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II

Wiederholt sprach Genosse Lenin mit mir über die Frauenfrage. Er legte offensichtlich der Frauenbewegung eine sehr große Bedeutung bei, und zwar als einem wesentlichen Bestandteil, unter Umständen als einem entscheidenden Bestandteil der Massenbewegung. Selbstverständlich war die volle soziale Gleichberechtigung der Frau für ihn ein Grundsatz, der für Kommunisten außerhalb jeder Diskussion steht. Es war in Lenins großem Arbeitszimmer im Kreml, wo wir im Herbst 1920 das erste längere Gespräch über den Gegenstand hatten. Lenin saß an seinem Schreibtisch, der mit Papieren und Büchern bedeckt von Studium und Arbeit ohne »geniale Unordnung« redete.

»Wir müssen unbedingt eine kräftige internationale Frauenbewegung schaffen, auf klarer theoretischer Grundlage«, so leitete Lenin das Gespräch nach der Begrüßung ein. »Ohne marxistische Theorie keine gute Praxis, das ist klar. Uns Kommunisten ist auch in dieser Frage größte grundsätzliche Reinheit nötig. Wir müssen uns von allen anderen Parteien scharf abgrenzen. Leider hat unser II. Internationaler Kongreß bei der Behandlung der Frauenfrage versagt. Er hat die Frage aufgerollt, ist aber nicht zu einer Stellungnahme gekommen. Die Sache steckt noch in einer Kommission. Sie soll eine Resolution ausarbeiten, Thesen, Richtlinien. Bis jetzt ist sie jedoch nicht weit gekommen. Sie müssen dabei helfen.«

Was Lenin sagte, hatte ich bereits von anderer Seite gehört und äußerte mein Erstaunen darüber. Ich war voller Enthusiasmus für das, was die russischen Frauen in der Revolution geleistet hatten und noch jetzt zu ihrer Verteidigung und Weiterentwicklung leisteten. Auch was die Stellung und Betätigung der Genossinnen in der bolschewistischen Partei anbelangt, erschien diese mir als eine Musterpartei, als die Musterpartei schlechthin. Sie allein schon brachte einer internationalen kommunistischen Frauenbewegung wertvolle, geschulte und erfahrene Kräfte und ein großes geschichtliches Beispiel zu.

»Das ist richtig, das ist ganz gut und schön«, meinte Lenin mit einem stillen, feinen Lächeln. »In Petrograd, hier in Moskau, in Städten und Industriezentren draußen im Lande haben sich die Proletarierinnen in der Revolution prächtig gehalten. Ohne sie hätten wir nicht gesiegt, oder auch kaum gesiegt. Das ist meine Meinung. Wie tapfer waren sie, wie tapfer sind sie noch jetzt! Stellen Sie sich all die Leiden und Entbehrungen vor, die sie tragen. Und sie halten aus, weil sie die Sowjets behaupten wollen, weil sie die Freiheit, den Kommunismus wollen. Jawohl, unsere Proletarierinnen sind prächtige Klassenkämpferinnen. Sie verdienen, daß man sie bewundert und liebt. Übrigens muß man anerkennen, daß auch die Damen der ›konstitutionellen Demokratie‹ in Petrograd sich viel tapferer gegen uns gezeigt haben als die Junkerlein. Das ist wahr. In der Partei haben wir zuverlässige, kluge und unermüdlich tätige Genossinnen. Wir konnten manchen wichtigen Posten in den Sowjets und Vollzugsausschüssen, in den Volkskommissariaten und öffentlichen Diensten jeder Art mit ihnen besetzen. Manche arbeiten Tag und Nacht in der Partei oder unter den Massen der Proletarier, der Bauern, in der Roten Armee. Das ist für uns sehr viel wert. Es ist auch wichtig für die Frauen überall in der Welt. Es beweist die Fähigkeiten der Frauen, den großen Wert, den ihre Arbeit für die Gesellschaft hat. Die erste Diktatur des Proletariats ist wahre Bahnbrecherin für die volle soziale Gleichberechtigung der Frau. Sie rottet mehr Vorurteile aus als Bände frauenrechtlerischer Literatur. Aber mit alledem haben wir noch keine internationale kommunistische Frauenbewegung, und die müssen wir unbedingt haben. Wir müssen sofort darangehen, sie zu schaffen. Ohne sie ist die Arbeit unserer Internationale und ihrer Parteien keine ganze Arbeit, wird sie nie ganze Arbeit sein. Wir müssen aber ganze Arbeit für die Revolution machen. Erzählen Sie mir, wie es mit der kommunistischen Arbeit draußen steht.«

Ich berichtete darüber, so gut ich damals bei der noch sehr losen und unregelmäßigen Verbindung zwischen den Parteien unterrichtet sein konnte, die sich der Kommunistischen Internationale angeschlossen hatten. Lenin hörte aufmerksam zu, den Oberkörper etwas vorgebeugt, ohne Anzeichen von Langeweile, Ungeduld oder Ermüdung, mit angespanntem Interesse auch Nebensächliches verfolgend. Ich habe niemand gekannt, der besser zuhörte als er und das Gehörte rasch ordnete und in allgemeine Zusammenhänge brachte. Das zeigten die kurzen, stets sehr bestimmten Fragen, die er ab und zu in den Bericht warf und das spätere Zurückkommen auf diese oder jene Einzelheit des Gesprächs. Lenin machte sich einige kurze Notizen.

Es war natürlich, daß ich besonders eingehend über den Stand der Dinge in Deutschland sprach. Ich erzählte Lenin, welch großes Gewicht Rosa Luxemburg darauf gelegt habe, daß wir die breitesten Frauenmassen für die revolutionären Kämpfe erfassen. Nach Gründung der Kommunistischen Partei drängte sie auf das Erscheinen eines Frauenblattes. Als Leo Jogiches bei seinem letzten Zusammensein mit mir – anderthalb Tage vor seiner Meuchelung – die nächsten Arbeiten der Partei mit mir besprach und mir verschiedene Aufgaben übertrug, gehörte dazu ein Plan für die Organisierung der Arbeit unter den werktätigen Frauen. Auf ihren ersten illegalen Konferenzen beschäftigte sich die Partei mit dieser Frage. Fast ausnahmslos waren die in der Vorkriegszeit und Kriegszeit hervorgetretenen geschulten und erfahrenen Agitatorinnen und Führerinnen bei der Sozialdemokratie beider Schattierungen geblieben und hielten die sich regenden und bewegenden Proletarierinnen in ihrem Gefolge. Jedoch hatte sich bereits ein kleiner Stamm sehr energischer, opferfreudiger Genossinnen gesammelt, die an allen Arbeiten und Kämpfen der Partei teilnahmen. Diese selbst aber hatte schon die planmäßige Tätigkeit unter den Proletarierinnen organisiert. Natürlich war alles noch Anfang, aber immerhin schon ein guter Anfang.

»Nicht übel, gar nicht übel!« sagte Lenin. »Die Energie, Opferfreudigkeit und Begeisterung der Genossinnen, ihr Mut und ihre Klugheit in der Zeit der Illegalität und der Halblegalität eröffnen eine gute Perspektive auf die Entwicklung der Arbeit. Es sind wertvolle Momente für die Ausdehnung der Partei und das Wachsen ihrer Kraft, die Massen zu ergreifen und Aktionen durchzuführen. Aber wie steht es mit der grundsätzlichen Klarheit und Schulung der Genossinnen und der Genossen in der Frage? Sie ist doch von grundlegender Bedeutung für die Arbeit unter den Massen. Sie ist von großem Einfluß darauf, was unter die Massen kommt, wofür sie gewonnen, begeistert werden. Ich kann mich im Augenblick nicht darauf besinnen, wer gesagt hat: ›Um große Dinge zu vollbringen, muß man begeistert sein.‹ Wir und die Werktätigen der ganzen Welt haben wirklich noch große Dinge zu vollbringen. Also wofür begeistern sich eure Genossinnen, die proletarischen Frauen Deutschlands? Wie steht es mit ihrem proletarischen Klassenbewußtsein, konzentrieren sie ihr Interesse, ihre Betätigung auf die politischen Forderungen der Stunde, was ist der Mittelpunkt ihrer Gedanken?

