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Das törichte Herz

(1920)

 

FFünf Jahre war Michael in Rußland gefangen, hatte vielerlei Landstriche zwischen Warschau und dem Ural gesehen, hatte beim Bahnbau gearbeitet, konnte Stellmacher- und Schmiedearbeiten verrichten, wußte im Bergbau Bescheid und hätte als Meister einer Gerberei gut die Prüfung bestehen können. Aus einem schmächtigen Burschen war, in der langen Zeit des Krieges und der fast ebenso langen Gefangenschaft, ein von dem harten Leben braungebeizter Mann geworden, ein zergrübelter Kopf, ein vortrefflich organisiertes und kerngesundes Muskelsystem. Seine Kleidung hing zwar in Fetzen vom Körper herab, das Schuhwerk hatte er sich aus Holz und Fell selber verfertigt, sein Gesicht war mit einem widerspenstigen Bart bewachsen; die Augen aber warfen eine urgesunde Glut, in der Stimme lag Festigkeit und in einem Gurt auf dem nackten Leib trug er mehr denn sieben Pfund Silber und Gold-Erz.

An einem regnerischen Septembertag holte ihn die Mutter vom Bahnhof ab. Erkannt hatte sie ihn nicht als er aus dem Zug stieg und die Wartenden der Reihe nach musterte. Erst als seine Stimme mit der tiefen Erschütterung der Freude in ihr Gesicht hinüberschlug und der noch jedes Herz bezwingende Ruf: »Mutter« ihr Blut mit der Gewalt eines Sturmes durchbrauste, da erst legte sie ihren Kopf an seine Brust und fühlte die Erde unter ihren Füßen fortgeschwemmt werden von den Erlebnissen des schönen Wiedersehens in den Wohnungen der Seele. Sie verließen den Bahnhof erst, als kein Mensch mehr in der Halle war und vergaßen, einen Wagen zu nehmen. Sie schritten wie im Traumwandel durch die von gelbem Schmutz überschwemmten Straßen. Michael riß sich erst los aus dem fast bräutlichen Ineinander, als der Hund an dem Gitter des väterlichen Hauses emporsprang und mit Gewalt an den Eisenstäben rüttelte. Die Mutter beruhigte den Hund und meinte zu Michael: »Wie sollte Dich das Tier auch noch kennen, mein Sohn. Sieben Jahre reichen aus, um auf einem Leichenstein Moos anzusetzen, die Schrift unleserlich zu machen und das Gedächtnis an einen Toten auszulöschen«.

Nun aber Michael den Vorgarten betrat und den Hund scharf in die Augen nahm und seine Hand durch das Fell kämmte, ging ein scharfer Ruck durch die Instinkte des Viehs, ein leichtes Winseln löste sich aus und schwoll zu herzhaften Freudenlauten an. »Na siehst Du, alter Pollux, das bin ich! Ich … dem du immer so froh nachgesprungen bist … Ich … und kein Gespenst und auch kein böser Dieb!« Und er neigte sich zu dem Hunde herab und gab ihm die Wange eine Sekunde lang hin.

Die Mutter schüttelte zuerst ungläubig den Kopf, fügte sich aber bald der Mitfreude bei. Und dann traten sie zusammen in das Haus und Michael nahm die erste Mahlzeit in den väterlichen vier Wänden ein, so wie er ging und stand. Am andern Tage aber war aus ihm ein vornehm aussehender Bürger geworden, der über den Hof zur Fabrik schritt, als sei das schon Jahre lang so gewesen, der im Kontor mit Ehrfurcht empfangen wurde und, von den Arbeitern an den Bandwebstühlen, fast wie ein sagenhafter Prophet.

Schnell fügte er sich dem Rädergang des Betriebes ein und entlastete den steinalten Prokuristen, der (nach dem Tode des Vaters im ersten Kriegsjahr) der Fabrik vorstand und ihr ein treuer Diener in härtesten Zeiten gewesen war. Er saß mit diesem unverrückbaren Pflichtmenschen bis in die späte Nacht hinein bei den Geschäftsbüchern. Ließ sich gern belehren und gab Ratschläge. Früh war er wieder der erste im Betrieb, war bald im Lagerraum, bald im Maschinensaal, sah den Packern auf die Finger und schwitzte mit den Heizern vor den Kesselfeuern.

Fast drei Monate mutete er seinem Körper diese ungewöhnlichen Härten zu, nahm die Mahlzeiten ohne jedes Behagen ein und sah erst jetzt, daß im Haushalt der Mutter eine jugendliche blonde Frau als Stütze sich nützlich machte, und daß ihre seltsame Zurückhaltung irgend etwas Seelenhaftes war, das er vorerst nicht begriff.

Sie hieß Gabriele und war in der Zwanziger-Mitte, weitläufig verwandt mit diesem Hause und von der Mutter gern aufgenommen in den Tagen, da der Sarggeruch des Hausherrn noch in den Zimmern lag. Auch sie hatte einen Toten zu beklagen, der ihr näher stand als des Hauses Herr. Es war ihr Verlobter und jetzt irgendwo in der Türkei verscharrt. Sie war zudem eine Waise, lange Jahre im Dienst bei fremden Leuten gewesen, ihres ruhigen Wesens wegen gern gelitten und belobt und häufig von jungen Männern umschwärmt. Der Tod ihres Verlobten hatte ihr Innen noch um einige Schatten stärker verdunkelt, ihren Glauben an das Gute in der Welt noch mehr erschüttert und in den Augen eine tiefe Spur von der Vergänglichkeit aller Dinge hinterlassen. Hier in dem Hause, an der Seite der gütigen alten Frau, hatte sie es gut, bekam das Gefühl der Abhängigkeit nicht zu schmecken, brauchte keiner Laune Blitzableiter sein, keines Verfolgers billiges Wild und durfte sich fühlen, als wäre sie von Gott selber hier eingepflanzt worden in ein heiliges Gnadenreich.

An dem Tage, da Michael groß und wanderbraun aus der langen Gefangenschaft zurückgekehrt war, und sie ihn vom oberen Flurfenster zuerst in die Augen bekam, zersprang etwas in der Brust, das noch wie eine ganz feine Saite durch ihr Herz gespannt war. Vielleicht war es die Hoffnung auf das Wiederkommen des Verlobten. Denn wenn die Mutter abendlange von der Rückkehr des Sohnes sprach, zu einer Zeit noch, als man ihn unter den Opfern des Schlachtfeldes wähnte, da setzte sie das Bild dieses Sohnes um in die hauchnahe Gestalt des Verlobten und trug mit der Mutter alle Kümmernis, alle Tränen, jeden Hoffnungsschimmer auf ihre Weise. Und wenn sie den Namen Michael vor der Mutter aussprechen mußte, so meinte sie eigentlich einen anderen Namen, der vor den weißen Scheiteln der alten Frau nur nicht laut werden durfte. In dem Augenblick aber, da Michael in die Wirklichkeit trat, Fleisch und Bein und Gang und Stimme war – da zerfloß der Schatten, der ihre Seele mit dem Erinnern an ein gewesenes Einst zart belaubte, da sprang die hauchdünne Saite der stillen Frohheit in ihrem Herzen und das Leben war doch so hart, wie es die Wirklichkeit hämmerte und sich zu einem grausam engen Ring um dieses Frauenleben spannte. In den ersten Wochen hatte Michael Furcht, die Mutter zu befragen, was Gabriele eigentlich in diesem Hause zu bedeuten habe. Er dachte dabei natürlich nicht an die Obliegenheiten, die ihr zugewiesen waren; er meinte nur die Bedeutung, die hinter den geschäftlichen Dingen der Wirtschaft aufgebaut war, an das Verwandtschaftliche, an das Herzgemeinsame dieser im Alter so unterschiedlichen Frauen zueinander. Denn es war ein Erhabensein in Gesprächen unter der Abendlampe, wenn sie bei Handarbeiten saßen oder Gabriele aus einem Buch vorlas, über ihre Körper gewölbt. Ihre Augen lagen in Innigkeit ineinander und jeder tat dem anderen eine stille und das Letzte begreifende Freude an.

Zu Michael war Gabriele noch immer in einem gewissen kühlen Abstand geblieben. Ihm tat sie alle Dinge wie eine geduldete Fremde, wie auf Befehl, obgleich ein solcher aus seinem Munde nie zu ihr hingefahren war in dem Ton: »Du mußt, weil ich Dich bezahle und dafür auch zu befehlen habe!« Sie lächelte selten in seiner Gegenwart und wenn er sie überraschte bei einer frohgemuten Erzählung mit der Mutter, errötete sie allemal so jungfrauenhaft zart und tief, daß ein Schauer über seinen Körper lief und eine seltsame Melodie in ihm zurückließ … eine Melodie, die ihn an die schwermütigen Gesänge der Wolgabauern erinnerte, an das Schlaflied einer Kirgisin, an den Gesang der schwarzen Abend-Amsel im Schnee.

Eines Abends, da sie nicht im Hause war, faßte Michael nach mehrmaligen Anläufen doch Mut und bedrang die Mutter, um über Gabriele das zu erfahren, was er zu wissen begehrte. Da sah ihn die Mutter lange an, bewegte die Lippen ein paar Minuten wortlos und bog sie dann in ein leicht verhaltenes Lächeln hinüber und sagte: »Wenn Du einmal Dich dazu aufgerafft haben wirst, daran zu denken, mit welcher Frau Du Dein Leben teilen möchtest, dann wird Dir vielleicht auch mein Rat nicht absonderlich erscheinen. Und ich glaube, daß ich Dir gut rate, wenn ich sage: Gabriele wird sich Deinem Leben so zugesellen, als wärst Du mit ihr ein Stück in die Breite und Höhe gewachsen. Sie hat viel Schweres erfahren und lebt nicht mit dem Oberflächlichen in der Welt. Wenn man seine Töchter auswählen könnte aus einer Schar erwachsener Mädchen, dann würde ich keine Sekunde zögern und Gabriele anerkennen als Blut von meinem Blut, und Gedanke von meinem Gedanken.«

Da reichte Michael der Mutter wortlos die Hand, sah tief in ihre Augen hinein und ging hinaus. Oben in seinem Zimmer sperrte er das Fenster auf und sah in das Dunkel hinaus, das Sterne trug und den schweren Geruch des Spätherbstes. Er begann tief nachzudenken und baute das Bild Gabrieles aus lauter kleinen Gedankensteinchen vor seinen inneren Augen auf, bis es dastand in Lebensgröße und aussah wie das Mosaik eines Madonnenbildes in mittelalterlichen Kirchen. Er faltete in Einfalt die Hände und löste sein Herz los und füllte es an mit dem helldunklen Licht, das von dem Bildnis ausging. Und sprach vor sich hin, noch nicht ganz entschieden zwar, aber mit dem tiefsten Willen dazu: Du könntest Recht haben, Mutter … vielleicht ist Gabriele die, die ich noch nicht gesucht habe, aber die ich finden werde wenn ich sie suche.

Von diesem Abend an suchte er Gabrieles Gesellschaft mit Inbrunst, doch ohne Gier. Er kam jetzt früher aus dem Betrieb in das Haus zurück, las die Zeitungen im Wohnzimmer, suchte Gabriele in Gespräche zu ziehen indem er fragte, was ihm, dem lange von der Heimat Fortgewesenen, nicht geläufig war auf den Märkten, im Parlament, in der Mode und in den Bezirken des künstlerischen Lebens. Er schob dann und wann eine leichte Betrachtung über das neue Rußland ein, das er gesehen hatte, und das in seinem Bewußtsein lag wie ein riesenhafter, in der Zeit hinein verwitterter Garten mit ungeheueren Schätzen an Baum, Tier, Frucht und Erdreich. Gabriele gab willig Antwort, wußte in vielen Dingen sehr sicher Bescheid, urteilte gerecht und nahm nie auffällig Partei. Sie hörte, wenn er von Erlebnissen der Gefangenenjahre sprach, mit tiefer Aufmerksamkeit zu, tat Seufzer aus Herzensgrund herauf, so er Leidvolles berührte, und hatte das Lächeln einer gütigen Herbstabendsonne, wenn er von freudigeren Dingen erzählte. Es wurde nach und nach Gewohnheit, daß er ihr, wenn er hinaufging sich schlafen zu legen, die Hand gab und gute Ruhe wünschte. Die Mutter sah solcherlei Berührung mit heimlich gelächelten Tränen und bedachte sich, daß ihr Wunsch langsam aufreifte zur Frucht und zu einem gottwohlgefälligen Ende. Mit diesem Gedanken schlief sie auch an einem regnerischen Februartag im Lehnstuhl ein und wachte nicht mehr auf. Es war genau an dem Tag, da Michael acht Monate im Hause wieder schaltete und sich auf den Frühling in der Heimat freute.

Gabriele trauerte mit ungemeinem Schmerz um die Mutter Michaels und geisterte in diesem Leid wie ein Schatten durch die mit Schmerz und Einsamkeit angefüllten Räume. Michael war anfangs noch zu sehr mit sich beschäftigt um nach Gabriele so auszuschaun, daß er gewahren konnte, was in diesem Mädchen zerbrochen war. Sie besorgte mit zwei Dienerinnen das Haus, als wäre keine Lücke in den täglichen Geschehnissen geschlagen. Ja, um Michael war noch eine gütigere Wärme gebaut, als in jenen Tagen, da die Mutter sich um ihn sorgte und ihn hegte.

Mit den Wochen fand Michael das Gleichgewicht wieder, das Unternehmen, dem er nun ganz allein verantwortlich vorstand, brachte seine Denkungen in die Bahnen des Realen zurück und nach und nach verdichteten sich die Gedanken an Gabriele zu einer ganz bestimmten Frage, die allerdings noch nicht so stark war, daß sie ausgesprochen werden mußte um alles in der Welt. Er suchte nach einer Gelegenheit, die es ihm in den Mund legen würde, ohne daß eine besondere Absicht auffällig dahinter stand und fand sie lange nicht. Ein paarmal an den langen Abenden schien es so, als sei die Stunde endlich reif geworden, immer aber hakte sich ein Zwischenfall ein, der ihn verwirrte und sein Herz stumm machte.

Gabriele merkte den Kampf, der durch sein Gefühl zitterte, mit einem dumpfen Grollen nach Luft, Blitz und Entscheidung. Sie tat aber nichts, um der Stunde jenen Klang zu geben, der ein Aufjubeln hätte sein können, eine Befreiung, eine endliche Erlösung aus dem Zwielicht dumpfer Gefangenschaft. Ihre Schwäche, denn nur eine solche blieb sichtbar, war die leichte Verwundbarkeit einer feinen Natur. Sie fürchtete, obwohl sie von Michael solches nicht erwartete, eine grobe Handlung, ein tödliches Wort, ein Gift, für das sie keine Gegenmittel bereit haben würde. Und aus dieser Furcht heraus vereitelte sie manches, was eine gute Tat hätte auslösen können.

Schließlich kam Michael doch ein Zufall zu Hilfe. Denn das Quartal war zu Ende; und da er mit Gabriele die Gelder des Haushaltes verrechnen mußte, und den Dienerinnen den Lohn zahlen, durfte es auch nicht ausbleiben, daß er das Materielle, womit Gabriele diesem Hause verpflichtet war, zu berühren hatte. Gabriele holte aus dem Nebenzimmer den Brief, den Michaels Mutter ihr geschrieben hatte, als sie als Stütze ins Haus kommen sollte. Hier waren alle die Bedingungen klar und sauber aufgezeichnet und auch die Summe genannt, die sie als Entgelt zu beanspruchen hatte. Der Satz war im Verhältnis zu der Bezahlung der beiden Dienerinnen zu gering, so daß Michael, nachdem er das genau bedacht hatte, Gabriele eine Summe anbot, die ihm als gerecht und notwendig erschien.

Gabriele sah Michael mit einem tiefen Erschrockensein an, schüttelte den Kopf und weigerte sich, dem Angebot ihr »Ja« zu geben. Sprach, daß sie ihre Aufgabe in diesem Hause doch anders aufgefaßt hätte, als er sich das so denke, daß sie nicht hergekommen sei um Reichtümer zu sammeln und daß sie alle ihre Wünsche, die sie für sich gestellt hätte, mit dem bestreiten könne, was ihr seine Mutter ausgesetzt habe an Taschengeld.

