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Viertes Kapitel.

Kurz nach Mitternacht kam Detektiv-Inspektor Haney von der Londoner Zentralpolizei die Treppe herab, um sich nach dem Bibliothekszimmer zu begeben. Er hatte das Zimmer, wo man Seminows Leiche gefunden hatte, so genau untersucht, wie es bei Lampen- und Kerzenlicht möglich war. Ein Sergeant stand im Westflügel Wache, und ein anderer vor der Stube, in die man Wung Lu trotz seines würdevollen Protestes eingeschlossen hatte. Zwei andere Beamte patrouillierten draußen herum. Es war eine große Sache! Nach Ansicht des Inspektors konnten fast zu viele Personen als Täter in Frage kommen.

In jeder Hinsicht lag hier – ganz abgesehen von der Mordtat – eine höchst sonderbare Geschichte vor. Weshalb zum Beispiel war Peter Seminow überhaupt hierhergekommen? Daß er kein intimer Freund Sir Edwins war, hatte der Beamte bereits festgestellt. Außerdem wies der Fall so viele Absonderlichkeiten auf, zu denen der entwischte Schimpanse nur eine – obendrein recht unwahrscheinliche – beisteuerte. Ein Affe mag ebenso schlau und grausam sein wie ein verbrecherisch veranlagter Mensch, aber er tötet nicht mittels Dolchstiches, gibt sich nicht die Mühe, die Waffe nach vollbrachter Tat zu beseitigen und betritt und verläßt keinen Raum mit verschlossenen Türen und Fenstern. Hier lag viel zu viel Schlauheit vor, selbst für einen ganz besonders gut abgerichteten Schimpansen.

Jenes wunderschöne, aber schlimm aussehende Messer des Chinesen war schuldlos an der Tat. Die Waffe, mit der Seminow getötet worden war, mußte viel breiter gewesen sein. Davon hatte Haney sich überzeugt. Dennoch gab dieser Chinese zu denken. Würdevoll, offenbar gebildet und wohlerzogen, ein fabelhafter Athlet, der nichts und niemand fürchtete.

Haney hatte ein Gefühl, als ob der Kerl trotz des bewaffneten Postens leicht entkommen könne, wenn es ihm beliebe. Aber er erklärte, er habe sein Wort gegeben, sich nicht ohne Erlaubnis zu entfernen, obwohl er behauptete, anderswo dringende Geschäfte zu haben.

Der Inspektor war ein großer, blonder Mann mit jenem unerschütterlich unschuldigen Augenausdruck, der bei manchen Menschen einen Mangel an Einbildungskraft bekundet. Aber Frank Yardley durchschaute diesen Ausdruck. Haney besaß genügend Einbildungskraft für seinen Beruf; das verriet er jedoch nie. Tatsachen hatten für ihn, wie er sich oftmals selbst sagte, den weitaus größeren Wert.

Als er sich der Bibliothekstür näherte, horchte er auf und blieb stehen. Bisher hatte er noch nicht Zeit gefunden, mit allen Mitgliedern des Hausstandes in persönliche Berührung zu kommen, obwohl David ihm eine genaue Liste überreicht hatte. Da diese auch die Dienstboten umfaßte, war sie recht lang. David hatte die Namen, wie üblich, dem gesellschaftlichen Rang entsprechend aufgeschrieben, hatte also mit den Damen angefangen, so daß an dritter Stelle stand: »Fräulein Givens als Gast«.

Da die Eßzimmertür halb offen stand, vernahm Haney Frauenstimmen.

»Kannten Sie Herrn Seminow näher?« fragte eine von ihnen, und nach einer kleinen Pause antwortete eine andere:

»Warum nehmen Sie an, daß ich ihn überhaupt schon kannte?«

Die erste Stimme war Haney bekannt. Sie gehörte jenem hübschen Mädchen, das sich stets in der Nähe gehalten hatte, um möglichst viel zu erfahren. Fräulein Cornish hatte der Inspektor infolgedessen aus der Reihe etwa Verdächtiger gestrichen. Dagegen würde ihn nicht gewundert haben, wenn sie selbst Anlaß zu Seminows Ermordung gegeben hätte.