Darüber habe ich von russischen und deutschen Genossen Sonderbares gehört. Das muß ich sagen. Mir wurde erzählt, daß eine begabte Kommunistin in Hamburg eine Zeitung für die Prostituierten herausgibt und diese für den revolutionären Kampf organisieren will. Rosa hat als Kommunistin menschlich gefühlt und gehandelt, als sie sich in einem Artikel der Prostituierten annahm, die irgendein Vergehen gegen die Polizeivorschriften über die Ausübung ihres traurigen Gewerbes ins Gefängnis gebracht hat. Sie sind bedauernswerte doppelte Opfer der bürgerlichen Gesellschaft: erst ihrer verfluchten Eigentumsordnung und dann noch ihrer verfluchten moralischen Heuchelei. Das ist klar. Nur ein roher und kurzsichtiger Mensch kann das vergessen. Aber es ist doch etwas ganz anderes, das zu begreifen, als die Prostituierten – wie soll ich gleich sagen – als eine besondere zünftige revolutionäre Kampftruppe zu organisieren und eine Gewerbezeitung für sie herauszugeben. Gibt es in Deutschland wirklich keine Industriearbeiterinnen mehr, die zu organisieren sind, für die es ein Blatt geben sollte, die zu euren Kämpfen herangezogen werden müßten? Hier handelt es sich um einen krankhaften Auswuchs. Er erinnert mich stark an die literarische Mode, jede Prostituierte in eine süßliche Madonna umzudichten. Auch da war der Ursprung gesund: das soziale Mitgefühl, Auflehnung wider die Tugendheuchelei der ehrenwerten Bourgeois. Aber das Gesunde wurde bürgerlich angefressen und entartete. Übrigens: Die Frage der Prostitution wird uns auch hier noch manches schwierige Problem aufwerfen. Zurückführung der Prostituierten zur produktiven Arbeit, Eingliederung in die soziale Wirtschaft – darauf kommt es an. Aber bei dem jetzigen Stand unserer Wirtschaft und unter den gegebenen gesamten Umständen das durchzuführen, das ist schwer und kompliziert. Da haben Sie ein Stück Frauenfrage, das sich nach der Eroberung der Staatsmacht durch das Proletariat breit vor uns hinstellt und praktische Lösung fordert. Es wird uns hier in Sowjetrußland noch viel zu schaffen machen. Doch zurück zu eurem besonderen Fall in Deutschland. Die Partei darf keinesfalls solchem Unfug ihrer Mitglieder ruhig zusehen. Das stiftet Verwirrung und zersplittert Kräfte. Und Sie selbst, was haben Sie dagegen getan?«

Noch ehe ich antworten konnte, fuhr Lenin fort: »Ihr Sündenregister, Clara, ist noch größer. Es wurde mir erzählt, daß in den Lese- und Diskussionsabenden der Genossinnen besonders die sexuelle Frage, die Ehefrage behandelt werde. Sie sei Hauptgegenstand des Interesses, politischer Unterrichts- und Bildungsgegenstand. Ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu dürfen, als ich das hörte. Der erste Staat der proletarischen Diktatur ringt mit den Gegenrevolutionären der ganzen Welt. Die Lage in Deutschland selbst fordert die größte Konzentration aller proletarischen, revolutionären Kräfte zur Zurückwerfung der immer mehr vorwärtsdringenden Gegenrevolution. Die tätigen Genossinnen aber erörtern die sexuelle Frage und die Frage der Eheformen ›in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft‹. Sie halten es für ihre wichtigste Pflicht, die Proletarierinnen darüber aufzuklären. Die gelesenste Schrift soll die Broschüre einer jungen Wiener Genossin über die sexuelle Frage sein. Ein Schmarren! Was Richtiges darin steht, haben die Arbeiter schon längst bei Bebel gelesen. Nur nicht so langweilig, als ledernes Schema wie in der Broschüre, sondern agitatorisch packend, aggressiv gegen die Bourgeoisgesellschaft. Die Erweiterung durch die Freudschen Hypothesen sieht ›gebildet‹, ja nach Wissenschaft aus, ist aber Laienstümperei. Die Freudsche Theorie ist jetzt auch solch eine Modenarrheit. Ich bin mißtrauisch gegen die sexuellen Theorien der Artikel, Abhandlungen, Broschüren usw., kurz, gegen die Theorien jener spezifischen Literatur, die auf den Mistbeeten der bürgerlichen Gesellschaft üppig emporwächst. Ich bin mißtrauisch gegen jene, die stets nur auf die sexuelle Frage starren wie der indische Heilige auf seinen Nabel. Mir scheint, daß dieses Überwuchern sexueller Theorien, die zum größten Teile Hypothesen sind, oft recht willkürliche Hypothesen, aus einem persönlichen Bedürfnis hervorgeht, nämlich das eigene anormale oder hypertrophische Sexualleben vor der bürgerlichen Moral zu rechtfertigen und von ihr Duldsamkeit zu erbitten. Dieser vermummte Respekt vor der bürgerlichen Moral ist mir ebenso zuwider wie das Herumwühlen im Sexuellen. Es mag sich noch so wild und revolutionär gebärden, es ist doch zuletzt ganz bürgerlich. Es ist im besonderen eine Liebhaberei der Intellektuellen und der ihnen nahestehenden Schichten. In der Partei, beim klassenbewußten, kämpfenden Proletariat ist kein Platz dafür.«

Ich warf hier ein, daß die sexuelle Frage und die Ehefrage unter der Herrschaft des Eigentums und der bürgerlichen Ordnung vielgestaltige Probleme, Konflikte, Leiden für die Frauen aller sozialen Klassen und Schichten zeitige. Der Krieg und seine Folgen hätten gerade in den sexuellen Verhältnissen die vorliegenden Konflikte und Leiden für die Frauen außerordentlich verschärft, hätten Probleme sichtbar gemacht, die früher für sie verschleiert waren. Dazu füge sich die Atmosphäre der in Fluß gekommenen Revolution. Die alte Gefühls- und Gedankenwelt habe zu wanken begonnen. Die bisherigen sozialen Bindungen lockern sich und zerreißen, es zeigen sich die Ansätze zu neuen Beziehungen und Einstellungen von Mensch zu Mensch. Das Interesse für die einschlägigen Fragen sei ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Aufhellung und Neuorientierung. Es offenbare sich darin auch eine Reaktion gegen die Unnatur und Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ehe- und Familienformen im Wandel der Geschichte, in ihrer Abhängigkeit von der Wirtschaft seien geeignet, im Denken der Proletarierinnen den Aberglauben von der Ewigkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu zerstören. Eine kritisch-historische Stellung dazu müsse zur rücksichtslosen Zergliederung der bürgerlichen Ordnung, zur Enthüllung ihres Wesens und seiner Auswirkungen werden, die Brandmarkung der sexuellen Sittlichkeitsverlogenheit inbegriffen. Alle Wege führen nach Rom. Jede wirklich marxistische Analyse eines wichtigen Teils vom ideologischen Überbau der Gesellschaft, einer hervortretenden sozialen Erscheinung müsse zur Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Eigentumsgrundlage führen, müsse ausklingen in dem Carthaginem esse delendam Ceterum censeo Carthaginem esse delendam (lat.) – »Übrigens meine ich, Karthago muß zerstört werden.« Dem älteren Cato zugeschriebene Redewendung. Die Red..

Lenin nickte lächelnd. »Da haben wir's. Sie sind eine advokatorische Verteidigerin Ihrer Genossinnen und Ihrer Partei! Natürlich stimmt das, was Sie sagen. Aber damit wird der in Deutschland begangene Fehler im günstigsten Falle entschuldigt, gerechtfertigt wird er nicht. Er ist und bleibt ein Fehler. Können Sie mir ernsthaft versichern, daß in den Lese- und Diskussionsabenden die Sexual- und Ehefrage vom Standpunkt des reifen, lebendigen historischen Materialismus aus behandelt wird? Das hat ein vielseitiges, tiefes Wissen zur Voraussetzung, klarste marxistische Bewältigung eines ungeheuren Materials. Wo habt ihr jetzt die Kräfte dafür? Wären sie vorhanden, so würde es nicht vorkommen, daß eine Broschüre wie die erwähnte bei den Lese- und Diskussionsabenden als Unterrichtsmaterial benutzt wird. Man empfiehlt und verbreitet sie, statt daß man sie kritisiert. Worauf denn läuft die unzulängliche, unmarxistische Behandlung der Frage hinaus? Daß die Sexual- und Ehefrage nicht als Teil der großen sozialen Frage erfaßt wird. Umgekehrt, daß die große soziale Frage als ein Teil, als ein Anhängsel der Sexualprobleme erscheint. Die Hauptsache tritt als Nebensache zurück. Das schadet nicht bloß der Klarheit in dieser einen Frage, das trübt das Denken, das Klassenbewußtsein der Proletarierinnen überhaupt.