Michael wurde nun unsicher, fühlte, daß er irgendwie daneben gegriffen habe und daß etwas Peinvolles zwischen Gabriele und ihm aufgegangen war. Er lenkte nun das Gespräch ab, kam auf die Dienerinnen zu sprechen und meinte, ob es nicht ratsam sei, noch ein drittes Mädchen hinzuzumieten.

Aber auch dieses lehnte Gabriele bestimmt, ja, beinahe schroff ab. Jetzt graute lange ein Schweigen im Raum; die Minuten hingen tatenlos ineinander gebunden, hinausreichend ins Uferlose. Die Zeit stand fast still. Hände rührten sich. Augen sahen aneinander vorbei. Und plötzlich fiel von Michaels Lippen der Name »Mutter« in die Stille, langhinhallend dehnte sich der Ton, griff, wie nach einem Ast zurück in das Schweigen, aber die Antwort, die von den anderen Lippen hätte kommen sollen, blieb liegen auf trockener Oberfläche. Und die Tonwelle zitterte in ein wehmütiges Rieseln hinüber.

Fern war jeder Zarthauch. Von den großen Tulpen in der Vase fielen zwei Blätter herab auf die braune Tischplatte und spiegelten sich in der Politur wie in einem schwarzen, tiefen Wasser. Versteckte Tränen brannten in den Gedanken Gabrieles, sie atmete schwer, um den Widerstand aufzubringen. Auch Michaels Gedanken fielen zurück, die Schwäche entspannte die Muskeln und der Raum legte sich wie ein düsteres Gefängnis herum.

Nun hoben sie beide ihre Körper aus den Sesseln, mühsam wie überschwere Gewichte. Immer noch suchten der Augen lichte Punkte aneinander vorbei. Nur die Hände wollten sich treffen, zitterten dem Druck von Fleisch auf Fleisch mit Bangnis entgegen. Es half nichts. Gegeneinander anstürmend fanden sich wieder die Stimmen zu einer Brücke; es waren gleichgültige Redensarten, aber doch von einer Wärme beseelt, die weiter wollte und endlich auch wieder dorthin mündete, woher sie ausgegangen war, ehe das Eis dieses Schweigens die Oberhand gewonnen hatte.

Hier in der Bangnis zwischen »Ja« und »Nein« kam Michael doch nicht zu der Frage, die durch seine Seele pulste, aber mit Ungefährem belud er sie und versuchte etwas gut zu machen, was doch im Grunde nicht böse gewesen war. Nun merkte Gabriele auf, erriet das Ziel, sah das sternhafte Glänzen in Michaels Augen und füllte sich damit an. Jetzt gab es kein Entrinnen. Jetzt mußte sie sich entscheiden. Und da holte sie tief Atem, setzte sich und warf die Augen auf die beiden weißlichen Tulpenblätter auf der Tischplatte und ließ sie dort und begann mit scharfen Gedanken in sich zu gehen –: daß er, der mich mit der reinsten Inbrunst des Herzens lieb hat, nichts Gemeines und Unredliches mit mir vorhaben wird, ist außer jedem Zweifel. Er sieht mich so sicher an, wie man eine Frau ansieht, die schon ein Stück Seele vom Mann geworden ist. Er weiß auch, daß ich nicht mehr besitze wie das, was außen an mir ist, und was innen aufgespeichert ruht. Er weiß auch, daß es nur der Abstand in Zahlen realen Besitzes ist, der mich von ihm trennt. Aber schließlich: wenn er nur ein klein wenig weiter sein Gesicht aufgespannt hätte, nur etwas tiefer in sich hätte hineinblicken lassen, damit ich das erfahren konnte, was seine Gedanken endlich meinten, sein Mund aber verschwieg … dann wäre meine Hand ihm gern entgegen geflogen … Aber warum hat er das nicht ausgesprochen, er, dem Furcht doch eine verachtenswürdige Schwäche schon immer gewesen ist, er, dem Unentschlossenheit doch das Widernatürlichste in eines Mannes Brust bedeutet! Aber vielleicht ist es ihm nur darum zu tun, daß ich so bleibe, wie ich bislang durch dieses Haus schaltete; vielleicht ein wenig mehr, das, was ja von so vielen meines Amtes gefordert wird, mit Erpressung nicht immer, aber doch begehrt wie ein dafür bezahltes Muß. Und würde ich wirklich schwärzer sehen wie es eigentlich gemeint ist, und wenn es wirklich so bleiben sollte, wie alles war in den Jahren, da seine Mutter noch lebte –: käme dann in einer gottgewollten Stunde das Gewitter über ihn, ich könnte wahrhaftig mich nicht verbergen, ich müßte mich den Griffen des Sturmes beugen, denn viel von seinem Wesen und seiner Güte ist schon in mein Herz hinüber gesprungen und lebt ein tiefes, einsames Leben der Hoffnung …

Sie bedrängte sich immer härter und härter und schließlich kam der Stolz der Hohen Armut dazu und vermehrte die Widersacher um eine weitere Gewalt. Und da sagte sie sich endlich, und glaubte auf dem rechtschaffenen Pfad zu sein: ich muß dieses Haus verlassen. Es bleibt mir, bei Gott, keine andere Wahl. So oder so kann ich mich nicht hingeben an seinen Mund. Bin ich seine Geliebte, würde es doch nach Jahren zu einer gesetzlichen Bindung kommen müssen. Schon der Menschen draußen wegen, denen er nicht ausweichen kann, wenn ich auf ihren Zungen ruchbar geworden bin als eine, die ihre Nacht mit einem Geliebten teilt. Und heiratet er mich heute: würde man draußen nicht noch drohender mit Fingern auf mich zeigen und murren: Seht da, dies Weib, das sich mit List und Verführung, und Gier nach fremden Gut, hineingesetzt hat in dieses warmgehügelte Nest?! Und wenn dann diese neidgelben Reden heranschlagen an sein Ohr, und auf den Gutmütigen und Herzensreinen hämmern und hämmern, verleumden und anklagen und böses Gift gießen –: wo ist der aufrecht gerechte Mann, dem solches nicht einen Stachel zurücklassen wird? Einen Widerhaken, der, müht man sich ihn herauszureißen, noch tiefer sich einbohrt und Schmerzen und Schwären wirkt?!

Nein, es ist schon besser, ich gehe, ehe diese oder jene Häßlichkeit mein Dasein beschattet und eine Luft zeugt, die uns beide mit dumpfer Kümmernis erfüllen muß …

Immer gefestigter bäumten sich diese Gedanken, rieben sich warm und brannten schließlich hell auf. Und der Mund, der es aussprach, war eigentlich nur ein Trichter, der den Schall verstärkte. Michael durchfuhr es wie glühend Eisen und einen Augenblick setzte sein Herz aus, wurde es blutleer in seinem Gehirn. Er sah Gabriele an, als stünde da der Tod kalt und gräßlich vor ihm. Er bog sich zurück in schmerzlichem Entsetzen. Er zerbiß sich die Lippen, bäumte die Brust hoch und brachte nur das Wort heraus: »Warum Gabriele … Warum?!«

»Dieses Warum«, sagte sie mit einer gestrafften Beherrschung in der Stimme, »dieses Warum bedarf keiner Antwort mehr. Sie haben Sie selbst ausgesprochen, wenn auch nicht laut zu mir.«

Michael fühlte, daß jetzt alles Weiterdrängen zwecklos sei; ja, einen Widerstand aufrufen würde, der über das, was eigentlich gewollt war, hinauswuchs.

Da sich Gabriele anschickte, die Tür zu öffnen, reichte er ihr die Hand und gab ihr den einfachen Gruß der Nacht. Es fiel kein anderes Wort mehr und Gabriele ging hinaus, ohne sich umzuschauen. Die Tür, kaum eine Sekunde lang geöffnet, warf einen kalten Luftzug in den Raum. Michael schritt zum Tisch, ergriff die beiden Tulpenblätter und zerdrückte sie zwischen Zeigefinger und Daumen. Kroch tief in sein Ich hinunter und zerlegte es. Dachte: Was habe ich denn nur Böses getan? Wo und wann ist eine solche gemeine Tat abgesprungen von mir, daß Gabriele so gekränkt – erschüttert sich abbiegen mußte von mir? Lag etwas Falsches, Unehrliches in meiner Stimme? Waren Falten meinem Gesicht eingegriffelt, die Brutalität, Gier, Gemeinheit und Teuflisches aussagten? Hat sie solches gesehen? Hat sie solches erfahren? Dann sind Gewalten in mir mächtig, die ich selber noch nicht verspürt habe. Dann nistet das Böse schon auf meinem Außen und wird sich durchfressen, sobald die Widerstände des Unbewußten erschlafft sind … hat sie aber dergleichen Bresthaftes nicht erfahren an mir, dann kann es nur sein, daß eine wesenhafte Liebe zu einem Anderen laut ist in ihrem Herzen und nicht beschattet sein will von den Ängsten um zufällige Geschehnisse … Als er schon oben in seinem Zimmer war, und nach Büchern und Werkzeichnungen griff um sich abzulenken (denn der Schlaf war abgeglitten von seinen erregten Nerven) sah er über Dinge, die da in Lettern, Farben und Geräten vor ihm lagen, hinweg und bohrte sich mit weitsichtigen Augen durch das schwarze Glas der Fenster. Aber auch da draußen schwebte kein Engel, der ihn hätte stärken können. Die Sterne hatten keine Lust zu scheinen. Und der Mond fiel von hinten zwischen die Hügelkuppen mit einem matten, ärgerlich gelben Licht. Aus den Tälern wälzte sich der Nebel hoch, drang in diesen Raum hinein, trieb Michael mit den weißen Krallen des Frostes ins Bett und lag mit dem feuchten glatten Schlangenleib schwer auf dem unruhig Schlafenden. Gabriele kam am nächsten Morgen schon reisefertig nach unten; ihre Augen waren blauumrändert vom Schmerz einer in Qual verbrachten Nacht; doch fand sie eine freie Haltung und eine sichere Stimme: Michael »Lebewohl« zu sagen.

Michael stand wie ein in Ketten Geschlagener vor ihr. Aus dem wühlenden auf und ab seiner formlosen Gedanken wagte sich kein Wort hervor, das diese Spannung hätte entzwei brechen können. Seine Augen dunkelten wundbitter und fast schluchzend. Immer noch glühte das Wort nicht auf.

Gabriele aber wuchs über ihn hinaus mit aller Kraft. Denn sie spürte: Braust aus seinem Herzen doch noch der Ruf herauf und wird laut in diesem Raum, dann bin ich verloren und muß alles tun, was er begehrt. Und da legte sie in ihr Gesicht eine Strenge, als wäre jede Sekunde länger weilen in diesem Raum: der Tod. Da schieden sie wie zwei Menschen, die so blutsverwandt miteinander waren, daß eine Verbindung der Körper unaustilgbares Verbrechen bedeutet hätte, daß sie aber um das Seelenhafte, das jetzt zerschnitten wurde, kalt und grausam bis in alle Ewigkeit hinauf trauern mußten.

Als die Tür ins Schloß fiel … endlich … oder doch: warum denn nur?, wankte Michael ans Fenster und sah der Fliehenden nach, bis sie der Betrieb der Straße aufsog.

Ein kalter Wind kam von Norden, sprang in das Zimmer herein und rührte an seine Stirn. Er sah zwei Hälften von sich wegfallen wie ein zerbrochenes Haus. Er zerbrach und stand zwischen den zwei Hälften und zerklüftete sich in Trauer: Ich sehe mich gebunden und mit kaltem Eisen beladen. Und beuge mich noch tiefer zur Erde herab; demütig schuldig. Denn die Zeit ist nun vorüber, da ich in Hochmut mich gebrüstet habe, was ich bin und was ich war … Du hast es erkannt, Gabriele, und laut in mein Gesicht hingeschrien. Mich bloßgestellt und an den Schandpfahl gebunden.

Und kommt jetzt der gerechte Richter und kommt jetzt der Henker und hebt das Schwert: Mit Deinem unberührten Bild will ich hinsinken, untersinken, in den Augen den Schimmer Deines Gesichts, in meinen Händen das Gefühl Deines reines Herzens.


Er mochte eine Stunde und länger so gestanden haben, bis ihn ein Bote aus der Fabrik anrief und in das harte Mahlwerk des Tages entführte. Und von nun an raste er wie ein Amokläufer durch die Werktage, saß bis zum Morgengrauen über Pläne und Fabrikationsverbesserungen gebückt, sah selten die Straße, noch weniger aber ihren betriebsamen Lustwandel, ihre Zerstreuungen, Feste und Götzendienste. Die Sonnenschauer und Blütenwunder des beginnenden Frühling prallten von ihm ab, er hörte den Hymnus des jungen Grüns sehr wohl aber es hatte für ihn etwas Mißfarbenes, von allen Seiten schon Abgegriffenes.

So gingen die frischesten Monate des Jahres an ihm vorüber, so bedrängte ihn der Sommer mit Schwüle und Staub, und so begann der Herbst, der ihm gnädiger war und seiner Schwermut sich entgegenstemmte.

Mit dem leisen Fall der Blätter fiel auch seine Trauer ab, der silbrige Duft, der den Horizont in Unendlichkeiten hinausdehnte, belebte die Trägheit seines Herzens und machte das Denken für Entschlüsse reif.

An einem Vormittag ließ Michael den Prokuristen in das Privatkontor kommen, beriet sich lange mit ihm (ohne jedoch das letzte Geheimnis seines Vorhabens preiszugeben) und fand einen willigen Helfer: Gabrieles Aufenthalt aufzuspüren.

Ein paar Stunden später, nach dem Mittagessen, stand eine warme Heiterkeit in Michaels Gesicht, er strich sich befriedigt das Haar aus der Stirne und dachte: ich weiß, daß ich Gabriele finden werde und auch das Wort, dem sie sich nicht verweigern kann. Denn jetzt ist ein breiter Abstand zwischen uns, und jedes ist allein mit seinem Herzen und seinen Gedanken, mit seiner Sehnsucht und seinen Aufblicken in das Zukünftige … jetzt wissen wir, daß uns nichts anderes zusammenbringen kann als die heilige Frühe der Liebe, ohne Hintergründe, ohne Vorberechnungen. Und wenn ich sie dann heimgeleiten werde, zurück in dieses Haus, das hundertmal gerechter ihr Eigentum ist als das meine, soll sie die Wohnung so aufgebaut finden, wie sie es sich wünschen mußte, da sie in einsamen Mädchennächten von dem Heiland ihres Herzens geträumt hat …

Alsbald begann in dem Haus ein betriebsam-emsiges Umgestalten der Zimmer; Möbel rückten vom Erdgeschoß in das obere Stockwerk hinauf, oder wurden den umgekehrten Weg getragen. Die Handwerker hantierten wochenlang, Schränke füllten sich auf, Teppiche schoben sich auf jeden freien Fleck der Dielen und die Lampen wurden verdoppelt. Sogar von außen mußte sich das Haus den Anstrich einer neuen, freundlicheren Farbe gefallen lassen.

Den Dienern sowohl, als auch denen, die mit dem Haus in naher werktätiger, geschäftlicher oder nachbarlicher Verbindung standen, war es offenbar, daß Michael mit aller Energie zu heiraten begehrte, und daß die Braut nicht mehr allzufern sei. Sie rieten mancherlei zusammen, doch niemand mehr dachte an Gabriele. Sie war vergessen, wie man einen abgelebten, gleichgültig gewesenen Tag vergißt, verschollen wie der Klang einer Glocke, die man zuletzt noch in einem hohen abendlichen Wald gehört hatte.

Wie sehr aber auch der Prokurist sich mühte, Michaels Auftrag zu erfüllen, Gabriele war in der Tat nicht aufzufinden. Zu den groben Mitteln eines Detektivs mochte Michael nicht greifen. Er hoffte immer noch auf den gottbegnadeten Zufall; denn seine Gewißheit war urstark und nahm immer gewaltiger zu, je tiefer das Dunkel, das Gabriele einhüllte, mit der Zeit wurde.