Jetzt sprach sie wieder.

»Herr Seminow erzählte mir, Sie seien vor dem Tode seiner Frau einmal in seinem Palast in Tibet zu Besuch gewesen.«

Eine kleine Pause folgte, worauf die andere gezwungen lachend entgegnete: »Daß er einen solchen Palast besitzt, habe ich erst heute nachmittag erfahren, als er die Photographien zeigte.«

Haney stand mit erhobenem Kopfe da, ging dann rasch auf die offene Tür zu und blickte hinein.

»Darf ich vielleicht um ein Glas Wasser bitten?« fragte er. »Verzeihen Sie, daß ich Sie bemühe – –«

Kathleen sprang auf. »Aber natürlich! Darf ich, Ihnen jedoch nicht etwas anderes anbieten, Herr Inspektor?«

»Nein, danke, nur ein Glas Wasser! – Besten Dank! – Sie sind Fräulein Givens?« fragte er, indem er sich der anderen Dame zuwandte.

Sie nickte stumm und rauchte ihre Zigarette weiter.

Haney nahm das Glas Wasser, bedankte sich nochmals und kehrte nach dem Bibliothekszimmer zurück.

Er hatte eine unerwartete und vielleicht wichtige Entdeckung gemacht. Dieses Fräulein Givens rauchte virginische Zigaretten. An und für sich war das nicht verdächtig, aber in Verbindung mit einer anderen kleinen Sache schien es auf die bedeutsame Tatsache hinzuweisen, daß sie in Seminows Zimmer gewesen war, nachdem sie sich zu Tisch umgekleidet hatte – und Haney hatte jetzt bereits die Stunde festgestellt, in der die Mordtat begangen worden sein mußte.

Die andere kleine Sache holte er jetzt aus der Tasche hervor: es war wirklich ein sehr kleines Ding, das er sicherheitshalber in einem Briefumschlag verwahrt hatte: ein winziger, grünlich-blau schimmernder Flitter! Und das Kleid, das Fräulein Givens trug, war mit solchen Flittern bestickt. Diesen Fund hatte der Inspektor auf einem am Kamin stehenden Sessel gemacht, gerade gegenüber dem Stuhl, auf dem Seminows Leiche gefunden worden war. Fräulein Givens rauchte virginische Zigaretten, und die Asche neben dem Stuhl rührte von solchen her. Inspektor Haney war Spezialist in Tabakasche.

Er überlegte, ob der aufgefundene, halb vollendete Brief wohl an Fräulein Givens gerichtet sein konnte. Er hatte ihn bereits flüchtig gelesen, aber jetzt setzte er sich an Sir Edwins Schreibtisch nieder, zog die Leuchter heran und begann ihn aufmerksamer zu studieren.

Das dicke, sandfarbige Papier mit dem orangegelben Rand war überelegant bis zur Geschmacklosigkeit. Oben links prangte ein runder, von drei Strichen durchkreuzter Kreis und darunter stand Seminows Londoner Adresse – beides in derselben grellgelben Farbe.

 

»Grausame, aber hochgeehrte Dame!« hatte Seminow geschrieben.

»Einst wurde mir die Ehre zuteil, auf einer langen und für mich sehr einsamen Eisenbahnfahrt eine entzückende Reisegefährtin zu bewirten, die mir beim Abschied ein Andenken hinterließ. Noch heute befindet sich dies kleine Sinnbild in meinen Händen und erinnert mich an eine Dame, die eine tadellose Gattin, wenn auch eine etwas kühle Freundin war.

Es ist lange her, verehrte Dame, aber die Schuld, die Ihr süßer Zauber und Ihre angebliche Freundschaft mir damals zurückließ, ist noch nicht bezahlt. Vielleicht gibt es jemand, der jenes kleine Sinnbild zu schätzen wissen würde? Ich denke darüber nach.