Außerdem und nicht zuletzt! Schon der weise Salomo sagte, daß alles seine Zeit hat. Ich bitte Sie, ist jetzt die Zeit, monatelang die Proletarierinnen damit zu unterhalten, wie man liebt und sich lieben läßt, wie man freit und sich freien läßt? Natürlich ›in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft‹, bei verschiedenen Völkern, was man dann stolz historischen Materialismus nennt! Jetzt müssen alle Gedanken der Genossinnen, der Frauen des arbeitenden Volkes auf die proletarische Revolution gerichtet sein. Sie schafft auch für die notwendige Erneuerung der Ehe- und Sexualverhältnisse die Grundlage. Jetzt treten doch wahrhaftig andere Probleme in den Vordergrund als die Eheformen der Australneger und die Geschwisterehe in alter Zeit. Die Rätefrage steht für die deutschen Proletarier noch immer auf der Tagesordnung; der Versailler Vertrag und seine Auswirkungen im Leben der Frauenmassen, Arbeitslosigkeit, sinkende Löhne, Steuern und vieles andere. Kurz, ich bleibe dabei, daß diese Art politischer, sozialer Bildung der Proletarierinnen falsch ist, ganz und gar falsch. Wie konnten Sie zu ihr schweigen? Sie mußten Ihre Autorität dagegen einsetzen.«

An Kritik und Vorstellungen bei den führenden Genossinnen in den einzelnen Orten hätte ich es nicht fehlen lassen, erklärte ich dem eifernden Freunde. Allein, er wisse doch, ein Prophet gelte nichts in seinem Vaterlande und bei seiner Verwandtschaft. Ich hätte mich durch meine Kritik verdächtig gemacht, »starke Überlebsel sozialdemokratischer Einstellung und altmodischer Spießbürgerlichkeit« zu bewahren. Jedoch, schließlich sei die Kritik nicht vergeblich geblieben. Die Sexual- und Ehefrage sei nicht mehr der Mittelpunkt der Kurse und Diskussionsabende. Lenin verfolgte aber den angesponnenen Gedanken noch weiter.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er, »auch ich bin in dieser Beziehung bei manchen Leutchen der Philisterhaftigkeit etwas verdächtig, obgleich diese mir widerlich ist. Es steckt soviel Heuchelei und Beschränktheit in ihr. Na, ich trag's ruhig! Die kaum aus dem Ei bürgerlicher Anschauungen geschlüpften Vögelchen mit den gelben Schnäbeln sind stets furchtbar klug. Damit haben wir uns abzufinden, ohne uns zu bessern. Auch die Jugendbewegung krankt an der ›Modernität‹ der Einstellung zur sexuellen Frage und an der überwuchernden Beschäftigung mit ihr.« Lenin betonte das Wort Modernität ironisch und schnitt eine ablehnende Grimasse. »Wie mir von vielen berichtet worden ist«, redete er weiter, »ist die sexuelle Frage ebenfalls Lieblingsstudium in euren Jugendorganisationen. Es soll kaum genügend viel Vortragende darüber geben. In der Jugendbewegung ist dieser Unfug besonders schädlich, besonders gefährlich. Er kann sehr leicht bei den einzelnen zur Übersteigerung und Überhitzung des sexuellen Lebens beitragen, zur Verwüstung jugendlicher Gesundheit und Kraft. Sie müssen auch gegen diese Erscheinung ankämpfen. Die Frauen- und die Jugendbewegung haben doch nicht wenige Berührungspunkte. Überall sollten unsere Genossinnen planmäßig mit der Jugend zusammenarbeiten. Das ist eine Fortsetzung, eine Ausweitung und Erhöhung der Mütterlichkeit aus dem Individuellen in das Soziale. Und alles erwachende soziale Leben und Wirken der Frauen muß gefördert werden, damit sie die Enge ihrer spießbürgerlichen individuellen Heim- und Familienpsychologie abstreifen. Doch das nebenher.

Auch bei uns ist ein großer Teil der Jugend heftig dabei, die ›bürgerliche Auffassung und Moral‹ in der Sexualfrage zu ›revidieren‹. Und ich muß hinzusetzen, ein großer Teil unserer besten, unserer wirklich vielversprechenden Jugend. Es ist so, wie Sie vorhin meinten. In der Atmosphäre der Kriegsauswirkungen und der begonnenen Revolution lösen sich auf der sich umwälzenden wirtschaftlichen Grundlage der Gesellschaft die alten ideologischen Werte auf und verlieren ihre bindende Kraft. Die neuen Werte kristallisieren sich langsam, unter Kämpfen heraus. Auch in den Beziehungen von Mensch zu Mensch, zwischen Mann und Frau, revolutionieren sich die Gefühle und Gedanken. Neue Abgrenzungen werden gemacht zwischen dem Recht des einzelnen und dem Recht der Gesamtheit, also der Pflicht des einzelnen. Die Dinge sind noch in vollster chaotischer Gärung. Die Richtung, die Entwicklungskraft der verschiedenen einander widersprechenden Tendenzen treten noch nicht mit voller Klarheit hervor. Es ist ein langsamer und oft sehr schmerzhafter Prozeß des Vergehens und Werdens. Gerade auch auf dem Gebiet der sexuellen Beziehungen, der Ehe, der Familie. Der Verfall, die Fäulnis, der Schmutz der bürgerlichen Ehe mit ihrer schweren Lösbarkeit, ihrer Freiheit für den Mann, ihrer Versklavung für die Frau, die ekelhafte Verlogenheit der sexuellen Moral und Verhältnisse erfüllen die geistig Regsamsten und Besten mit tiefem Abscheu.

Der Zwang der bürgerlichen Ehe und der Familiengesetze der Bourgeoisstaaten verschärft Übel und Konflikte. Es ist der Zwang des ›heiligen‹ Eigentums. Er heiligt Käuflichkeit, Niedrigkeit, Schmutz. Die konventionelle Heuchelei der honetten bürgerlichen Gesellschaft tut das übrige. Die Menschen suchen ihr Recht gegen die herrschende Widerlichkeit und Unnatur. Und die Gefühle des einzelnen wandeln sich rasch, das Begehren und das Drängen nach Wechsel im Genuß gewinnen leicht ungezügelte Gewalt in einer Zeit, wo mächtige Reiche zertrümmert, alte Herrschaftsverhältnisse gesprengt werden, wo eine ganze gesellschaftliche Welt zu versinken beginnt. Sexual- und Ehereform in bürgerlichem Sinne genügt nicht. Eine Sexual- und Eherevolution ist im Anzuge, entsprechend der proletarischen Revolution. Es ist naheliegend, daß der dadurch aufgerollte sehr verwickelte Fragenkomplex wie die Frauen, so auch die Jugend besonders beschäftigt. Sie leidet wie jene ganz besonders schwer unter den heutigen sexuellen Mißständen. Sie rebelliert mit dem vollen Ungestüm ihrer Jahre dagegen. Das begreift sich. Nichts wäre falscher, als der Jugend mönchische Askese zu predigen und die Heiligkeit der schmutzigen bürgerlichen Moral. Allein, es ist bedenklich, wenn in jenen Jahren psychisch das Sexuelle zum Mittelpunkt wird, das schon physisch stark hervortritt. Wie verhängnisvoll wirkt sich das aus ...

Die veränderte Einstellung der Jugend zu den Fragen des sexuellen Lebens ist natürlich ›grundsätzlich‹ und beruft sich auf eine Theorie. Manche nennen ihre Einstellung ›revolutionär‹ und ›kommunistisch‹. Sie glauben ehrlich, daß dem so sei. Mir Altem imponiert das nicht. Obgleich ich nichts weniger als finsterer Asket bin, erscheint mir das sogenannte ›neue sexuelle Leben‹ der Jugend – manchmal auch des Alters – oft genug als rein bürgerlich, als eine Erweiterung des gutbürgerlichen Bordells. Das alles hat mit der Freiheit der Liebe gar nichts gemein, wie wir Kommunisten sie verstehen. Sie kennen gewiß die famose Theorie, daß in der kommunistischen Gesellschaft die Befriedigung des sexuellen Trieblebens, des Liebesbedürfnisses, so einfach und belanglos sei wie ›das Trinken eines Glases Wasser‹. Diese Glas-Wasser-Theorie hat einen Teil unserer Jugend toll gemacht, ganz toll. Sie ist vielen jungen Burschen und Mädchen zum Verhängnis geworden. Ihre Anhänger behaupten, daß sie marxistisch sei. Ich danke für einen solchen Marxismus, der alle Erscheinungen und Umwandlungen im ideologischen Überbau der Gesellschaft unmittelbar und gradlinig aus deren wirtschaftlicher Basis ableitet. Gar so einfach liegen denn doch die Dinge nicht. Das hat ein gewisser Friedrich Engels schon längst betreffs des historischen Materialismus festgestellt.

Die berühmte Glas-Wasser-Theorie halte ich für vollständig unmarxistisch und obendrein für unsozial. Im sexuellen Leben wirkt sich nicht bloß das Naturgegebene aus, sondern auch das Kulturgewordene, mag es nun hoch oder niedrig sein. Engels hat in seinem ›Ursprung der Familie‹ darauf hingewiesen, wie bedeutsam es ist, daß sich der allgemeine Geschlechtstrieb zur individuellen Geschlechtsliebe entwickelt und verfeinert hat. Die Beziehungen der Geschlechter zueinander sind doch nicht einfach ein Ausdruck des Wechselspiels zwischen der Wirtschaft der Gesellschaft und einem physischen Bedürfnis, das durch die physiologische Betrachtung gedanklich isoliert wird. Rationalismus, nicht Marxismus wäre es, die Umwandlung dieser Beziehungen für sich und losgelöst aus ihrem Zusammenhang mit der gesamten Ideologie unmittelbar auf die wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft zurückführen zu wollen. Nun gewiß! Durst will befriedigt sein. Aber wird sich der normale Mensch unter normalen Bedingungen in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze trinken? Oder auch nur aus einem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lippen ist? Wichtiger als alles ist aber die soziale Seite. Das Wassertrinken ist wirklich individuell. Zur Liebe gehören zwei, und ein drittes, ein neues Leben kann entstehen. In diesem Tatbestand liegt ein Gesellschaftsinteresse, eine Pflicht gegen die Gemeinschaft.