Oft überkam ihn auch eine schmerzliche Schwermut. Und dann drückte er das Gesicht an die Scheiben und legte seine Gedanken weit hinaus in die Ferne und murrte mit sich und den bitteren Geschehnissen des Schicksals. Und schalt sich einen Schwächling. Und dachte: nun zerfällt mir grau und nutzlos die Zeit. Und ich sehe zwei Hälften von mir fortstürzen. Und ich greife nach beiden und stehe gekreuzigt hineingespannt.

 

II.

Als Gabriele den Entschluß gefaßt hatte, das Haus Michaels zu verlassen, war ihr auch die Gewißheit nahe, daß sie weit … weit fort gehen müsse, um zu vergessen. Sie war sich aber noch nicht im geringsten darüber klar, welcher Art Arbeit sie nun aufnehmen könnte, um wieder zu einem geruhigen Obdach und dem täglichen Brot zu kommen. Nahe lag ihrem Wunsch, sich eine Stellung als Sprachlehrerin zu suchen, oder dorthin zu gehen, wo mutterverwaiste Kinder Zucht und Güte brauchten. Vorerst jedoch machte sie Rast in Köln, logierte sich in das Heim der Ursulinerinnen ein und sah Tag für Tag die Familienblätter durch, die jene Tätigkeit ausschrieben, welche sie sich wünschte. Sie suchte und schrieb und wartete und suchte und schrieb und wartete beinahe drei Monate lang ohne zu einem Endziel zukommen. Langsam begannen ihre Barmittel schon auszugehen und im Betrachten dieser Betrübnis erwog sie, sich einfach als Fabrikarbeiterin zu verdingen. Jeden Abend, wenn sie vom Fenster auf die halb gedunkelte Straße hinaussah, und mit frohem Gelärm die langen Ketten der Mädchen sich aus der gegenüberliegenden Spinnerei ergossen, kam es über sie, hinunterzulaufen und sich irgendeiner anzuschliessen und sie zu bitten, ihr Fürsprache zu sein bei den Meistern des Betriebes. Eine unsichtbare Hand aber legte sich auf ihren Willen und hielt ihn zurück vor dem letzten Sprung in ein Reich, das sie schon nach wenigen Tagen wieder hätte lassen müssen. Denn was sie in ihrer Not Begehrenswertes sah in dem heiteren Gewölk des Feierabends jener Fabrikarbeiterinnen, war nicht die Freude über ein vollendetes Tagewerk. In den beglänzten Gesichtern der Mädchen spiegelte sich die Erwartung von Tanz und Getümmel auf dem jenseitigen Ufer des Stroms, wo bei Bier und Tabakdunst an langen Tischen die Schätze versammelt saßen, Seele und Körper eines willigen Mädchen-Daseins zu brechen.

Sie aber war jener kußtollen Lebensbejahung geflohen, weil sie vor dem Taumel zuerst Seele aufbaute und ihrer Entfaltung mit allen Fibern zuströmte.

Die Not aber pochte immer stärker an ihre Gedanken und schon hatte sie beschlossen, am Wochenanfang den Gang in die Fabrik zu wagen. Da erschien eines Tages ein Hammerschmied aus dem Bergischen bei den frommen Schwestern und begehrte, daß man ihm eine gesetzte Wirtschafterin für einen mutterlosen Haushalt, der drei Kinder trug, nachweisen möge. Die Schwestern bedachten sich nicht lange, riefen Gabriele herunter und da sie dem Mann gefiel, und sie auch nichts Mißgünstiges an ihm wahrnahm, wurden sie in wenigen Minuten einig und verließen zusammen das Haus.

Es waren drei Stunden Bahnfahrt von Köln bis zu dem Ort, in dessen Außenteil des Mannes Schmiede stand. Er hieß Abraham Benninghoven und trug seine 45 Jahre schon auf dem Buckel. Seine Gestalt aber war noch kräftig, von mittlerem Wuchs und in seinem braunbärtigen Gesicht lag die knorrige Massivität der Bergischen Bauern. Er war grüblerisch, doch nicht verschlossen: wortfest, doch nicht wortkarg, und in ihm war deutlich sichtbar für jeden eine verhaltene Frohheit, die im Herzen glühte und nach stetem Frieden trachtete. Das Wohnhaus lag zwanzig Schritte von der Schmiede entfernt, mitten in dichtem Buchenwald; die Außenwände mit Schiefer bekleidet, die Fenster blendendweiß gestrichen und von grünen Schlagläden umrahmt. Ein schmaler aber leichtfüßiger Bach plätscherte an dem Haus vorüber, verbreiterte sich auf der Wiese allmählich zu einem See, und hinter dem gestauten Wasser lag sogleich die Schmiede mit dem ungeheuren Schöpfrad, das den beiden Fallhämmern die Kraft zum Werk gab.

Gabriele lernte diese noch am selben Abend kennen, nachdem sie schnelle und herzliche Freundschaft mit den Kindern, die acht, zehn und vierzehn Jahre alt und lauter Mädchen waren, geschlossen hatte.

Am Abend bekam sie auch die Gesellen näher und mit blankgewaschenen Gesichtern zu sehen. Denn auch diese großen Menschen hatten Mahlzeit und Wohnung im Hause. Man saß zum Abendessen in einem mächtigen Kranz um den eirunden Tisch und das schwere Handwerk sorgte für einen gottgesegneten Hunger.

Gabriele gewöhnte sich bald in dieses Hauses Regel und Ordnung, fand bei den Kindern willige Unterstützung und wurde von den Gesellen belobt, die zu ihr aufsahen wie zu einer von Gott geheiligten Frau. Abraham Benninghoven sah mit Wohlbehagen auf Gabrieles fürsorgliches Walten, er wurde jung in ihrer Nähe und so gesprächig bei den Mahlzeiten und den Augenblicken, wo er der Wirtschafterin Nähe schmecken durfte, daß sich die Gesellen darob verwunderten. Denn solches Aufblühen in Freude und Munterkeit hatten sie bei dem Meister seit vielen Jahren nicht mehr bemerkt. Auch durch die Nachbargehöfte lief ein Tuscheln und Raten: was wohl mit einem Male in Abraham gefahren sein mag.

Abraham Benninghoven war ein von allen Siedlern geachteter Mann. Sein Wort wog schwer in den Gemeindeberatungen. Bei den Fabrikanten stand er, seiner ausgezeichneten Arbeit wegen, in hohem Ansehen und auch die Kirche hatte ihm ein verantwortungsvolles Laienamt übertragen.

Gabriele erfuhr dieses in Fetzen aus der Gesellen Mund und dachte: von dieses Mannes Händen wird auch mir nie ein Unrecht geschehen. Ich habe zwar höher hinaus gewollt, als ich meinen Dienst bei Michael aufgab, aber wo wäre ich wohl so sicher geborgen gewesen?!

Abraham hatte Gabriele nie nach ihrem bisherigen Leben gefragt, wußte von ihr nur, was in den Papieren stand, die sie ihm in die Hand gegeben hatte, um sich für den Dienst auszuweisen, und ermaß nur an ihrem redlichen Eifer, an ihrer treuen Sorge und an der gleichen Beständigkeit ihres Wesens, daß sie eine Natur war, die ernst und erkennend durch das Leben schritt. Er nahm sich vor, mit dem Pfarrer zu sprechen: auf daß auch er Gabriele prüfe; ihren täglichen Wandel und ihr inneres Wesen. Und wenn der Pfarrer dann die gleiche gute Meinung empfangen würde, dann sollte aus dieser Übereinstimmung heraus der Entschluß gefaßt werden, Gabriele die Ehe anzutragen. Verlangten doch die Kinder nach einem mütterlichen Wesen, nach einer Herzenskammer, wo sie die vielen kleinen Freuden und Leiden ausbreiten konnten, damit gütiges Verstehen daran teilhabe. Und schließlich war er selber auch noch ein Mannsbild, das einer einsamen Frau zu geben hatte, was sie bedurfte, um ein Leben damit in Freude und Geruhigkeit auszufüllen.

Gabriele wälzte mit der schweren Arbeit in dieser Wirtschaft alles Trübe von ihren Gedanken fort und konnte in tiefster Seele doch nicht froh werden. Denn wenn auch das Denken sich eine Zeit betäuben ließ –: die Seele litt unter einer frostigen Einsamkeit und wie Eiszapfen hing es im Blut herab. Sie wurde, obwohl sie es sich nie eingestehen wollte, das Bild Michaels nicht los aus den Augen; es schlug in ihr Gehirn hinüber und machte ihre Nächte unruhig.

Zuweilen grübelte sie: Wenn Michael mich wirklich mit einer ernstgemeinten Tat hätte binden wollen an sein Haus, seinen Beruf, und in der Gemeinschaft mit seiner Seele, dann wäre ihm auch zur richtigen Zeit das rechte Wort eingefallen. Denn ich allein konnte ihm doch nicht entgegen gehen, und auch nicht weiter, als ich schon gegangen war mit meinem Gewissen. Wäre seines Herzens Zuneigung die gleichen Kreise gewandelt, die mein Verlangen durchlief, dann hätte er sich aufgemacht Tag und Nacht und unserer Beiden Irrwege aufgespürt und ein gutes Ende beschlossen.

Wie sollte ich abstreiten, daß etwas in meinem Herzen zersprungen ist, seit ich seiner Augen Sterne nicht mehr gebettet fühle in meinem Angesicht? Im Wachen und Träumen steht der warme Schein seines Menschentums vor mir, so nahe, daß ich ihn greifen könnte. Und gebe Gott, daß meine Spur solange verweht bleibt, bis ich abgeschlossen habe mit dem endgültigen Verzicht. Denn, geschähe es wirklich, daß er plötzlich vor mir stände und seine Hand nach meiner ausreckte, und seinen Mund nahe an meinen Mund rücken würde –: dann müßte ich auf Gnade oder Ungnade mich ihm ausliefern und eher noch »Ja« sagen, als die Frage, die ich mit »Ja« beantworten soll, ausgegangen ist von ihm …

Wenn auch Abraham nicht spürte, welch ein schmerzliches Feuer in seinem Hause brannte –: die Kinder hatten feine Ohren und schmiegten sich mit zärtlich ernsten Gesichtern in Gabrieles Leben. Und sie verstand, was diese Kleinen besorgt und traurig machte, überschüttete sie mit einer Güte, die also gewaltig selten aus den Herzen von Frauen brach, die noch nicht kannten, was Mutterschaft hieß. Sie liebkoste sie mit einer fast brünstigen Heftigkeit und konnte sie doch nicht los werden und ihnen doch nicht die letzte Heiterkeit geben.

Auch die Gesellen lebten in einer seltsamen Scheu zu Gabriele. An den Abenden nach dem Essen dämpften sie ihr Geplauder, mäßigten sie ihrer Witze Schärfe, und wenn sie zum Spiel sich niederließen am Tisch, geschah es ohne Steigerung, Feuer, Fluch und Gezänk.

Auch solches fiel Abraham nicht auf, obwohl er in früheren Tagen oft mit einem Donnerwort dazwischen fahren mußte, um das Haus nicht zu einer Wirtsstube erniedrigen zu lassen von Lärm und Gezänk der Burschen.

Seine Gedanken hingen Gabrieles Fraulichkeit, ihrem Muttertum nach und da er ein Mann von langsamen, aber schwer überlegten Entschlüssen war, brauchte er fast 4 Monate, um Gabriele zu fragen, was er schon nach ein paar Wochen ihres Hierseins von ihr wissen wollte. Dann endlich war der Sonntag da, da er Gabriele in das kleine Hinterzimmer bat und ihr mit wenigen eindeutigen Worten, mit einem warmströmenden Blick die Ehe anbot.

Gabriele hatte diese Stunde kommen sehen und doch fühlte sie jetzt, wie langsam ein kaltes Wasser an ihrem Körper hochstieg und schon bis zum Mund reichte. Sie atmete kurz und aus ihren Schläfen brach beinahe Blut heraus.

Da ergriff Abraham ihre Hände und suchte, die Gelenke wie einen Rettungsring pressend, ihre Augen. Und da sie nun nicht mehr ausweichen konnte, und eine Antwort geben mußte, nicht irgend eine, sondern das gotteinfache »Ja« oder »Nein« – – da entschloß sie sich für das »Ja«. Es kam nicht aus der heiligen Tiefe des Herzens, es war im Gehirn geboren, vom Mitleid groß gemacht und hatte den Mund verlassen, ohne Odem von ihrem Odem geworden zu sein. Aber nun war es doch da und mußte verantwortet werden und hatte ein starkes Echo gefunden und das freudig aufgehellte Gesicht eines aufrechten und klar aus der Erde empor gewachsenen Menschen.

Gabriele machte sich jetzt keine Gedanken darüber, warum Abraham so schnell aus dem Zimmer geeilt war. Sie fühlte nur, daß sie allein war und dankte dem Mann, daß er solches über sich hatte bringen können in einer Gefühlshöhe, wo eigentlich alle Himmel hätten niederstürzen müssen auf ein Weib, das erwählt war, des Mannes Hörige zu sein.

Sie tat ein paar Schritte zum Fenster und sah in den kleinen Garten hinaus. Sie sah aber nicht die Blumen und auch nicht die Sonne, die glitzernde Steinchen in das Erdreich fügte. Sie ließ ihre Gedanken hinausfliegen zu Michael und mußte nun Abschied von ihm nehmen. Was konnte jetzt noch anderes sein zwischen ihren Herzen als die Mauer, die gebaut werden mußte vom Verzicht, von der Trauer zu dem, dem sie sich versprochen hatte, und von der Gesinnung, die jetzt die Gesetze der Redlichkeit von ihr verlangten.

Da alles von Gott ausgeht, so dachte sie, wird es auch aus seiner Hand gekommen sein, was diese Stunde offenbart. Er wird sicher mein Bestes wollen, und sollte es selbst zum Bösen gemacht sein, dann kann es nur eine gerechte Strafe sein, die ich tragen muß, um rein zu werden zu meiner Seligkeit.

Noch weiß ich wirklich nicht, was ich dem Mann, dem ich jetzt angehören muß, zu geben habe außer meinem Leben und der Weibespflicht, die das Leben auferlegt. Ich weiß aber, daß von Michael sich das abwenden muß, was ich für ihn bis heute aufgehoben habe. Nehme ich es heraus von ihm und pflanze es in das neu mir geschenkte Erdreich, dann liegt es trotzdem nicht an meinen Händen, ob Brennesseln daraus werden oder fruchtschwere Bäume. Alles andere muß erloschen sein und Gott wird mir helfen und weiter leuchten zu seiner Zeit und nach seinem Willen … Sie stand noch immer am Fenster, und in ihren Augen dunkelte die Last der Gedanken feucht und tropfte auf das Gesicht.

Da sprangen, von Abraham hereingeschoben, die drei Mädchen in die Stube und es war ein holder Dreiklang, der das Wort »Mutter« umfaßte und drei Paar Arme um die heftig erschütterte Frau schlang. Kindertränen der Freude mischten sich mit dem Wasser der Trauer und Güte, das aus Gabriele brach. Und Abraham hob sich empor, schmeckte Gabrieles Lippen und trug sein Glück wie eine Krone. Gabriele ließ es auch zu, daß dieser Tag auf eine besondere Art gefeiert wurde, daß Braten und Wein aus dem Ort herangeschafft wurden und daß sich das ganze Haus in eine innige Frohheit steigerte. Von den Gesellen waren nur die drei älteren da, einer von ihnen war ein vorzüglicher Spieler auf der Zither und so gab es auch, da die Gesellen dieses Glück dem Meister von Herzen gönnten, einen mit fröhlichen Liedern, Reden und Trinksprüchen angefüllten Abend.

In dem Ort, wo man sich von der stillen Gabriele, die in Zucht und Ehren sich so lange gehalten hatte, viel Gutes erzählte, wurde Abraham beneidet ob seines Glückes; aber man gönnte es ihm mit Herzensfreude schon der so lange mutterlos gewesenen Kinder wegen.