Heute nachmittag erbat ich eine Gunst von Ihnen, und Sie schienen nicht geneigt, sie zu gewähren. Ich wollte. Sie würden darüber anderen Sinnes. Ja, mein Glaube an Ihren Sinneswechsel ist so stark, daß ich davon überzeugt Schließlich ist es ja noch nicht gewiß, daß ich Erfolg bei – –«

 

Hier endete der Brief.

Da Seminow den letzten Tag seines Lebens in diesem Hause zusammen mit den dort noch anwesenden Personen verbracht hatte, war anzunehmen, daß er an eine von ihnen geschrieben hatte – eine Drohung, von der er glaubte, daß sie schriftlich stärker wirken würde als gesprochen.

Es war begreiflich, daß Haney lange über diese Dame nachdachte. Natürlich lag die Möglichkeit vor, daß sie nicht zu diesem Haushalt gehörte, aber Haney glaubte sie zur Zeit in der Person Dora Givens sehen zu müssen. Diese war kurz vor Seminows Tode bei ihm im Zimmer gewesen, hatte ihn gekannt, ehe er nach Madder Grange kam – wie er aus Fräulein Cornishs aufgefangenen Worten wußte – und hatte die frühere Bekanntschaft mit Seminow abgeleugnet.

Der Inspektor hatte also Stoff genug zum Grübeln.

Das kleine Zirkusmädchen war im Zimmer der Dunkan zu Bett gebracht worden, und die Jungfer übernachtete auf der Chaiselongue bei Helen. Die Türen zwischen den drei Stuben, von denen die Kathleens die mittelste war, wurden die Nacht über offen gelassen. Dahingegen waren die Türen nach dem Gange verschlossen und alle Fenster sorgfältig zugeriegelt, so daß die Luft gegen Morgen etwas dumpfig wurde und Helen heftige Kopfschmerzen bekam.

Sie konnte kaum aufrecht sitzen, als die Dunkan ihr in aller Frühe eine Tasse Tee brachte und endlich die Fenster öffnete, so daß die frische Morgenluft hereinströmte.

Mit hämmernden Pulsen und vollständig benommenem Kopf erfuhr Helen, daß das kleine Zirkusmädchen schwer erkrankt war, Fräulein Givens sie zu sich ins Zimmer geholt und die Pflege übernommen hatte.

»Und den Affen haben sie eingefangen«, berichtete die Dunkan weiter, als Helen matt in die Kissen zurücksank. »Das heißt, sie scheinen das arme Tier zu Tode gehetzt zu haben, denn es wurde tot im Gehölz aufgefunden.«

»Ein Segen!« murmelte Helen.

Die Jungfer senkte die Stimme. »Und den armen Herrn haben sie weggebracht. Der Detektivmensch war schon bei Tagesanbruch aus und hat es besorgt, dann ist er nach London gefahren. Herr Yardley hat sich nach der gnädigen Frau erkundigt.«

»Gehen Sie jetzt!« stöhnte Helen. »In einer Stunde wird mir vielleicht besser sein.«

*

Haney war sich darüber klar geworden, daß hier ein sehr verwickelter Fall vorlag. Schon die Lage der Leiche gab sehr zu denken. Hätte Seminow nicht jene Zigarre mit der noch unversehrten Asche in der Linken gehalten, so wäre denkbar gewesen, daß er, schwer verwundet, durchs Zimmer gewankt sei, um die Tür hinter dem Mörder zu schließen, in den Sessel zurückzukehren und zu sterben. Aber das war offenbar ausgeschlossen. Doktor Garvice hatte festgestellt, daß schon ein einziger der drei Messerstiche genügt haben würde, den Tod augenblicklich herbeizuführen.