Als Kommunist habe ich nicht die geringste Sympathie für die Glas-Wasser-Theorie, auch wenn sie die schöne Etikette trägt: ›Befreiung der Liebe‹. Übrigens ist diese Befreiung der Liebe weder neu noch kommunistisch. Sie werden sich erinnern, daß sie zumal gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts als die ›Emanzipation des Herzens‹ in der schönen Literatur gepredigt wurde. In der Praxis der Bourgeoisie entpuppte sie sich als die Emanzipation des Fleisches. Die Predigt war damals talentvoller als heute, wie es mit der Praxis sich verhält, kann ich nicht beurteilen. Nicht etwa, als ob ich mit meiner Kritik die Askese predigen möchte. Fällt mir nicht ein! Der Kommunismus soll nicht Askese bringen, sondern Lebensfreude, Lebenskraft auch durch erfülltes Liebesleben. Jedoch meiner Ansicht nach gibt die jetzt häufig beobachtete Hypertrophie des Sexuellen nicht Lebensfreude und Lebenskraft, sie nimmt nur davon. In dem Zeitalter der Revolution ist das schlimm, ganz schlimm.

Zumal die Jugend braucht Lebensfreude und Lebenskraft. Ein gesunder Sport, Turnen, Schwimmen, Wandern, Leibesübungen jeder Art, Vielseitigkeit der geistigen Interessen. Lernen, studieren, untersuchen, soviel als möglich gemeinsam! Das alles wird der Jugend mehr geben als die ewigen Vorträge und Diskussionen über sexuelle Probleme und das sogenannte Ausleben. Gesunder Körper, gesunder Geist! Weder Mönch noch Don Juan, aber auch nicht als Mittelding den deutschen Philister. Sie kennen doch den jungen Genossen X.Y.Z. Ein prächtiger Bursche, hochbegabt. Ich fürchte, trotz allem wird nie etwas Rechtes aus ihm werden. Er saust und torkelt von Weibergeschichte zu Weibergeschichte. Das taugt nicht für den politischen Kampf, nicht für die Revolution. Ich wette nicht auf die Zuverlässigkeit, die Ausdauer im Kampf jener Frauen, bei denen sich der persönliche Roman mit der Politik verschlingt. Auch nicht der Männer, die jedem Unterrock nachlaufen und sich von jedem jungen Weibchen bestricken lassen. Nein, nein, das verträgt sich nicht mit der Revolution!« Lenin sprang auf, schlug mit der Hand auf den Tisch und machte einige Schritte im Zimmer.

»Die Revolution fordert Konzentration, Steigerung der Kräfte. Von den Massen, von den einzelnen. Sie duldet keine orgiastischen Zustände, wie sie für D'Annunzios dekadente Helden und Heldinnen das Normale sind. Die Zügellosigkeit des sexuellen Lebens ist bürgerlich, ist Verfallserscheinung. Das Proletariat ist eine aufsteigende Klasse. Es braucht nicht den Rausch zur Betäubung oder als Stimulus – so wenig den Rausch sexueller Übersteigerung wie den Rausch durch Alkohol. Es darf und will nicht sich vergessen, nicht vergessen die Abscheulichkeit, den Schmutz, die Barbarei des Kapitalismus. Es empfängt die stärksten Antriebe zum Kampf aus seiner Klassenlage, aus dem kommunistischen Ideal. Es braucht Klarheit, Klarheit und nochmals Klarheit. Deshalb, ich wiederhole es, keine Schwächung, Vergeudung, Verwüstung von Kräften. Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin ist nicht Sklaverei, auch nicht in der Liebe. Doch entschuldigen Sie, Clara! Ich bin weit abgekommen vom Ausgangspunkt unseres Gespräches. Warum haben Sie mich nicht zur Ordnung gerufen? Mir ist die Zunge mit Sorgen durchgegangen. Die Zukunft unserer Jugend liegt mir sehr am Herzen. Es ist ein Stück der Revolution. Und wenn sich schädliche Erscheinungen zeigen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft in die Welt der Revolution hinüberkriechen – wie die Wurzeln mancher Wucherpflanzen sich weit verbreiten –, so ist es besser, frühzeitig dagegen aufzutreten. Die berührten Fragen sind übrigens ja auch Teile der Frauenfragen.«

Lenin hatte mit großer Lebhaftigkeit und Eindringlichkeit gesprochen. Ich fühlte an jedem Wort, daß es ihm aus der Seele kam, der Ausdruck seiner Züge bekräftigte es. Manchmal unterstrich eine energische Handbewegung einen Gedanken. Ich bewunderte, daß Lenin neben überragenden großen politischen Fragen auch Einzelerscheinungen soviel Aufmerksamkeit zuwandte und sich mit ihnen auseinandersetzte. Und das nicht bloß in Sowjetrußland, sondern auch in den noch kapitalistischen Staaten. Als der vorzügliche Marxist, der er war, erfaßte er das einzelne, wo und in welcher Gestalt es sich zeigte, in seinem Zusammenhang mit dem Großen, dem Ganzen und in seiner Bedeutung dafür. Sein Lebenswille, sein Lebensziel waren einheitlich, unerschütterlich wie eine unwiderstehliche Naturgewalt auf das eine gerichtet: auf die Beschleunigung der Revolution als Massenwerk. So wertete er alles in seiner Auswirkung auf die bewußten Triebkräfte der Revolution. National wie international, denn vor seinen Augen stand stets bei voller Würdigung des historisch gegebenen Besonderen in den einzelnen Ländern und der verschiedenen Entwicklungsetappen die eine, unteilbare proletarische Weltrevolution.

»Wie bedaure ich, daß nicht Hunderte, nicht Tausende Ihre Worte gehört haben, Genosse Lenin!« rief ich aus. »Sie wissen ja, mich brauchen Sie nicht zu bekehren. Aber wie wichtig wäre es, daß Freund und Feind Ihre Meinung hörten.« Lenin lächelte gutmütig. »Vielleicht spreche oder schreibe ich einmal über die angeschnittenen Fragen. Später – jetzt nicht! Jetzt muß alle Kraft und Zeit auf andere Dinge konzentriert werden. Es gibt größere, schwerere Sorgen. Der Kampf um die Behauptung und die Befestigung des Sowjetstaates ist noch lange nicht zu Ende. Wir müssen den Ausgang des Krieges mit Polen verdauen und das Beste daraus zu machen suchen. Im Süden steht noch Wrangel. Nun, ich habe die feste Zuversicht, daß wir damit fertigwerden. Das wird auch den englischen und französischen Imperialisten und ihren kleinen Vasallen zu denken geben. Wir haben aber noch den schwierigsten Teil unserer Aufgabe vor uns: den Aufbau. Damit werden sich auch die Fragen der sexuellen Beziehungen, der Ehe und Familie als aktuell hervordrängen. Inzwischen müßt ihr euch damit herumschlagen, wann und wo es not tut. Ihr müßt verhindern, daß diese Fragen unmarxistisch behandelt werden und den Nährboden abgeben für zerrüttende Abweichungen und Quertreibereien. Und damit komme ich endlich auf Ihre Arbeit.«

Lenin blickte auf die Uhr. »Die mir für Sie zur Verfügung stehende Zeit ist schon zur Hälfte abgelaufen«, sagte er. »Ich habe mich verplaudert. Sie sollen Richtlinien für die kommunistische Arbeit unter den Frauenmassen ausarbeiten. Ich kenne Ihre prinzipielle Einstellung und praktische Erfahrung. Unsere Aussprache über die Arbeit kann daher kurz sein. Also schießen Sie los. Wie denken Sie sich die Richtlinien?« Ich gab einen gedrängten Überblick darüber. Lenin nickte wiederholt zustimmend, ohne mich zu unterbrechen. Als ich geendet hatte, schaute ich fragend zu ihm hin. »Einverstanden!« meinte er. »Besprechen Sie die Arbeit noch mit Sinowjew. Es ist auch gut, wenn Sie darüber in einer Sitzung der führenden Genossinnen berichten und diskutieren. Schade, sehr schade, daß Genossin Inessa nicht hier ist. Sie ist krank nach dem Kaukasus gefahren. Nach der Diskussion schreiben Sie die Richtlinien. Eine Kommission wird sie beraten, und die Exekutive wird zuletzt entscheiden. Ich will mich nur zu einigen Hauptpunkten äußern, in denen ich Ihre Einstellung durchaus teile. Sie scheinen mir auch für unsere laufende Agitations- und Propagandaarbeit wichtig, wenn diese Arbeit Aktion, Kampf vorbereiten und erfolgreich machen soll.

Die Richtlinien müssen scharf zum Ausdruck bringen, daß wahre Frauenbefreiung nur möglich ist durch den Kommunismus. Der unlösbare Zusammenhang zwischen der sozialen und menschlichen Stellung der Frau und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ist stark herauszuarbeiten. Damit wird die feste, unverwischbare Trennungslinie gegen die Frauenrechtelei gezogen. Damit ist aber auch die Grundlage gegeben, die Frauenfrage als Teil der sozialen Frage, der Arbeiterfrage aufzufassen und als solche fest mit dem proletarischen Klassenkampf und der Revolution zu verbinden. Die kommunistische Frauenbewegung selbst muß Massenbewegung sein, ein Teil der allgemeinen Massenbewegung, nicht nur der Proletarier, sondern der Ausgebeuteten und Unterdrückten jeder Art, aller Opfer des Kapitalismus oder eines Herrschaftsverhältnisses. Darin liegt auch ihre Bedeutung für die Klassenkämpfe des Proletariats und für seine geschichtliche Schöpfung: die kommunistische Gesellschaft. Wir können mit Recht stolz darauf sein, daß wir eine Elite revolutionärer Frauen in der Partei, in der Kommunistischen Internationale haben. Aber das ist nicht entscheidend. Wir müssen die Millionen werktätiger Frauen in der Stadt und im Dorfe für uns gewinnen. Für unsere Kämpfe und ganz besonders für die kommunistische Umwälzung der Gesellschaft. Ohne die Frauen gibt es keine wirkliche Massenbewegung.

