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Johannes Todspieler

(1919)

 

A Alles Sein ist dunkel. Anfang, Verlauf und Ausgang sind dunkel. Menschensein ist ungetrennt von Stein, Pflanze und Vogel. Ist eins mit dem Meer, mit dem Geigenton und mit der Wolke. Springt aus der Erde wie die Quelle, die durch Luft und Wind vom Himmel kam, hier ist und dort ist und doch nicht weiß warum sie überhaupt ist. Wie der Mensch, der da sein muß: leidend oder sich freuend leben um in den Tod hinüber zu leben. Wenig wissen wir, wenn wir über den Menschen denken und reden, weil wir nicht heraus können, ihn nicht hinstellen außer uns als etwas Fremdes, und ihn dennoch in und aus betrachten können. Wir sehen niemals den anderen, fühlen ihn nie, begreifen ihn nie, sehen und erleben ihn nur in uns selbst. Das geschieht ganz gewiß aus Unvermögen; was aber dennoch Reichtum ist oder eine unselige Gnade. Kreist unser Denken rasend um unseren Ursprung: warum und aus welcherlei Kraft züngelten Samentiere zueinander, um unter Willkür der Art und des Raumes sich zu ballen, zu paaren, auf daß ein Menschentier sichtbar werde? Warum es auf die Bühne lassen zu kurzem Possenspiel? Warum diese albernen Erscheinungen, Realitäten, dieses Bürgerwerk, dieses Unmenschentum? Denn Menschentum ist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es begann quallenhaft im Purpurdunkel, stieg in das grelle Licht empor, wurde sichtbar, benannt, bearbeitet, gebildet, bekämpft, zerrieb sich, bröckelte ab und tauchte wieder unter in den Purpur-Urgrund seines wesenhaften Nichtseins, seines wahrhaftigen Lebens. Krieg ist überall, unten, oben und rundum. Zwischen Larven und Wesenhaftem, zwischen Himmel und Hölle und bei jedem in sich. Die Wesenhaften zumal zerbrechen im Erdlicht an den Larven und an sich selbst. Verbrennen wie Kohle und löschen aus wie ein Licht. Es gibt nur ein Wesenhaftes: die Stimme in ihm selbst die da spricht: Du sollst, Du mußt! Sei so, und nicht anders. Aber dann werden seitab andere Stimmen laut und tauchen auf wie die Meute am Wege und schreien auch: Du sollst! Du mußt! Sei so, wie wir wollen und nicht anders.

Wehe dem Wesenhaften, der in alle Stimmen Recht und Wahrheit legt, der sein Dasein ihnen zu Dienst und Gehorsam formen will. Er muß zerbrechen, und dann heult die Menge vor Wollust oder trottet mit eingeklemmtem Schwanz weiter.

Rettet er sich aber beizeiten aus der Umklammerung, erwacht er für sich zum Gottesgehorsam, zum Ich –: so heißen sie ihn den Trotzigen, den Aufrührer, den Unheiligen und ächten ihn.

Und jetzt erst ist er in dem Wesenhaften, in die große Seligkeit eingegangen. Er hat heimgefunden. Er ist auferstanden. Er ist! Und geht dahin, horchend auf die Musik seiner Seele, schwebt wie ein Tänzer auf silbernem Seil, das über Abgründe gespannt ist und deren Geröll, und dazwischen das Gewürm, das er nicht sieht. Denn sein Blick ist über die Horizonte geweitet und verschwimmt in blauen Seligkeiten. Lehnt sich an Gottes brauner Schulter, ist das Lächeln um seinen Mund und die sternhelle Weite seiner Augen. Also stieg auch dieses Menschenleben, das vor Euch aufgetan wird, empor aus dem Urgrund des Seins und wurde in die Wiege einer Pfarrstube gelegt. Der Herr Pfarrer war ein erdbraver Mann, lebte unter grünen Bäumen, singenden Vögeln und schlauen Bauern. Johannes, so wurde dieser Neugeborene genannt, war der dritte Sohn. Sieben und neun Jahre trennten ihn von seinen Brüdern. Er war darum Lenden entsprossen, die beinahe schon schlaff werden wollten. Die so müde waren vom grauen Alltagseinerlei. Die wehmütig die kühle Erde suchten und das endliche Ausruhen von freudlosen Wanderfahrten.

Nicht mehr gewollt … und doch, als Johannes Lächeln, Stimme und Verstand zeigte, wurde er geliebt mit der herben Wärme eines zweiten Frühlings. Er wuchs in allem nicht wie die Brüder hoch, das stellten die Eltern bald fest. Früh schon waren Sonderlichkeiten aufgebrochen in ihm, die wie Dornen böse stachen und doch wieder gerundet waren von Saft und Süße. In seinen Augen standen tiefe Himmel. In den Bäumen hingen Harfen, darauf spielten Stern und Nachtigallen. Er horchte lange Stunden des Tages hinein und faltete sich schlaflos in die schwarze Kutte der Nacht. Es gab für ihn nur einen Gespielen; das war er, Johannes selber. Und wenn er auch hinwollte zu den Eltern, Brüdern oder Freunden: das vergorene Blut lähmte den Nerv seines Willens. Es tat so weh, nicht zu wissen, warum diese Fremdheit war und wozu. Die anderen Menschen hatten doch alle etwas Geheimes, Gemeinsames, womit sie sich wortlos verständigten. Das hatte er nicht. Sie standen alle innerhalb desselben Kreises, und er stand draußen. Oft überlegte er, ob es mit ihm so wie mit den Wolken wäre, denen er auf ihrem sanft schaukelndem Fluge nachsehnte, die Arme brünstig hob und ausreckte. Und sie dann immer wieder sinken lassen mußte und fühlen: wie tiefer auf der harten Erde stand.

Jedoch auch die, die ihn liebten oder vorgaben, es zu tun, stießen immer an Wände oder griffen Luft, wenn sie in ihn hineinschlüpfen und sein Wesen erfühlen wollten.

Johannes sah sich am liebsten im ungeheueren Raum auf grünen Polstern. Jeder Grashalm schien ihm die Verzauberung eines gottähnlichen Wesens. Weithin glänzten spiegelnde Wölbungen; die warfen sein Bild lang fragend zurück. Jeder Hauch war er. Überall war er. Unten, oben, rundum. All und all. Trotzdem regten sich Zweifel und Gedanken kamen: Daß ihm irgend etwas noch fehle, daß er suchen müsse. Denn wieviele Male er sich auch fand, zur Rundung brauchte es noch eines letzten Teiles von ihm selbst. Er mußte seinen Weg allein gehen. Mußte. Und wollte und wollte doch nicht. Er beneidete die Brüder um ihren meilenlangen Vorsprung, den er nie würde einholen können. Er haderte mit Gott darum, ohne sich eine klare Vorstellung von Gott zu machen. Die Brüder waren groß, alt, klug und beweglich. In ihren Gedanken einfach und durchsichtig kühl. Er konnte diesen griffigen, vierkantigen Wesen seine krause Verkrochenheit nicht anvertrauen. Denn immer lachten sie ihn aus oder gaben, sich, seitwärts gedreht, gewisse Blicksignale, die etwas Böses, Vernichtendes und den Tod Quälendes aussagten. Er konnte mit ihnen nicht so schweigend reden, wie mit den Glockenblumen und Marienkäfern. Sein Herz blutete im Denken an diese Gegensätze! Aber es nahm ein Schuldbewußtsein nicht an und rann weit fort und wälzte auf den Verstand das Ergründen der Bedeutung Gut und Böse.

Manchmal in solchen zermürbenden Stunden war es Johannes, als schwebe er als ein überzahlter Wert in einer Leere zwischen Himmel und Erde. Er hatte Angst, sich umzusehen, nach oben oder unten zu blicken. Aber dann geschah immer etwas Zufälliges: die Sonne oder eine seltsame Wolkenform, ein Lerchenlied oder der Schatten eines Baumes sich mit seinem mischend. Und wieder formten seine Lippen den Namen: Gott. Darüber begann er von nun an ernsthafter nachzudenken. Wie der Vater, so dachte er, müsse eigentlich der liebe Gott aussehen. Er hatte eine viereckige Stirn, hartgekämmte Haare, Rillen unter den Augen und kalt zusammengekniffene Lippen. Der starke Körper lag immer im schwarzen Rock wie eingesargt. Alles verlangte er zu wissen, keinem sagte er, was er wußte. Aus Eifersucht sicher, vielleicht aber auch aus Verstocktheit. Und wenn er das Gesicht ganz bitter zusammenzog und etwas verbiß, was durch ein kleines Astloch nach außen schlüpfen wollte, hätte man aufschreien mögen: welches von deinen Wesen ist denn das Richtige?!

Johannes dachte: Gott im Himmel ist um kein Haar anders. Niemals schenkt er das aus, was man von ihm bittet –: einen sanften Spielfreund, eine Prinzessin, eine Narrenburg oder Sternenspiele. In den Büchern – gewiß, da steht das alles so schön in Reih' und Glied. Die Nächte aber, wo man so nahe seinem Odem liegt, gehen leer und kirchhofstill.

Johannes war ernstlich böse auf Gott. Ein seltsamer Zwang jedoch tötete die Galle der Gedanken ab. Und leise redete er sich ein, daß es doch das Richtigere sei, heimlich im dunklen Bett mit einem zu verkehren, der nicht da war und von dem man weder eine Antwort, noch eine Gnade bekam. Warum das so und nicht anders gestaltet war, wußte Johannes nicht. Er fühlte aber mehr und mehr, daß hier die gleichen Kräfte eine Gewalt ausübten, wie die Stimme des Waldes oder die Musik der Wiese.

Unter den leiblichen Vater jedoch beugte Johannes eine brutale Furcht, nämlich die Bogenspannung der Züchtigung. Er, der Knabe, war klein. Und der andere, der Mann, so groß. Folglich mußte man sich fügen. Denn überall tanzte zuckend das predigendstrafende Gesicht. Überall flackerte die Maske, zwischen den Bienenkörben und beim Tischgebet, lag behäbig auf der Hauspostille und sprang Sonntags aus dem sechseckigen Kasten der Kanzel wie der Teufel in die Höhe. Blähte sich auf, blies scharfe Säuren, entzündete sich, unter dem Gesetz der Vorstellungen, an Worten, die aus Körnern zu groben Blöcken sich ballten und donnernd auf die klotzigen Schädel der Bauern polterten, worauf sie erwachten und ihn aus schmalen Augen listig und feindselig anblinzelten. Der besoldete Beamte des Vieh- und Wettergötzen begriff schnell, mäßigte den Feuerstrom des jeremitischen Zornes zu einem Säuseln und Bräuseln und hatte kaum noch die Frauen für sich.

Es gibt eine bewährte Methode, Gänse zum Ansatz einer vortrefflich schmackhaften Fettschicht zubringen. Nicht anders verfuhr der Vater mit Johannes bei der Unterweisung in der protestantischen Dogmatik. Oder auch: er behandelte ihn, wie die Hebammen in abgetanen Zeitläuften die Säuglinge wickelten und schnürten, daß sie vor jeder Möglichkeit einer Bewegung vorsorglich bewahrt blieben. Johannes stand diesem Unterricht fremd und mit tausend Zweifeln belastet gegenüber. Er suchte gutwillig zu begreifen und fand doch keinen Anfang dazu. Der Vater half mit Prügel nach. Stumm ließ der geschändete Knabe die Wut über sich austoben. Er fand allmählich die seltsame Beherrschung, den beschränkten Herrscher sachlich zu mustern. Fing der Vater solche Blicke auf, wußte er genau, aus welchen Bezirken der Knabenseele sie heraufbrachen. Er erstarrte darunter wie ein zum Pfahl erkorener Baum, schlug auf die Erde und trieb Schaum und Galle nach außen. Johannes aber rannte hinaus in den frischen Wald, warf sich in das Kraut und behorchte sein Blut. Es trieb ihn an zu beten … aber was oder wen anbeten? Die Wipfel, die unter dem Windstoß ächzten und aufmurrten? Die Wolken, die finster wütend nach der Erde herabdrängten? Gott? Gottvater dröhnte mit Donnerblitzen. Gott Vater schüttelte sein langes Regenhaar.

Gott-Jesus aber blieb unsichtbar. Und gerade diesen umfaßte Johannes mit schwärmerischer Bruderliebe. Rief seinen Namen laut hinaus. Hier und an jedem Ort und zu vielen Stunden …

Manchesmal wurde er irre an diesem Gott-Sohn. Er konnte die Unterwerfung Gethsemane nicht begreifen, fand das schmerzliche »Ja!« kleinkinderhaft. Und nun gar noch die Auferstehung? Wozu? Wenn man einmal den Tod wollte, wozu dann noch einmal den düsteren Gang auf die Erde? Überhaupt diese nach einem Wunder schielende Frivolität des Kreuztodes? Wozu Judas, Petrus und der Gang nach Emaus?