Bald wurde auch die Hochzeit gefeiert und nun schien alles vollkommen in diesem Hause. Abraham fühlte Kräfte wiederkehren, die er längst verschüttet glaubte, sein Äußeres lebte auf, seinen Sehnen war wieder jugendliche Gestrafftheit gegeben und die Augen zeigten ein klares Feuer. Überall schon sprach man von seiner zweiten Jugend, die schöner und höher gewölbt schien, als es die erste gewesen war. In diesem frohen Erhobensein gab Abraham nicht viel Obacht auf das äußere Aussehen Gabrieles. Auch den anderen, die täglich um sie waren, fiel es nicht groß auf, daß sie blasser geworden war, daß ein leichtes Grau sich in ihre Haare getupft hatte und in den Mundwinkeln zwei scharfe Striche standen. Da sie auch früher schon, bei aller Güte und Zuvorkommenheit, mit den Gesellen nur die notwendigsten Worte gewechselt hatte, bei den Mahlzeiten nie laut, sondern immer nur Fürsorge gewesen war und noch dem Geringsten am Tisch Wünsche von den Augen ablesen konnte, so spürte man nicht, daß ihr Wort seltener erscholl denn anfangs.

Nur wenn sie allein war mit den Kindern und alle die kleinen Sorgen fortküßte von den blanken Stirnen, ging sie heraus aus dem Zurückhalten den und lachte fröhlich mit den kinderfrohen Herzen. Und fast immer trat dann Abraham in das Zimmer herein und wurde warm im Anschauen und Anhören und dankte Gott tausendmal und aus tiefstem Erkennen, daß ihm diese Frau beschert war.

Sobald aber seine Stimme sich einfügte in das Geplauder der Kinder und seine Hand über Gabrieles Haar fuhr, machte sich eine Kühle frei aus dem Gesicht der Frau und beschlug den Raum. Das fror auch zu den Kindern hin, und ohne daß sie es eigentlich wußten, drängten sie sich hinaus.

Abraham wurde linkisch, fühlte sich beklommen; und wenn dann auch er ging, um auf dem Hof nach dem Rechten zu sehen, oder nach der Zeitung griff und sich schlecht dabei unterhielt, preßte Gabriele ihr Gesicht an das Fenster und beschattete ihr Denken mit Erinnerungen, die bis in die Kinderzeit zurück Blatt um Blatt im Buch des Lebens aufschlugen. Und manchesmal stockte der Atem und die Hände zitterten.

Mit solcherlei Zwischenklängen gingen ihre Tage dahin und wurden Monate und kamen bald zu der Stelle, wo sich ihr Eintritt in dieses Haus jährte.

 

III.

Michael hatte inzwischen seine Behausung so weit hergerichtet, daß die Frau, für die aller Neubau hergerichtet war, einziehen konnte. Stiller und stiller aber war er mit den Monaten geworden und mußte fühlen, daß ihm die Arbeit nicht mehr so herzhaft schmeckte, daß die Mahlzeiten, allein an dem Tisch, der für sechs Menschen groß genug war, eine Hantierung bedeuteten, die wenig Sinn hatte außer der mechanischen Sättigung, und daß alle Menschen unterschiedslos gleichgültig durch sein Leben rannen. Ein paar mal noch erkundigte er sich bei dem Prokuristen nach dem Resultat der Nachforschung. Man konnte ihm aber von Gabriele nichts anderes sagen, als daß sie aus der Welt verschollen sei.

Da nickte er nur mit einem traurigen Lächeln und berief sich auf den Traum, der ihm schon so oft ein Wiedersehen mit Gabriele gegeben hatte, fern auf irgendeiner kleinen Insel im südlichen Meer. Dieses Bild trug er in seine Tage hinüber und freute sich im Stillen daran und glaubte mit der heißesten Inbrunst des Herzens an die Erfüllung und das unendliche Umarmen.

Eines Tages aber fügte es sich, daß ein Fabrikant, für den Abraham Benninghoven die roh geschmiedeten Beile und Hämmer lieferte, Michael einen Besuch abstattete, um sich von ihm einen Rat in einer Exportsache zu holen. Und da ihn Michael in sein Privatkontor bat und einen Platz auf dem Ledersofa anbot, über welchem ein Bild Gabrielens an der Wand hing, mußte der Fabrikant das Bild ansehen und er sah es lange und prüfend an. Und dachte einen Augenblick scharf nach und fragte dann Michael, ob das wohl eine Verwandte von ihm sei. Michael nickte; nur um jede weitere Frage abzubrechen, ehe sie die Spitze bekam, die er fürchtete. Jedoch der Fabrikant gab nicht nach und meinte: »Warum hat man Sie denn nicht auf der Hochzeit gesehen?«

Da bekam Michael einen Stich durch das Herz und starrte den Mann an und schluckte, und schluckte und brachte es dann endlich stotternd heraus: »Auf welcher Hochzeit?«

Da wußte nun der Fabrikant auch nicht gleich, was er darauf antworten sollte und fragte: »Die Frau, von der dieses Bild ist, ist doch Gabriele … und jetzt Frau Benninghoven?«

Da nickte Michael wieder und in seinen Gedanken wurde etwas laut, das ihn zum Weinen stimmte. Sein Gesicht war mit eins ganz blaß geworden und tief eingefallen. Seine Pulse aber flogen und froren und seine Lippen bewegten sich ohne Worte.

Da erhob sich der Fabrikant und das gab Michael wieder etwas Kraft und Sicherheit. Er bot dem Mann eine Zigarre an und rauchte selber krampfhaft und ohne Genuß.

Nun schob der Fabrikant das begonnene Thema schnell beiseite und fing an mit Eifer das Geschäftliche zu erledigen. Aber Michael konnte nicht folgen, gab verworrene Antworten, fühlte im Unterbewußtsein, daß er nicht bei der Sache bleiben konnte, ermannte sich schließlich und führte den Fabrikanten zum Prokuristen, bat um Entschuldigung, da er Kopfschmerzen habe und vergaß sogar die Grußhand.

In der Nacht lag er lange wach im Bett und quälte sein Gehirn und erwog hunderterlei, kam zu keinen Entschlüssen und ging in den Morgen mit noch schwererer Qual hinein.

Er setzte sich den ganzen Tag unter das Bild, schüttelte immerzu den Kopf und wollte nicht begreifen, was doch tatsächlich war und geschehen im Unabänderlichen. Dachte: wenn Gabriele nur ein leises Gefühl der Liebe für mich gehabt hätte, wäre diese Heirat nicht so schnell gekommen, dann hätte sie gewartet, bis ich das Wort deutlich machen konnte und bis auch ihre Glut gefangen hätte von seiner Glut.

Es kann aber, so folgerte er weiter, auch so gewesen sein, daß sie mich geliebt hat, wie es auf Erden nichts Gleiches mehr gibt und daß gerade darum ihre Enttäuschung so groß werden mußte, weil ich, Narr, daran vorbeigegangen bin.

Immer tiefer bohrte er sich diese Stacheln in das Herz und litt unendlich dabei und kam nach langen Irrgängen doch zu dem Entschluß: Ich kann, bei Gott und seiner Gewalt über mein Herz, nicht anders, ich muß Gabriele vor Augen haben, ihre Stimme in meinen Ohren fühlen, ihre Füße auf meinen Wegen wissen und ihr Herz mir zugekehrt. Aber auch nichts anderes verlange ich von ihr, daß sie mich duldet wie einen Halm, der in ihrem Garten wächst, wie die Sonne, nach der sie aufschaut, und wie die Mondnacht, der sie ihr Allein vertraut.

Und nun machte er sich auch keine Sorge, wie er sich am besten loslösen konnte von seinem Werk, ohne es völlig aus der Hand zu verlieren; wie er es anstellen müsse, um das gleiche Dach, das sich über ihr Dasein wölbte, auch über sich zu haben; das gleiche Haus zu bewohnen, dem sie gebannt war, und welcherlei Listen anzuwenden seien, um nirgendwohin Argwohn zu erregen. Um ihretwillen nicht.

Es gab aber eine große Überraschung im Betrieb, da Michael eines Tages erklärte, daß er auf ein Jahr oder länger verreisen müsse und vielleicht noch weiter fort, nach Amerika. Er übertrug dem Prokuristen alle Vollmachten, die notwendig waren; er wußte, daß er sich auf diesen Alten in jedem Betracht verlassen konnte, er hieß ihm, in dem Haus den obersten Stock bewohnen und schloß die untere Etage ab, auf daß niemand das Heiligtum, wo Gabrieles Andenken am deutlichsten fühlbar war, betreten konnte und entweihen.

In einen kleinen Handkoffer packte er zwei blaue Werkanzüge und grobe Hemden, Schuhe und Unterzeug. Und zog sich den abgetragensten Anzug an und verließ in der Frühe eines Montags die Stadt. Er fuhr zwei Stunden mit der Bahn und ging drei Stunden, bis zu Gabrieles Haus zu Fuß.

Es war ein schmaler und steiniger Waldweg, bergauf, bergab. Wiesenhänge lagen dazwischen gestreut wie Gärten im Steinicht einer großen Stadt. Da gingen gefleckte Rinder mit Geläut einher, kein Hund und keines Menschen Auge bewachte sie. Sie waren so selbstverständlich in die Landschaft hinein gestellt wie der Fels, der Baum und die Grasbüschel. Streckenweise plauderte ein Bach mit dem hallenden Schritt des Wanderers. Das Wasser war eiskühl und silberklar. Es tat muntere Sprünge über das Gestein des Bettes, schäumte, wo größere Felsenstücke sich in den Weg quer legten und verschwand wieder hinter einer Gesteinsmauer wie vom Boden aufgesogen.

Je näher sich der Weg Gabrieles Behausung zuschob, um so langsamer wurden Michaels Schritte. Eine bleischwere Müdigkeit lähmte seine Glieder und oft warf er sich in den Graben um zu pausen.

Zuweilen polterte ein Fuhrwerk vorüber, einer jener schweren Kasten auf zwei großen Rädern. Und der knochige und ungewöhnlich große Gaul belgischen Schlages trug ein mit Messing und bunten Lederriemen verziertes Geschirr. Der Fuhrmann trabte ein paar Schritte vor dem Gefährt und pfiff sich ein altersgraues Volkslied. Alle diese Fuhrleute trugen blaue, mit farbiger Wolle bestickte Blusen und, wie ein Gildenzeichen, die hohe Ballonmütze aus schwarzer Seide. In ihrer ganzen Erscheinung waren sie ein Stück Geschichte dieses Landes, wettergebräunt, klaräugig, aufrecht und bieder.

Allmählich schob sich der Weg ins Hammertal hinunter. Der Bach war miteins wieder da, breiter jetzt und viel sanfter geworden. In der Luft lag der herbe Duft gärenden Buchenlaubes, denn der Wald stand urwalddicht zu beiden Seiten und war voller Vogelrufe und einem orgelhaften Rauschen.

Zuweilen klang ein helles Eisengeschmetter durch. Im Drei- und Vierklang. Das waren die Hammerlieder der Schmieden, die in einer Länge von fast zwei Meilen an dem Bach aufgestellt waren; immer einen Pistolenschuß weit voneinander entfernt. Aber alle gleich gebaut aus schwarzem Schiefer und mit kleinen weißen Fensteraugen darin.

Als Michael die erste Schmiede vor sich liegen hatte, machte er wieder Rast, holte tief, tief und oft Atem und sein Herz klopfte bis in die Schläfe hinauf. So tief berührte ihn das Idyll dieser althandwerklichen Welt, daß er Gottes Nähe fühlte und die Hände faltete.

»Wie seltsam,« sprach er leise vor sich hin, »daß Gabriele sich diese Stille der Welt auserwählt hat zu ihres Herzens Nachbarschaft. Hier können Menschen nur leben, die einfältiger Seele sind, fromm und der Erde in heiligem Erschauern zugewendet.«

Er strich mit feucht glänzenden Augen über die Landschaft, sog in sich von ihrer Ruhe was er nur atmen konnte und glaubte, daß er alles Staubige, Laute und Aufdringliche der Stadt erst herausdrängen müsse aus seinem Körper, ehe er dessen würdig sei, Gabriele zu begrüßen.

In dieser ersten Schmiede, der Michael nun zustrebte, erfuhr er die genaue Lage von Abraham Benninghovens Anwesen. Es war noch eine gute Stunde Wanderung bis dorthin, denn der Weg mußte mit all seinen Krümmungen erst noch fünf oder sechs andere Gehöfte vorüberlassen, ehe das Fenster da war, hinter dessen Blumentöpfen vielleicht das Gesicht Gabrieles sichtbar werden würde in dem Augenblick, da Michael davor stände.

Aber nun er wußte, wie nahe er ihr schon gekommen war, verschlug ihm diese Stunde Wanderung nichts. Froh schritt er aus und glaubte die Wolken zu überholen, die mit weißen Lichschweifen über den Baumkronen schwebten.

Endlich war die Schmiede erreicht, wo aus dem offenen Tor ein Feuer schwitzte und Abraham Benninghoven wie ein schwarzer Gott des Eisens am Fallhammer hantierte.

Michael sah mit aufgerissenen Augen hinein und seine Brust hob sich zu einem Entschluß, den er fest gefaßt hatte, als gälte es aus einem schweren Tod in neueres, froheres Leben hinauf zu schweben.

Abraham Benninghoven, dem die Arbeit schweißtriefend in den Gliedern brannte, der noch zwanzig Gesellen bedurft hätte, um die Aufträge zu bewältigen, wurde mit Michael, den er mit raschem Blick geprüft hatte auf Charakter, Art und Kraft, schnell einig. Er bat ihn, auf der Bank vor der Schmiede solange zu harren, bis Feierabend sei, was keine halbe Stunde mehr dauern würde.

Michael dankte kurz und ließ sich auf der Bank nieder. Daß ihm dieser Anfang so schnell gelungen war, wollte er nicht gleich begreifen. Eine leichte Unsicherheit stieg in ihm hoch und machte ihn schwermütig. Er sah auf das Wasser, das in zischenden Schaumstürzen von dem Schöpfrad herab in das tiefe Bett des Baches sich ergoß und wohl noch ein paar hundert Meter weiter in dieser weißen Aufregung kochte. Er dachte: so wie man diesem Element eine Gewalt angetan hat, indem man es zwang, in unwirklichen Bahnen sich zu bewegen, ein schweres Gewerk in immerwährender Fron zu treiben und den Menschen dienstbar zu sein nach ihrem Willen – also will uns das Leben aus unseren Gedanken heben und uns erniedern werden zu Puppen, mit denen es spielt wie ihm behagt und nicht uns … Aber das haben wir doch vor dem Element voraus, daß Gott uns Kräfte verliehen hat, den Kampf mit dem Tyrann Leben aufzunehmen. Nicht immer wird es Macht über uns haben dürfen; wir sind gemacht, es nach unserem Willen zu biegen. Und nun bin ich auch gekommen, mich ihm zu stellen. Bin ich auch nicht Simson … an den Mühlenstein lasse ich mich nicht zwingen mit blinden Augen. Jetzt gilt es nur: Gabriele, oder ich! Einer muß sich fügen, nachzugeben.

Er war so tief mit seinen Gedanken in sich hineingekrochen, daß er gar nicht hörte, wie plötzlich das Wasser aussetzte, das Schöpfrad zu überschäumen, damit des Falles Gewalt wie der Hammer aussetzte und auch auf den kleineren Ambossen das Werk aufhörte. Erst als die Gesellen in den steinernen Waschtrog die Oberkörper bogen und den Ruß und den Staub abspülten, merkte er, daß nun die große Stunde da war und das Erwachen in der neuen, erträumten Welt.

Schwerfällig erhob er sich, packte seinen kleinen Koffer. Und da kam auch schon der Meister Abraham und zog ihn beim Arm auf den schmalen Fußweg zum Wohnhaus. Die Sonne häufte in Buchenkronen hohe Feuergarben. Die Vögel rührten ihre Kehlen zum Abendchor und einsam von einer Bergwiese her lobte eines Hütejungen Schalmei Gott den Herrn.

 

IV.

Halbwegs vor der Tür kam Abraham die jüngste Tochter entgegen gesprungen, küßte ihn und schmiegte sich an die werkbraune Rauheit wie eine lila Anemone. Abraham blieb mit Michael stehen, hob das Kind freudeglänzend in den heiteren Abend empor, zärtelte über seine Stirn und setzte es wieder zur Erde zurück. Derweil zogen die Gesellen frohschwatzend zwei zu zweien vorüber und verschwanden im Haus.

Abraham sagte zu Michael: »Dieses hier ist eines von meinen drei Kindern. Von meiner ersten Frau noch, wollte Gott, mein jetziges Eheweib schenkte mir noch drei dazu …« Und ein leiser Seufzer zerflatterte von seinem Munde.