Aus unserer ideologischen Auffassung ergibt sich das Organisatorische: Keine Sondervereinigungen von Kommunistinnen. Wer Kommunistin ist, gehört als Mitglied in die Partei wie der Kommunist. Mit gleichen Pflichten und Rechten. Darüber kann es keine Meinungsverschiedenheit geben. Jedoch dürfen wir uns einer Erkenntnis nicht verschließen. Die Partei muß Organe haben, Arbeitsgruppen, Kommissionen, Ausschüsse, Abteilungen oder wie sonst man sagen mag, deren besondere Aufgabe es ist, die breitesten Frauenmassen zu wecken, mit der Partei zu verbinden und dauernd unter ihrem Einfluß zu halten. Dazu gehört natürlich, daß wir ganz systematisch unter diesen Frauenmassen tätig sind. Wir müssen die Erweckten schulen und für die proletarischen Klassenkämpfe unter Führung der Kommunistischen Partei gewinnen und ausrüsten. Ich denke dabei nicht allein an die Proletarierinnen, ob sie nun in der Fabrik oder am häuslichen Herd stehen. Mir sind dabei auch die Kleinbäuerinnen gegenwärtig, die Kleinbürgerinnen der verschiedenen Schichten. Auch sie alle sind die Beute des Kapitalismus, und seit dem Krieg mehr als je. Die unpolitische, unsoziale, rückständige Psyche dieser Frauenmassen, ihr isolierender Betätigungskreis, der gesamte Zuschnitt ihres Lebens sind Tatsachen. Es wäre töricht, sie nicht zu beachten, absolut töricht. Wir brauchen eigene Organe zur Arbeit unter ihnen, besondere Agitationsmethoden und Organisationsformen. Das ist nicht Feminismus, das ist praktische, revolutionäre Zweckmäßigkeit.«

Ich sagte Lenin, daß seine Darlegungen mir eine wertvolle Ermutigung seien. Viele Genossen, sehr gute Genossen, bekämpften es auf das entschiedenste, daß die Partei Sonderorgane für die planmäßige Arbeit unter den Frauenmassen schaffe. Sie verfemten das als Frauenrechtelei und Rückfall in sozialdemokratische Traditionen. Sie machten geltend, daß die kommunistischen Parteien, weil sie die Frauen grundsätzlich gleichberechtigen, in der Folge auch ohne Differenzierung unter den werktätigen Massen überhaupt in ihrer Gesamtheit tätig zu sein hätten. Die Frauen müßten zusammen mit den Männern und unter den gleichen Bedingungen wie sie erfaßt werden. Jede agitatorische und organisatorische Berücksichtigung der von Lenin hervorgehobenen Umstände werde von den Verfechtern der gegenteiligen Ansicht als Opportunismus, als Preisgabe und Verrat des Prinzips gekennzeichnet.

»Das ist nichts Neues und kein Beweis«, meinte Lenin. »Ihr dürft euch dadurch nicht beirren lassen. Warum haben wir nirgends – nicht einmal bei uns in Sowjetrußland – ebensoviel Frauen als Männer in der Partei? Warum ist die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen so klein? Die Tatsachen geben zu denken. Die Ablehnung der unentbehrlichen besonderen Organe für unsere Arbeit unter den breiten Frauenmassen ist ein Ableger der auch sehr grundsätzlichen, sehr radikalen Auffassung unserer lieben Freunde von der Kommunistischen Arbeiterpartei. Danach darf es nur eine einzige Organisationsform geben: die Arbeiterunion. Ich kenne das. Die Berufung auf das Prinzip stellt sich bei manchen revolutionär gesinnten, aber unklaren Köpfen immer dann ein, ›wenn sonsten die Begriffe fehlen‹, das heißt, wenn der Sinn sich den nüchternen Tatsachen verschließt, die berücksichtigt werden müssen. Wie finden solche Hüter des ›reinen Prinzips‹ sich mit den uns historisch aufgezwungenen Notwendigkeiten unserer Revolutionspolitik ab? All das Gerede bricht vor der unerbittlichen Notwendigkeit zusammen. Ohne Millionen Frauen mit uns können wir nicht die proletarische Diktatur ausüben, können wir nicht kommunistisch aufbauen. Wir müssen den Weg zu ihnen suchen, müssen studieren, probieren, um ihn zu finden.

Es ist daher auch richtig, daß wir Forderungen zugunsten der Frauen erheben. Das ist kein Mindest- und Reformprogramm im Sinne der Sozialdemokratie, der II. Internationale. Kein Bekenntnis, daß wir an die Ewigkeit oder auch nur an eine lange Dauer der Bourgeoisherrlichkeit und ihres Staates glauben. Kein Versuch, die Frauenmassen durch Reformen zu besänftigen und vom Wege des revolutionären Kampfes zu locken. Das alles und anderer reformistischer Schwindel mehr ist es durchaus nicht! Unsere Forderungen sind nur praktische Schlußfolgerungen, die wir aus den brennenden Nöten, den schändlichen Demütigungen der Frauen als Schwache und Rechtlose in der bürgerlichen Ordnung ziehen. Wir beweisen dadurch, daß wir diese Nöte kennen und die Demütigungen der Frau, das Vorrecht des Mannes fühlen. Daß wir alles hassen, jawohl, hassen und beseitigen wollen, was die Arbeiterin, die Arbeiterfrau, die Bäuerin, die Frau des kleinen Mannes, ja in mancher Beziehung sogar auch die Frau der besitzenden Klassen drückt und quält. Die Rechte und sozialen Maßregeln, die wir für die Frauen von der bürgerlichen Gesellschaft verlangen, sind Beweise dafür, daß wir die Lage und Interessen der Frauen verstehen und unter der proletarischen Diktatur berücksichtigen werden. Natürlich nicht als einschläfernde und bevormundende Reformisten – nein, gewiß nicht –, als Revolutionäre, die die Frauen aufrufen, als Gleichberechtigte selbst mit an der Umwälzung der Wirtschaft und des ideologischen Überbaus zu arbeiten!«

Ich versicherte Lenin, daß ich seine Auffassung teile, doch werde sie gewiß auf Widerstand stoßen. Unsichere und ängstliche Gemüter würden sie als bedenklichen Opportunismus zurückweisen. Auch sei nicht zu leugnen, daß unsere Gegenwartsforderungen für die Frauen falsch aufgefaßt und ausgelegt werden könnten. »Ach was!« rief Lenin etwas unwirsch aus. »Diese Gefahr besteht für alles und jedes, was wir sagen und tun. Wenn wir uns aus Furcht vor ihr abhalten lassen, das Zweckmäßige und Nötige zu tun, so können wir uns gleich zu indischen Säulenheiligen machen. Nicht rühren, nur nicht rühren, wir könnten von der hohen Säule unserer Grundsätze herunterpurzeln! In unserem Falle kommt es doch nicht allein auf das Was unserer Forderungen an, sondern auch auf das Wie. Ich glaube das klar genug angedeutet zu haben. Es versteht sich, daß wir unsere Forderungen für die Frauen nicht wie die Perlen eines Rosenkranzes propagandistisch abbeten. Nein, je nach den vorliegenden Umständen müssen wir bald für diese, bald für jene kämpfen. Natürlich stets im Zusammenhang mit den allgemeinen proletarischen Interessen.