Der gasförmige heilige Geist gar, war Johannes vollends zuwider. Immer hatte er das Gefühl auf der Zunge, wenn er an diesen Teil des All-Gottes dachte, als kaue er ungekochtes Sauerkraut oder Brausepulverbonbons.

Viel lieber liebäugelte Johannes mit dem Tod und lebte sich in Tat und Zustand des Erhängens ein. Seine Mutter aber hatte eine feine Witterung für das Innenleben, das ihn quälend zermalmte. Eines Abends ging sie dem Verstörten leise nach, entdeckte ihn unter den Dachsparren des Ziegenstalles und schnitt den noch warmen Körper vom Strick ab. Die Rückerinnerung an die dunklerwerdende Todeshülle und das Wiedersehen des Daseins, dem er besinnungslos entronnen war, mischte sich in ihm zu Ekel und Furcht ineinander.

Er fürchtete seit diesem Tage die Mutter, haßte sie vielleicht ein wenig, weil sie ihm die Erlösung nicht gegönnt hatte, die ihn nun zu qualvollen Wiederholungen zwang.

Fortan aber war er, da die Mutter nicht geschwiegen hatte, gebrandmarkt. In der Familie hieß er der Todspieler. Dieser Spitzname sprang auch auf die Dorfstraße hinaus und lag in den ironisch verkniffenen Mundwinkeln der Nachbarn. Er verfolgte ihn, er kläffte hinter ihm her, er brannte einen blutroten Schauer über seinen Körper. Er schleppte sich mit dieser Demütigung der Niederlage in eine finstere Verkrochenheit des Herzens. Er träumte Nacht für Nacht die feurige Vision von Block und Beil. Er krümmte sich auf dem Kehrichthaufen der Verachtung. Er fühlte den Ekel hoch im Hals. Wohin nun mit dieser Verdammung, diesem völlig ausgedörrten Allein?

Zurück zur Mutter? Sie hatte doch die tiefsten Augen von allen in der Welt.

Obgleich es ihm wie letzte Armut und Sklaverei vorkam: er ermannte sich zu diesem Zurück. Mitleid wob das schamhafte Band zu ihrem Herzen, denn sie litt unter allen Menschen auch.

Fühlte sie des Knaben fragenden Trotz im Stoß, so wehrte sie ab und mahnte zu stummer Folgsamkeit aus Angst vor Männer- und Götzenwache. Sie liebte Johannes trotz allem mit weicher schmeichlerischer Glut. Und wenn dies hochstieg in ihr und nicht zu bändigen war und sichtbar wurde –: dann öffnete sich zaghaft köstlich des Sohnes Seele, duftete Schmiegsamkeit und Milde.

Allmählich erst erfaßte Johannes das Seelenhafte dieses gottgütigen Stromes. Und zerlegte es sich in seinem Denken und fand den Punkt, der ihm Vorteile bringen konnte.

Da wurde die Mutter Wachs in seiner Hand, duckte sich seinen Einwänden: sie solle nur Mut haben, denn ein Denken, das nicht die gleichen Wege schritt, die der Vater befuhr, könne doch kein Verbrechen sein. Es käme doch alles von Gott. Nicht-Denken aber sei Frevel wie alle Trägheit. Ja, ruchloseste Sünde sei es, die innere Stimme zu betäuben. Niemand dürfe so bequem sein, nachzuplappern, was Vorväter und Prediger vorgesprochen haben. Waren sie etwa Götter? Nein. Nur beschränktere Wesen als wir.

Denken, Tag und Nacht denken –: das ist Nachfolge Gottes und wahres Leben. Wenn sie, die Mutter z. B. nun am Ganges geboren wäre oder am Kilimandscharo und nicht an der Wupper: wer sei dann der richtige Gott? Etwa auch Jesus oder sein Vater? Ganz sicher doch der Eltern- und Pfaffengott. Nicht wahr?

Oder sollte es am Ende doch der über den Eltern- und Pfaffengöttern herrschende, sich unendlich weitende, breitende und unfaßbare Wesensgott im Herzen sein, dessen leiser Atem seiender ist als das Dröhnen zersprengter Gestirne?

Tränenübersprengtes Zucken versetzte die Mutter nach solchen Reden zu den schwarzen Büßerinnen. Sie hing gläubig an des Sohnes Lippen. Sie erniedrigte sich vor ihm. Sie betete ihn an. Das dauerte nur nicht lange … Es gab immer wieder Rückfälle. Sie zerbrach ihr Gefühl zwischen zwei hohen Steinmauern.

Johannes fühlte von Jahr zu Jahr stärker: es kann nicht anders sein, ich muß meine Dunkelheiten allein tragen, wie auch meine Morgenröten. Nur der Gedanke an den Tod verließ ihn nicht. Und ohne ihn heftig zu wünschen, gewöhnte er sich an seine Nachbarschaft wie an einen stummen Bruder.

Aus den Grübeleien einer schlaflosen Nacht tauchte mit eins in Johannes die Sehnsucht nach einer Schwester empor. Das war, als er anfing von weißen Frauenleibern zu träumen. Niemals hatte er bislang Frauen bewußt angesehen. Nun hüpften sie in flackernden Bildfetzen durch seine Nächte, lösten seines Wesens Mark in einem matten, unendlich heißen Strom.

Morgens war sein Kopf wie von Alkohol vergiftet. Erst wenn die Mittagssonne brannte und alles so weit und klar machte, konnte er seine Gedanken in gerade Bahnen lenken.

Warum er nun hinunterschauen mußte nach weißen Halsausschnitten, (die leider nie tief genug waren) versagte sich seinem Denken. Versagte bei der Betrachtung der fruchtförmigen Schwellungen auf der Mädchen Brüste. Versagte, wo das Verlangen der Sinne noch weiter vorstieß, den Duft der schwarzen Täler roch und die Schweifungen der Schenkel spürte.

Nackt –: dieses Wortes Klang schon! Es regte ihn namenlos auf, wenn seine Zunge ihn formte. Es war wie eine Stichflamme, die bis auf sein Innerstes vorstieß. Was er noch nicht aus Instinktregungen wußte, ergänzten mit Leidenschaft die Kameraden. Ihr zynisch-kalbriges Tun fiel in seine Bereitschaft. Er tat heimlich, im feuchten Dunkel der Schlafkammer in maßlos heißer Gemeinschaft mit einer gestaltlosen Frau dasselbe, was die anderen handwerkerhaft gemeinsam an Sonntag-Nachmittagen im Chausseegraben probten.

Oft legten die Mädchen auf ihn, der kräftiger aussah als seine Altersgenossen, helle Blauaugen an. Er errötete unter ihren Lockungen. Er lief einem Knie, das sich ihm blank zeigte, wie von Insekten gestochen, davon. Er holte es sich aber im Traum wieder und goß sich zu ihm aus. In Tränen getaucht von Zermürbungen, zerrissen von den spitzen Dornen der Erkenntnis, rettete er sich von einem Tag zu anderen Tagen, dumpfen, Gott aufrufenden. Aber als hätten sie gerade auf dieses Signal gewartet: Gott strafte ihn durch den Mund des Vaters mit einer bitteren Lauge, die beten und abermals beten hieß. Er versuchte zu beten. Gott aber blieb stumm und nur sein Atem zischte durch die Bäume.

Johannes lagerte sich lange Nachmittage unter den Apfelbäumen des Gartens.

Jetzt aber verlangte die Schule sein Gehirn intensiver. Sie war seinen gesunden Kräften zwar ein Spiel. Die Mathematik war seiner Seele aber doch eine steinigte Wüste. Mit dieser Ausnahme wurden die Zensuren von Versetzung zu Versetzung glänzender. Die Mitschüler bestaunten seines Fleißes Ausdauer. Manche haßten ihn. Die Lehrer liebten ihn aber auch nicht. Sie hatten oft ein leises Grauen vor dem abseitigen Wesen dieses Knaben, seinen tiefen, bohrenden Augen, deren Zweifel ihre ängstlich gesponnenen Gewebe auseinander zerrten. Sie verziehen es ihm nie, daß er sie so oft durch spontane, naiv scheinende Fragen verwirrte und dem heimlichen Gelächter der Klasse preisgab. Wollten sie, sich rächend, ihn aber als Narren oder Blödian aufteilen, gab er ihnen höhnische Absagen.

Aber auch die ihm zugetanen Knaben gingen nur äußerlich mit ihm. Einen Freund im wirklichen Sinn hatte er nicht. Er blieb, wo es sich um tiefere Dinge handelte, einsam und abgewandt. Er fand sich früh zu einem Tagebuch und füllte es mit poetisch gefärbten Feurigkeiten. Furchtsam und schamhaft hütete er dieses Eigentum. Als es mittlerweile zu einem starken Band angeschwollen war, kam er auf die Universität.

Die alte Theologenstadt war ihm gewissenhaft vorgeschrieben von den Großvätern schon her. Auch das Quartier und die rechnerische Einteilung des Tages. Er erfüllte die Wünsche der Ahnen und des Vaters peinlich genau, war den Professoren bald als Dauersitzer bekannt und ließ sich von ihnen zum Nachtessen einladen. Kneipen existierten für ihn nicht. Die Bürgermädchen übersah er geflissentlich. Erkenntniswollüste hetzten dennoch von Monat zu Monat seine Gehirninstinkte und Energien ins Unermeßliche. Dazwischen lagen Zeiträume, in welchen ihn eine schülerhafte Bescheidung sättigte. Und dann wohl fühlte er eine unklare Festigung seines Wesens, die wie ein Stillstand aussah. Im tiefsten Bewußtsein aber blieben ihm alle Seelenkristallisierungen traumwandlerisch. Die Wert-Tendenz seines Geistes trug ihn. Zuweilen dachte er an die Erlebniswelle seiner Brüder, den Mustermenschen. Sie waren sieben und neun Jahre weiter wie er. Sie wuchteten im Arbeitstag wie Säulen empor. Das Leben sprang rund und glatt als bunter Ball ihnen vor die Füße. Es lag vor ihren Augen eine breite gepflasterte Fahrstraße. Sie stieß zu einem mäßigen Gipfel empor. Ihr ganzes Tun war fraglos. Ihr Sein regulär und in sich abgeschlossen. Ein Zaudern vor einer Handlung, irgendein bedeutungsvoller Umschwung in ihrem vorbestimmten Tag war unmöglich. Regungen, die dem allgemeinen, erdhaften Brauch zuwider liefen, tobten sich unter Lügendecken eines Sumpfes aus. Sie rollten dahin durch die großen Städte wie der Autobus auf dem Asphalt, mit der durchschnittlich fünfzigjährigen Garantie des Maschinellen.

Der eine hatte sich schon die Stellung eines Amtsrichters erschwitzt. Der andere war Steuerbeamter. Beide heirateten stattliche, rosenhäutige Frauen, die neben einer harmonischen Pensionsbildung einen riesenhaften Wäscheschrank in die Ehe brachten. In anständigen Zwischenräumen zeugten die Brüder als Zeichen ihrer starken Männlichkeit die gleiche Anzahl Kinder; doch zum ersten Mal sich darin voneinander unterscheidend, daß dem Amtsrichter nur Mädchen wuchsen, dem Steuerbeamten aber Knaben.

Über alle Lebensverhältnisse gewannen sie mit raschem Blick ein begrenztes Urteil, dem sie in vernünftigen Worten Ausdruck verliehen. Dabei entfernten sie sich niemals von der in der guten Gesellschaft herrschenden Meinung, befanden sich in Einklang mit Menge und Obrigkeit, Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, waren wohlgelittene und geachtete Mitbürger, Zunftgötzen und seelische Eunuchen.

Johannes fühlte bald, daß er nicht hinter ihnen zurück, wohl aber weit ab von ihnen war. Es lag ein leiser Schmerz in solcher Erkenntnis. Weil er noch nicht stolz sein durfte auf seine Abgesondertheit vom Haufen, noch keinen Ersatz hatte für die Einsamkeit unter allen Lebenden, die da fröhlich und tätig waren. Oft faßte er den Vorsatz, frisch in ihre Gemeinschaft zu springen. Aber jeder Versuch mißglückte. Denn die, die er sich als Helfer dazu wählte, mißtrauten ihm.