Nein, es war klar, daß Seminow unerwartet überfallen worden sein mußte, und zwar von einer Person, gegen die er keinen Argwohn gehabt hatte. Dann war der Mörder fortgegangen und hatte die verschlossene und verriegelte Tür samt dem drinnen am Boden liegenden Schlüssel hinterlassen.

Eine überaus sorgsame Durchsuchung der drei Zimmer hatte keinen Anhaltspunkt in bezug auf das Entkommen des Mörders geliefert. Durch Schornstein, Fenster oder Tür konnte er – oder sie? – nicht entkommen sein. Die Tür war nicht aus den Angeln gehoben und wieder eingehängt worden. Davon hatte Haney sich überzeugt, und bei einer verschlossenen und zugeriegelten Flügeltür war dies ja ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit.

Frank Yardley war dem Inspektor bei diesen Nachforschungen und Untersuchungen behilflich gewesen. Er hatte ihn auch auf einen im Täfelwerk verborgenen Geheimschrank aufmerksam gemacht, aber es stellte sich heraus, daß er ganz schmal und kaum drei Zoll tief war. Sie fanden dort ein staubiges, vergilbtes Papierbündel, das Haney an sich nahm, um es später zu studieren. Es war nicht anzunehmen, daß die Papiere etwas mit dem Mord zu tun hatten; aber man konnte ja nie wissen!«

Während der Fahrt nach London las Haney eine Zeitung und fand einen Artikel, der sein Interesse erregte. Er lautete:

 

Gefährlicher Verbrecher noch in Freiheit.

Alphonse de Roget, der am Freitag morgen in aller Frühe aus dem Gefängnis von Antierres im Rhonetal entwich, ist noch nicht wieder eingefangen worden. Roget ist ein überaus kräftig gebauter Mensch, der wegen Totschlagsversuchs zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Auf eigene Hand und ohne irgendwelche Waffe gewann er die Freiheit, indem er zwei Wächter und einen Schließer überwältigte. Er gelangte auf den Hof hinaus und erklomm, während zwei Posten auf ihn schossen, unverwundet die sechs Meter hohe Mauer. Die ganze Gegend ist voller Angst, aber man glaubt, daß der Mann versuchen wird, irgendeine große Hafenstadt zu erreichen. Er soll in England Verwandte haben. In früheren Jahren ist de Roget Akrobat in einem Zirkus gewesen.

 

Der Schlußsatz erweckte bei dem Inspektor eine Erinnerung: Von jenem »Fall Roget« hatte er gehört. Der Mann war wegen eines Mordanfalles auf Peter Seminow verurteilt worden. Die Tat war vor zwölf Jahren in Seminows Haus in Paris geschehen, und auch damals war die Waffe ein Dolch gewesen.

Haney überlegte. Am Freitag der Vorwoche war Roget entflohen, und am Sonnabend abend war Seminow ermordet worden! Also hatte Roget Zeit genug gehabt, nach Larke Minnis zu gelangen, falls er von Seminows Besuch dort wußte und nach England hinübergelangen konnte. Diese beiden Voraussetzungen waren zwar unwahrscheinlich, aber das Wort »Zirkus« blieb doch in Haneys Gedächtnis haften. Roget war früher Akrobat gewesen, und zum Wochenende war ein Zirkus nach Larke Minnis gekommen. Es lohnte sich also, nachzuforschen.

Ueberdies schien es geraten, herauszufinden, woher dieser Groll Rogets gegen Seminow stammte.

In Scotland Yard, wo Haney Bericht erstattete, ließ sich das leicht feststellen. Nach Rogets eigener Aussage beim Gerichtsverfahren hatte Seminow ihn um seinen Anteil an einer wertvollen Entdeckung betrogen, und zwar handelte es sich um ein überaus wertvolles Metall namens Heliogon, das ähnliche Eigenschaften wie Radium besaß, obwohl es ein richtiges Metall und weder so gefährlich noch so teuer wie Radium war.