Jeder solche Kampf bringt uns in Gegensatz zu der ehrenwerten bürgerlichen Sippschaft und zu ihren nicht weniger ehrenwerten reformistischen Lakaien. Er zwingt diese, entweder unter unserer Führung mitzukämpfen – was sie nicht wollen – oder aber sich selbst zu entlarven. Also, der Kampf grenzt uns ab und zeigt unser kommunistisches Gesicht. Er gewinnt uns das Vertrauen von breiten Frauenmassen, die sich ausgebeutet, versklavt, zertreten fühlen durch die Herrschaft des Mannes, durch die Macht des Unternehmers, durch die ganze bürgerliche Gesellschaft. Von allen verraten, verlassen, erkennen die schaffenden Frauen, daß sie mit uns zusammen kämpfen müssen. Muß ich Ihnen noch besonders schwören oder Sie schwören lassen, daß auch die Kämpfe für die Frauenforderungen mit dem Ziel verbunden werden müssen: Eroberung der Macht, Aufrichtung der proletarischen Diktatur? Das ist und bleibt in dieser Zeit unser Alpha und Omega. Das ist klar, ganz klar! Aber die breitesten Frauenmassen des schaffenden Volkes werden sich nicht unwiderstehlich getrieben fühlen, unsere Kämpfe um die Staatsmacht zu teilen, wenn wir dazu stets nur diese eine Forderung blasen, und wäre es mit den Posaunen von Jericho. Nein, nein! Wir müssen unsere Aufforderung auch im Bewußtsein der Frauenmassen politisch mit den Leiden, Bedürfnissen, Wünschen der werktätigen Frauen verknüpfen. Sie müssen wissen, was für sie die proletarische Diktatur bedeutet: volle Gleichberechtigung mit dem Mann im Gesetz und in der Praxis, in der Familie, im Staat, in der Gesellschaft; Knebelung der Macht der Bourgeoisie.«

»Sowjetrußland beweist es«, rief ich dazwischen. »Das wird unser großes Schulbeispiel sein.« Lenin fuhr fort: »Sowjetrußland rückt unsere Frauenforderungen in ein neues Licht. Unter der proletarischen Diktatur sind sie nicht Kampfobjekt zwischen Proletariat und Bourgeoisie; durchgeführt, werden sie Bausteine der kommunistischen Ordnung. Das zeigt den Frauen draußen die entscheidende Wichtigkeit der Machteroberung durch das Proletariat. Der Unterschied muß scharf herausgearbeitet werden, damit ihr die Frauenmassen für die revolutionären Klassenkämpfe des Proletariats habt. Ihre Mobilisation, durchgeführt in klarer grundsätzlicher Erkenntnis und auf fester organisatorischer Basis, ist eine Lebensfrage der kommunistischen Parteien und ihrer Siege. Täuschen wir uns jedoch nicht. Unseren nationalen Sektionen fehlt noch immer das richtige Verständnis dafür. Sie sind abwartend, lässig, angesichts der Aufgabe, eine Massenbewegung der werktätigen Frauen unter kommunistischer Führung zu schaffen. Sie begreifen nicht, daß die Entfaltung und Leitung einer solchen Massenbewegung ein wichtiger Teil der gesamten Parteitätigkeit ist, ja, die Hälfte der allgemeinen Parteiarbeit. Ihre gelegentliche Anerkennung der Notwendigkeit und des Wertes einer kräftigen, zielklaren kommunistischen Frauenbewegung ist ein platonisches Lippenbekenntnis, nicht stete Sorge und Arbeitspflicht der Partei.

Man betrachtet die agitatorische und propagandistische Betätigung unter den Frauenmassen, deren Erweckung und Revolutionierung als etwas Nebensächliches, als Angelegenheit der Genossinnen allein. Ihnen allein macht man es zum Vorwurf, daß es damit nicht schneller und kräftiger vorwärtsgeht. Das ist falsch, grundfalsch! Wirklicher Separatismus und Frauenrechtelei à rebours, wie die Franzosen sagen; umgekehrte Frauenrechtelei! Was liegt denn der falschen Einstellung unserer nationalen Sektionen zugrunde? Ich spreche nicht über Sowjetrußland. Letzten Endes nichts anderes als die Geringschätzung der Frau und ihrer Leistungen. Jawohl! Leider heißt es auch bei vielen unserer Genossen: ›Kratzt den Kommunisten, und der Philister erscheint‹. Natürlich muß man an der empfindlichen Stelle kratzen, an seiner Mentalität in puncto Frau. Gibt es einen drastischeren Beweis dafür, als daß die Männer ruhig zusehen, wie die Frauen bei der kleinlichen, eintönigen, kraft- und zeitzersplitternden und verzehrenden Arbeit im Einzelhaushalt verkümmern, daß ihr Geist dabei eng und matt, ihr Herzschlag träge, ihr Wille schwach wird? Ich spreche natürlich nicht von den Damen der Bourgeoisie, die alle häuslichen Arbeiten, die Kinderpflege inbegriffen, auf Mietlinge abwälzen. Was ich sage, gilt für die ungeheure Mehrzahl der Frauen, auch der Arbeiterfrauen und sogar dann, wenn sie tagsüber in der Fabrik stehen und verdienen.

Die wenigsten Männer – auch die Proletarier nicht – denken daran, wie manche Mühe und Plage sie der Frau erleichtern, ja, ganz abnehmen könnten, wenn sie bei ›Weiberarbeit‹ zugreifen wollten. Aber nein, das ist gegen ›das Recht und die Würde des Mannes‹, die verlangen, daß er seine Ruhe und Bequemlichkeit hat. Das häusliche Leben der Frau ist ein tägliches Geopfertwerden bei tausend nichtigen Kleinigkeiten. Das alte Herrenrecht des Mannes lebt versteckt weiter. Objektiv nimmt seine Sklavin ihre Rache dafür – ebenfalls versteckt. Die Rückständigkeit der Frau, ihre Verständnislosigkeit für die revolutionären Ideale des Mannes vermindern dessen Kampffreudigkeit und Kampfentschlossenheit. Sie gleichen winzigem Gewürm, das unbeachtet, langsam aber sicher zermürbt und zernagt. Ich kenne das Arbeiterleben – und nicht bloß aus Büchern. Unsere kommunistische Arbeit unter den Frauenmassen, unsere politische Arbeit unter ihnen, schließt ein großes Stück Erziehungsarbeit unter den Männern in sich ein. Wir müssen den alten Herrenstandpunkt bis zur letzten, feinsten Wurzel ausrotten – in der Partei und bei den Massen. Es gehört das zu unserer politischen Aufgabe, ebenso wie die dringend nötige Herausbildung eines Stabes von Genossinnen und Genossen, die in Theorie und Praxis gründlich geschult die Parteitätigkeit unter den werktätigen Frauen durchführen und leisten.«

Auf meine Frage nach den einschlägigen Verhältnissen in Sowjetrußland antwortete Lenin: »Die Regierung der proletarischen Diktatur bietet natürlich im Bunde mit der Kommunistischen Partei und den Gewerkschaften alles auf, um die rückständige Auffassung der Männer und Frauen zu überwinden, um der alten unkommunistischen Psychologie den Boden zu entziehen. Eine Selbstverständlichkeit ist die volle Gleichberechtigung von Frau und Mann in der Gesetzgebung. Auf allen Gebieten zeigt sich das aufrichtige Bestreben, die Gleichberechtigung durchzuführen. Wir gliedern die Frauen in die soziale Wirtschaft, Verwaltung, Gesetzgebung und Regierung ein. Wir öffnen ihnen alle Kurse und Bildungsanstalten, um ihre berufliche und soziale Leistungsfähigkeit zu heben. Wir gründen Gemeinschaftsküchen und öffentliche Speisehäuser, Wasch- und Reparaturanstalten, Krippen, Kindergärten, Kinderheime, Erziehungsinstitute verschiedener Art. Kurz, wir machen ernst mit unserer programmatischen Forderung, die wirtschaftlichen und erzieherischen Funktionen des Einzelhaushaltes der Gesellschaft zu übertragen. Dadurch wird die Frau von der alten Haussklaverei und jeder Abhängigkeit vom Manne erlöst. Es wird ihr je nach Begabung und Neigung volles Wirken in der Gesellschaft ermöglicht. Die Kinder erhalten günstigere Entwicklungsbedingungen als daheim. Wir haben die fortgeschrittensten Arbeiterinnenschutzgesetze der Welt, und die Beauftragten der organisierten Arbeiter führen sie durch. Wir errichten Entbindungsanstalten, Mütter- und Säuglingsheime, organisieren Mütterberatungsstellen, Kurse für Säuglings- und Kleinkinderpflege, Ausstellungen für Mutter- und Säuglingsschutz und ähnliches. Wir machen die ernstesten Anstrengungen, um den Nöten unversorgter, arbeitsloser Frauen zu steuern.

Wir wissen sehr gut, daß das noch nicht viel ist, gemessen an den Bedürfnissen der arbeitenden Frauenmassen, daß es bei weitem noch nicht alles zu ihrer tatsächlichen Befreiung ist. Dennoch ist es ein ungeheurer Fortschritt, verglichen mit dem, was im zaristisch-kapitalistischen Rußland war. Es ist sogar viel, verglichen mit dem, was dort ist, wo der Kapitalismus noch unumschränkt herrscht. Es ist ein guter Anfang in der rechten Richtung, und wir werden ihn konsequent weiterentwickeln, mit aller Energie; das könnt ihr draußen glauben! Denn mit jedem Tag Existenz des Sowjetstaates zeigt sich deutlicher, daß wir ohne die Frauenmillionen nicht vorwärtskommen. Stellen Sie sich vor, was das in einem Lande bedeutet, wo gut 80 Prozent der Bevölkerung Bauern sind. Kleinbauernwirtschaft besagt Einzelhaushalt, Fesselung der Frau an ihn. Ihr werdet es in dieser Hinsicht soviel besser und leichter haben als wir. Vorausgesetzt, daß auch eure Proletarier endlich einmal die geschichtliche Reife der Dinge für die Machteroberung, die Revolution begreifen. Indessen, wir verzweifeln trotz großer Schwierigkeiten nicht. Mit ihnen wachsen unsere Kräfte. Die Notwendigkeit der Praxis wird uns auch für die Entsklavung der Frauenmassen auf neue Wege stoßen. Im Zusammenwirken mit dem Sowjetstaat wird die Genossenschaftlichkeit Großes leisten. Natürlich Genossenschaftlichkeit in kommunistischem, nicht in bürgerlichem Sinne, wie die Reformisten sie predigen, deren früherer revolutionärer Enthusiasmus in billigen Essig verdunstet ist. Hand in Hand mit der Genossenschaftlichkeit muß auch eine persönliche Initiative gehen, die Gemeinschaftsbetätigung wird und mit ihr verschmilzt. Unter der proletarischen Diktatur wird die Befreiung der Frau durch den sich verwirklichenden Kommunismus auch auf dem Dorfe vor sich gehen. Ich hoffe dafür das Beste von der Elektrifizierung unserer Industrie und Landwirtschaft. Ein grandioses Werk, das! Groß, ungeheuer groß sind die Schwierigkeiten seiner Durchführung. Die gewaltigsten Massenkräfte müssen zu ihrer Meisterung gelöst, erzogen werden. Millionen Frauenkräfte müssen dabeisein.«