Sah denn wirklich die Welt für ihn so anders aus? Verschob sie sich nicht vor der Schiefheit seines Gesichtes nur? Eine Fülle von Expansionsteilchen, die ihn wolkengleich umwob und zu Boden drückte, blieb. Seine Sucht, das letzte hinter den Dingen zu wissen, reckte hagre Arme ins Dunkel, spreizte krallige Finger um maßloses Eigentum zu knebeln und faßte doch ein Nichts. Verzweiflung stieß ihn vorwärts und machte mit ihm ruckartig Halt vor dem Abgrund.

Da lag das Menschentum vor ihm, nicht als ein Weg, sondern als ein Feld mit ungezählten Radien. Strahlenkern, Knotenpunkt war er für sie. Von keinem Pfad kannte er das Ende. Denn da er wußte, daß es keine Anfänge gab, schloß er, daß es auch keine Endungen geben könnte. Alles Sein war Oben, Unten, Vorn, Hinten –: Eins-Rund. Wehe ihm, wenn er anerkennen würde, daß jeder Strahl Lichtquelle und Lichtbogen sei! Das methodische Studium der Heilslehre machte ihn denksicher. Sein Blut begann mathematisch zu sehen.

Was lag daran, den gottmenschlichen Zimmermannssohn von den Maskierungen der Jahre zu befreien, um ihn mit liberalem Forschungsfanatismus zu befreien? Ihn bis aufs nackte Fleisch auszuziehen? Ganz sinnlos kam Johannes solche Kärrnerarbeit vor. Und wen sollte er helfen, im Auftrage des Staates ein Götzenbild, dessen Holz und Farbe von ratio und animus gleicherweise schon zerfressen war, mit neuem Lack zu bestreichen?

Er fing an ihn zu begreifen mit den Händen des Gefühls als den Menschen, der nach Vergöttlichung strebte, der sich neugebärend Gott im Menschen und Mensch in Gott zur Einheit verwebte. Der große Freund und Bruder, wohl zeitlich befangen, aber doch durch sein selbstdenkendes Sein, seine pflanzenhafte Gottheit als einen ewigen Sauerteig sich unter die träge Menschenmasse mischend.

Johannes sah unter seinen Genossen im Seminar Feindschaft von links und rechts aufsteigen. Doch vieles lag noch dumpf und unbestätigt in ihm wie tauber Same unter harten Lehmkrusten.

Schließlich mußte er sich entscheiden. Wenn gleich auch die Amtsprüfung ihm wie ein Possenspiel vorkam, unwesentlich und beschränkt –: warum sich ihr entziehen? Also ließ er sich hinein und hindurchtreiben und fand sich endlich in der Technik eines herkömmlichen Berufes wieder. Dieser befiel im letzten Sinn einen Nichtorientierten. Johannes taumelte, wurde wieder halbfest und rannte mit unverbrauchter Kraft geschlossenen Auges vorwärts. Sein jugendlicher Glaubenseifer schmückte ihn mit der Glorie anerkannter Gottgläubigkeit. Er fiel in manchem den Hellhörigen auf, aber man fand keine sichtbaren Angriffsflächen, weil seine Menschengüte ihn mit den Feinden noch einte. Sein Streben war weit verzweigt, heilig und fast fanatisch. Er gewann aber langsam nur Boden, weil er zu gründlich war. Er konnte die trotzigen Fragen nicht zur Ruhe bringen, die ihn gegen die Sicherheit und den Schlaf der Genossen und Bürger aufbrachten.

Einfältig wie ein Kind staunte er über ihre Ruhe und fraglose Geläufigkeit des Lebens, immer noch zweifelnd an sich, dem Unfertigen, Unruhigen: der täglich Fremdes und Neugewachsenes in sich wahrnahm. Sein Eifer belichtete grell die Trägheit der »geistlichen Brüder«. Er ward ihnen langsam unbequem. Man ermahnte ihn mit hohem Lobe, seine jugendlichen Kräfte haushälterisch und mit christlichem Maße zur Ehre Gottes anzuwenden. Man durfte ihn nur in den Bezirken ihrer eigenen Untüchtigkeit und verlogenen Vortrefflichkeit gelten lassen, denn seine Außergewöhnlichkeit wuchs zur Gefahr und barg den Keim der Anarchie.

Ohne sich ganz straff und gerade gegen die zerfressende Beachtung der Durchschnittsmeinung aufgerichtet zu haben, ward er vom Gestrüpp menschlicher Beziehungen und Pflichten überwuchert. Süße Stimmen sänftigten ihn wie Wiegenlieder, die leichte Denkart des Alltäglichen milderte seine Sonderart. Er ward von der Liebe überfallen. Wenigstens meinte er, sie müsse es sein.

Redliche und reine Gefühle wurden Fäden einer begierdelosen Zusammengehörigkeit zu der anmutigen Tochter eines kleinstädtischen Geistlichen.

Sie hieß Emilie.

Man aß vortrefflich bei ihren Eltern zu Abend, man gab sich unter dem Tisch verstohlen die Hände und ließ die verhaltene Glücksfülle warm aus den Augen leuchten. Man musizierte, las und plauderte zusammen. Man lebte sich durch tägliche Aneinandergewöhnung, durch die Ausgleichung gemäßigter Eigenschaften in eine Gemeinschaftsatmosphäre farbloser Ruhe ein.

Johannes wurde willenlos verwandelt. Er war jetzt höflich und mild. Die Eltern Emilies betrachteten ihn mit scheelprüfenden Augen. Er ging aber auf alle ihre Schwächen ein: respektierte ihren Mittagsschlaf, ihre Migräne und Schwerhörigkeit, ihre frommen Traktätchen und züchtigen Romane. Wollte er den Versuch einer Kritik wagen, dämpfte ihn ein bittender Blick Emilies, ein leiser Schmeicheldruck ihrer Hände. Manchesmal, in frostig klaren Augenblicken, wenn sein Gehirn fast blutleer ging, erkannte er die Abgründe zwischen den Dreien und sich. Spürte, daß hinter den Masken Feindschaft schwelte, Fremdheit und das Gift einer vom Schicksal tückisch zur Freundschaft umgebogenen Blutfrucht.

Warum wollte er eigentlich heiraten? Nur, um sie als Weib dauernd in sein Leben hineinzupressen?! Verlangen, Notwendigkeit dazu trieben ihn nicht. Er würde mit der Mutter, mit einer angegrauten Haushälterin, müßte es nun eine eigene Wirtschaft schon sein, sicher ebenso gut auskommen. Mußte Liebe denn immer gleich Heirat zur Folge haben? Zweifellos. Denn die Existenz der Eltern war doch auch darauf aufgebaut. Und alle Menschen im breiten Umkreis lebten nicht anders.

Hilflos rann er, da ihm keine klare Antwort nicht gegeben ward, und die Zweifel auch nicht allzutief bohrten, in den Nebel der Bürgerlichkeit hinüber. Denn die Mädchen, die ihm für Geld zu Diensten sein wollten, seines Leibes Wollust in sich aufzunehmen, stießen ihn ab, weil in ihren Augen nicht die Demut zitterte, die er glaubte sehen zu müssen als Merkmal des Geschenks einer schönen Erde.

In Emilies Augen aber lag diese sommerblaue Ergebenheit manchesmal wie eine Fleisch gewordene Blume. Er wollte nun zu ihr durchaus ins Klare kommen. Sie unterschied sich eigentlich in nichts vom Wesen seiner Mutter. Diese beiden verstanden sich auch gleich wie zwei Schwestern. Er mußte nun beide lieben und ward ihrer Verschwisterung gegenüber noch machtloser. Ein Bund, ein festgefügtes System von Fürsorge und Betulichkeit stand ihm gegenüber. Er sah die Nebelmauer nicht, aber im Dunkel einsamen Denkens stieß er dagegen.

Was nun tun? Mußte das, was leise durch das Haus läutete und zu den Mahlzeiten rief und das Sofakissen rückte und die Lampe zündete, immer ein Weib sein?

War Emilie das spitzgezackte Fragezeichen Weib, dann war es ein gutes und rundes Rätsel. War ihr Wesen die Quelle der Liebe, das bunte Abenteuer durchstöhnter Knabennächte, dann war es eine höchst gefahrlose, artige Sache. Und darum willigte er ein, daß man sich verlobe. Nie kamen ihm beim Anblick seiner Braut, oder bei ihren Umarmungen Gedanken fleischlichen Begehrens. Sie sich hüllenlos vorzustellen, kam ihm vor wie ein Einbruch in eine fremde, verschlossene Stube. In braver Vertraulichkeit trennte man sich (während der dreijährigen Verlobtenzeit) beim abendlichen Abschiednehmen. Es gab nur züchtige Küsse auf Stirn oder Wange. Es gab vielleicht, wenn mit dem Mond die Blütenzweige der Sauerkirsche über Emilies Gesicht hingen, ein heißeres und längeres Verflechten der Hände. Aber das Fieber, das im Blut hüpfende und mit Schwellungen nach außen drängende Verlangen: eins zu werden –: es rührte kein Atem daran. Die Nächte wölbten sich traumlos und der Schlaf glättete die Glieder zu den Bewegungen in einen neuen, geschäftigen Tag.

Langsam durchlief das Gesetz der Tatsachen seine geordnete Bahn. Die sehnlich erwartete (Gott weiß warum?) feste Anstellung als Pfarrer kam.

Johannes Vater hatte diesen Höhensprung freilich nicht mehr erlebt. Ein Schlaganfall war dem feisten Fresser und Gottabgesandten gnädiger als Gott selber gewesen. Aber die Mutter ging in einem leichten Rieseln lichter Freudentränen umher. Und Emilies Eltern hatten ihren endlichen Lebens-Triumph. Es blieb für ihren Lebenszweck nun nichts mehr zu tun übrig, als den Tag der Hochzeit festzusetzen.

Emilie verfügte über Johannes mit einem fast despotischen Eifer. Ihre Hände zupften an seinen Kleidern, ihre Stimme überschrie den melancholischen Gang seiner Pulse. Nur ihre Augen lebten ein besonderes Dasein und standen wie das sanfte Dämmern einer Waldlichtung um seinen Tag herum.

Die Hochzeit wurde mit allem bürgerlichen und kirchlichen Zeremoniell steif und kostspielig begangen. Aus der Kirche schlug das Gewoge in den Festsaal hinüber. Die Speisenfolge überstürzte sich, es platzten den Gästen dann und wann schon Knöpfe. Der Wein löste die Zungen zu abwegigen Gesprächen, in Tanzumschlingungen paarten sich Teufel und Gott. Und der Rest und der Bastard aus dieser Ehe hieß: Betrunkenheit. Am üppigsten gediehen war solches bei dem Herrn Schwiegervater und dem Bürgermeister. Auch des Johannes Mutter ging mit krummen Knien und also war niemand, der das junge Paar in das Schlafgemach leitete. Es lag in einem der letzten Häuser des Städtchens. Und im oberen Stockwerk. Ein klar ausgesternter Himmel strömte durch das offene Fenster, das Johannes alsogleich schloß.

Emilie, unschlüssig und ungelenk, duckte sich vor Johannes in einem dumpfen Erschauern. In ihren Schläfen stockte das Blut. Über ihre Haut rann ein bitterkühler Schweiß.

Johannes hielt jetzt mit beiden Händen den Schädel, der gefüllt war mit einem Brausen und Hämmern der Sinne. Sein Mund gierte nach einem weißen Fetzen Fleisch. Die Träume jener schwülen Nächte in den Knabentagen wurden allmächtig.

Er riß Emilie, da sich sein Blut ungeheuer in das Gehirn ergoß, an sich und zerfleischte ihren Mund. Sie bog sich willig zu ihm, doch mit Angstaugen und ungeschickten Bewegungen der Hände. Er schüttete sich vulkanhaft aus, bis das tiefe Röcheln des Schlafes kam und Emilie leise an seiner Seite weinte, bis der Tag hell und drohend im Zimmer stand. Johannes erfuhr den Morgen in einer traurigen Zerknirschtheit, in einem Sumpf aus Scham und ausgegärter Verlogenheit des Herzens. Da ihn Emilie unentwegt ansah, wurde er linkisch in seinen Hantierungen, zerbrach die Waschschüssel und ging mit einer galligen Wut in den Tag hinein.

Emilie fühlte sich irgendwie beschmutzt, sie rieb ihren Körper mit harten Bürsten und scharfen Seifen und wußte doch nicht, aus welchen Bezirken ihr dieses Gefühl zugeflogen war.

Sie gingen beide einsilbig durch die nächsten Tage. Jedes dachte über die bohrende Stimme der Wahrheit hinweg in das Trommeln der Tageszeit und den wichtigen Dingen des Hauseinrichtens.

