschichte von der langsamen, aber stetigen Vergiftung gedacht, wie man an einen bösen Traum denkt. Er hatte nicht daran geglaubt. Er drückte zärtlich die Hand der Kranken, er wollte sie beruhigen.

»Ist es wohl möglich, ei so seht doch! ... Aber wenn man so etwas behauptet, muß man seiner Sache auch ganz sicher sein ... Und dann kann das viel nach sich ziehen ... Gehen Sie, Tante, ich glaube, Sie haben eine Krankheit, von der die Aerzte nichts verstehen.«

»Eine Krankheit,« wiederholte sie spöttisch, »ja, eine Krankheit, aber er hat sie mir eingeimpft ... Was die Aerzte anbetrifft, so magst Du Recht haben: es sind zwei hier gewesen, aber Beide verstanden nichts, sie waren nicht einmal unter sich einig. Ich will nicht, daß noch ein einziger von diesen Vögeln den Fuß über diese Schwelle setzt ... Hörst Du, in das Salz hat er es mir gethan ... Ich schwöre Dir, ich habe es gesehen! Alles der tausend Franken, meiner vom Vater geerbten tausend Franken wegen. Er sagt sich, hat er mich erst beseitigt, dann wird er sie auch finden ... Da irrt er sich nun gewaltig, die liegen, wo sie Niemand entdecken wird, niemals ... Ich kann sterben, darüber aber bin ich ruhig, daß Niemand meine tausend Franken jemals besitzen wird.«

»Aber an Ihrer Stelle, Tante Phasie, würde ich die Gensdarmen holen lassen, wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind.«

Sie machte eine abweisende Geberde.

»Nur keine Gensdarmen ... die brauchen sich nicht in unsere Angelegenheit zu mischen, das geht nur ihn und mich an. In weiß, er will mich verschlingen und ich, natürlich, will mich nicht verschlingen lassen. Ich brauche mich also nur zu vertheidigen und darf nicht wieder so ein Schaf sein wie mit dem Salz ... Wer hätte das wohl geglaubt? Solch eine Mißgeburt, solch ein Fetzen von Mann, den man in die Tasche stecken kann, bringt mit seinen Rattenzähnen schließlich noch solche große Frauen wie mich um, wenn man ihm den Willen ließe!«

Sie zuckte wieder zusammen und ihr Athem ging schwer.

»Schadet nichts, diesmal ist es ihm noch nicht geglückt. Mir geht es besser und nach vierzehn Tagen werde ich wohl wieder stehen können ... Das nächste Mal soll es ihm wohl schwer werden, mich so zu kneifen. Ich bin neugierig, wie er das anfangen würde. Gelingt es ihm, mir wieder das Gift einzuflößen, dann ist es auch ein stärkeres und ich bin fertig ... Man darf gar nicht daran denken.«

Jacques war der Meinung, die Kranke plage ihr Gehirn viel zu sehr mit diesen schwarzen Vorstellungen. Um sie zu zerstreuen, wollte er sie etwas necken. Doch plötzlich begann sie unter der Bettdecke heftig zu zittern.

»Er ist da,« flüsterte sie. »Ich fühle es sofort, wenn er kommt.«

Richtig, einige Sekunden später trat Misard in die Stube.

Sie war bleich geworden, eine Beute des unfreiwilligen Schreckens, den Riesen vor sie benagenden Insecten empfinden. Ihre Hartnäckigkeit, sich allein seiner zu erwehren, hatte in ihr eine wachsende von ihr aber nicht zugestandene Furcht gezeitigt. Misard, welcher gleich beim Eintritt sie und Jacques mit einem aufleuchtenden Blick gestreift hatte, schien gleich darauf gar nicht zu bemerken, daß sie Seite an Seite saßen. Mit demüthigen Blicken, den Mund eingekniffen und mit dem Ausdruck eines gehorsamen Knechtes erschöpfte er sich vor Séverine in Höflichkeiten.