Nach Ansichten von Sachverständigen mußte es eine Revolution in der Kunst der Farbenphotographie herbeiführen und auch für die Medizin von hohem Werte sein. Roget behauptete, nicht nur dieses Metall, sondern auch reiche Fundorte desselben im fernen Osten entdeckt zu haben. Außerdem habe er seinen eigenen Körper für Versuche zur Verfügung gestellt, die Seminow als Beweis für die Kraft des Metalls verlangte, denn Roget war zu arm, um die Entdeckung auszubeuten. Nach Rogets Aussage vor Gericht hatte Seminow ihn betrogen und ihn dadurch zu der versuchten Rachetat getrieben.

Aber die Untersuchung schien zu beweisen, daß Roget ein Lügner oder ein Irrsinniger war. Der nur leicht verletzte Seminow hatte erklärt, falls es ein seltenes Metall namens Heliogon gäbe, habe er jedenfalls nie etwas anderes davon gehört als leere Behauptungen Rogets. Auch habe er sich nie bereit erklärt, einen Ausbeutungsplan zu finanzieren, und der Landstrich, wo Roget die Entdeckung gemacht haben wolle, sei tatsächlich eine ungeheure Teepflanzung, die einer bekannten englischen Firma gehöre.

Je weiter Haney in den Prozeßverhandlungen des französischen Gesichtshofes kam, um so mehr wuchs sein Interesse. Die Besitzerin dieser Teepflanzungen war die Firma Mathers, Mackenzie u. Co.

Auf dem Rückweg von dem Bahnhof nach Madder Grange sprach der Inspektor bei Frank Yardley vor und fand dort Frau Cornish, die sehr blaß und angegriffen aussah und soeben von Yardley mit Tee versorgt wurde. Er sah ihr an, daß sein Erscheinen sie erschreckte, und dies behagliche Beisammensein unter vier Augen schien ihm einen bemerkenswerten Grad von Vertraulichkeit zu verraten.

Aber Yardley begrüßte den unerwarteten Gast mit entwaffnender Herzlichkeit, schenkte ihm sofort eine Tasse Tee ein.

»Ich bitte, zu verzeihen, daß ich störe«, sagte der Inspektor höflich, »aber ich muß ein paar Fragen an Sie richten. Sie erwähnten gestern abend, daß Sie sehr befreundet mit dem vor einigen Jahren verstorbenen Sir Harry Mathers waren. Nun habe ich unterwegs auf der Bahn jene Papiere aus dem Geheimschrank durchgesehen, aus denen hervorgeht, daß Sir Harry Mathers geschäftlich mit Herrn Seminow zu tun gehabt hat. Wußten Sie davon, Herr Yardley?«

Dieser schien erstaunt. »Nein, davon ist mir nichts bekannt, erwiderte er. »Aber ich sehe nicht ein, was –«

»Ganz recht, Sir. Es wird wohl nichts zu sagen haben. Nur fiel mir die Erwähnung eines Ortes namens Yeckel auf.«

Helen zuckte zusammen und warf Frank einen Blick zu, worauf dieser erklärte: »Wir müssen es ihm sagen, Helen.«

Der Beamte spitzte die Ohren. Er hatte den für einen Detektiv bedenklichen Punkt erreicht, an dem alles glaubhaft erscheint. Aufmerksam lauschte er Franks Bericht über Sir Harrys Tod und das Mal an der Stirn des alten Herrn, und erfuhr dann auch, daß Frau Cornish ein sonderbares Amulett gefunden hatte, das ihr in der Hand brannte, ferner von Wung Lus Hinzukommen, dem Mal in dessen Hand und am Arm des kleinen Zirkusmädchens.

Haney verriet keinerlei Verwunderung oder Zweifel. Er sagte:

»Das klingt alles sehr interessant, Herr Yardley. Was für ein Metall kann das nun Ihrer Ansicht nach gewesen sein?«

»Ich habe lange hin und her geraten«, erwiderte Yardley eifrig, »und wenn ich nicht sehr irre, muß es eine Mischung von Gold und Thallium – vielleicht auch Heliumgas – sein. In bezug auf letzteres kann ich mich übrigens irren. Vielleicht ist es ein bisher noch unentdecktes Element. Es scheint auch radiumartige Eigenschaften zu besitzen.«

»Woher wissen Sie dies alles, Herr Yardley?« fragte der Inspektor verwundert.