Während Johannes fast sieben Tage brauchte, um mit der Bücher- und Möbelordnung seines Arbeitszimmers ins Reine zu kommen, den Tischler, der die Regale aufschlug, dreimal fortjagte und viermal wieder zurückbettelte, mit dem Schlosser sich beinah geprügelt hätte und für das Harmonium schließlich keinen Platz mehr übrig behielt –: hatte Emilie in den drei anderen Räumen des Hauses eine helle Sauberkeit entfaltet, den Garten bestellt und eine Ziege und ein Schwein eingekauft. Auch war ein Mädchen schon aus dem Waisenhaus geholt worden, die den ziegelgepflasterten Hof gründlich säuberte.

Johannes hatte mit Erstaunen diese geheiligte Laube des Eheheims emporwölben gesehn. Ihm wurde unbehaglich bei der Entfaltung dieses Hausfrauenfleißes. Obwohl er keine Störung seiner Betriebszelle dadurch erdulden brauchte, erschien er doch mit ärgerlich gerötetem Kopf zu den Mahlzeiten.

Endlich kam die Woche, da er sich für die erste Sonntagspredigt vorbereiten mußte. Er wählte zum Thema die Legende von der Hochzeit zu Kana, machte sich viel Notizen aus den Schriften älterer Kirchenlehrer, studierte den Urtext des neuen Testamentes und zimmerte sich eine Predigt zusammen, die gelehrt genug war, vor einem Konzilium von Superintendenten zu bestehen.

Emilie schlich während dieser Tage auf Zehenspitzen durch die Räume, tat bei den Mahlzeiten den Mund nur zum Gebet auf und stellte sich schlafend, wenn Johannes lange nach Mitternacht in das Schlafzimmer taumelte und vor Müdigkeit kaum das Bett fand, das rechts von ihrem stand und mit den kalten weißen Kissen und Decken wie ein Schneefeld glänzte.

Johannes erzielte bei den Kleinbürgern jedoch nicht den Erfolg, den er sich erhofft hatte. Er sah in die blöderstaunten Gesichter, die unter ihm aufgereiht standen wie sieben oder acht Beete mit feisten Kohlköpfen, mühte sich mit einem wilden Pathos, sie klein zu kriegen und fühlte doch nur Nebel und Feuchte aufsteigen.

Trotzdem waren der Bürgermeister, der Organist und der Fellhändler Wanstig, welcher der Obmann des Presbyteriums war, Gäste an seinem Mittagstisch. Sie erwähnten nichts von seiner Predigt, probten und lobten aber desto eindringlicher seine Zigarren und Rheinweine. Zudem entliehen sie jeder ein paar Pfund Bücher und versprachen, sich öfter in diesem gastfreien Hause sehen zu lassen.

Johannes verkroch sich von nun an tiefer in die theologische Wissenschaft, schärfte an den Lehren der Meister sein eigenes Wissen, fühlte Schöpferisches in sich aufsteigen und beschloß, ein Werk »Gott und das Ich« zu schreiben.

Sieben Wochen waren schon seit der Hochzeitsnacht verflossen; in dieser langen Spanne Zeit hatte er Emilie nicht mehr berührt, es trieb ihn auch nichts zu ihr hin und sie zeigte weder in ihrer Stimme, noch in ihren Augen den Ruf zu seiner Mannheit.

Desto stärker aber wuchs in ihm das Werk empor. Es wuchs stürmend und klingend, wenn er auf einsamen Spaziergängen in die zur Frucht drängenden Felder vor dem Städtchen schritt. Er gehorchte dieser inneren Stimme und speicherte in seinem Gehirn auf, was ihm der Geist seines Blutes eingab.

Da geschah es, daß Emilie ihn bedrang, an den Spaziergängen teilzunehmen. Sie sei des Alleinseins jetzt müde geworden, denn im Hause war alles eingebunden in den ruhigen Kreislauf der Tage und das Mädchen als guter Wächter davor gestellt. Er bat sie, doch Rücksicht nehmen zu wollen auf sein Werk, das Einsamkeit, Gottnähe und Sammlung brauche. Er versprach, sie in sein Arbeitszimmer zu laden, wenn der Tag in der Wirtschaft des Hauses abgerollt war. Und da sie hier eine Bresche in sein Verkrochensein gelegt sah, beruhigte sie sich und nahm die Abendeinladung an. Freilich, die Fäden seiner Arbeit zerrissen, wenn sie sich zu ihm setzte; obwohl sie ganz leise war, klapperten doch die Nadeln des Strickzeugs und das machte ihn nervös. Er drehte sich unmutig um, das Wollknäuel rollte ihm vor die Füße. Er stieß es mit einem Fußtritt in die fernste Ecke. Sie blickte erschreckt auf. Er lächelte eine leichte Entschuldigung.

Aber die Gedanken und Gestalten waren doch zerblasen. Er wollte sich nichts merken lassen und schlug Bücher auf und klappte sie wieder zusammen. Er räumte ganze Werke um und stieg auf die kleine Treppenleiter und kniete am Boden herum.

Emilie erriet mit dem Instinkt, daß sie hier in dieser Werkstatt ein Störer war, daß sie überhaupt nur ein Gerät war in diesem Hause, wie Schrank, Uhr und Lampe. Da legte sie sich ein leises Weinen und tiefe Schmerzfalten um den Mund zu. Sie brauchte eine Stütze, sie brauchte sie, da sie aus den Gewohnheiten des Elternhauses jäh gelöst war, mit einem tiefen Aufschrei des Herzens zum Glück. Sie setzte ein paarmal an, sich auszuschreien, seine Abwegigkeit mit irgendeinem bösen Scheltwort zu beflecken. Aber sie wagte wiederum nicht, sich zu überzeugen, welche Wirkung dieses Geradeheraus hervorrufen würde. So wurde sie immer stiller und stiller und starrte in den Spiegel, wo die Sterne ihrer Augen in einem dunklen Grau aufleuchteten.

Das aber war ihr Sieg über Johannes. Denn er sah durch die Schleier, die seine Gedanken um Emilies Dasein woben, doch das Gequältsein ihres Herzens, wurde verwirrt und unfähig zu scharfen Denkungen.

Nun las er die langen Abende Emilie vor, aus Freytag und Gottfried Keller, durchlief mit ihr die Waldromantik Stifters und stieß bis zu Goethe vor. Er fühlte, daß eine seltsame Güte in ihm hochstieg, der er nicht Herr werden konnte. Er küßte Emilie zuweilen auf die Stirn und fand manchesmal auch ihren Mund. Dieses Glück glättete allmählich wieder ihr Gesicht. Sie nahm es ohne Unwillen auf, wenn er sie gegen zehn Uhr zu Bett schickte. Denn ihr Körper zeigte um diese Abendstunde schon die Müdigkeit, die ausreichend war, um damit einzuschlafen.

Nun setzte er sich wieder an den Schreibtisch und rief mit Seufzern die abgesperrten Geister heran. Es war aber schon zu spät. Seine Gedanken krochen auseinander wie flinke Käfer, die seine Hände nicht zu halten vermochten.

Das Werk rächte sich für die geteilte Hingabe des Werkers. Es verlangte ihn ganz, oder versagte sich ihm.

Er sah dieses Geschehnis sich immer stärker gegen ihn aufstellen. Er hatte wohl die Kraft es zu zermalmen, aber nicht mehr den Willen dazu. Denn wie ein schnurrendes Katzentier lag die Güte davor, die ihm von Haus aus angeboren war, die Güte und Zartheit zu Stein, Baum und Getier. Und auch zu den Menschen. Denn war nicht gerade zu diesen hin er abgesandt vom Urquell der Güte?

Also stieß er immer weiter ab von dem, was schöpferisch in seinem Gehirn sich regte. Sah ein, daß er nur dem Tagewerk zu dienen hatte wie alle guten Bürger in dieser Stadt und daß er auch Emilie Untertan sein müsse, weil sie schwach war und ein bekümmertes Eheweib. Und sagte sich: es ist ein einfältiger Anfang, wenn man dies aus den Augen verliert und die Schlacht durch einen Fanfarenstoß gewonnen zu haben glaubt. Denn schließlich ist die Ehe eine der Blüten eines Wesens und an einer Blüte ändert man nichts durch Hinzutun von Zucker oder Galle. Wie die Bedingungen der Pflanze sind und wie sie behandelt worden ist, also wird sie, so hält sie sich und so verwandelt sie sich.

Und da legte er die Arbeit, die eigentlich erst aus einem Gehäuf von Notizen und Einfällen bestand, beiseite und hoffte, daß Gott ihm den Trieb wieder schenken würde, wenn es Zeit und seinem Gebot nicht zuwider war.

Emilie lebte von nun an auf und bemutterte ihn mit dem Sein eines kindhaften Sichhinschenkens.

Johannes aber wurde von Monat zu Monat weichlicher, weißer und zartsamer. Seine Predigten entbehrten jetzt aller Schärfen, es lagen Süßigkeiten darin verborgen, die zumal den Frauen gut mundeten und die dafür mit einem schwärmerischen Bewundern dankten.

Johannes ward mit der Zeit ein Musterehemann. Wie Wasserwellen ein Gebirge durchsägen, schroffe Felsgiganten zu närrischen Steinkugeln abfeilen, so ward unter dem Ehegeplätscher aus dem Eiferer eine sanfte Harmonikastimme, aus dem Schöpfungshungrigen ein mit leichten Speisen gesättigter Hofhund und aus dem Buchstaben-Gott-Gegner eine friedlich plätschernde Hauspostille.

Solchermaßen starb Johannes ab. Freilich starb er wider Willen. Doch er starb.

Und ging jeden Abend zehn Uhr mit Emilie zu Bett. Und bedachte sich, daß es viel besser so sei und warum man denn nicht schon früher darauf gekommen war. Er wärmte sich die Füße zwischen ihren heißen Lenden, schäkerte zuweilen ein wenig an ihr herum, gab ihr, unter der sauberen Decke des Bettes und der schmutzigen der Nacht, den ihr gebührenden Kuß und rutschte unbeschwert und ideenbefreit in den erquickenden Schlaf.

Es war wundersam zu fühlen, wie die Gegenwart Emilies alle bohrenden Gedanken ihm völlig aus dem Gehirn sog, ihn von aller Qual des Denkens befreite und ihm dafür die Wohltat eines geruhigen Tages schenkte. Er pries diese Wohltat als das vornehmste Geschenk Gottes. Die Welt konnte man jetzt zerbrechen, so stark waren die Muskeln geschwollen, so jung hob sich die Brust.

Er pries Emilie laut mit der Inbrunst seines Herzens. Denn durch sie war er wieder gesundet, aus ihren Händen hatte er das Leben neu empfangen. Emilie legte jetzt einen besonderen Wert auf eine fleisch- und fettreiche Küche. Und Johannes aß jetzt gut und aß viel Gutes. Und trank auch angemessen von guten Weinen. Die Anzüge saßen besser. Faltenlos umschloß die Weste den Bauch, der sich angenehm rundete und langsam prall wie ein Kornsack wurde.

Die Finger, früher knochig und erregt, wuchsen glatt und glänzend über das normale Maß hinaus und standen oder lagen faul auf seinen Schenkeln und auf der Tischplatte herum.

Das Fett überquoll den Ehering. Die senkrechte Furche, die steil wie ein Schwert zwischen seinen Brauen gestanden, verschwand. Die Mulden zwischen Backenknochen und Kiefern wurden zugeschüttet und wölbten sich zu geröteten Hügeln. Seine Nase sprang groß aus der Landschaft des Gesichtes. Sie hatte die bedeutende Linie, wie sie die Nasen großer Männer, vornehmlich Goethe und Schiller, hatten.

Emilie blieb es vorbehalten zu entdecken, daß der Raum zwischen Nasenspitze und Oberlippe zu weit und kahl sei, daher auch der Vorsprung zu unvermittelt, ja, ungeheuerlich erscheine. Er solle sich wenigstens einen Oberlippenbart wachsen lassen.

Alsogleich beschloß Johannes, sich einen Oberlippenbart zuzulegen. Nun füllte sich der Raum zwischen Nasenspitze und Oberlippe aus mit Gesträuch in kahles Land gepflanzt. Forsch und geordnet standen die Bartenden im rechten Winkel. Man sah ihnen an, daß sie nachts unter einem straffen Panzer lagen.

Als aber Johannes merkte, das er sich dem Gesicht eines Schutzmannes zum Verwechseln ähnlich näherte, ließ er sich verloddern und geriet im Aussehen auf die Stufe eines Viehhändlers.

Doch Emilie ließ es bei solcher immerhin unvollständigen Überwucherung des Gesichtes noch nicht bewenden, sondern wünschte, daß Johannes älter und würdiger sich ausnehmen müsse. Solcher Eindruck sei nur durch einen Vollbart zu erzielen.

Auch darin folgt er ihrem Wollen.