Michael spürte Blut auf der Zunge und mußte sich abwenden, weil er fürchtete, daß auf seinem Gesicht etwas stehen könnte, das niemand sehen durfte.

Als sie mitsammen in die Stube traten, dampfte das Essen bereits auf dem Tisch und Gabriele stand aufrecht an ihrem Platz und wartete auf den Hausherrn.

Abraham zog Michael jetzt näher heran und sagte zu Gabriele: »Hier ist ein neuer Geselle; er heißt Michael und soll hinfort an unserem Tische essen und oben in der Kammer neben der Obstdarre wohnen … So, und nun lege noch eine Schüssel auf, der Mann hat eine lange Wanderung hinter sich und er wird sicher hungriger sein als wir alle zusammen.« Michael setzte zwei, drei Schritte vorwärts in den Lampenkreis und hoffte, daß Gabriele ihn nun begrüßen würde mit irgendeinem freudigen Erschauern. Aber sie sah ihn jetzt erst deutlich und erkannte ihn sogleich. Und so, als wäre eine Gesteinswand über ihren Kopf zusammengestürzt – stockte ihr Blut, wich aus dem Gesicht und weitete die Augen in einem unbändigen Schreck.

Kein anderer mehr als Michael hatte diesen jähen Wechsel des Aussehens gemerkt, und da blieb auch ihm das Wort ungesagt in der Kehle stecken, das er eigentlich hätte laut lassen werden wollen zu ihrer Begrüßung, zu einem Aufjubeln des Herzens und einer sanften Musik der Hoffnung. Er kam sich vor wie ein Einbrecher in einem Totengewölbe, dem sich plötzlich die erwachenden Toten entgegenwarfen mit verdeckten Gesichtern, auf daß man den Glanz des Jenseits, der darauf glänze, nicht mit irdischen Augen schände. Und unwillkürlich schloß auch er seine Augen ein paar Sekunden und fühlte durch seine Ohren den Ton ungeheurer Meereswogen sausen.

Da zog ihn von hinten ein Geselle am Rock und nötigte ihn auf den freien Platz der Bank am untersten Ende des Tisches.

Auch Gabriele stand eine Weile besinnungslos, ehe sie sich rühren konnte, um die Schüssel für Michael zu holen. Mit eingedrückten Knien ging sie sodann in die Küche und blieb dort länger als es eigentlich nötig war, so daß der Meister schon ungeduldig aufsah und verwundert den Kopf schüttelte.

Endlich kam sie zurück, stellte die Schüssel jedoch nicht auf Michaels Platz, sondern reichte sie dem Gesellen, der ihr am nächsten saß und ließ das Geschirr durch die lange Kette der Anderen gehen, ehe es in Michaels Hände kam. Nun erst sprach Abraham mit tiefer Inbrunst und froher Gläubigkeit das Tischgebet und segnete die Mahlzeit, schöpfte seiner Frau auf, den Kindern, und ließ die Schüsseln der Gesellen nacheinander zu sich heraufreichen.

Michael brauchte, obwohl ihn der Hunger zu schneller Sättigung antrieb, fast eine Minute, ehe er von der Speise kostete. Und dann aß er ohne Geschmack und seine Bewegungen waren ganz mechanisch. Er wagte nicht aufzusehen, denn er dachte: wenn ich jetzt in aller Ruhe meinen Blick in ihre Augen hinein bewege, wird das ausbrennen, was hier nicht gezeigt werden darf vor all den andern. Frauen sind schwächer im Verbergen wie Männer. Und ich möchte nicht, daß sie die erste ist, die das Wort ausspricht, aus welchem unsere Vergangenheit sichtbar wird.

Gabriele aber rührte keinen Bissen an und da es Abraham auffiel, und er sie mit Fragen bedrängte, ob es ihr heute nicht schmecke, da wußte sie nichts anderes zu sagen als dieses: es sei ihr aus dem Magen plötzlich eine Bitterkeit hochgekommen und läge schwer auf der Zunge. Aber es würde wohl gleich vorüber sein. Es ging aber nicht vorüber und sie trug ihre volle Schüssel mit den leeren der Andern in die Küche.

Die Gesellen setzten sich nun etwas behäbiger an den Tisch, Abraham ließ sich von der ältesten Tochter die Zeitung bringen und las daraus vor. Und dann wurde diskutiert und schließlich kamen mit den Tabakspfeifen auch die Karten zu ihrem Recht. Für Abraham war es jedoch an der Zeit, daß er sich in die hintere Stube begab, wo er mit Gabriele und den Kindern ein Stündchen allein war.

Michael saß abseits vom Tisch, und da ihn auch niemand einlud, am Spiel teilzunehmen, starrte er vor sich hin und spürte, daß sein Blut wie über Eisblöcke tropfte. Er grübelte: wie anders hat diese Stunde doch begonnen, als ich sie mir geträumt habe. Man könnte fast glauben, Gabriele hat mich nicht genau erkannt, hält mich vielleicht für den Irrwahn meiner selbst, für einen Menschen, der mir gleicht und der nun meinen Schatten durch dieses Haus trägt, der nie so lebendig werden kann, daß er Gewesenes zurückführt in die Wahrheit. Aber die Gelegenheit wird ja kommen müssen, da ich ihrem Herzen aufgehen werde als der, der ich wirklich bin. Und dann wird auch das Erschrecken nicht mehr sein, nicht die Bitterkeit und nicht die Furcht mehr.

Mit solchen Gedanken ließ er sich dann von Abraham in die Kammer hinaufführen, wo er fortan des Nachts ruhen sollte, von des Tages Mühe, so lange es ihm hier mit der Arbeit behagen würde. Der Meister schied mit Handschlag von ihm. Und Michael fühlte noch eine ganze Weile den treuherzigen Druck und hielt ihn wie etwas, was man heilig anvertraut bekommt, um es nicht zu schänden.

Als Gabriele sich zu Bett begab und Abraham zu ihr kam, da fragte sie ihn mit einem werkwürdig harten Klang in der Stimme: »Warum hast Du diesen Mann hergerufen in unser Haus?«

Abraham wußte im Moment nicht, was er darauf antworten sollte; denn noch nie hatte sich Gabriele um Kommen oder Gehen der Gesellen gekümmert. Und schließlich murrte er: »Gerufen habe ich ihn gerade nicht; denn Du weißt, daß Leute, die einmal in der Stadt gearbeitet haben, nicht gern in unsere Einsamkeit kommen. Es fügte sich aber, daß er bei mir um Arbeit anfragte. Und ich habe doch so viel zu tun, um noch ein halbes Dutzend Gesellen zu beschäftigen.«

Gabriele tat einen tiefen Seufzer.

Da fragte Abraham verletzt: »Gefällt Dir denn dieser Mensch nicht? Ich glaube, daß ich mir keinen Vagabunden ins Haus genommen habe. Meine Augen haben mich noch nie betrogen.«

Gabriele seufzte abermals und sagte dann nichts mehr.

Und Abraham gab sich auch zufrieden und schlief bald ein. Gabriele aber wachte noch lange und peinigte sich mit schweren Gedanken. In der Frühe stand sie mit zitternden Gliedern am Herd und schnitt jedem Mann das Frühstück, das er mit in die Schmiede nahm. Sie zählte die Brote ab und es fehlte ihr Michaels Teil. Sie schnitt es mit tiefer Beklommenheit und sann nach: was soll nun mit mir geschehen … welche Prüfungen werden mir auferlegt werden und zu wessen Händen muß ich sie bestehen?

Nun kamen die Gesellen nacheinander in die Küche und empfingen aus ihrer Hand das Brot. Und da jeder in sein Dankwort immer einen eigenen Ton hinein legte, so daß sie schon daran des einzelnen Gemüt und Charakter erkannte, horchte sie im Voraus schon beklommen auf das Wort, das von Michael kommen würde, und das sie kannte wie ihr eigen Wort, wie ihr Haar und wie ihrer Glieder Bewegung. Michael trat zuletzt ein, mit scheuen Augen, aber verhaltener Sicherheit. Er wünschte ihr einen guten Morgen. Aber sie bog den Kopf nicht herum und gab auch keine Erwiderung. So, wie man einem Bettler beklommen eine Gabe hinschiebt, langte sie Michael das Brot hin. Und da er es hastig nahm und dabei mit den Fingerspitzen ihre Hand berührte, zuckte sie zurück und warf den Körper gewaltsam zum Herd herum.

Michael verspürte ein Brennen auf der Stirn wie von einem Peitschenschlag, preßte die Nägel in die Hände und ging an die Arbeit.

Abraham stellte ihn an den großen Schlaghammer zu dem ältesten Gesellen, damit er sich in die Besonderheit des Werkes unter guter Anleitung gewöhne. Er brauchte aber nicht viel Unterweisungen. Er tat seine Arbeit so sicher und geschickt, als hätte er schon ein Jahrzehnt lang an dieser Arbeitsstelle gestanden. Das freute Abraham, der zuweilen scharf prüfend herüber sah. Und er dachte: an diesem Mann ist wirklich nichts, was ich tadeln müßte. Seine Hände gehen stark und sicher. Aber auch sein Gesicht liegt mir offen und ich sehe keinen trüben Fleck darin … seltsam, daß mein Weib ihn mit solchem Mißtrauen empfangen hat … vielleicht hat sie von den Männern aus der Stadt überhaupt eine schlechte Meinung. Ihre Gründe wird sie schon haben … aber hier, bei diesem, glaube ich, sieht sie schwarz und in ein Unwirkliches hinein. Ich werde es nicht dulden, wenn sie es ihm entgelten lassen sollte, daß sie ihn nicht leiden mag …

Michael plagte sich redlich ab, gab seine Kräfte hin und schaffte, daß sich selbst die anderen Gesellen über diesen heißen Eifer verwunderten. Aber er tat diese schwere Arbeit ohne Kopf, nur mit den Muskeln und Sehnen. Seine Gedanken lagen im Wohnhaus auf der Schwelle und bettelten Gabriele um Gnade. Den ganzen Tag war ein verhaltenes Freuen auf den Abend in seinem Blut. Da tönte es: ich bin schon glücklich, wenn ich ihr Gesicht nur ansehen darf, und den Atem ihrer Nähe spüre. Denn es gibt keinen anderen Zweck mehr für mein Leben, als zu wissen, daß sie noch da ist. Und wenn sie mit der Zeit sich soweit gesammelt haben wird, ein Wort an mich zu richten, oder ihre Augen mir hinzugeben, dann will ich solches Glück laut preisen und mich zufrieden geben mit dem Los, das ich mir auferlegt habe.

Aber auch an diesem Abend bekam Michael kein Wort von Gabriele und ihr Gesicht blieb ihm verschlossen wie ein Eisberg. Es tat ihm weh, wenn sie den anderen Gesellen liebe Worte sagte, wenn sie Abraham einen sanft lächelnden Mund zeigte und im hinteren Zimmer nach dem Essen fröhlich war mit den Kindern.

Das war nun schon zwei Wochen so gegangen. Michael existierte einfach für Gabriele nicht. Er war ihr weniger noch, als der Schatten der Lampe, oder der Staub auf einem Möbelstück. Und eines Tages, als Abraham sich in lobenden Worten über Michael erging, sich glücklich pries, ihn für den Betrieb gewonnen zu haben, unterbrach ihn Gabriele nicht, sondern ließ ihn ruhig aussprechen. Aber als er geendet hatte, und schon an etwas anderes dachte, da legte sie ihre Hände auf seine Schulter, sah ihm tief in das Gesicht hinein und sagte mit todernstem Ton in der Stimme: »Du hast mir bitter weh getan, Abraham, daß Du diesen Menschen ohne mein Wissen aufnahmst in unsere Hausgemeinschaft!«

Abraham sah sie mit prüfender Miene an, denn er konnte nicht im geringsten verstehen, was sie wohl antrieb, gegen Michael sich so zu ereifern. Eine Falte Unmut legte sich um seinen Mund und er erwiderte ganz hart: »Was hast Du eigentlich gegen diesen Mann? Ich habe die Einstellung ehrlich mit ihm abgemacht, er tut seine Arbeit mit Fleiß und so sauber wie keiner, er hat mein Wort. Und damit basta!«

Gabriele hielt auch seinen ärgerlichen Blick aus und flüsterte nur: »Ich habe das Gefühl, daß von nun an ein Schatten sich zwischen uns stellen wird, wir haben das Beide nicht verdient.«

Abraham bewegte die Schultern, knurrte: »Weiberlaunen!« Man darf dunklen Ahnungen nicht immer nachgeben … »Bin ich nicht Manns genug etwas zu verhüten, was uns schaden möchte? Ich kann diesen Menschen nicht ohne Grund auf die Landstraße zurückstoßen. Das wäre keine Christentat. Er gibt mir für den mageren Lohn, den ich ihm zahlen kann, seine gute Arbeit. Er säuft nicht, er führt keine gottlosen Reden. Er ist kein Hetzer, kein Geck, auch kein Duckmäuser. Er ist ein aufrechter Mensch; einer dem ich auch ohne Bedenken meine Tochter geben würde …

Alles andere ist nicht meine Sache; aber auch nicht Deine, Frau!«

Da sah Gabriele ein, daß jede Widerrede die Sache nur verschlimmern könne und womöglich einen Zank heraufbeschwören. Das wollte sie um nichts in der Welt. Nein, nein: nur keinen Zank.

Sie ging frühzeitig in die Schlafkammer und überlegte in langem, schmerzlichem Wachen, was sie tun müsse, um ein Böses von diesem Haus abzuwenden … Vielleicht wird Michael das Haus wieder verlassen, wenn er erst eingesehen hat, daß alles zwischen uns Gewesene ausgelöscht sein muß, daß jeder Blick, den er jetzt noch von mir will, und jedes Wort, das er mir abzwingen möchte, Raub ist an fremdem Gut. Und ist solcherlei Wahrheit nicht mächtig in ihm und giert, was ich noch immer nicht glauben kann von ihm, böse Lust in seinem Blut – dann muß ich mit Strafen und Härte über mich wachen und, wenn es sein muß, vor ihm dieses Haus verlassen. Ins Wasser, oder sonstwie in den Tod gehen, wo ich Ruhe haben werde und Gott mir das Unrecht, das ich damit meinem Mann tue, gewißlich verzeihen wird um der Treue und Wahrheit willen …

Am nächsten Morgen kam sie, mit festen Entschlüssen beladen in die Küche und schnitt das Frühstücksbrot und teilte jedem das Gerechtsame ab. Und als die Gesellen langsam von den Schlafkammern herunter kamen und ihr Brot in Empfang nehmen wollten, rief Gabriele das älteste Mädchen herein und wies es an, den Gesellen die Portionen hinzureichen. Es war das erste Mal, daß sie solches tat und sie hielt es von nun an jeden Morgen so. Den Gesellen fiel das gewißlich auf, aber sie dachten: unsere gute Hausmutter wird sich langsam befreien wollen von den schweren Lasten des Hauses und die Tochter daran gewöhnen, daß auch für sie die Zeit da ist, die Hände zu rühren.

Eines Sonntags morgens hörte Gabriele, wie zwei Gesellen unter sich besprachen, welches wohl die Gründe sein mochten, die die Hausfrau also bewegten, Michael härter zu behandeln wie ein böses Vieh, wie einen Gegenstand, der tot im Raum steht und keine Bedeutung hat für das lebendige und heitere Leben. Und der eine sagte: »Sie wird ihn darum vielleicht verachten, weil er aus der Stadt ist; denn die Städter haben alle eine böse Vergangenheit im Herzen und machen sich lustig über uns Toren, die wir ein Leben lang auf den Dörfern verbringen, als wären die Dörfer weniger hochgebaut und ansehnlich vor den Augen der Welt …«

»Dummes Zeug«, antwortete der andere, »sie ist ja selbst aus der großen Stadt zu uns herunter gekommen. Darum kann das, was Du meinst, nicht richtig sein … meiner Meinung nach hat die Frau auf ihren Mann eine stille Wut, weil er sie nicht um ihre Meinung gefragt hatte, ehe er den Michael aufnahm in Arbeit und Kost und Wohnung. Denn jetzt, da sie doch seine richtige Frau ist und teil hat an allem Besitz, fühlt sie sich auch als Mitherrin im Haus und im Gewerk und will in allem befragt sein, was sich hier fügt und begibt … Mir tut Michael leid, daß er solche Behandlung erfahren muß, denn es ist doch keine Schuld in ihm. Und nichts Schlechtes habe ich entdecken können an seinen Worten und Werken … Nein, es ist nicht christlich, was unsere Hausfrau tut … man gibt doch einem Hund, und wenn er auch noch so garstig ist, manchmal gute Worte …«

»Gewiß …, das ist nicht christlich gehandelt, wiederholte der erste …

Gabriele preßte sich die Schläfen mit den Händen und fühlte die Anklagen, die sie als gerecht und verdient empfand, wie glühende Nadeln durch ihr Blut zischen. Und sie flüsterte vor sich hin: wer kann uns also helfen, daß es anders zwischen uns sein kann … Wir vermögen es gewiß nicht … Wir nicht. Denn beide sind wir schuldig und müssen die Stacheln uns gegenseitig ins Fleisch jagen. Und müssen es tragen mit Geduld und auch ohne Zucken, bis das Schicksal erfüllt ist, das über uns ausgesetzt worden ist.