Während der letzten zehn Minuten hatte es zweimal geklopft. Lenin hatte weitergesprochen. Jetzt öffnete er die Tür und rief hinaus: »Ich komme sofort!« Zu mir gewandt, setzte er lachend hinzu: »Wissen Sie, Clara, ich nutze es aus, daß ich mit einer Frau zusammen war. Ich erkläre natürlich meine Verspätung mit der bekannten weiblichen Beredsamkeit. Obgleich diesmal das Vielreden wirklich nicht auf der Seite der Frau, sondern des Mannes war. Übrigens stelle ich Ihnen das Zeugnis aus, daß Sie wirklich ernsthaft zuhören können. Vielleicht hat aber gerade das mich zum Vielreden gereizt.« Lenin half mir während dieser scherzenden Worte in den Mantel. »Sie müssen sich wärmer anziehen«, meinte er fürsorglich. »Moskau ist nicht Stuttgart. Man muß nach Ihnen sehen. Erkälten Sie sich nicht. Auf Wiedersehen!« Er schüttelte mir kräftig die Hand.

 

Ein weiteres Gespräch mit Lenin über die Frauenbewegung hatte ich ungefähr zwei Wochen später. Lenin kam zu mir. Wie fast stets war sein Besuch unerwartet, eine Improvisation im Zwischendrin der riesenhaften Arbeitslast, die der Führer der siegreichen Revolution bewältigte. Lenin sah sehr abgehetzt und sehr versorgt aus. Noch war Wrangels Niederwerfung nicht entschieden, und die Lebensmittelversorgung der großen Städte starrte gleich einer unerbittlichen Sphinx die Sowjetregierung an.

Lenin fragte, wie es mit den Richtlinien oder Thesen stehe. Ich berichtete ihm, daß eine große Kommission getagt habe, an der alle in Moskau anwesenden führenden Genossinnen teilnahmen und ihre Meinung äußerten. Die Richtlinien seien fertig und sollten demnächst in einer kleinen Kommission beraten werden. Lenin meinte, wir müßten danach trachten, daß der III. Weltkongreß die Frage mit der nötigen Gründlichkeit behandle. Schon die Tatsache allein werde manches Vorurteil der Genossen überwinden. Im übrigen müßten in erster Linie die Genossinnen zupacken, und zwar kräftig. »Nicht lispeln wie brave Tanten, als Kämpferinnen laut reden, deutlich reden!« rief Lenin lebhaft aus. »Ein Kongreß ist kein Salon, in dem Frauen durch Anmut glänzen sollen, wie es im Roman heißt. Er ist ein Kampfplatz, wo wir um Erkenntnisse für revolutionäres Handeln ringen. Beweist, daß ihr kämpfen könnt! Mit den Feinden natürlich an erster Stelle, aber auch in der Partei, wenn es notwendig ist. Es geht doch um die großen Frauenmassen. Unsere russische Partei wird für alle Vorschläge und Maßnahmen eintreten, die zu ihrer Eroberung helfen. Wenn diese Massen nicht mit uns sind, so kann es den Gegenrevolutionären gelingen, sie gegen uns zu führen. Daran sollten wir stets denken.« – »Die Frauenmassen, wir müssen sie haben, und wenn sie, wie es von Stralsund hieß, mit Ketten an den Himmel geschlossen wären«, fing ich Lenins Gedanken auf. »Mir ist hier in dem Milieu der Revolution mit seinem reich quellenden Leben, seinem raschen, starken Pulsschlag der Plan zu einer großen internationalen Aktion unter den schaffenden Frauenmassen gekommen. Den besonderen Anstoß dazu haben mir eure großen parteilosen Frauenkonferenzen und Frauenkongresse gegeben. Wir sollten den Versuch wagen, sie aus dem Nationalen ins Internationale zu übersetzen. Es ist Tatsache, daß der Weltkrieg mit seinen Auswirkungen die breitesten Frauenmassen der verschiedenen sozialen Klassen und Schichten auf das tiefste erschüttert hat. Sie sind in Gärung, in Bewegung geraten. In Gestalt von bittersten Sorgen um Lebensunterhalt und Lebensinhalt stehen Fragen vor ihnen, die die meisten früher kaum geahnt, die wenigsten klar erfaßt haben. Die bürgerliche Gesellschaft ist außerstande, eine befriedigende Antwort auf diese Fragen zu geben. Nur der Kommunismus vermag das. Das sollten wir den breitesten Frauenmassen der kapitalistischen Länder zum Bewußtsein bringen und zu diesem Zweck einen parteilosen, internationalen Frauenkongreß veranstalten.«

Lenin antwortete nicht gleich. Den Blick wie nach innen gekehrt, den Mund fest zusammengepreßt, die Unterlippe etwas vorgeschoben, überlegte er. »Ja«, sagte er dann, »das sollten wir. Der Plan ist gut. Aber der gute, ja vorzüglichste Plan taugt nichts, wenn er nicht gut durchgeführt wird. Haben Sie über die Durchführung schon nachgedacht? Wie denken Sie sich diese?« Ich legte Lenin meine Gedanken darüber ausführlich dar. Zuerst müsse in stetem, engstem Einvernehmen mit unseren nationalen Sektionen von Genossinnen der verschiedenen Länder ein Komitee für die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung des Kongresses gebildet werden. Ob dieses Komitee sofort offiziell und öffentlich zu arbeiten anfange, sei eine noch zu erwägende Zweckmäßigkeitsfrage. Jedenfalls sei erste Aufgabe seiner Mitglieder in den einzelnen Ländern, mit Führerinnen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen, der politischen proletarischen Frauenbewegung, der bürgerlichen Frauenorganisationen jeder Art und Richtung, mit angesehenen Ärztinnen, Lehrerinnen, Schriftstellerinnen usw. in Verbindung zu treten und einen nationalen parteilosen Vorbereitungs- und Arbeitsausschuß zusammenzusetzen. Aus Mitgliedern dieser nationalen Komitees sei ein internationaler Ausschuß zu bilden, der den internationalen Kongreß vorzubereiten, einzuberufen, seine Tagesordnung, Ort und Datum des Stattfindens festzusetzen habe.

Der Kongreß solle meiner Ansicht nach an erster Stelle behandeln: das Recht der Frau auf Berufsarbeit. Dabei seien aufzurollen die Fragen der Arbeitslosigkeit, des gleichen Lohnes und Gehaltes für gleiche Leistung, des gesetzlichen Achtstundentages und Arbeiterinnenschutzes, der Gewerkschafts- und Berufsorganisation, der sozialen Fürsorge für Mutter und Kind, der sozialen Einrichtungen zur Entlastung der Hausfrau und Mutter usw. Ferner sei auf die Tagesordnung zu setzen: die Stellung der Frau im Familien- und Eherecht und im öffentlich-politischen Recht. Ich begründete diese Vorschläge und führte dann weiter aus, daß und wie die nationalen Ausschüsse in den einzelnen Ländern durch eine planmäßige Kampagne in Versammlungen und in der Presse den Kongreß gründlich vorzubereiten hätten. Diese Kampagne sei von besonderer Wichtigkeit, um die größten Frauenmassen aufzurufen, sie zur ernsten Beschäftigung mit den zur Diskussion gestellten Problemen zu veranlassen und ihre Aufmerksamkeit auf den Kongreß zu richten und damit auf den Kommunismus, auf die Parteien der Kommunistischen Internationale. Die Kampagne müsse sich an die berufstätigen, die schaffenden Frauen aller sozialen Schichten wenden; sie habe dem Kongreß die Anwesenheit und Mitarbeit von Vertreterinnen aller in Betracht kommenden Organisationen zu sichern wie von Delegierten aus öffentlichen Frauenversammlungen. Der Kongreß müsse in ganz anderem Sinne als die bürgerlichen Parlamente eine »Volksvertretung« sein.