So ward mit der Zeit aus ihm ein Mann von Stabilität. Er fühlte die Maße seines Körpers und die Wucht seines Ansehens bei der Gemeinde gleicherweise schwerer werden und lieh beiden Tatsachen Ausdruck durch größere Schrittspannen und festeres Aufsetzen der Hacken auf die Erde. Zu alledem aber konnte man nicht sagen, daß seine Predigten etwa an Gewicht verloren hätten. Auch hatte sich die Sanftmut der Gedanken darin gelegt und einem göttlichen Feuer und edlen Christengeist Platz gemacht.

Emilie war es auch, die ihn wieder zur Arbeit in der Bibliothek anregte. Er faßte den Plan, die Mystiker Tauler und Seuse in einer prächtigen Neuausgabe bei Eugen Diederich in Jena auferstehen zu lassen. Mit seinem Kommentar zum vierten Evangelium führte er sich wirkungsvoll in die Fachliteratur und die theologischen Kreise ein. Er besuchte Kongresse und seine Referate auf diesen Versammlungen der evangelischen Geistlichkeit zeigten den Exegeten und Homileten in glänzender, dabei reizvollen Verquickung. Man war in den Fachblättern seines Lobes voll. Die Behörde war ihm höchst gewogen. Seine Anweisung für den Konfirmandenunterricht wurde in achtundzwanzig Diözesen eingeführt.

Er wurde als erster Stadtpfarrer in die Provinzhauptstadt versetzt. Neue Ströme schaffenden Stolzes durchglühten ihn.

Mit Emilie verfestigte ihn eine gewandelte, freundschaftlich-spielerische Kameradschaft. Und als sie mit halber Klarheit inne wurden, wodurch sie ihr Glück, worauf sie nicht wenig stolz waren, noch krönen konnten, beschlossen sie ein Kind zu zeugen.

Es kam im siebenten Jahre ihrer Ehe zur Welt und stellte sich nach völligem Verlassen des Mutterleibes als ein siebenpfündiges, wohl gebildetes Mägdlein vor und erhielt, eingedenk der hohen Landesmutter, den Namen Auguste Victoria. Das Haus ward ein klingender Alarm der Freude. Die ganze Gemeinde war auf den Beinen. Und von der Synode meldete sich der Generalsuperintendent an, das Kind zu taufen.

Das war um die Mitte des elften Monats dieses Glücksjahres. Johannes hatte sich für ein paar Minuten aus dem Glückwunsch- und Wochenbettrubel entfernt, um kühlere Luftströmungen über sein Gesicht hinströmen zu lassen. Er öffnete die Türe zu seinem Arbeitszimmer, das nicht geheizt war und drückte sich mit vorgebäumter Brust hinein. Da er nicht gleich eine Stelle fand, sich hinzusetzen und den Kopf in die Hände zu legen, schob er sich bis zum Fenster vor und öffnete es.

Draußen strich gleichmäßig starker Regen, mit etwas Wind gemischt, herab. In den Ahornbäumen tobte Bewegung und schlug dürres Astwerk herab und zu ihm ins Zimmer herein. Er warf seine Augen weit in das Dunkel hinaus und versuchte es zu durchdringen. Nichts aber sah er als die schwarzen Leiber der Bäume den Weg hinunterschreiten; kein Licht, keinen Farbfleck. Irgend etwas bedrängte ihn: irgend etwas zu suchen, um das er mit einem Male tanzte. Er strich sich über die Stirn, die feucht war und die Haare fest an die Haut klebte.

Er bedachte sich: Wen suchst Du, Johannes? Du, der Du überhügelt bist von allen Glücksschauern, von dem lebendigen Odem eines Kindes, von der Erlösung zur Unsterblichkeit …

Wen suchst Du, Johannes? Du, welche Hölle rufst Du heran, auf daß Du einbiegst in das Tor, das die Verdammnis aufreißt?

Er faltete die fleischigen Hände und bog seinen Kopf zu Gott, dem Allmächtigen, empor. Das Gebet jedoch verwirrte sich, die Worte klangen fremd in seinem Munde, seine Zunge wurde zu schwer, vernünftige Laute zu formen.

Da begann er zu röcheln, fühlte, wie sein Herz zwischen vier Schlägen einen Pulsschlag unterschlug. Der Atem wurde dicker. Die Lungen zerkauten ihn kaum noch. Tiefer beugte er sich zum Fenster hinaus. Es war ein Glück, daß es zur ebenen Erde lag, sonst hätte der Schwindel, der ihn befiel, seines Körpers Gleichgewicht verschoben.

Er schwankte sekundenlang zwischen Zimmer und Draußen gehirnlos. Danach stieg ein tiefes Gurgeln durch seine Kehle auf und wollte durch den Mund hinaus. Er biß die Zähne darüber zusammen, spürte plötzlich den Schmerz in seiner Lippe, konnte sich noch immer nicht klar darüber werden, wer ihn diesen seltsamen Weg in das Irre eigentlich gehen hieß, warum und wozu?

Mit eins zerbrach die schrill bewegte Hausglocke diese gespenstige Leere und steifte sein Genick wieder in die Gerade zurück. Er hörte seinen Namen durch das Haus rufen. Er war noch unfähig, Antwort zu geben. Erst als sich Schritte der Zimmertür näherten, gab er einen Laut von sich und das Signal, daß man eintreten dürfe.

Das arme Mädchen erschrak zuerst vor dem zugigen Dunkel, schaltete aber bald das Licht ein und sah mit Angstaugen auf den bewegungslos am Fenster stehenden Hausherrn.

Johannes, von dem Lampenlicht völlig in das Wache zurückgerufen, drehte sich um, schloß das Fenster und befahl dem Mädchen zu reden.

Schüchtern, was doch sonst nicht ihre Gewohnheit war, gab sie an, daß ein Mann (er sähe finster und unheimlich aus) den Herrn Pfarrer zu sprechen wünsche.

Johannes, bedrückt von einer unsichtbaren Faust, die seinen Willen nicht losließ, nickte und ersuchte, den Besucher herzuführen.

Als das Mädchen die Tür wieder geschlossen hatte, um den Fremden von der Diele zu holen, fand Johannes gerade noch Zeit, sich bis zum Tisch zu zwingen, auf den er sich fest mit beiden Händen stützte und starr auf die Tür sah.

Herein trat der finstere, unheimlich aussehende Mann und knarrte mit tiefem Baß einen »Guten Abend!« Johannes hieß ihn näher treten, denn die von einem Schirm abgedämpfte Lichterkrone reichte mit den Strahlenarmen nicht aus, das Gesicht des fremden Mannes völlig aufzuhellen. Der Mann jedoch blieb stehen und sagte in knappen harten Sätzen, daß er von dem Freiherrn von Lingen abgesandt sei, dessen Tochter im Sterben liege und inständig nach dem Herrn Pfarrer begehre.

Der Freiherr von Lingen war Patronatsherr der Apostel-Paulus-Kirche, an der Johannes wirkte, er kam, obwohl er zwei Stunden weit von der Stadt auf einem prächtigen Landgut hauste, regelmäßig jeden Sonntag zum Gottesdienst in einem Vierspänner gefahren. Er schätzte Johannes ungemein und hielt ihn bereit, den altersschwachen Oberpfarrer abzulösen, sobald die Gelegenheit dazu gegeben schien.

Daß der Freiherr von Lingen ein Tochter hatte, wußte Johannes sehr wohl, aber noch nie hatte er sie unter seinen aufmerksamen Zuhörern gesehen. Der Freiherr aber kam, wie gesagt, jeden Sonntag zum Gottesdienst.

Johannes, der in den zwei Jahren, die er in dieser Stadt schon zugebracht hatte, dem Umkreis von Pfarrhaus, Kirche und Friedhof noch nie entronnen war, auf Ferien verzichtet hatte, nur um seinen gelehrten und erbauenden Schriften sich zu widmen, erschrak vor diesem Begehren des Freiherrn bis ins Mark. Das war aber nur drei, vier Pulsschläge lang, in welcher er immer gebannt ward von dem Gesicht des Abgesandten. Er hatte zwar nichts Ungewöhnliches daran entdeckt, aber auch nichts, was ihn irgendwie hätte ruhig stimmen können. Er sah in ihm etwas, was mit den geruhigen Dingen dieses Hauses nicht übereinstimmte. Er schob diese Voreingenommenheit auf den Schwermutsanfall vorhin. Darum gab er sich mit einem kräftigen Ruck dem Schreiten hin, bis er dem Fremden Auge in Auge gegenüberstand und befragte ihn, ob er einen diesem Wetter entsprechenden Wagen auch mitgebracht habe und ob es denn nicht gefährlich sei, in solchem Wetter wie heute durch den gebirgigten Wald zu fahren.

Der Fremde, der Johannes Augen so fest in seinen Willen zwang, daß er nur die unheimlich großen Pupillen fühlte, lachte unbändig und aus dem Gedröhn schallte es heraus, daß man doch kein altes Weib sei.

Johannes löste sich aus der Klammer dieser Augen, nötigte den Mann in das Wohnzimmer, allwo ihm heißer Kaffee vorgesetzt werden sollte. Und bat um einige Minuten Geduld.

Der Fremde zog, obwohl das Mädchen ihn wiederholt dazu genötigt hatte, den triefenden Mantel nicht aus, setzte sich aber in das Ledersofa und spie auf den Teppich.

Johannes wollte schnell zu Emilie, um ihr von dem Vorgefallenen Kenntnis zu geben, ja, um aus ihrem Munde zu hören, ob er bei diesem Wetter und in dieser bösen Nacht fahren sollte oder nicht. Da er aber, nach Hut und Mantel ausschauend an der Flurtür vorbei mußte, ehe er in das Wöchnerinnenzimmer kam, tat er schnell einen Blick auf die Straße hinaus um den Wagen zu betrachten, Wind und Regen jedoch schlugen so heftig in sein Gesicht, als seien es Lanzen aus Eisen. Von dem Wagen sah er nur die Umrisse eines alten Kastens und den Dampf, der von den Pferden in weißgeballten Wolken hochschlug. Und gerade, wie er die Türe wieder zuschlagen wollte, fühlte er sich von kräftigen Armen emporgehoben und durch den Regen gezerrt und jäh in die Polster des alten Kastens geworfen. In diesem Moment zogen auch die Pferde schon an und legten einen Galopp vor, als würden sie von tausend Hunden und Peitschen gehetzt. Johannes kam nicht dazu, dieses seltsame Geschehnis mit seinem Gehirn zu zerlegen. Das Schlagen der Räder unter dem Kasten und das Klirren der Wagenfenster trommelte und paukte seine Nerven in ein dumpfes, unendliches Müdesein. Der Meilensturm beschleunigte nur den Gang seines Herzens und trieb kühlen Schweiß auf seine Haut. Ihm war jetzt, als führe er schon tausend Jahre und durch eine gestirn-, menschen- und baumleere Welt. Ein Vorhang senkte sich auf das Schauspiel seines bisherigen Lebens. Er hatte keinen Anfang mehr und sah kein Ende. Er lebte in einem zeitlosen Vakuum. Er lag im Mutterleib irgend eines ungeheuren Geschehnisses. Er stemmte sich nicht dagegen und sog nur die Luft ein, wie einen süßen aus Blut destillierten Saft. Dabei war doch ein ganz gemeines erdhaftes Gefühl in seinem Zwischenbewußtsein, die nachzitternde Welle einer Erinnerung. Nur sah er nicht klar, an was er sich noch erinnerte bei diesem rasenden Schmerzgeklopf im Hinterkopf.

Mit einem Male drückte dieser Schmerz ohne die Unterbrechung des Pulses. Dauerte ewig und wurde immer schwerer.

Als er daraus erwachte und die Augen aufschlug, hatte der Regen nachgelassen. Mit ungeheuren Fäusten aber rumorte der Sturm in den Bäumen. Das dürre Geäst stürzte herab und schlug auf den Boden mit dem Gewicht von Felsgestein.

Johannes riß die Augen weit auf, tastete den Körper ab und fand, daß er mit dem Kopf auf einem Stein lag. Schwach erinnerte er sich, daß er mit einem Wagen gefahren war. Aber wer hatte ihn gefahren, woher hatte er ihn gefahren und wohin?