An diesem Abend geschah es, daß Gabriele mit Michael eine Weile allein in der Stube saß nach dem Abendessen. Sie saß am oberen Ende des Tisches und las in der Zeitung. Und Michael zeichnete auf einem Papier die Form eines neuen Zuschläger-Hammers, von dem er sich eine größere Schlagkraft versprach.

Es war ganz still in der Stube, nur die Lampe surrte leise und die große Standuhr mit dem schweren Messinggewicht machte gemächlich ihr lautes Tick-Tack. Das gehörte eigentlich mit zu der Stille. Die Uhr war ein altes Erbstück der Benninghovens. Und sie hatte manches Menschenalter hindurch diesem wurzelgesunden Geschlecht die Zeit zugemessen, einem jeden bis in ein hohes Alter hinauf.

Ab und zu sah Michael auf von der Zeichnung und zu Gabriele hinüber. Sie tat nur so, wie wenn sie las. Ihre Gedanken zerlegten andere Dinge und zogen Falten an- und abschwellend auf ihre blasse Stirn. Sie dachte: wenn doch nur jemand eintreten würde, denn ich fürchte, daß sich Michael nicht gerade halten kann und ein Wort laut werden läßt, das unruhig in seinem Herzen hackt und hackt … und das wird dann das Gerichtsurteil sein. Und meine ewige Schande …

Und Michael hob seine Augen auch von der Zeichnung auf und plagte sich schwer damit, eine Anrede zu formen, die einen guten Anfang machen könnte und die Stille, die dunkler als das dunkelste Grab war, zerspalten würde mit einer innigen Zartheit. Er quälte und quälte sich. Aber seine Zunge blieb trocken und lag bewegungslos vor den Zähnen. Da dachte er: vielleicht ist alle meine Qual doch nur ein unnützes Opfer. Vielleicht hat Gabriele nie eine gute Meinung von mir gehabt und fürchtet mich jetzt, weil sie glaubt: ich könnte es hier im Hause vor allen ausbreiten, daß sie einst Dienerin in meinem Hause war. Aber wie dem auch sei: sie wird mich nicht austreiben können von hier wie einen räudigen Hund. Ich kann von hier nicht fortgehen, ehe ich mich nicht ausgesprochen habe mit ihr. Denn was kann das Leben mir noch besseres bringen als die Gewißheit: ihr gesagt zu haben, daß sie mir von jeher näher gestanden hat, als ich mir selber …

Und da bewegte sich seine Zunge und das Wort fing an, laut zu werden … In diesem Augenblick aber trat Abraham herein, und Gabriele warf sich mit unbändiger Wucht an seine Brust. Ihr Körper flog wie in einem Fieber und auf ihrer Stirn lag ein kalter Schweiß.

Abraham sah zu Michael herüber, der jetzt ruhig seine Striche auf das Zeichenblatt setzte, und das Wort, das Gabriele hätte schmecken sollen, tief hinunter schluckte und daran würgte.

Und da Abraham nichts Besonderes an seinem Gesellen entdeckte, konnte er sich diesen jähen Aufruhr in Gabrieles Herz nicht erklären. Denn, wenn ihr von Michael etwas Böses widerfahren wäre, hätte sie es ihm doch gesagt und seine Rache aufgerufen wider den Übeltäter. Es wird also nichts anderes sein, so folgerte er, als daß sie mich in Sehnsucht erwartet hat, um mir wieder eine süße Liebe Auge in Auge zuzuflüstern.

Da umschlang er sie und ging mit ihr aus der Stube in das kleine Hinterzimmer, wo sie schon so manchen Abend die letzten Zartheiten des ehelichen Lebens erfahren hatten. Sie sprachen kein Wort miteinander, aber verborgen in ihrem Schweigen lag ein starkes Rufen und in dem Taumel, der diesen Abend ihre Körper gegeneinander warf, war ein eisiger Schatten gemengt, den Gabriele mit Schaudern fühlte.

Sie hob sich von Abrahams Seite, dem die Schwäche die Augen geschlossen hatte, und begann vor dem Spiegel ihr Haar zu ordnen …

Was man doch für eine Last mit dem Haar hatte! Sie versuchte es von Neuem, zu ordnen, aber es gelang nicht. Und sie zog Haarnadel auf Haarnadel heraus, bis es ihr dunkel und voll über den Nacken fiel. Eigentlich nahm sie sich schön aus in dem wallenden Haar. Und sie warf den Kopf in den Nacken, daß es sie in seiner ganzen Fülle umwogte. Schön war es, das Haar. Und im Spiegel bemerkte sie, daß ein warmer Glanz in ihren Augen lag …

Wovon? Wovon? grübelte sie.

Und da wandte sie sich ab vom Spiegel, setzte sich in den hohen Lehnstuhl und sah in die Landschaft hinaus, sah nach den hochgeschichteten Waldbergen, die im silbrigen Dunst des Mondes lagen … Dort oben war eigentlich das Haus, nach dem sie sich sehnte; der Altar, vor dem sie niederknien wollte ein langes Leben lang.

Bis spät in die Vornacht, bis der Mond unterging und es über den Bergen ganz schwarz wurde, blieb sie im Lehnstuhl vor dem Fenster sitzen und starrte hinaus.

Plötzlich zog ein Schatten da draußen auf dem Fußweg vorüber und sie erkannte das Gesicht, das sich voll und aufrecht zum Fenster hindehnte. Und es war Michaels Gesicht.

Da erhob sie sich und fühlte ein Hagelwetter über sich hinwehen, raffte das Haar zusammen und weckte Abraham. Schwer hing sie sich in des Verschlafenen Arm und wankte mit ihm in die Stube zurück und verlangte von ihm, daß er ihr ein Stück aus dem Evangelium des Johannes vorlese.

 

V.

Nun war Michael schon sechs Monate im Hause und Abraham schätzte ihn wie keinen mehr von seinen Gesellen. Er war ein findiger Kopf, der klügste im ganzen Bezirk und hatte mancherlei Verbesserungen an den Arbeitsgeräten und an der Schmiedemethode einführen dürfen. Abraham aber hatte einen leisen Kummer, daß er diesem braven Menschen die Arbeit nicht besser lohnen konnte, nicht mit einem gütigen Zutrauen der Hausfrau, mit einer engeren Gemeinschaft in des Hauses Frieden. Schon oft hatte er versucht, Gabriele umzustimmen. Aber immer hatte sie es ihm versagt mit einem harten und drohenden »Nein!« Da gab er es auf und nahm Michael dafür mit zum Vereinsabend der Hammerschmiede und bezahlte ihm das Bier und die Zigarren.

An einem regnerischen Herbstabend aber geschah folgendes: Gabriele ging, da die Kinder im Ort waren um Kolonialwaren einzukaufen, zum Stauwehr, um Wasser zu schöpfen für die Wäsche. Das Brunnenwasser im Hause war zu hart dazu und löste die Seife nicht zu jenem fetten Schaum, der den Schmutz aus dem Gewebe saugt. Wie sie sich nun mit dem Eimer herabbog, glitt sie ab von der naßkalten Brückenbohle und schoß kopfüber in den tiefen See der Sperre. Sie tat einen unheimlich wehen Schrei im Fallen, der durch das Tal ein tausendstimmiges Echo donnerte und vor der Schmiede auseinanderbarst.

Michael durchfuhr es wie ein gewaltiger Blitz und er wußte sofort wessen Stimme da aufgebrochen war in wilder Todesnot. Wie ein angeschossener Hirsch sprang er hoch und tat meterweite Sprünge und hörte ein Gurgeln im Wasser und fand bald die Stelle, wo Gabriele, mit dem Tode schon bewußtlos kämpfend, in dem eisigen Wasser trieb. Allsogleich sprang er hinein und packte die Frau und schwamm mit ihr an den Steg heran, wo die anderen Gestalten hilfsbereit standen und der Meister herzzerbrechend jammerte.

Abraham, der Michael den starren Körper seines Weibes abnehmen wollte, bekam ihn nicht frei. Michael trug ihn auf starkem Arm wie ein Stück von sich selber in das Haus hinein und legte ihn auf das Ledersofa. Er holte tief Atem und bemühte sich allsogleich mit künstlichen Atmungsbewegungen um Gabrieles Erwachen. Sie hielt die Augen aber lange geschlossen und es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Brust sich hob und das Wasser aus den Lungen herausbrach.

Inzwischen war der Sanitätsrat aus der Stadt schon herbeigeeilt, gab seine Verordnungen und meinte, daß keine Lebensgefahr mehr vorhanden sei. Aber ins Bett müsse die Frau nun und immer warmgehalten werden.

Michael stand noch immer an Gabrieles Seite. Er mußte es aber geschehen lassen, daß Abraham die Frau aufhob und in das Schlafzimmer trug. Er selber war jetzt miteins ganz schwach geworden und taumelte und brach nach einigen Sekunden zusammen. Nun trug man auch ihn in die Kammer hinauf und rief den Arzt nach oben und empfing die Verordnungen, die er für den Bewußtlosen befahl. Jeden Vormittag kam der Arzt und sah nach den beiden Kranken und meinte nun endlich: daß es doch hier wohl um Leben und Tod ginge.

Abraham war über Nacht grau geworden. Daß Gabriele sich von diesem Lager nicht mehr erheben sollte, wollte ihm um nichts in den Sinn. Gewiß: Sie lag nun schon auf den neunten Tag im Fieber und schrie durch das Haus ein herzerschütterndes Weinen. Einmal, als er über drei Stunden hintereinander an ihrem Bett gesessen hatte, bewegte sie plötzlich die Augen zu ihm herauf und bewegte den Mund zum Sprechen. Er sah es aber ihren Augen an, daß sie noch nicht ganz bei Sinnen war und strich nun mit der Hand über ihre Stirn. Und ohne es eigentlich zu wollen, flüsterte er: »Erkennst Du mich, liebe Gabriele?«

»Abraham!« hauchte sie und versuchte seine Hand zu fassen. Konnte es aber nicht, und schloß die Augen, wie wenn sie wieder schlafen wollte.

»Abraham!« kam es wieder von ihren Lippen.

»Ja!« er beugte sich tief zu ihr nieder.

»Es ist zu schwer für Dich, Abraham!«

Sie drehte sich auf die andere Seite, der Wand zu.

Abraham vermochte nicht zu antworten. Sein Mund zitterte vor Weinen … Wie gut es doch war, daß sie an ihn dachte. Und er streichelte ihre kalkweiße Hand. Sie war ja so lieb.

Am anderen Mittag saß er wieder am Lager und wartete: ob sie ihn abermals rufen würde. Über ihrem Schlaf aber lag eine dichte Wolke. Das Gesicht schien einem frohen Geschehnis zuzulächeln. Die Stirn dunkelte fieberfrei. Auch der Mund hatte nicht mehr das böse Zucken. Da trat der Arzt ein und untersuchte Gabriele vorsichtig und zeigte ein frohes Nicken dabei.

Als er Abrahams fragende Augen auf sich gerichtet sah, klopfte er dem armen Teufel auf die Schulter und sagte: »Gott sei gedankt, lieber Mann. Mit der lieben Frau wird es bald wieder gut werden. Das Schlimmste ist wirklich überstanden … Aber da oben mit dem Mann … was aus dem wird, daß weiß man noch nicht so recht … Schwere Lungenentzündung … Hohes Fieber. Schade um den Kerl. Scheint wohl niemand auf der Welt zu haben, der für ihn betet. Gebete helfen mehr als unser armseliges Können.«

Abraham sah, als der Arzt mit freudigem Nicken nach dem Lager hin das Zimmer verlassen hatte, sein Weib lange an und faltete inbrünstig die Hände.

Und langsam verließ er das Zimmer und ging auf den Boden um nach Michael zu sehen.

Die Kammer dampfte wie eine Waschküche von den Fieberdünsten, die von dem Lager des Kranken hochstiegen.

Abraham schickte die alte Frau, die er als Wache aus dem Dorf besorgt hatte, nach unten und setzte sich an dieses Bett wie an das Lager eines geliebten Bruders. Er nahm die glutheiße Hand, die um sich schlug und hielt sie fest, und legte den Dank seines Herzens hinein. Er flüsterte dabei: »Siehst Du, mein Bruder, Gottes Wege führen in wunderlichen Windungen durch das Leben hin. Gott hat Dir jemand in die Gewalt gegeben, der Dir ein Feind war, solange Du dieses Haus bewohnt hast … Du hättest ihn preisgeben können der Rache … aber Dein Herz wußte nur das Gute und hat gesegnet, wo es Böses erfuhr und hat das Leben gern hingeben wollen für den, der Dir Schlechtes antun wollte. Sei bedankt darum. Wie gern möchte ich mein eigenes Leben hingeben, Deines zu erhalten, damit Du hintreten kannst vor die Frau, die Unrecht an Dir getan hat und doch nur Güte von Dir erfuhr. Damit Du ihr in die Augen sehen kannst und ihr die Verzeihung geben, um die sie Dich bitten wird, so wahr mir Gott helfe …«

Michael aber brüllte im Fieber wie ein Stier, der das Schächtmesser an der Kehle fühlt und warf den armen Körper im Bett herum, daß die Fugen breit auseinanderklafften. All sein Schreien wuchs gleichsam aus einer schrecklich großen Nacht hervor. Überall war grauenhafte Finsternis um ihn und kein guter Stern blinkte herein, kein Stern.

Einmal hörte Abraham ganz deutlich den Namen »Gabriele« aus der Wirrnis der durcheinander gewirbelten Worte heraus. Und da sagte er, ganz laut und dicht über den Kranken gebeugt: »Alles was sie Dir an Leid zugefügt hat, mein Bruder, wird sie Dir abbitten. Das gelobe ich! Das gelobe ich Dir!«

Und er verstand, daß dieser Mensch schwer in Qual des Körpers und der Seele lebte und konnte ihm doch nicht helfen. An seinem Kampf mit dunklen Gewalten führte kein menschlicher Weg vorüber. Nicht mit einem einzigen Wort des Trostes konnte er sich bei ihm einbetteln.

Die Nacht und das Grauen –: sie beherrschten Himmel, Erde und Menschen. Und die Ewigkeit.

Und Gott stand über allem. Und bei ihm lag der Würfel, welcher Tod und Leben aufzeigt.

Nach drei Wochen war Gabriele wieder soweit hergestellt, daß sie für einige Stunden am Tage das Bett verlassen konnte. Es war gut, daß sie die Töchter an die Arbeit des Hauses gewöhnt hatte. Denn es hätten jetzt eigentlich doppelt soviel Frauen da sein müssen, um die Kranken und Gesunden mit gleicher Fürsorge zu pflegen. So aber bewegte sich alle Arbeit auf das Wohlergehn der Kranken.

Abraham und die Gesellen entbehrten gern manche Bequemlichkeit, die sie früher wie von selber empfangen hatten und jetzt darauf verzichten mußten.

Während die Gesellen ihrem Kameraden Michael am innigsten zugetan waren, denn seine Aufopferung war in ihren Augen etwas Unerhörtes, und vielleicht nur gerade darum, weil er das Opfer jemandem gebracht hatte, der ihm von Anbeginn ein ungerechter Feind war, ließen sie es dennoch nicht an Aufmerksamkeiten für die Meisterin fehlen. Ihre heimliche Sorge war nur: wie wird sich Gabriele nun benehmen, wenn Michael wieder frisch und munter durch das Haus schreitet?