»Ich habe geglaubt, die gnädige Frau wolle bei dieser Gelegenheit ihren Besitz ein wenig in Augenschein nehmen, deshalb bin ich auf einen Augenblick hierher gekommen ... Die gnädige Frau wünschen vielleicht, daß ich Sie begleite.«

Als die junge Frau abermals das Anerbieten ablehnte, fuhr er mit seiner Dulderstimme fort:

»Die gnädige Frau ist vielleicht erstaunt gewesen wegen der Früchte ... Sie waren alle wurmstichig, es hätte sich nicht gelohnt, sie zu verpacken ... Dann hat auch der Wind viele abgeworfen ... Schade, daß die gnädige Frau nicht verkaufen kann! Es war einmal ein Herr hier, der jedoch alles erst ausgebessert sehen wollte ... Ich stehe also der gnädigen Frau vollständig zur Verfügung, gnädige Frau können überzeugt sein, daß ich Ihre Interessen nach allen Richtungen wahre.«

Dann wollte er ihr durchaus Brod und Birnen und zwar aus seinem eigenen Garten, die natürlich nicht wurmstichig waren, anbieten. Sie nahm sie an.

Als Misard durch die Küche schritt, hatte er den Reisenden gemeldet, das die Arbeiten gut von statten gingen, aber wohl noch vier bis fünf Stunden dauern würden. Es hatte eben zwölf geschlagen und das Lamento ging von Neuem los. Man fühlte starken Hunger. Flora erklärte, daß sie nicht genug Brod für Alle im Hause hätte. Wein dagegen besaß sie. Sie hatte zehn Liter aus dem Keller geholt und auf den Tisch gestellt. Aber Gläser fehlten: man mußte gruppenweise trinken, die Engländerin mit ihren Töchtern, der alte Herr mit seiner jungen Frau. Diese hatte übrigens in dem jungen Herrn aus Havre einen aufmerksamen, erfindungsreichen Diener gefunden, der für ihr Wohl sorgte. Er verschwand und kehrte mit einem Brod und Aepfeln zurück, die er im Holzstall gefunden hatte. Flora ärgerte sich und sagte, das Brod wäre für ihre kranke Mutter bestimmt. Er aber zerschnitt es bereits und vertheilte es unter die Damen; er begann natürlich bei der jungen Frau, die ihn geschmeichelt anlächelte. Ihr Gatte war darob nicht böse, er kümmerte sich gar nicht mehr um sie, sondern sprach angelegentlich mit dem Amerikaner über die kaufmännischen Sitten Newyorks. Noch nie hatten die jungen Engländerinnen so vergnügt in einen Apfel gebissen. Ihre sich sehr abgespannt fühlende Mutter war in einen Halbschlaf versunken. Zu ebener Erde vor dem Herde kauerten noch zwei andere Frauen, sie waren ebenfalls von dem langen Warten überwältigt. Die Männer, die eine Viertelstunde vor der Thür geraucht hatten, um die Zeit todtzuschlagen, kehrten gründlich durchfroren und zähneklappernd zurück. Allmählich steigerten sich das Uebelbefinden, der ungenügend gestillte Hunger und die durch die unbequeme Lage und Ungeduld verstärkte Müdigkeit.

Durch das Kommen und Gehen Misard's war die Thür offen geblieben und Tante Phasie konnte von ihrem Bett aus in das Nebenzimmer sehen. Das war also diese Welt, die sie wie einen Blitz schon seit einem Jahre an sich vorüberfliegen sah, seit sie ihr Bett mit dem Stuhl vertauschte. Nur höchst selten hatte sie bis zur Thür gehen können, für gewöhnlich war sie Tag und Nacht mutterseelenallein an das Zimmer gefesselt und ihre an das Fenster gebannten Augen hatten keine andre Zerstreuung, als das Vorüberjagen der Züge. Sie hatte sich immer über die Wolfsschlucht beklagt, in die Niemand zu Besuch kam. Jetzt war mit einem Male ein ganzer Trupp aus dem unbekannten Lande angekommen. War es wohl zu glauben, daß kein Einziger dieser es so eilig habenden Leute eine Ahnung von diesem Gift hatte, das man ihr in das Salz gethan? Diese Raffinirtheit drückte ihr das Herz ab, sie fragte sich, ob Gott solch eine naseweise Verschmitztheit zulassen könne, ohne daß Jemand es bemerkte. Menschen genug zögen an ihr vorüber, tausende und abertausende. Aber alles das galoppirte davon, kein einziger würde geglaubt haben, daß man in diesem niedrigen Hause ganz nach Belieben, ohne jeden Lärm, einen Menschen tödtete. Und Tante Phasie sah einen nach dem andern von diesen aus dem Monde gefallenen Menschen an, sie meinte, daß es kein Wunder sei, an unsauberen Dingen vorüberzugehen und nichts wissen zu können, wenn man es so eilig hat.