Selbstverständlich hätten die Kommunisten nicht bloß die treibende, sondern namentlich auch die führende Kraft der Vorbereitungsarbeit zu sein. Die energischste Unterstützung unserer Sektionen müsse ihnen zuteil werden. All das gelte natürlich auch für die Tätigkeit des internationalen Ausschusses, die Kongreßarbeiten selbst und deren umfangreiche Auswertung. Dem Kongreß müßten zu allen Fragen der Tagesordnung kommunistische Thesen beziehungsweise Resolutionen vorgelegt werden, grundsätzlich, scharf geschliffen und dabei sachlich und mit wissenschaftlicher Beherrschung der sozialen Tatbestände begründet. Diese Thesen müßten vorher von der Exekutive der Kommunistischen Internationale beraten und gebilligt werden. Die kommunistischen Lösungen und Losungen hätten im Mittelpunkt der Kongreßarbeiten, der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stehen. Sie müßten nach der Tagung durch Agitation und Propaganda unter die breitesten Frauenmassen getragen und bestimmend für internationale Massenaktionen der Frauen werden. Unerläßliche Voraussetzung sei selbstredend, daß die Kommunistinnen in allen Ausschüssen und auf dem Kongreß selbst stets als feste, geschlossene Einheit auftreten würden, daß sie grundsätzlich klar und unerschütterlich planmäßig zusammenwirkten. Ein Aus-der-Reihe-Tanzen dürfe es für niemanden geben.

Lenin hatte während meiner Ausführungen mehrmals zustimmend genickt oder kurze, beipflichtende Zwischenrufe gemacht. »Mir scheint, liebe Genossin«, sagte er, »daß Sie die Sache nach der politischen Seite ganz gut durchdacht haben und nach der organisatorischen Seite hin in der Hauptsache ebenfalls. Ich bin durchaus der Meinung, daß in der gegebenen Situation solch ein Kongreß Wichtiges leisten könnte. Er trägt die Möglichkeit in sich, breiteste Frauenmassen mit uns zu verbinden; ganz besonders Massen berufstätiger Frauen aller Art, die Industriearbeiterinnen, die Heimarbeiterinnen und auch die Lehrerinnen und andere Beamtinnen. Das wäre gut, sehr gut! Denken wir an die Situation bei großen wirtschaftlichen Kämpfen oder auch bei politischen Streiks. Welch ein Machtzuwachs der revolutionären Proletarier durch sich bewußt auflehnende Frauenmassen! Vorausgesetzt natürlich, daß wir solche bekommen und zu halten verstehen. Der Gewinn wäre groß, ja geradezu ungeheuer. Aber wie denken Sie über einige Fragen? Es ist wahrscheinlich, daß die staatlichen Gewalten das Kongreßwerk sehr ungnädig betrachten, daß sie es zu hindern suchen würden. Sie werden es jedoch kaum brutal zu unterdrücken wagen. Was von ihrer Seite kommt, wird euch nicht schrecken. Allein, befürchten Sie nicht, daß die Kommunistinnen in den Ausschüssen und auf dem Kongreß selbst dem numerischen Übergewicht der Bürgerlichen und Reformistinnen und ihrer unzweifelhaft großen Routine unterliegen werden? Und dann und vor allem: Haben Sie wirklich das Zutrauen zu der marxistischen Schulung unserer Genossinnen, daß sich aus ihnen ein Stoßtrupp rekrutieren läßt, der den Kampf mit Ehren besteht?«

Ich antwortete Lenin darauf, daß die Behörden schwerlich mit gepanzerter Faust gegen den Kongreß vorgehen würden. Schikanen und Brutalitäten gegen ihn würden nur für ihn, für uns agitieren. Der Zahl und Routine nichtkommunistischer Elemente hätten wir Kommunistinnen entgegenzusetzen die wissenschaftliche Überlegenheit des historischen Materialismus in der Erfassung und Durchleuchtung der sozialen Probleme, in der Konsequenz unserer Forderungen zu ihrer Lösung, schließlich und nicht am wenigsten den Sieg der proletarischen Revolution in Rußland und ihr grundlegendes Werk für die Frauenbefreiung. Die Schwächen und Mängel in der Schulung und Reife einzelner Genossinnen könnten ausgeglichen werden durch planmäßige Vorbereitung und Zusammenarbeit. In dieser Hinsicht erwarte ich das Beste von den russischen Genossinnen. Sie würden der eherne Kern unserer Phalanx sein. Mit ihnen zusammen würde ich zuversichtlich ganz anderes wagen als Kongreßschlachten. Außerdem: Sogar wenn wir überstimmt werden, wird die Tatsache unseres Kampfes den Kommunismus in den Vordergrund schieben und von außerordentlicher propagandistischer Wirkung sein, uns auch Anknüpfungspunkte für spätere Arbeit schaffen.

Lenin lachte herzlich. »Immer die gleiche Enthusiastin für die russischen Revolutionärinnen. Ja, ja, alte Liebe rostet nicht. Ich glaube, Sie haben in der Sache recht. Auch die Niederlage nach heißem Kampfe wäre ein Vorteil, eine Vorbereitung künftiger Eroberungen unter den schaffenden Frauenmassen. Alles in allem handelt es sich um ein Unternehmen, das den Einsatz wert ist. Wir können dabei nie ganz verlieren. Aber natürlich hoffe ich auf den Sieg, wünsche von ganzem Herzen den Sieg. Er würde uns eine bedeutende Stärkung unserer Macht, eine große Ausdehnung und Festigung unserer Kampffront bringen, Leben, Bewegung, Aktivität in die Reihen tragen. Das ist stets von Nutzen. Zudem würde der Kongreß Unruhe, Unsicherheit, Gegensätze, Konflikte im Lager der Bourgeoisie und ihrer reformistischen Freunde hervorrufen und steigern. Man stelle sich vor, wer alles zusammen mit den ›Hyänen der Revolution‹ tagen soll und, wenn es gut geht, unter deren Führung: brave, zahme Sozialdemokratinnen unter Scheidemanns, Dittmanns und Legiens Oberleitung; fromme Christinnen, vom Papst gesegnet oder auf Luther schwörend; leibhaftige Geheimratstöchter und neugebackene Regierungsrätinnen; englische ladylike Pazifistinnen und leidenschaftliche französische Frauenrechtlerinnen. Welch ein Spiegelbild des Chaos, des Verfalls der bürgerlichen Welt müßte der Kongreß geben. Welch ein Spiegelbild ihrer Auswegs- und Hoffnungslosigkeit! Seine Auswirkung würde die Zersetzung steigern und dadurch die Kräfte der Gegenrevolution schwächen. Jede Kräfteschwächung der Feinde ist gleichbedeutend mit Stärkung unserer Macht. Ich bin für den Kongreß, sprechen Sie darüber mit Grigory. Er wird die Wichtigkeit der Sache voll erfassen. Wir werden sie energisch unterstützen. Also fangen Sie an und viel Glück zum Kampf!«

Wir sprachen noch über die Situation in Deutschland, besonders über den bevorstehenden »Einigungskongreß« der alten »Spartakisten« mit dem linken Flügel der Unabhängigen. Dann eilte Lenin davon, kameradschaftlich einige Genossen grüßend, die in einem Zimmer arbeiteten, das er passieren mußte. – Auch Genosse Sinowjew billigte meinen Plan. Ich ging hoffnungsfreudig an die Vorbereitungsarbeiten. Leider scheiterte der Kongreß an der Einstellung der deutschen und bulgarischen Genossinnen, die damals außerhalb Sowjetrußlands die beste kommunistische Frauenbewegung trugen. Sie lehnten den Kongreß ab. Als ich das Lenin mitteilte, erwiderte er: »Schade, sehr schade! Die Genossinnen haben eine glänzende Gelegenheit unbenutzt gelassen, breitesten Frauenmassen eine Perspektive der Hoffnung zu eröffnen und sie dadurch den revolutionären Kämpfen der Proletarier zuzuführen. Wer weiß, ob solch eine günstige Gelegenheit so bald wiederkehrt. Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Aber die Aufgabe selbst ist geblieben. Ihr müßt den Weg zu den Frauenmassen suchen, die vom Kapitalismus in furchtbares Elend gestoßen werden. Unbedingt, ihr müßt ihn suchen! Es gibt kein Ausweichen vor dieser Notwendigkeit. Ohne organisierte Massenbetätigung unter Führung der Kommunisten kein Sieg über den Kapitalismus, kein Aufbau des Kommunismus. Und deshalb muß sich endlich auch der Acheron der Frauenmassen bewegen.«

Das erste Jahr des revolutionären Proletariats ohne Lenin. Es hat die Festigkeit seines Werkes, die überragende Genialität des Führers bewiesen. Es hat fühlbar gemacht, wie groß und unersetzlich der erlittene Verlust ist. Kanonenschüsse künden die schwarze Stunde, da Lenin vor einem Jahr seine weit- und tief schauenden Augen für immer geschlossen hat. Ich sehe die endlosen Züge von ernsten Männern und Frauen des schaffenden Volkes, die nach Lenins Ruhestatt ziehen. Ihre Trauer ist meine Trauer, ist die Trauer von Millionen. Aus dem frischbelebten Schmerz aber steigt die Erinnerung überwältigend stark empor, eine Wirklichkeit, vor der die schmerzliche Gegenwart versinkt. Ich höre jedes Wort, das Lenin im Gespräch sagt. Ich sehe jede Veränderung seiner Miene dabei, und ich muß schreiben, muß! – Fahnen senken sich vor Lenins Ruhestatt, Fahnen, mit dem Blut von Revolutionskämpfern gefärbt. Lorbeerkränze werden niedergelegt. Keiner ist zuviel. Ich füge ihnen diese bescheidenen Blätter hinzu.

Moskau, Ende Januar 1925.


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