Wohin waren die schwarzen Pferde über ihn hinweggesetzt? Er strengte mit unmenschlicher Kraft sein Gedächtnis an. Und konnte es nicht fassen woher er gekommen war, und wer er gewesen war bis zu dieser Minute. Daß er aber hier in kalter Novembernacht mit dem Kopf auf einem nassen Stein lag, daß der eisige Nebel seinen Körper wie ein Seehundfell umspannte und daß er sich irgendwie eine Bewegung verschaffen müsse –: solcher Art Gedanken überkamen ihn nun stärker und ließen sein Wollen zu einer Tat wieder aufleben. Ächzend richtete er sich auf, balancierte das Gewicht des Oberkörpers in die Beine und suchte mit scharf bohrenden Augen die Spur eines Weges. Er erkannte jetzt, daß er mit halbem Körper auf dem Fahrweg gelegen hatte. Der Weg verlief nach beiden Seiten in das gleiche, sternlose Dunkel. Welche Richtung sollte er nun wählen? Führten nicht beide irgendwohin. Und dort hin, irgendwohin wollte er doch. Nur hier nicht stehen bleiben!

Also raffte er sich auf und wählte die Richtung, die rechts von seinem Herzen lag. Er mochte dann wohl zwei Stunden gegangen sein, als sich der Wald endlich lichtete und einer Wiese das Dasein frei gab.

Johannes pauste einige Minuten. Und wie er sich mit der Hand über die Augen fuhr, sah er die Lichter einer Menschensiedelung auftauchen. Sein Herz frohlockte: Endlich! Und nach kaum viertelstündigem Marsch bog er in eine schmutzige Dorfstraße ein. Dicker Qualm und die würzigen Gerüche von Gebratenem wälzten sich aus den Hütten. Er verspürte Hungergefühle und griff die Taschen ab nach Brot. So vollkommen war er schon in die Gewohnheiten eines Bettlers herunter gestürzt, daß er laut auffluchte, als nichts aus den Taschen zum Vorschein kam.

Da klopfte er kurz entschlossen an das erstbeste Tor und bat um Zehrung. Die verhutzelte Frau, die ihm öffnete, flog vor Schreck zurück und verrammelte die Tür mit doppelten Riegeln. Düster vom Hof knurrten die Doggen.

Johannes klopfte nacheinander alle Häuser ab, bis er am vorletzten einem stark knochigen Bauern in die Arme lief. Der besah ihn streng von oben bis unten und knurrte: »Lästiges Bettelpack … hat zu ehrlicher Arbeit keine Lust!«

Johannes knickte zusammen und winselte abermals um Brot. Da sagte der Bauer: »Wenn Du Lümmel arbeiten willst, paar Klafter Holz sägen und spalten für den Winter, dann kannst Du Essen und Trinken haben. Und ein weiches Lager auf dem Heuboden. Auch ein paar Groschen, wenn die Arbeit flott von Händen geht!«

Johannes duckte sich und versprach zu arbeiten. Alsbald zog ihn der Bauer ins Haus, in die Gesindestube und musterte ihn im gelben Schein der Lampe noch einmal gründlich. »Du willst also arbeiten … Gut. Aber wie heißt Du denn eigentlich? Was ist es für ein Geschäft, welches Du gelernt hast, he? Und die Sachen, die Du da anhast, sind dem Pfarrer wohl gestohlen, was?«

Johannes bewegte den Kopf nach unten und bemerkte, daß er wahrhaftig die feinen schwarzen Tuchkleider des Pfarrers anhatte. Sie waren fast neu noch und saßen wie angemessen. Aber er konnte sich nicht besinnen, wem er diese Sachen gestohlen hatte. Gestohlen, das war ihm nachher klar, hatte er sie nicht. Vielleicht hatte er sie von einer mitleidigen Seele geschenkt bekommen. Dieses sagte er dem Bauer und auch das noch, daß man ihn Johannes nenne. Johannes Todspieler. Und daß er von Beruf Hirte sei. Da lachte der Bauer hell auf und meinte: »Am Ende gar noch Seelenhirt, wie? Nein, Meister Landstreicher, der schwarze Rock allein macht noch keinen Pfarrer … Da mußt Du schon zu den Kaffern gehn. Und eine Bibel und Regenschirm mitnehmen … Aber nun setz Dich man hin, ich werde Dir etwas für den Magen holen!«

Johannes zog einen Schemel heran und drückte sich auf das weißgescheuerte Holz herab. Er sah den Raum genau an, der kahl und ohne Bilder aus einem regelmäßigen Viereck sich dehnte und hatte das Gefühl, daß er hier doch kein Fremder sei.

Wozu hatte der Bauer ihn eigentlich nach dem Namen gefragt? … Johannes Todspieler, den kannten sie doch alle auf der Welt. Wozu dieses dumme Fragen?

Herein trat jetzt der Bauer und schleppte eine Schüssel mit Kartoffeln und einen Napf voll weißen Käse. Stellte den Fraß auf den Tisch, riß die Schublade auf und holte Messer und Gabel heraus und einen irdenen Teller –: »So, nun greif mal zu, packe den Bauch voll. Wirst wohl acht Tage schon nichts Rechtes mehr gegessen haben, was?«

Johannes bog sich vor, pellte die Kartoffeln ab und verschlang sie unter Zuhilfenahme großer Bissen Käse. Er schlang gierig und schmatzend.

Der Bauer freute sich kindlich. Sah zu, als stünde er in einer wunderbaren Menagerie voller Raubgesindel. Drehte sich nach einer Weile um und polterte: »Nun muß ich aber in den Stall gehen, die Braune soll diese Nacht kalben … In zehn Minuten bin ich zurück. Dann zeig ich Dir das Schlafgemach, Herr Seelenhirt.«

Johannes packte Kartoffeln und Käse bis zum letzten Rest in den Bauch, hatte Schweiß auf der Stirn und um den Mund die Falten freudigen Gesättigtseins. Behaglich streckte er die Füße weit vom Körper weg und begann leise einzuschlummern. Ehe ihn aber der Schlaf völlig entführte, war der Bauer wieder da und schreckte ihn auf. Nun ging es über den Hof. Der Bauer mit der Laterne voran, zum Stallgebäude und eine steile Leiter empor zum Heuboden. Hier war dicht an der Luke ein geräumiger Verschlag, eine Bettstelle mit einem Strohsack gefüllt, ein alter Stuhl und sonst nichts.

»So,« sagte der Bauer, »nun zieh den Rock aus und streck Dich hin. Eine Decke sollst Du auch haben. Und nun los, geschlafen. Um sieben wirst Du geweckt. Dann gibts eine warme Suppe … Gott sei mit Dir!«

Johannes saß halb aufgerichtet auf dem Strohsack, nachdem er den Bauer im Haus hatte verschwinden hören.

Von unten herauf schallte das Rasseln der Ketten, mit welchen das Vieh an den Futtertrögen geschirrt war. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Johannes. Alles war ihm so geläufig hier und doch kam er sich vor wie ein Mensch, der nach dreißig Jahren Wanderschaft diese alte Heimat wiedergefunden hatte und sich erst wieder eingewöhnen mußte in die alten lieben Bezirke der Väter und Urväter.

Nun begann er sich unaussprechlich hart zu prüfen. Er durchblätterte alle Aufzeichnungen seines Gedächtnisses und fand sie doch nur beschrieben mit Geschehnissen, die hier Wohnung und Nahrung seit mehr denn hundert Jahren hatten.

Aus einem ganz feinen Spalt in seinem Bewußtsein schob sich manchesmal ein Lichtblitz; war aber zu schwach, dem Chaos Konturen zu geben. Und war sicher nichts anderes als ein Traum, der in der Erinnerung stehen geblieben und sich mit der Wahrheit vermischen wollte, Johannes durchsuchte und durchgrub sich aufs Neue. Er fand keinen Schlaf und sah auch den hereinbrechenden Morgen nicht. Und sah dem Bauer, der ihn wecken kam, wach in die Augen.

Der Bauer sagte: »Gut geschlafen scheinst Du ja zu haben. Also wirds mit der Arbeit auch gut gehen. In dem Bratenrock kannst Du aber nicht hantieren auf dem Hof hier. Zieh Dir diese Bluse über und diesen Filz steckst Du auf den Kopf; wenn Du Läuse hineinsetzt, wirds auch nicht groß schaden.«

Nun saß Johannes wieder in der Gesindestube vor einer Schüssel Mehlsuppe. Eine Magd, strohgelb und storchmager, kam herein, quarte etwas, daß wie »Guten Morgen« heißen sollte, und setzte sich ihm gegenüber. Und dann kam ein steinalter Mann herein, gebückt und ausgebeutelt, und setzte sich wortlos neben Johannes. Und zuletzt kam der Hütejunge angetrippelt, bekam einen Rippenstoß von der Magd und mußte danach das Morgengebet sprechen. Johannes horchte auf und sagte sehr laut »Amen!« Da sahen sie ihn alle verdutzt an.

Nun schnitt der alte Knecht das Brot und schob Johannes eine mächtige Scheibe hin. Und nun die Kinnbacken der anderen schon heftig knakten im Mahlen der Speise, ermannte sich auch Johannes und sättigte sich mit der gleichen Gier wie am Abend.

Aufrecht und voll strotzender Kraft schritt er zum Sägebock und bewältigte am ersten Tage fast eine Klafter des nassen Birkenholzes.

Der Bauer war mit ihm zufrieden und sagte nach drei Tagen: »Wenn das Holz fertig ist und Du noch Lust hast hier länger zu bleiben, Arbeit gibts genug und Essen auch. Und auf ein paar Groschen mehr Lohn wie heute, wird es mir gewiß nicht ankommen.«

Johannes erwiderte: »Solange es Gott, meinem obersten Herrn gefällt, werde ich hier bleiben.«

An diesem Tage sah Johannes auch die Bäuerin, die von einer Reise zurückgekehrt war, zum ersten Male. Sie sprach gleich ein paar liebe Worte zu ihm, da er einen Korb voll dünn gespaltenen Holzes in die Küche trug und unter den Kochherd aufschichtete.

Sie zeigte sich als eine hochgewachsene blonde Frau mit einem frischen, energischen, jedoch mädchenhaften Gesicht, war erst drei Jahre dieses Bauern Gattin und aus der Hauptstadt von ihm geholt worden. Ihre Kleidung war, bei aller ländlichen Einfachheit, sauber und dem Körper gut passend zugeschnitten. In ihrer Stimme lag Wohlklang und Sicherheit. Da sie Johannes lange ansah und bekümmert den Kopf schüttelte, bekam er heftiges Herzklopfen und wollte hinausstürmen.

Sie hielt ihn zurück und sagte: »Ich werde Ihm heute Abend eine Mark geben, da geht Er zum Barbier und läßt sich den scheußlichen Bart abnehmen und das Haar schneiden. Und ein Stück Seife bringt er sich auch mit … Wie lange wohl hat Er sich denn nicht gewaschen.«

Johannes konnte ihr nichts erwidern und senkte den Kopf. Da dachte die Bäuerin: nein, verdorben ist dieser Mensch noch nicht. Denn es ist kein unvernünftiger Trotz in ihm. Und die Scham ist in seiner Seele noch nicht verlöscht. Es wird gut tun, daß ich mich um ihn kümmere.

Johannes ging an diesem Abend wahrhaftig zum Bartscherer und ließ sich die Zotteln aus dem Gesicht fegen und die Haare des Hauptes kürzen. Und wie er sein Gesicht also blank im Spiegel sah, wehte es ihn eisig an. Es war eines fremden Mannes Abbild, aber doch nicht so entfernt fremd, daß es wie ein feindliches hätte wirken können. Vielmehr wie die mit lebendigen Farben übertünchte Maske eines längst Verstorbenen.

Als er mit diesem Gesicht zum Abendbrot erschien, erschrak die alte dürre Magd heftig und entfloh in die Küche und machte die Bäuerin aufmerksam. Und sie trat mit der Magd in die Gesindestube herein und konnte an Johannes nichts finden, was des Erschreckens wert gewesen wäre. »Ordentlich vornehm sieht unser Johannes jetzt aus und beinah so, als könnte er Frauen gefährlich werden.«

Da setzte sich die Magd, und die Bäuerin ging wieder in die Küche zurück und grübelte nach, wann und wo es nur gewesen sein könnte, da dieser Mann ihres Weges Kurve zum ersten Mal berührt hat. Sie beschloß, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Und wenn es sich als eine Täuschung erweisen sollte, auch gut. Ganz geruhig und in alltäglichen Bahnen ist solchen Mannes Schicksal in keinem Fall verlaufen.

Aber wie sie endlich einen Vorwand gefunden hatte, um Johannes für eine Viertelstunde in die Küche zu bannen und seinen Mund zu öffnen, kam der Bauer aus der Stadt zurück und ließ ihr weder Raum noch Zeit, an Johannes das auszuführen, was ihre Gedanken begehrten.

Dem alten Knecht aber ward mehr Glück, denn er fand Johannes willig genug, ihm aus der heiligen Schrift vorzulesen.