»Kommt Ihr mit zurück?« fragte Misard Jacques.

»Ja,« erwiderte dieser, »ich folge Euch sofort.«

Misard ging und schloß die Thür. Phasie hatte die Hand des jungen Mannes ergriffen und sagte ihm in das Ohr:

»Sollte ich zusammenbrechen, dann sieh Dir sein Gesicht an, wenn er nichts findet ... Das freut mich, wenn ich daran denke, deshalb werde ich auch zufrieden von dannen gehen.«

»Das Geld soll also für immer verloren sein, Tante Phasie? Sie werden es auch nicht Ihrer Tochter vermachen?«

»Flore? Damit er es ihr fortnimmt? O nein! ... Nicht einmal Dir, mein großer Junge, weil auch Du zu dumm bist: er würde doch immer einen Theil von Dir erhalten ... Nein, Niemandem, außer der Erde, in der es ruht!«

Sie war außer Athem. Jacques bettete sie wieder hin, beruhigte sie, umarmte sie und versprach, bald wieder zu kommen. Als sie einzuschlummern schien, trat er hinter Séverine, die wieder am Ofen saß. Er legte lächelnd einen Finger an den Mund, als Mahnung, vorsichtig zu sein. Dann bog er lautlos und zärtlich ihren Kopf nach hinten, bot ihr seine Lippen, beugte sich über sie und schloß ihr mit einem tiefen, verstohlenen Kuß ihren Mund. Ihre Augen hatten sich geschlossen, sie saugten begierig ihren Athem ein. Doch als sie sie wieder, noch wie betäubt öffnete, stand Flore, die die Thür leise geöffnet hatte, hinter ihnen und fragte mit rauher Stimme:

»Bedürfen Sie etwas, Frau Roubaud?«

»Nein, nein, ich danke,« stotterte Séverine verwirrt und verlegen.

Jacques blickte Flore einen Augenblick mit flammenden Blicken an. Er zögerte, seine Lippen zitterten, als wollte er sprechen. Dann ging er mit einer sie bedrohenden Wuthgeberde. Mit einem Knall fiel hinter ihm die Thür in's Schloß.

Flore mit ihrer hohen Büste einer kriegerischen Jungfrau und ihrer blonden schweren Haarkrone rührte sich nicht. Ihre Angst, diese Frau an jedem Freitag in dem von Jacques geführten Zuge zu erblicken, hatte sie also nicht getäuscht. Die von ihr gesuchte Gewißheit, seit sie Beide in ihrer Nähe hatte, war endlich, unwiderruflich gekommen: diese schmächtige Person, dieses Nichts von Frau, hatte er sich also erwählt. Noch immer peinigte sie der schmerzliche Gedanke, sich ihm in jener Nacht versagt zu haben. Sie hätte aufschluchzen mögen. Nach ihrem einfachen Gedankengange wäre sie es jetzt gewesen, die er umarmt, hätte sie sich ihm eher hingegeben wie Jene. O wäre sie ihm jetzt allein begegnet! Sie würde sich ihm an den Hals geworfen und ihm gesagt haben: »Da nimm mich, ich war thöricht gewesen, weil ich Dich nicht besser verstand!« In ihrer Ohnmacht stieg eine fürchterliche Wuth gegen dieses so zarte, genirte und verlegene Geschöpf in ihr auf. Wie einen Vogel hätte sie jene mit ihren harten kampfbereiten Armen erdrücken können. Warum wagte sie es nicht? Aber sie schwor, sich zu rächen, denn sie wußte Dinge von dieser Nebenbuhlerin, die genügt hätten, sie in das Gefängniß zu bringen, die man aber frei herumlaufen ließ wie alle Dirnen, die sich reichen und mächtigen Greisen verkaufen. Von Eifersucht gequält, vom Zorn übermannt raffte sie hastig mit den Geberden einer Wilden die Ueberbleibsel von Brod und Birnen zusammen und sagte:

»Da Madame genug haben, kann ich dies ja den Andern geben.«

Es schlug drei, es schlug vier Uhr. Die Zeit schleppte sich hin, das Gefühl der Abspannung und der Verlegenheit wuchs. Die Nacht senkte sich bleich auf die weiße, wüste Landschaft nieder. Alle zehn Minuten gingen die Männer hinaus, um von fern zu sehen, wie weit die Arbeit vorgeschritten war. Sie kehrten zurück mit der Bemerkung, daß die Locomotive noch immer nicht freigeschaufelt sei. Selbst die beiden kleinen Engländerinnen begannen vor Entnervung zu weinen. In einer Ecke war die junge Frau an der Schulter des jungen Mannes aus Havre entschlummert, in der allgemeinen Niedergeschlagenheit rügte es ihr alter Mann nicht einmal als unschicklich. Das Zimmer kühlte aus, man fror, dachte aber nicht einmal daran, Holz aufzulegen, selbst der Amerikaner ging fort; er fand es jetzt angenehmer, sich auf das Polster seines Koupees auszustrecken. Es peinigte alle der Gedanke, daß es vielleicht doch besser gewesen wäre, in den Koupees zu bleiben, man hätte wenigstens alle Augenblicke gewußt, was vorging. Die Engländerin mußte zurückgehalten werden, auch sie sprach davon, in ihrem Koupee übernachten zu wollen. Als man ein Licht auf den Tisch gestellt, damit die Gesellschaft in der düstern Küche wenigstens sich sehen konnte, bemerkte man erst recht die allgemeine Entmuthigung, jeder starrte in stumpfsinniger Verzweiflung vor sich hin.

Auf dem Bahndamm nahte sich inzwischen die Schaufelei ihrem Ende. Die Soldaten hatten die Locomotive frei gemacht und reinigten jetzt die Geleise vor ihr, der Locomotivführer und der Heizer konnten sich wieder auf ihren Posten begeben.

Jacques faßte wieder Vertrauen, als er den Schnee nicht mehr fallen sah. Der Weichensteller Ozil hatte ihm versichert, daß jenseits des Tunnels, nach Malaunay zu, die gefallenen Massen nicht so beträchtliche seien. Er fragte ihn nochmals:

»Sie sind zu Fuß durch den Tunnel gekommen. Sie konnten also bequem hinein und bequem hinaus?«

»Wie ich Ihnen sagte. Sie werden ohne Aufenthalt passiren können, ich garantire es Ihnen.«

Cabuche hatte mit dem Eifer eines Riesen gearbeitet; furchtsam und verstört wich er zurück, seine letzten Begegnungen mit der Justiz hatten sein störrisches Wesen noch vermehrt. Jacques mußte ihn erst zu sich rufen.

»Bitte, Kamerad, reicht uns doch einmal unsere Schaufeln, die da an der Böschung, damit wir sie im Nothfall bei der Hand haben.«

Als ihm der Kärrner den Dienst geleistet, schüttelte Jacques ihm kräftig die Hand, um ihm dadurch seinen Dank für die wackre Arbeit und seine Achtung auszudrücken.

»Ihr seid ein braver Kerl!«

Cabuche rührte dieses freundschaftliche Lob außerordentlich.

»Danke,« sagte er nur und zerdrückte die Thränen, die ihm in den Augen standen.

Misard, der sich mit ihm wieder ausgesöhnt, nachdem er ihn erst vor dem Untersuchungsrichter beschuldigt hatte, billigte durch Nicken mit dem Kopfe diesen Dank, während ein schwaches Lächeln auf seinen dünnen Lippen zitterte. Schon seit längerer Zeit arbeitete er nicht mehr, die Hände in den Taschen schielte er auf die Koupees, um zu sehen, ob nicht ein unter den Rädern liegender, verlorener Gegenstand bei Seite zu bringen wäre.

Der Zugführer kam endlich mit Jacques überein, daß man versuchen wolle, weiterzufahren. Pecqueux aber, der auf dem Geleise kauerte, rief den Locomotivführer herbei:

»Sehen Sie doch mal nach, der eine Cylinder hat etwas abbekommen.«

Jacques trat näher und bückte sich. Er hatte schon vorhin bemerkt, daß die Lison verwundet war. Man hatte beim Schaufeln gefunden, daß die an der Böschung von den Bahnarbeitern zurückgelassenen eichenen Querschwellen durch die Einwirkung des Schnees und des Windes bis auf die Schienen gerutscht waren; selbst der Stillstand des Zuges war theilweise durch sie herbeigeführt worden, weil die Locomotive gegen dieses Hinderniß gerathen war. Man bemerkte jetzt einen Riß auf dem Kolbenmantel, auch schien der Schaft etwas verbogen. Eine andre Verletzung war nicht zu entdecken, was Jacques sehr beruhigte. Möglicher Weise waren noch innere Verletzungen da, denn nichts ist empfindlicher als der innere Mechanismus, das Herz, die lebendige Seele einer Locomotive. Er stieg auf die Plattform, pfiff, öffnete den Regulator, um das Athmen der Lison zu beobachten. Lange dauerte es, bis sie zu neuem Leben erwachte, wie eine Person, die einen schweren Fall gethan hat und ihre Glieder noch nicht wieder fühlt. Endlich entrang sich ihr ein schwerer Seufzer und noch wie betäubt und schwerfällig ließ sie ihre Räder einige Umdrehungen machen. Es ging, er konnte die Fahrt wagen. Aber er schüttelte trotzdem den Kopf. Er, der sie so genau kannte, fand sie unter seiner Hand so merkwürdig verändert, sie schien gealtert zu sein und einen tödtlichen Stoß erhalten zu haben. Dieser Schnee hatte mit seiner mordsmäßigen Kälte ihr Herz gepackt, wie wenn junge, kräftige Frauen, die leicht angezogen ausgehen, des Abends bei eisigkaltem Regen heimkehren.

Abermals pfiff Jacques, nachdem Pecqueux die Ableitungsröhren geöffnet hatte. Die beiden Schaffner standen auf ihrem Posten. Misard, Ozil und Cabuche bestiegen das Trittbrett des Gepäckwagens. Sanft glitt der Zug aus der Schlucht zwischen den Soldaten hindurch, die sich mit ihren Schaufeln links und rechts an der Böschung aufgestellt hatten. Dann hielt er vor dem Bahnwärterhäuschen, um die Passagiere aufzunehmen.

Flore stand an der Thür. Ozil und Cabuche traten zu ihr. Misard aber war eifrig dabei, die blanken Geldstücke von den aus seinem Hause tretenden Damen und Herren einzusammeln. Endlich winkte die Befreiung! Aber man hatte zu lange warten müssen und litt furchtbar durch die Kälte, den Hunger und die Erschöpfung. Die Engländerin trug beinahe ihre beiden, halb schlafenden Töchter, der junge Mann aus Havre stieg in das Koupee der hübschen brünetten Frau, die vollständig hin war, und stellte sich dem Gatten zur Verfügung. Man hätte meinen können, man wohne der Einschiffung einer versprengten, auf der Flucht sich drängenden und vorwärts hastenden Truppe im Kothe des zerstampften Schnees bei, die Alles verloren habe, selbst das Gefühl für Eigenheit. Hinter ihrem Kammerfenster erschien auf einen Augenblick Tante Phasie, die Neugier hatte sie aus ihrem Bett und bis dahin getrieben; auch sie wollte das mitansehen. Ihre großen ausgeblaßten Augen einer Kranken starrten auf diese fremden Menschen, diese Passanten der Welt auf Rädern, die sie nie wiedersehen sollte, denn vom Sturmwind wurden sie herbeigeführt und mit dem Sturmwind zogen sie von dannen.

Séverine trat als die letzte aus dem Hause. Sie wandte den Kopf und lächelte Jacques zu, der sich weit vorbeugte, um ihr bis zu ihrem Koupee folgen zu können. Flore hatte auf sie gewartet und kochte jetzt vor Wuth über diesen ruhigen Austausch ihrer Liebesgefühle. Hastig rückte sie Ozil näher, den sie bisher stets von sich gewiesen hatte, als bedürfte sie jetzt in ihrem Hasse eines Mannes.

Der Zugführer gab das Zeichen, die Lison antwortete mit einem kreischenden Pfiff und Jacques fuhr davon, diesmal ohne Aufenthalt bis Rouen. Es war gerade sechs Uhr, die Dunkelheit sank vollends vom schwarzen Himmel auf die weiße Landschaft hernieder, aber ein bleicher, unendlich trostloser Schimmer blieb über der Erde lagern und erhellte die fürchterliche Oede dieses unwirthlichen Geländes. Und in diesem fahlen Lichte machte das Landhaus von la Croix-de-Maufras als einziger schwarzer Punkt in all diesem Schnee mit seiner Aufschrift: »Zu verkaufen!« und seiner geschlossenen Fassade einen noch wüsteren Eindruck als je zuvor.


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