»Ich fand das Amulett in dem blauen Sack des Chinesen und habe es untersucht.«

Haney schwieg einen Augenblick. Wenngleich er Yardley um Unterstützung gebeten hatte, sagte ihm dieses selbständige Vorgehen doch nicht ganz zu. »Darf ich es sehen?« fragte er höflich.

»Aber gewiß! Ich wollte es Ihnen eigentlich gleich aushändigen, aber als Frau Cornish mir davon erzählte, siegte die Versuchung, etwas damit zu experimentieren. Ich besitze ein kleines Werk, das ich einmal bei einem Antiquar fand, und dessen Verfasser einen erstaunlichen Instinkt für derartige wissenschaftliche Kenntnisse besessen haben muß. Er behauptet, eine Substanz entdeckt zu haben, die ungefähr diesem Metall entspricht. Er nennt sie Heliogon und schreibt ihr viele Fähigkeiten zu, unter anderem auch die, den menschlichen Körper stark zu magnetisieren. Hier ist das Buch. Der Verfasser nennt sich Alfonse de Roget. Lesen Sie Französisch?«

»Nein«, sagte Haney, nahm ihm aber den kleinen Band ab und blätterte darin. Er trug Rogets Namen, und das Werk hieß »Die größte Entdeckung der Welt«.

Yardley überreichte ihm nun auch eine kleine Porzellandose mit jenem geheimnisvollen Amulett.

»Ich habe es vorsichtshalber in diese Dose getan«, sagte er. »Auf anorganische Substanzen übt es nicht viel Wirkung aus, aber wenn Sie es in der Hand halten oder gegen Ihr Fleisch drücken, hinterläßt es einen Abdruck, dessen Dauer davon abhängt, wie lange es mit dem Fleische in Berührung gewesen ist. Frau Cornish hielt es nur einen Augenblick, und die Spur ist vollkommen verschwunden. Ich befestigte es eine Stunde lang an meinem Handgelenk, und Sie können selbst sehen« – er zog seinen Aermel zurück und zeigte die feine rote Zeichnung. »Ich weiß nicht, ob es vergehen wird. Wenn nicht, würde es mich nicht wundern.«

Bald darauf empfahl sich der Inspektor mit der Porzellandose samt Inhalt und dem kleinen Buch, das er sich ausgebeten hatte, um es übersetzen zu lassen. Er begab sich geradeswegs zum Zirkus, der seine Zelte mit Rücksicht auf die Erkrankung von Herrn Bulletts Pflegetöchterchen noch nicht abgebrochen hatte.

Haney wanderte zwischen den Wagen und Zelten umher, was nicht auffiel, da dort eine ganze Anzahl von neugierigen Dorfleuten herumlungerte. Zwei halberwachsene, an Ketten befestigte Elefanten erregten große Bewunderung, und dumpfes Gebrüll in einem der Wagen verkündete den Grimm irgendeines großen Tieres aus dem Katzengeschlecht. Ein ruppiges Kamel zerrte an einem Bündel Heu, und ein paar abgerichtete Pudel lagen zu Füßen einer Frau, die auf den Stufen eines Wagens saß und emsig ein Atlasmieder mit Flitter benähte. Der Inspektor erkundigte sich bei ihr nach Herrn Bullett, worauf sie auf ein Zelt deutete, über welchem eine rote Fahne mit zwei kämpfenden Löwen flatterte.

Herr Bullett lag in einem verblichenen Pyjama auf einem Feldbett und schlief. Als Haney sich durch Husten bemerkbar machte, erwachte er und sah sich verwirrt mit übermüdeten Augen um.