Johannes war wie in einem alkoholischen Taumel, da er die Legende von den Männern im feurigen Ofen las. Und ohne daß es der Knecht verlangt hatte, begann er vor ihm eine Ausdeutung der biblischen Worte. Der Knecht saß ganz gottergeben, sein Gesicht leuchtete und zuletzt kamen ihm Tränen.

»Bruder«, sagte er darauf zu Johannes, »Du hast einen solchen Glauben an das Ewige, wie ihn unser Herr Pfarrer nicht einmal hat … Ich könnte Dir noch lange Zeit zuhören.«

Johannes empfand bohrende Schmerzen in seinen Schläfen und entschuldigte sich vor dem Alten mit einem unverhofften Müdesein und ging auf den Boden.

Eine ganze Weile saß er an der offenen Luke im Heu und sah in den Himmel, der schwer an den silbernen Blumenbeeten der Sterne trug, dachte: bin ich nun der, der ich von Geburt an schon bin, oder bin ich nur der Schatten von ihm, bald kürzer, bald länger, heller manchmal und dann wieder schwärzer. Jedenfalls ist eine Undurchsichtigkeit um mein Gehirn als Körper gebogen. Ich höre Stimmen von Menschen, die mir nie begegnet sind. Vielleicht sind es auch gar keine Menschen, sondern nur Gespräche, die mein Denken zu Menschenähnlichem umbildet … Ich habe vorhin mit Gott mich unterhalten. Er ist fürwahr kein Unbekannter in meinem Munde. Diese Stimme aber, die mir Antwort gab, scheint jugendlicher geworden zu sein, tönte lerchenhaft und von dem Geruch alter Wälder umduftet.

Das ist schon lange her, daß sie so waldgewaltig frisch mir Antwort tönte. Und manchmal klang sie auch, als hätte sie Mühe, sich aus einem Haufen Geröll zu wühlen, den vielen Staub abzuschütteln, die letzte Steinwand zu übersteigen …

In dem schwarzverästelten Garten hinter der Scheune klagten jetzt die Eulen. Und eine dunkle Wolke schob sich vor den Mond.

Johannes warf den Oberkörper schaudernd zurück, schleuderte grauenerfaßt beide Hände vor und hörte da im Nu die Stimme eines neugeborenen Kindes wimmern.

In seinen Gedanken brannte ein Schrei. Aber es war nicht allein die Zunge, die dem Schrei keine Antwort formen konnte. Er schlug mit einem heiseren Gebrüll beide Fäuste gegen sein Gesicht, preßte erstickend die Augen zu und kämpfte einen wilden Kampf gegen den Verräter, der ihn mit seinen wildesten Heerscharen besprang.

Da rettete ihn das helle Gekläff des Hofhundes. Und dahinter tönte die Stimme des Bauern –: »Johannes, bist Du schon oben?«

Er rief ganz mechanisch: »Ja!« Und wurde allmählich sich seiner selbst bewußt. Schwindelnd erhob er sich, den Kopf vornübergebeugt, als sei ihm der Halswirbel gebrochen. Und tastete sich in die Kammer und fand das Bett.

Mit dem harten Rockärmel trocknete er sich die Stirn, er fühlte sich vollkommen erschöpft, es schmerzte in seinen Gelenken. Es mußte etwas Unerhörtes mit ihm geschehen sein. Er hatte aber nicht mehr den Willen, sich daran zu erinnern, was das war, was um ihn geschehen sein mußte. Mit gütigen Tröstungen erschien der Schlaf. Und hielt Traum und Stöhnen zurück.

Drei Wochen fast war Johannes jetzt auf dem Hof. Aber seit jener Nacht so schweigsam, als hätte ein Messer seine Zunge mitten durchgeschnitten. Und wie sich auch die Bäuerin mühte, ihn unter vier Augen zu stellen und mit dem glühenden Eisen ihrer Neugierde in seine Verkrochenheit zu dringen, er fand immer ein Tor geöffnet, das ihn entschlüpfen ließ. Er arbeitete auf dem Hof und in der Scheune, als wäre die gesammelte Kraft von zwei Männern in seinen Muskeln aufgespeichert. Dem Bauer ward beinah unheimlich dabei, denn er sah, wie von Johannes alles Feiste und Gerundete abfiel. Sein Gesicht hatte eine lehmgelbe Farbe bekommen und wurde nur noch von den Augen beherrscht und der großen Nase.

Eines Abends, es saß das ganze Haus um den großen Küchentisch und verlas die gerade ausgedroschenen Erbsen, sagte die Bäuerin zu ihrem Mann: »Hat man noch immer keine Nachricht von dem verschwundenen Stadtpfarrer? Es kann doch nicht anders sein, als daß er in den Fluß gestürzt ist … und die Strömung hat ihn mit fortgerissen …«

»Ja«, sagte der Bauer, »es kann nicht anders sein. Acht Tage haben die Herren von der Stadtverwaltung der Pfarrersfrau noch Frist gelassen … Dann muß sie das Haus räumen, auf daß der Nachfolger Platz nehme … Es gibt aber auch böse Mäuler in der Stadt, welche behaupten, daß der Pfarrer irgendwo im Walde immer noch an einem Ast hängen könne; er sei in der Jugend ganz närrisch nach dem Selbsthängen gewesen. Man habe ihm zur Nacht die Hände binden müssen, und es soll wahr sein, daß seine eigene Mutter ihn einmal abgeschnitten hat von den Dachsparren … Aber man hat ja den ganzen Wald vor der Stadt abgesucht und nichts gefunden als eine Spur, die von den Suchhunden bis zum Fluß aufgenommen wurde und dann verbellt ist.«

»Wie mich des Pfarrers Frau dauert«, klagte die Bäuerin. »Mehr noch das Kind, das nun keinen Vater hat«, antwortete ihr der Bauer.

Johannes saß da und wühlte mit den Fingern in den Erbsen, als würde hier vom Wetter gesprochen oder vom Vieh in den Ställen. Und doch erkannte er alles genau wieder, was hier gesprochen wurde. Es kam ihm nur so alt vor, so angestaubt und abgegriffen von dem häufigen Erzählen. Er dachte, wie kann man noch immer soviel Aufhebens machen von einer Geschichte, die schon so lächerlich langweilig ist …

Und sagte es noch einmal ganz laut vor sich hin: »Wie langweilig alt diese Geschichte doch ist!«

Im Nu sahen sie ihn alle groß an. Und wußten es nicht zu deuten. Bis die Bäuerin sich ein Herz nahm und ihn ansah und laut anfuhr: »Wenn Er das Erbsenlesen meint, mag er nicht Unrecht haben, so er aber von dem Unglück des Pfarrers spricht, muß ich Ihn bitten, seine Zunge mehr bei sich zu behalten …«

Da hob sich Johannes in die Schultern, stützte beide Hände auf den Tisch, sah der Bäuerin tief in die Augen und entgegnete: »Zwanzig Jahre sind in mir zusammengebrochen zu einem wüsten Trümmerhaufen. Aber immer noch pfeift durch die Ruinen derselbe Ton. Ich will nicht, daß Ihr Eure Neugierde daran kratzt. Habe ich mich nicht hingegeben wie Christus unser Herr? Bin ich nicht Euer unterster Diener geworden? Peitscht Ihr mich nicht täglich mit den Ruten Eurer Verachtung? Ich habe mich gebückt, das andere Gesicht zurückzugewinnen, ich fresse Erde, den letzten Teufel in mir auszutreiben, ich demütige mich noch vor den Tieren, weil ich nicht heimfinde zu der Einfalt, von der ich ausgegangen war, ehe mich die Mutter von den Dachsparren schnitt«! Schaum stand auf seinen Lippen. Und in seinen Augen starrte ein unheimlich weiter Blick.

Die Bäuerin war wie zerschlagen in den Stuhl zurückgesunken und sah auf Johannes, als sei er ein Mensch mit zwei Köpfen. Auch den anderen regte es sich unheimlich zu Sinn. Nur der Bauer fand seinen Spaß an Johannes und lachte: »Ich hatte geglaubt, daß Dir der Fusel nicht mehr viel anhaben kann. Wenn Du aber immer so gemütlich darin bleibst, will ich es Dir nicht entgelten lassen.«

Johannes saß aber schon vornübergebeugt und verlas mit Fleiß die Erbsen und sah nicht rechts und sah nicht links. Und da nahmen auch die anderen wieder die Hantierung auf und sahen nur ab und zu auf ihn, und fanden sein Gesicht wie von einer Mauer umschlossen. Nach dem Abendessen, als Johannes dem alten Knecht wieder ein Stück aus der Heiligen Schrift vorlas, trat die Bäuerin herein und setzte sich, ohne daß es Johannes merkte, an den Tisch. Sie erschauerte vor der tiefen Inbrunst, die aus Johannes Stimme hochschlug. Und da er nach dem Verlesen des Abschnittes wieder begann, das Wort weiter auszudeuten, seine Himmel weit über die Erde zu spannen, faltete die Bäuerin die Hände und wiegte sich in der Andacht eines gläubigen Herzens. Johannes sah sie erst, als er das Amen gesprochen hatte und aufstand, die Kammer aufzusuchen. Die Bäuerin verstellte ihm den Weg und bat ihn, er möge doch in die Wohnstube kommen, da sie ihm ein paar alte Hemden ihres Mannes geben möchte.

Johannes lächelte: »Wenn es Euch kein Herzeleid bereitet, meines Leibes Wohl an Euer Haus zu binden, will ich annehmen was Ihr mir zugedacht habt und es denen schenken, die tiefer in Leibes Qual sich krümmen, als ich. Mich aber peinigt weder Geziefer noch Schorf. Was sollte ich da noch bedürfen?«

Und nun ging er mit der Frau in das Wohnzimmer und mußte sich setzen, wo sonst der Bauer saß, der diesen Abend zum Kegeln ausgegangen war. Und sie stellte ihm noch einen Topf Milch hin und setzte sich zu ihm und sprach wie eine Mutter: »Seht, lieber Mann, ich meine es gut mit ihm. Ich möchte helfen, daß Er wieder aufsteht aus der Verwahrlosung. Er braucht es mir nicht zu sagen, daß Ihn der Schnapsteufel so heruntergebracht hat. Viele brave Leute sind schon mit Blindheit geschlagen worden von diesem Bösen. Und ein braver Mensch von Vaters Hause sei Er gewiß. Das fühle und sehe man doch …

Warum will Er nicht erzählen, weß' der Kummer ist, der Ihn so hingeworfen hat in den Dreck? Gewiß sind manchmal Frauen auch schuld …

Aber wenn es mit der einen nun einmal nicht geht, dann sind doch noch hundert andere da.

Warum will Er nicht zu mir davon reden? Wie?«

Heiß strich ihr Atem Johannes um den Mund. In seinen Ohren sauste es. Sein Sinn begann sich zu verwirren. Ihm war, als legten sich die Arme Emilies um seinen Hals. Hoch warf er die Fäuste, packte irgend etwas Weiches, Warmes, Klopfendes. Und drückte es und preßte es. Und schnupperte den Geruch von einem todbrünstigen Stöhnen. Und schrie ohne Laut in sich hinein –: »Jetzt handelt es sich um Dich und mich, Weib! Hast Du verstanden? Um Dich und mich. Ich fordere Dich, mit mir die Rechnung abzuschließen. Mit Feuer und Blut. Auf Leben und Tod! Vergeltung! Vergeltung!

Wie … Du winselst noch um Gnade? Du winselst noch? Emilie … Du Eiterpfahl meines Lebens … Du winselst noch?«

Und da schraubte sich seine Umarmung gleich einer Stahlzange noch dichter um den weichen, warmen, klopfenden Hals zusammen. Und unter seinem Gewicht drehte es sich und bog sich und schrumpfte zusammen.

Johannes gehorchte mit einem Ruck.

Und stieß den toten Körper der Bäuerin in die Ecke, gab ihm ein paar Fußtritte obendrein und brummte: »Jetzt kannst Du in Deinem Bett wieder alleine schlafen. Und Deinen Namen will ich hinfort vergessen. So, wie ich den Namen meines Heilands vergessen mußte unter Deiner sündigen Zucht …«

Auf einmal sah er in einen Spiegel hinein und sah ein Gesicht, das kalkweiß und verzerrt grinste. Und keinen Bart hatte, nur die große Nase, die doch eigentlich ihm, dem lebendigen Johannes, gehörte. Und noch mehr war ihm von dieser bösen Fratze gestohlen worden. Die Augen da, zum Beispiel … und auch der Mund …

Die Augen auch, aus denen jetzt ein Blick eisenblank in sein Gehirn hinüberschoß, wie ein Axthieb traf, die Schneide bis an das Stielende begraben in dem klopfenden Tumult von Blut, Muskeln und Nerven.