Sie führten lange Gespräche darüber und ihre Meinungen kamen nicht immer zusammen. Die jüngeren meinten: Gabriele wird ihm kaum Dank sagen und womöglich noch schlechter behandeln als bisher. Michael sei doch nun einmal ihr Feind und so etwas löscht nicht einmal der Tod aus.

Der Altgeselle aber warf ein: »Wenn die Meisterin Michael hinfort nicht so hält, wie sie uns alle bisher gehalten hat, dann kündige ich Abraham die Arbeit auf. In einem Hause, wo solche Unchristlichkeit geduldet wird, da bleibe ich nicht. Und wenn die Stunde da ist, daß Michael wieder bei Sinnen ist, dann werde ich mit Abraham schon ein ernstes Wort zu reden wissen. Michaels Sache ist hinfort meine Sache. Und wer nicht mit mir so denken kann, der ist mein Freund nicht länger!«

»Wir denken genau so wie Du!« antworteten die anderen.

Abraham war tief besorgt um Gabriele und er litt es nicht, daß sie länger aufblieb als die wenigen Stunden, die der Arzt gestattet hatte. Er wartete aber mit Ungeduld auf den Tag, da er ihr sagen durfte: weißt Du auch, mein Weib, wem Du dieses neue Leben verdankst?

Noch war ja nicht die Zeit dazu? Gabrieles Herz war noch zu schwach für solche Feuerprobe. Denn ein Schrei würde doch durch ihre Seele gehen, wenn sie erführe, wer ihr Retter sei.

Und sie selber: ob sie solches ahnte?

In ihrem Herzen klopfte eine leise Ahnung, daß Michael ihr Erretter aus tiefster Todesnot war. Aber diesen Gedanken scheuchte sie mit einer schmerzhaften Heftigkeit von sich fort. Es durfte einfach nicht sein, daß Michael diese Gewalt über ihr Leben von nun an gegeben sein sollte. Noch der fremdeste Zufall wäre ihr lieber gewesen. Und wenn sie sich zum Dank dem leibhaftig Bösen in die Arme hätte werfen müssen – es wäre ihr leichter gefallen als vor Michael hinzutreten mit der Zerknirschung: ich danke Dir!

Nein: nur diesen Triumph nicht einem Menschen, der ausgelöscht sein mußte aus ihrem Leben.

Sie vermied es geflissentlich, sich vor den Gesellen zu zeigen. Wenn die Kinder ein Gespräch davon anfingen, warf sie sich dazwischen und gab den Dingen eine andere Wendung.

Sie floh aber doch in einen festgeschlossenen Kreis. Umfang und Ausgang dieser Flucht blieb das Gesicht Michaels mit den tief fragenden Augen: hast Du mich lieb, Gabriele?

Hast Du mich lieb? –: Warum schallte das jetzt manchmal wie ein Donner durch ihre Ohren?

Warum stand nicht Abraham vor ihr und tat den Mund auf zu solcher Liebkosung?!

Die Sonne umgoldete mit heiterer Wärme den Nachmittag, da sie allein in der Stube am Fenster saß und den Wald vor sich hatte, der entblättert war und ein schwarzes Gitter vor den Himmel baute. Eine grenzenlose Verlassenheit lag in den Wipfeln. Sie waren tief in sich selber verkrochen und behorchten die Rillen ihrer Seele. Das klopfende Echo der Urmutter Erde war nicht mehr darin. Die Leere geisterte mit schreckhaften Seufzern.

Gabriele empfand plötzlich ein Frieren von den Füßen bis zu den Schläfen hinauf, da sie sich so tief in den Zerfall des Waldes geschmiegt hatte. Sie fand Ausklänge ihres eigenen Lebens darin. Alles Grün war ausgelöscht in ihr. Abrahams Liebe war ja doch nur eine milde Herbstsonne. In seiner Wärme gedieh weder Blüte noch Frucht. Nur träumen … unendlich lange träumen konnte man darin. In den weiten, weißen Tod konnte man hinüberträumen …

Warum hat Gott solches nicht zugelassen?

Warum noch einmal die Auferweckung zu einem stürmischen Leben!? Denn anders könnte das doch nicht sein, wenn Michael plötzlich erschien und sein Recht begehrte, als ein stürmischer Hinaufschwung zu den wirklichen Sternen der Erde.

Sie hatte mit eins das Gefühl: wie wenn sein Gesicht sich über den schwarzen Waldfetzen erhöbe. Ein drohend verlangender Mund geisterte zwischen Himmel und Erde. Mit einem Ruck drehte sie den Sessel vom Fenster fort und sah sich verloren in dem Zimmer um. Ein anzüglich mitwissendes Schweigen war um sie her. Herbstalt roch die Luft. Der Ofen warf einen schwarzen Kreuzschatten. Nichts war für ihre Augen zu sprechen. Die Möbel waren noch nicht zurückgekehrt in sich. Die Wände blickten zu Boden und überm Sofa das Bild Abrahams sah an ihr vorbei. Bloß die Uhr ging muttergütig, taktfest über ihr Suchen hinweg, duldsam weg zu anderen Gesichtern und Gesprächen.

Das hielt sie nicht mehr aus. Jetzt mußte sie Gewißheit haben. Das, was sie eigentlich haarscharf wußte, aus Abrahams Mund zu erfahren. Und wenn dann der Name »Michael« von seinen Lippen aufsteigt, dann ist den Gedanken der große Entschluß gegeben. Dann muß dieser Quälgeist aus dem Haus. Heute noch. Er … oder ich!

Sie erwog auch dieses: ob sie nicht fliehen solle. Denn Flucht wäre doch eigentlich die Antwort gewesen, die er verdient hat. Weit fort, wo er nie nachkommen würde mit seinem Begehren … mit seinem Warten auf ihren Dank und ihre Erniedrigung.

Aber schließlich: was sollte da aus Abraham werden, aus seiner Hilflosigkeit vor dem unendlich leeren Winter des Alleins?

Da verwarf sie diesen Plan und eine Grimmigkeit umtrotzte ihren Mund: warum Flucht? Ich werde ihn mit meinen Augen vernichten.

Draußen war indessen das Goldbraun zu einem feuchten Grau verwischt. Die Bäume irrten ruhelos wie ihre eigenen Gespenster. Jeder Stamm verdoppelte sich, dem Arm der Nacht zu entgleiten. Aber die schwarze Faust fing die Bäume endlich ein und scharte sie zu feindlichen Massen, die keinen eigenen Willen mehr haben durften.

Überall war die Nacht mit einem Male lebendig. Im Hof dröhnten schon die schweren Schritte der Gesellen. Laternenlicht flatterte zum Fenster herein, suchte einen Halt an Wänden und Decke, sprang vom Spiegel zum Schrank und war wieder verschwunden.

Im Haus gingen die Türen feierabendlich. Nebenan in der Kinderstube polterte Abraham am Ofen. Ein Lichtstrahl zwängte sich durch das Schlüsselloch und stand wie ein Dolch dem Dunkel an der Kehle.

Gabriele saß tief zurückgesunken und preßte die Hände fest an die Augen. Ihr Herz war offen: Tod oder Leben zum dritten Male zu empfangen.

Als Abraham in das Zimmer trat, schleppte er einen breiten Lichtschein hinter sich her. Der blendete Gabriele noch die zugedeckten Augen. Sie stieß einen leisen Wehruf aus.

Abraham war im Nu bei ihr und umhegte sie streichelnd mit seiner schweren Güte. Zwischendurch fand er Worte des Tadels, daß sie solange aufgeblieben sei.

Und da sie abermals einen tief aus dem Herzen kommenden Wehlaut ausstieß, hob er sie aus dem Sessel heraus und barg den von Fieberpulsen durchschüttelten Körper an seiner Brust.

Ein tiefer und langsamer Schwindel ging dabei durch Gabrieles Kopf. Ihr Denken verwirrte sich. Weder Michael, noch ihr Mann, der sie jetzt behutsam in das Schlafzimmer hinübertrug, hatten einen klaren Umriß in ihrem Bewußtsein. Nur der Tote, der Verlobte, an den sie nun drei Jahre lang mit keinem Erinnern gerührt hatte, strich mit seinen kalten Fingern über ihr Gesicht. Sie schrie laut auf. Sie lebte jetzt ihr Leben im Unterbewußtsein. Die Erde wölbte sich tausend Meter hoch über ihr Blut. Ein ungeheurer Eisberg drückte auf ihre Augen. Sie konnte sie nicht öffnen. Abraham schickte nach dem Arzt. Da er ihr Frieren bis in die Schläfen hinauf fühlte, warf er den Ofen voll Holz, bis die Kacheln knallten. Er rief die älteste Tochter herzu. Gab ihr Befehl: einen starken Tee zu brauen. Er brauchte für sich selber diesen Ausgleich.

Der Arzt, welcher bald erschien, konstatierte bei Gabriele einen leichten Rückschlag des Fiebers. Sonst nichts von Bedeutung. Verordnete Ruhe … Ruhe … und wenn es sich ermöglichen ließe: Luftwechsel, sobald die Kranke transportfähig sei.

Abraham wachte, indem er sich literweise den Tee einpumpte, die ganze Nacht an Gabrieles Bett. Diese zweite Frau zu verlieren schien ihm einfach unerträglich. Nein –: Gabriele durfte nicht vor ihm abtreten.

In der Frühe meldete ihm die Wärterin, daß Michael seit acht Stunden in einem tiefen und ruhigen Schlaf sei. Ein gutes Zeichen.

Er ließ die älteste Tochter bei Gabriele zurück, sah nach Michael, fand die Aussage der Wärterin bestätigt und legte sich zwei Stunden schlafen.

Gabriele war gegen Mittag wieder frisch und hatte eine gesunde Röte im Gesicht. Sie ließ sich Milch und weißes Brot bringen. Nach der Sättigung begehrte sie Abraham zu sprechen. Als er rußig aus der Schmiede zu ihr kam, tat sie nichts anderes als daß sie seinen Kopf zwischen ihre Hände nahm und Stirn und Augen küßte. Abraham machte sich behutsam frei. In seinem Gesicht stand groß ein seltsames Verwundern.

Da sagte sie ihm mit einer leichten und sicheren Stimme –: »Ich habe so süß von Dir geträumt, mein Lieber. Und nun wollte ich nichts anderes wissen als dieses, daß Du wirklich noch mein Geliebter bist.«

Abraham wußte nicht aus noch ein. Alle seine Fibern spannten sich an, um diesem Mysterium auf den Grund zu kommen. Er dachte: sie wird in dem Bewußtsein leben, ich sei ihr Retter. Ich gäbe gewiß mein Leben darum, wenn ich es wirklich wäre. Aber wie köstlich muß es doch für meine liebe Frau sein, wenn sie erfährt, daß nicht ich, sondern Michael dieser vom Schicksal Bevorzugte es ist, dem Dank und Liebe ein ganzes Leben lang gebührt … Gabriele wünschte, diesen Abend mit allen gemeinsam zu speisen. Sie fühlte sich stark genug dazu. Und dann hätte sie Verlangen: in die alten lieben Gesichter aller Hausgenossen sehen zu dürfen.

Abraham konnte es ihr nicht abschlagen. Er dachte aber an den einen, der nicht dabei sein konnte und dem doch ein Ehrenplatz an dem Tisch diesen Abend gebührte. Vielleicht aber war das ganz gut so, daß sein Platz noch leer bleiben mußte … Denn, wenn sie die Lücke bemerken wird, die dort klaffte … vielleicht käme ihr dann das Bewußtsein, wer in Wirklichkeit ihr Retter war. Und dann … dann flösse es über in ihr vor Dank …

Sein Herz war mit einem Male voller Frieden. Es bewegte sich keine Angst mehr darin.

Kosend ging er über Gabrieles Haar und schritt wieder zum Amboß zurück. Den Gesellen sagte er in naiver Freude: daß Gabriele diesen Abend wieder am Tisch zu oberst sitzen werde.

Da trat der Altgeselle zu Abraham hin und fragte: »Und weiß sie auch schon, daß Michael ihr Retter ist?«

Abraham durchzischte es glühheiß, das Herz zum Zerspringen angespannt. Er faßte sein Gegenüber mit prüfenden Augen. Und da er keinen Hinterhalt darin entdeckte, antwortete er ganz ruhig –: »Sie wird es diese Nacht von mir erfahren. Man mußte doch so lange Geduld mit ihr haben. Ich gelobe es Euch aber: sie wird ihn von nun an in ihrem Herzen tragen als sei er ihr liebster Bruder.« Und so, als wäre dieser Abend nun ein Fest von ganz besonderer Bedeutung, ließ Abraham Fleisch braten und ein Fäßchen Bier aus dem Dorf besorgen.

Die Gesellen schnitten nach Feierabend Stechpalmengrün und füllten einen Steinkrug damit, auf daß den Tisch ein Hauch aus Gottes Garten schmücke.

Gabriele kam erst in die Stube, als die Gesellen und die Kinder alle saßen. Nun erhoben sich die Gesellen und gingen zu ihr hinauf und begrüßten sie mit einem wehmütig gelächelten Glückwunsch. Sie dankte jedem auf eine besondere Weise. Ihre Augen aber sahen keinen. Sie fühlte nur die Hände. Und wartete auf die eine, die sie in diesem Hause noch nicht berührt hatte mit der Wärme ihres Herzens … Und da sie nicht kam … und das Essen schon aufgetragen wurde, zitterte ihr Herz und schlug mit Frost und Blässe in das Gesicht herauf. Sie konnte die Gaumen nicht bewegen, die Speise lag wie Sand auf ihrer Zunge. In ihren Gedanken formte sich schon die Frage: und wo bleibt Michael!? Es wurde aber kein Wort daraus, denn die Angst legte sich auf den Willen der Gedanken und lähmte ihn. Wenn aber jemand aufgestanden wäre und hätte für Michael, den Toten, ein Gebet gesprochen … vielleicht hätte das ihre Zunge gelöst zu dem Bekenntnis: ich bin sein Mörder. Steinigt mich dafür. Denn meine Sünde ist noch größer als die eines Mörders. Er war meines Herzens Auserwählter. Darum habe ich ihn umbringen müssen! …

Es kam keine Frohheit auf an diesem Tisch. Die Gesellen sahen auf Gabriele und sahen ein Gesicht, das wie aus Eis geformt war. Keinem kam die Lust an, diesen ersten Abend des Wiederbeisammensein zu feiern. Selbst Abraham hatte das dumpfe Gefühl, als säße er beim Leichenschmause. Er schalt sich einen Quäler. Denn es schien ihm, als wäre es für Gabriele noch zu früh, die Welt außerhalb des Krankenbettes zu schmecken.

Er griff nach ihren Händen und streichelte sie. Gabriele gab ihm ihre Augen und eine zittrige Glut lag darin.

Die Gesellen erhoben sich jetzt und verließen mit einem scheu gemurmelten »Gute Nacht« die Stube.

Abraham streichelte noch immer Gabrieles Hände. Er bereitete sich vor, mit ihr von Michael zu reden.

Die milde Wärme seines Fleisches aber gaben der Frau das Gleichgewicht wieder. Sie dachte: vielleicht ist Michael gar nicht mein Retter. Vielleicht hat er die Zeit, da ich im Fieber lag, dazu benutzt, sich aufzumachen und in seine Heimat zurückzureisen. Das ist sicher gut so. Denn ich habe ihm so den Abschied leichter gemacht. Und mein Schwur hat hinfort keine Anfechtungen mehr … Ja … so wird es schon sein. Er ist fortgegangen und trägt, weil Gott es nicht anders wollte, die gleiche Wunde wie ich. Ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund und da legte sie den Kopf an Abrahams Brust und fühlte sich geborgen vor dem Grauen, das tief in ihrem Herzen zum Sprung geduckt lag.