Merkwürdig, daß ihn die Wucht des Schlages nicht umgeworfen hatte … Nein, sein Sinn schnellte nur höher empor und erkannte lückenlos den Zusammenhang. Jener Mann im Spiegel und er hier: das waren nichts als zwei Punkte auf der Spanne Erde, verbunden durch die Brücke des gleichen Blutes, der gleichen Gestalt und des gleichen Namens. Ein Abbild von dem Doppelsinn der Erde, deren Tag nicht Nacht ist und deren Nacht nicht Tag, das sich ewig zerfleischende Zwillingsgespann Tod und Leben, Leben und Tod. Ein Grauen zündete den Blitz und machte das Bewußtsein endlich hell. Und da trat der eine Johannes, der da solange im Spiegel gebannt war, heraus aus der Verwandlung, sah die Tote gräßlich auf der Erde liegen und wurde weiß bis tief in die Haarwurzeln hinunter.

Er sah sich angsthaft um in dem Raum, hörte plötzlich den Hofhund grauenhaft heulen und das Vieh in den Ställen brüllen.

Und da riß er das Fenster auf, sprang hinaus, setzte über den Gartenzaun, lief in das Feld hinaus, weiter, immer weiter. Die schwarze Luft schnitt ihm den Atem ab, auf der Stirn war ihm das Feuer des Entsetzens angezündet, in seinen wild rasenden Gedanken bohrte ein Fieber von Grauen, Angst, Tod und Flucht.

Regen schüttete sich plötzlich aus und der Nebel mauerte mit diesen eisigen Strähnen die Ferne zu.

Johannes lief und lief die halbe Nacht in einem ständig sich steigernden Tempo, zerrend an der Körperlosigkeit der Erde, toll vor Furcht und verrückt.

Mit einem Male wurden seine Muskeln schlaff, die Knie sackten ein, es traf ihn wie eine Kugel. Er strauchelte in diesem Augenblick, stürzte kopfüber. Ein entsetzliches Gebrüll dröhnte aus seiner Brust. Alles wirbelte und brauste um ihn her. Er fühlte, wie jemand mit einem heißen Eisenlöffel sein Gehirn aus den Schalen des Schädels kratzte. Er hörte sich selber lallen: nun bin ich tot …

Und doch war das purpurrote Auge der Sonne, das ihn wieder ansah, also streng und scharf, daß er davon erwachte. Und da sah er sich am schlammigen Ufer eines Sees liegen. Weit und breit spannte sich die fahle Haut der geschorenen Wiesen. Kein Haus, kein Turm. Es ging auch keine Glocke, noch eines Vogels Stimme.

Johannes sah zuerst auf seine Hände herab. Es klebte braune Erde daran, die aussah wie geronnenes Blut.

Da hob sich Johannes empor, rutschte auf den Knien zum Rand des Gewässers, seine Schultern zitterten heftig und über sein Gesicht tropften die Augen unablässig eine gallenbittere Qual.

Seine Gedanken waren aber doch darauf konzentriert, die Hände von den braunen Krusten zu befreien. Er sah in den Himmel empor, wie wenn er einen Drang hätte, Gott vor dieser Reinigung anzurufen. Er hob auch wirklich die Hände empor und suchte Gottes Antlitz dort oben. Aber verschwommen und schmutzig wie Wasser aus den Wäschereien lauerte das Morgengewölk auf den Fehltritt der Sonne.

Da schauderte ihn vor diesen Hintergründen Gott anzurufen.

Dann schon lieber den Tod.

Ja den Tod.

Wenn man doch jetzt sterben könnte!

Aber sterben –: mein Gott, was ist das?

Kann man denn überhaupt sterben? Nein, niemals kann ein Mensch sterben. Wenn auch die tausend und abertausend ewig lebendigen Teile, die den Körper auferbaut hatten zu der Kraft der selbstherrlichen Gestalt, endlich die Freiheit wieder haben wollten –: nein, niemals darf man ein Mitleid mit solchem Begehren haben.

Niemals sterben.

Und da warf er seine Hände zurück aus dem Himmel und stieß sie wieder ins Wasser hinein. Und ganz zerknittert da tief unten sah er wieder jenes Gesicht, das sich etwas angeeignet hatte von seinem Gesicht und damit nun einen zweiten Johannes spielen wollte, der sich erst seit ein paar Stunden aus der Finsternis vor ihm aufgerichtet hatte, um ihn mit dem Schatten des Satans zu schlagen.

Johannes!

Er hörte diesen Namen durch seine Ohren tief in das Gehirn hineindröhnen. Er spie aus, um mit dem Speichel den Namen wieder fortzuschwemmen. Und gleichzeitig erhob er die Hand und machte eine Bewegung, als müsse er von einer schwarzen Tafel diesen Namen fortwischen –:

Geh, sag ich Dir! Nicht mein Bruder bist Du, noch mein Sohn. Überhaupt nicht verwandt mit irgendeiner Ader meines Blutes. Ich habe Dich niemals an meine Brust gedrückt. In den Schatten der Nacht, am Kreuzweg des Raubgesindels bist Du ungerufen auf mich zugelaufen. Ich darf Dich nicht sehen, nicht schmecken, nicht fühlen … fort … fort!

Alles nun auszulöschen, was an diesen frechen Eindringling erinnern konnte, beschloß Johannes und hob Steine auf und warf sie in den See. Und die Kreise, die sich auf dem Wasser sogleich bildeten, schnitten wie Stricke und Drahtschlingen tief in den Hals des Gespenstes, das nun nicht mehr grinste. Rasend und zäh aber kämpfte Johannes weiter mit dem Gespenst seiner Gedanken. Tag und Nacht brannten düsterer die Augen über seinen zerbissenen Lippen. Nacht um Nacht, Stunde um Stunde rang er, kämpfte er, entschlossen und doch im Wissen der Niederlage.

Er durchwanderte bettelnd, und dann und wann, wenn man allzusehr ihn bedrang, auch einen Tag arbeitend, den flachen Norden Deutschlands. Die Bauern hielten die Hände über die prall mit Korn gefüllten Scheunen und wucherten wie noch zu keiner Zeit der letzten Jahrhunderte mit den Geschenken der Erde, die für alle Menschen doch da waren.

Mit Johannes hatten sie Mitleid, denn er war das verkörperte Elend der breiten Masse. Es war kein gesunder Fleck mehr an seinem Körper. Bisse von Hunden, Schwären vom Ungeziefer und vereiterte Wunden von Stockschlägen hatten längst einen purpurnen Christusmantel um seine Haut gespannt.

Obwohl der Mord an der Hausfrau ruchbar war im ganzen Land, hatte doch nie ein Landjäger Jagd auf Johannes gemacht. Er brachte den ganzen Winter in diesem Tiefland zu. Und erst als die Märzsonne auf den Feldern laut wurde und die Saat höher aus den braunen Schollen hob, wandte er sich abwärts nach Südwesten und stieß bis zu den Bergen der westfälischen Wälder vor. Hier war der Frühling noch in Eis erstickt und gab, wenn es hochkam, lauem Regen die Straße frei.

Unendliche Stunden stampfte auch hier Johannes über lehmtiefe Äcker, durch Wälder, die dicht im Unterholz standen und mit den Bergen auf und ab liefen.

Da geriet er eines Abends in der Halbdämmerung an einen Kreuzweg. Und wie seine Augen die Namen der aufgezeichneten Orte ablasen, stießen sie auf einen, der seinen Mund aufschreien ließ. Und flackernd huschten seine Augen umher, ratlos und scheu. Er streckte jetzt beide Arme aus. Und das Erinnern besprang ihn und zeichnete da an die graue Wand des Eichenhanges die Konturen seines Heimatdorfes … das Vaterhaus, die Kirche, den Holzturm des halbzerfallenen Schachtes. Er suchte einen Augenblick, alle Einzelheiten des Bildes irgendwie zu ordnen, in den Rahmen seines Gehirns zu passen. Und es geschah wirklich, daß er, kniend auf der glatten Fläche eines Bruchsteines, seinen Knabenkörper sozusagen auf diesem Fleck zurückerlebte.

Und da wieder Regen einsetzte und ein feines Klingen in der Luft verursachte, war es ihm, als läge er lang hingestreckt im Gras der Pfarrwiese und rief Gott herzu, den sanften, gütigen Kindergott.

Und aus seinem Händefalten wurden Worte laut und mischten sich in den Wind und belaubten das kahle Geäst mit solcherlei Betrachtungen. Gott, Du langmütige Geduld. Du tausendfach Vergessener und doch nicht Gestorbener! Niemand beugt sich Deiner Heiligkeit mehr in Ehrfurcht. Alle laufen sie selbstherrlich durch die Gärten deiner Güte, wenn sie Deinen Augen den Rücken gekehrt haben. Niemand will den Mund mehr küssen, der ihm Odem eingeblasen hat. Niemand will das Handwerk ausbreiten auf der Erde, das Du gelehrt hast, da Du Deinen Sohn abgesandt hast auf daß er sich kreuzigen lasse … Niemand will in der Schöpfung aufgehen, die Du erschaffen hast auf daß sie demütig zu Deinen Füßen ruhe … Alle suchen sie das Runde, das Satte, das Prallgewölbte, das Gleißende, das im Staub Winselnde, das Schwache und Anschmiegsame zu ihrer Lust. Auch mich hast Du zu solchen gestoßen, in das Zerklüftete, Zerrissene, Dunkle und Stinkigte. Aber nun habe ich mich losgemacht von der Lüge des Hauses, vom Wahnsinn der Stadt, vom Götzendienst des Gehirns. Nun schlägt mein Herz den Takt Deines Herzens. Nun spricht mein Mund die Sprache Deines Mundes. Nun hast Du mich berufen. Nun will ich Dich wieder berufen zum Turm meines Hauses …

Johannes fühlte, daß nun endlich die hemmungslos verzischenden Blutwellen einen klaren Weg zu fließen hätten. Und der Weiser, der mit fünf Fingern solchen Weg namhaft machte, wies in das Dorf hinunter, wo der Knabe Johannes erkannt werden mußte von dem hohlen Baum, wo er seinen Schmetterlingsköcher immer versteckt hatte; von den Vogelnestern, den Weiden, den Vögeln, den Käfern und weißen Rehen.

Gehetzt, mit keuchenden Flanken das Unterholz überspringend, hinter einer Lichtung den spitzen Kirchturm vor sich, arbeitete sich Johannes auf das Dorf zu. Und der Knabe, der er jetzt wieder werden wollte, jubelte jedem neuen Stück der Landschaft zu: Da bin ich wieder!

Er fühlte durch seine Freude hindurch schon garnicht den Regen mehr und die Hitze seines Körpers, die einen dumpfen Kampf mit der Nässe und Kühle führte.

Aber das Dorf kam und kam nicht näher, wiewohl die schwarze Spitze des Kirchturms immer mächtiger und schwärzer aus dem Dunkel empor wuchs. Da suchte Johannes nach einem vorgebauten Gehöft, um wenigstens eine Stunde pausen zu können und dann weiter zu wandern. Seine Kräfte ließen rapid nach. Er sank am Rand der Straße hin und der Regen rauschte stetig auf seinen im Fieber fliegenden Leib. Er schleppte sich zu einer Strohmiete hin und kroch hinein. Seine Knochen rissen sich los von dem ausgedörrten Fleisch. Seine Gedanken zuckten in wirren Bildern, zerbrachen in der trostlosen Öde regengrauer Felder. Niemand war in der Welt mehr; nur er. Alle Menschen waren tot. Und Gott machte auch schon die Augen zu, auf daß er sterbe.

Johannes seufzte tief. Fieberflammen brannten das dürre Holz seines Leibes zu Asche. Die Welt stand nicht still, als das letzte Fünkchen erlosch. Ein trostloser Haufen welkes Fleisch, Knochen und Lumpen war der Rest des armen Johannes.

Niemand erfuhr, wie lange der Kadaver in der Strohmiete schon gelegen hatte. Bauern fanden den verwesten Leichnam des Bettlers und ließen ihn liegen. Und da kamen Männer von der Behörde, durchsuchten ihn voll Abscheu, luden ihn fluchend auf einen Mistkarren und fuhren ihn zum Kirchhof.

Es läutete keine Glocke, keine Lobrede ward auf ihn gehalten. Nur der Totengräber, der einst dem Knaben Johannes die bunten Salamander und versteinerte Muscheln geliefert hatte, murrte über die unbezahlte Arbeit und spie heftig auf den erbärmlichen Würmerfraß.

Und bis auf den heutigen Tag noch sucht Emilie ihren Ehegemahl und fahnden die Landjäger nach dem Mörder.

Gott aber hat ihm verziehen und sieht mit den ewigen Sternen in seine Knabenaugen hinein.


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