Abraham gab es nach langen Kämpfen doch auf, diesen Abend noch von Michael zu sprechen. Aber morgen in der Früh, am Sonntag, wenn die Kirchen sich den Gläubigen öffnen und Gott zu den Menschen niedersteigt … dann soll Gabriele erfahren. Und, gestützt von seinen Schultern, zu Michael hinaufgehen und wenigstens ein Gebet an seinem Lager sprechen. Gabriele löste sich von Abraham und bat ihn, ihr aus dem Johannes-Evangelium ein Kapitel zu lesen …

Abraham konnte sich zuerst gar nicht rühren, so benahm ihn dieser seltsame Wunsch. Allmählich aber stieg die Freude in ihm hoch. Denn er hatte jetzt mit eins die Gewißheit, daß die Frau aus der Krise heraus sei.

Er drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und ging zum Schrank und nahm das Evangelienbuch.

Er setzte sich damit unter die Lampe. Ein ganzes Stück entfernt von Gabriele. Und las mit einer gedunkelt-weichen Stimme aus der Schrift.

Gabriele lehnte sich in ihrem Sessel weit zurück und schloß die Augen. Ihres Mannes Stimme wirkte wie beruhigendes Narkotikum auf ihre Nerven. Sie schloß, ohne Schlafgefühle zu spüren, die Augen. Vor ihren inneren Augen baute sich langsam ein Bild. Es war, was sich da zu festen Formen verdichtete, ihres Mannes Umriß. Nur das Gesicht wurde nicht klar. Es lag in einem tiefen roten Nebel. Manchmal schien es, als wäre es des alten Kindergottes gütiges Greisengesicht. Manchmal aber sprang Michaels Bild heraus. Und um seinen Kopf zackte sich eine Dornenkrone. Sie bemühte sich krampfhaft, diese Erscheinung von sich zu schieben. Suchte, ohne es selbst fassen zu können, aus welchem Grunde, sich das Gesicht Abrahams zurückzurufen. Es geriet, ohne daß sie die Augen aufschlug. Sie sah dieses grade grundoffene Gesicht. Tausend Gesichter waren darin enthalten. Der ganzen Welt gesammeltes Gesicht in diesen graden und nichtssagenden, liebenswürdig-einfachen Flächen. Nur das Bild Michaels war nicht darin. Dies war nie ewigdasselbe und ewigandere.

Darum mußte sie sich freimachen davon. Und in dieser Nacht gab sie sich Abraham hin, als schmecke sie zum ersten Male seines Blutes wilden Taumel.

Am Sonntag früh war sie vor allen anderen schon auf. Rührte einen Kuchenteig ein und braute einen starken Kaffee. Als die älteste Tochter halb verschlafen noch die Küche betrat, war die Arbeit fast getan.

Abraham kam aus dem Verwundern nicht heraus. Jetzt war er gewiß, daß Gott wieder alles zum Guten gefügt hatte. Er lächelte herzinnig und umschlang Gabriele inbrünstig.

Eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes im Dorf, fragte er Gabriele: ob sie sich kräftig genug fühle, den Kirchgang mit ihm gemeinsam zu machen und das Abendmahl zu nehmen.

Gabriele sagte gerne: Ja! Denn sie empfand, daß an dieser Wende das neue Leben mit Gott begonnen werden müsse.

Sie ging in die Kammer und zog das schwarze Seidenkleid an, das sie zur Trauung getragen hatte. Abraham trat zu ihr hinein und bat, da es vor einem Abendmahlgang so seine heilige Gewohnheit war, ihr alles Böse ab und dankte ihr mit einem Kuß. Und Gabriele tat das gleiche. Und ging nun auch zu den Kindern und den Gesellen und begehrte die Versöhnungshand. Es berührte Abraham seltsam, daß sie, nachdem sie von allen das empfangen hatte um frei von Schuld vor Gott zu treten, noch immer nicht nach Michael gefragt hatte.

Sie saß, da es doch noch zu früh war, aufzubrechen, am Fenster und sah auf die Wiesen und den Bach hinaus, die blank in der Sonne lagen. Da trat Abraham leise heran, strich über ihr Haar und fragte: »Hast Du auch zu Michael schon den Weg gefunden?«

Da sprang sie heftig auf, eilte mit hastigen Schritten im Zimmer auf und ab, mit aufgerissenen Augen und die Hände zu Fäusten geballt.

Nach einer Weile blieb sie wieder am Fenster stehn, zitterte erregt mit bleischwerer und fieberheißer Stirn, mit unruhig pochendem Herzen.

Abraham trat näher, wollte seinen Arm um ihre Schulter legen.

Sie widersetzte sich und war von dem unbestimmten, unerklärlichen Bewußtsein erfaßt, diesen Ort und diesen Mann nicht wiederzuerkennen.

Abraham ließ aber nicht nach. Sein Herz war heiß, er strengte sich an, seinen Mund zu öffnen und zu reden. Er stammelte schließlich lautlos und beschwerlich zwischen seinen Lippen hervor –: »Du mußt Michael um Vergebung Deiner Schuld bitten … Du mußt es tun, Frau.«

Gabriele schüttelte verständnislos den Kopf.

Abraham aber drang weiter vor und schrie es fast in ihr Gesicht hinein: »Er war es, der Dich aus dem Wasser gezogen hat. Er hat Dir das Leben wiedergegeben … Und liegt nun selber auf den Tod krank oben in der Kammer.«

Vor ihrem Blick wurde auf einmal alles nachtschwarz. Sie hatte das Gefühl, als drehe sie sich in einem rasenden Wirbel. Und immer tönte dazwischen Abrahams Stimme: »Du mußt Michael um Vergebung Deiner Schuld bitten … Du mußt … Du mußt!« Es schwoll zu einem furchtbaren Donner an. Und durch ihr Gehirn zuckten gelbe und rote Blitze.

In ihrem linken Ohr spürte sie die heißen Atemzüge Abrahams. Das gab ihr wieder das klare Bewußtsein zurück. Sie hob die Augen zu ihm empor und fragte mit einem eisigen Ton in der Stimme: »Warum sagst Du mir erst heute, daß Michael mich emporgezogen hat aus Nacht und Tod? Warum erst heute … warum konntest Du es überhaupt zulassen, daß er es tat, und nicht Du selber das Werk vollbrachtest …?« Er erhob beide Hände qualerfüllt: »Wäre ich nicht gehorsam in Gottes Geboten … ich ließe Dich wahrhaftig in Deiner Sünde und würde gern mitschuldig, auf daß Du Ruhe hast vor Deinen gottlosen Gedanken. So aber bin ich ein eingeborener Christ und muß tun, was Gott von mir verlangt. Und muß auch solches begehren, daß Du es tust nach Gottes Willen.«

Ihre Finger krallten sich plötzlich hart und fest ineinander. Sie bog den Kopf ein wenig zurück und zischte in seine Augen hinein: »Wenn Du solches von mir begehrst, und ich bin ja in Deiner Gewalt, muß ich es wohl tun.«

Und da in seinem Gesicht sich nichts veränderte und der Befehl fast trotzig auf seinen Lippen stand, drehte sie sich herum und stieg nach oben.

Michael war in dieser Früh endlich zum Bewußtsein erwacht. Er hob seinen Kopf und sah die Kammer vergoldet von einem gütigen Lächeln der Sonne. In seinen Gliedern lag noch die Fiebernacht, aber sein Gehirn war frei von allem Dunkel und grüßte das lebendige Leben.

Nun war es also wieder so weit, leben zu dürfen. Aber wofür? Für wen in der Welt?

Ist das Leben denn etwas anderes, als unter ewigen Leidspannungen und Hoffnungsfunken auf einen Menschen zu warten, den man lieben möchte. Und gesetzt: das Unverhoffte geschähe –: steigt nicht augenblicklich aus dem Purpur der Freude der schwarze Rauch der Angst herauf, diesen Fund wieder verlieren zu müssen? Gott, was bedeutete das groß, ob diese Grausamkeit der Angst eine Sekunde, eine Woche oder ein Jahrzehnt währte, ob es heute kam oder erst im Greisenalter, ob eine Träne mehr oder weniger vor dem stachlichten Alp darinnen war.

Warum eigentlich haben wir miteinander nicht getauscht, da das Wasser nach uns gierte? Sie in das lichte Leben hinauf, und ich in das Dunkel der Vergessenheit hinab? Jetzt ist alles noch zugespitzter geworden. Jetzt kommt die feine Goldwage und wiegt das Entweder und Oder. Und entscheidet sie abermals zu meinem Unglück, dann muß ich auch diesen Mordstoß, der mich nicht leben und sterben läßt, tragen. Denn ich werde solange die Erde nicht abstreifen können von meinem Leben, wie ihre Augen noch durch tausend Räume auf mich eindringen.

Wie schön war es doch in der langen Nacht, die mich so lange bedeckt hatte mit gütigen Händen. Wo ich sanft und leidlos dahin wanderte in einem Tal, das keine Bäume hatte, kein Haus, keines Menschen Gesicht, wo man nichts sehen und hören konnte, wo man frei von Geruch und Geschmack war, befreit davon, das Lebendige zu spüren und nur sich selber zu fühlen …

Angestrengt schloß er wieder die Augen und wollte das Schicksal zwingen, daß es ihn lassen möge in der langsam ins Graue abfließenden Zwischenwelt. Wo nur der alte panische Schrecken der Urwälder geistert und ein Duft da ist von den primitiven und barbarischen Körpern der Urmenschen. Um seine Lippen schwebte ein bittersüßes Lächeln. Die Augen, geklärt von der Kälte langen Nachdenkens, wollten sich noch nicht schließen. In den Schläfenhaaren perlte leiser Schweiß.

Endlich wurden die Atemzüge tiefer und langsamer. Im Gesicht entspannten sich die Muskeln. Der Mund öffnete sich leicht und gab die Zähne frei.

Selbst die Stille im Raum war wie von einem Starrkrampf ergriffen. Der helle Tag ging daran wie ein Wildfremder vorüber. Die Welt schien um tausend Jahre zurück gerückt.

Gabriele schritt ohne Bewußtsein die letzten Stufen empor. Die Glieder führten mechanisch den Befehl aus, der vom Gehirn vor wenigen Minuten gegeben war. Erst als die Kammertür dem Vorwärtsgehen Widerstand leistete, kehrte das Lebendige in den Körper zurück und tat schreckhaft die Frage: Was nun?! Es dauerte lange Sekunden, ehe sich das Blut sammeln konnte. Die Adern schmerzten bis in die feinsten Verästelungen hinunter. Eine unerträgliche Hitze überflog die Haut. In der Kehle würgten sich Beklemmungen zu einem Schrei zusammen.

Endlich glitt das Gehirn in das Gleichgewicht zurück. Gabriele atmete schwer. Mit unsicher tastenden Händen stieß sie die Tür auf. Das Dunkel des verhangenen Fensters bewahrte sie vor dem jähen Übergang. Schritt für Schritt in minutenlanger Dehnung schob sie sich zum Lager des Kranken. Sie sah nichts anderes, als das verschwommene Gehügel der Bettdecke. Schon griffen ihre Hände in die eingefangene Ballung der Federn. Das zum Röcheln geschwellte Atmen des Kranken entging ihr. Sein Gesicht lag wie hinter einer haushohen Mauer. Sie reckte sich in die Zehenspitzen: das Jenseitige zu ergründen. Auf ihren Lippen begann die Formung »Michael« sich als Ruf zu spannen.

Da schmiegten sich die Konturen eines Stuhles in ihre Augen. Es freute den Körper, sich setzen zu dürfen.

Allmählich bekamen die Dinge im Raum sichtbare Gestalt. Zuletzt formte sich das Gesicht Michaels und seine bleichknöchernen Hände aus dem Zwielicht zu einer lebendigen Biegung.

Gabriele sah, daß kein Schlaf den Körper des Kranken gebannt hielt. Durch die Hände rieselte unaufhörlich die Zuckung eines tiefen Nachdenkens.

Sie beugte sich jetzt ein wenig vor und erkannte, daß die Augen Michaels groß und offen in den Höhlen lagen. Die Augenwinkel verlängerten sich dunkel bis in die Schläfen hinaus; die Pupillen spielten kalt in dieser langen, dunkelumflorten Vertiefung. Jetzt ergriff Gabriele eine schmerzhafte Beklemmung. Welches Wort wird nun laut werden müssen, um hier Eingang zu finden? Sie fand und fand keine Brücke. Ihr Herz drohte zu ersticken in einem eisigen Krampf. Sie blickte den Kranken an und konnte doch die Augen nicht in derselben Richtung halten. Ruckweise, wie aus einem Spalt aus ihrem Sinn, wie aus einer Tiefe, in die sie schwindelnd hinabsah, kam schließlich die Kraft, den Sprung in die Entscheidung zu tun.

Schwer auf den Boden polternd, sank sie in die Knie, reckte die Arme breit über das Bett hin und warf das Gesicht in seine Hände. Ein Zucken, gleich Strömungen magnetischer Wellen, durchlief Michaels Körper. Die Hände lösten sich voneinander und spürten das Gesicht der Frau, spürten das Haar, spürten das rieselnde Naß, das aus den Augen floß.

Da hob er den Kopf ein wenig, und von Bewegungen erschüttert, bäumte sich die Brust. Wie aus einem urtiefen Brunnen herauf, rauschte der Atem und öffnete die Lippen.

Das Wort, das nun durch den Raum flog, machte ihn taghell. Noch nie war ein ähnlicher Ton in Gabriele hinüber geklungen. Wie alltaggewöhnlich hatte das, was in diesem Raum nun so wunderbar laut geworden war, geklungen, wenn es von Abraham ausgegangen war. Wie wohl es ihm sicher aus dem tiefsten Grunde des Herzens emporquoll, das –: »Geliebte!«

Michael zärtelte es noch ein zweites und drittes Mal. Und Gabriele trank die ungeheuer nachzitternden Wellen mit der düstern Wildheit eines Menschen in steiler Sonnenglut der Wüste.

Jetzt fühlte sie, wie die Hände des Kranken wünschend ihr Gesicht umspannten und es empor zogen … immer begehrender, kraftvoller. Und sie konnte sich nicht wehren und mußte nachgeben … rückte näher heran, spürte seinen Atem schon, hörte das leise Zischen der Lippen und sah zuletzt hinunter in den tiefschwarzen Abgrund zweier Augen, die zu ihrer Seele sprachen.

Und auch das noch wurde lautes Wort. Jenes, auf das sie solange, wenn auch mit allen Hellungen des Verstandes verneinend, gewartet hatte –: »Endlich bist Du gekommen, Geliebte!«

Tief bettete sich Gesicht in Gesicht. Ströme des Lebens unter dem irdischen Leben flossen ineinander. Die Kette schloß sich. Eine kirchenhaft feierliche Stille überschwieg den Raum, nahm auch die Atemzüge von den zwei Menschen fort, löschte auch die Helligkeit wieder aus und ließ nur einen feinen Duft hochsteigen, wie wenn Blumen sich mit Mond und Nachtigall verschwistern. Alles was in Gabrieles Seele sich aufgespeichert hatte in diesen langen bangen Monaten und unter dem Blut des Verstandes blühend hinkümmerte, war nun frei. Von jener gesättigten unirdischen Blässe stand kein Schimmer mehr in ihrem Gesicht. Auch der rätselhafte Kupferglanz der Regenbogenhaut war nicht mehr. Ein tief lächelnder Friede gab dem ganzen Körper die Entspannung einer endlich erfüllten Beglückung.


Als Abraham die Kammer, nach langem Warten auf Gabriele, betrat und sich an das Lager herantastete, da sah er plötzlich die Augen Michaels. Und sah, daß hinter dem trübgewordenen Glas kein lebendiger Wille mehr stand. Ein tiefes Stöhnen brach aus seinem gelähmten Munde. Leise berührte er jetzt die Schultern seiner Frau. Seine Finger gefroren. Der Tod gab ihm auch hier unbarmherzig hart die Antwort. Und die Eiswelle, die von seinem gedoppelten Atem hochschlug und messerscharf in Abrahams Herz schnitt, so tief schnitt, daß diesem rüstigen Mann das Haupthaar in einer Sekunde weiß wurde, wälzte sich die Treppe hinunter, schrie durch das Haus und wurde in den Nachbarhäusern ruchbar.

Gabriele und Michael bekamen ein gemeinsames Grab. In den Stein, den Abraham setzen ließ, war dieser Spruch als einzige Inschrift eingelassen:

Sic eunt fata honimum.


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