»Bedaure!« sagte Haney. »Ich wußte nicht, daß Sie schliefen – wollte mich mal bei Ihnen umsehen.«

»Ach, an einem Zirkus ist heutzutage nichts zu verdienen«, knurrte Bullett. »Ich wär' heilfroh, wenn jemand mir den Krempel abkaufen wollte. Im Ausland kann man Geld machen, aber da kriegt man immer Heimweh.« Er stand auf und zog einen abgenutzten Schlafrock an.

»Ich bin die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und mußte ein bißchen schlafen«, fuhr er fort. »Nun ist Sam auch hin – ein Verlust von glatt dreihundert Pfund! Aber die Dame im Herrenhause sagt ja, es ginge Cissie etwas besser, und das ist die Hauptsache. Sie ist kein kräftiges Kind, und hauptsächlich ihretwegen liegt mir daran, den Zirkus loszuwerden.«

»Haben Sie jemals einen Akrobaten namens de Roget gekannt?« fragte Haney unvermittelt.

Bullett starrte ihn verwundert an. »Wieso?« fragte er mißtrauisch.

»O, es fiel mir eben ein.«

»Na, zufällig ist er jetzt gerade bei uns. Er war Sams Wärter.«

Es stellte sich jedoch heraus, daß dieser de Roget mit Vornamen Lonny hieß, und nicht der entkommene Sträfling war.

Erst jetzt erfuhr Ben Bullett, daß sein Zirkus mit Seminows Tode in Verbindung gebracht wurde.

»Ich muß Sie bitten, noch einige Tage hierzubleiben«, sagte der Inspektor.

»Das hätte ich sowieso getan«, knurrte Bullett. »Aber ich möchte gern reinen Wein eingeschenkt kriegen. Was soll Lonny getan haben?«

»O, wahrscheinlich gar nichts! Aber ich möchte ihn mal sprechen. Wo mag er sein?«

Es stellte sich heraus, daß Lonny mit einigen Kollegen fortgegangen war, um den Schimpansen im Gehölz zu begraben, und Herr Bullett erklärte sich bereit, den Inspektor hinzuführen.

Der dichte Wald zog sich kaum zwei Kilometer vom Dorfe entfernt an einem Hügel entlang, und die Leute waren wegen des von Wurzelwerk durchzogenen Bodens noch nicht mit dem Ausheben der Grube fertig.

Lonny de Roget, ein blonder junger Riese, mühte sich mit aufgekrempelten Armen im Schweiße seines Angesichts ab, während sein älterer Begleiter sich gerade ausruhte, als sein Brotherr mit Haney erschien. Der tote Schimpanse lag dicht daneben unter einem Baum, und Haney ging hin, um ihn anzusehen, während Bullett mit Lonny sprach.

Das Tier war tot, und es war der größte Schimpanse, der Haney jemals vorgekommen war. Der Inspektor fragte Lonny, woran das Tier gestorben sei.

Da Ballett dem jungen Manne inzwischen mitgeteilt hatte, daß Haney ein Polizei-Inspektor sei, war Lonny ziemlich verdrießlich und erwiderte nur mürrisch: »Seine Lungen waren nicht gesund, und da hat die Nachtluft ihm den Rest gegeben.«

Haney versuchte den toten Affen mit dem Fuße umzudrehen. Das Fell war mit Strohhalmen durchsetzt, auch am Boden lag Stroh. Offenbar hatte man die Leiche durch die Farnkräuter nach dieser Stelle gezerrt.

»Wo haben Sie ihn gefunden?« fragte der Beamte.

»Da, wo er liegt.«

»Sie haben ihn nicht hierher geschafft?«

»Nein«, sagte Lonny.

»Aber irgend jemand hat es getan. Sehen Sie sich doch die zerdrückten Farnkräuter an.«

»Er wird wohl umgefallen und noch ein Endchen weiter gekrochen sein«, meinte Bullett.

Der Inspektor verfolgte die Spur ins Dickicht zurück. Die Farnkräuter waren offenbar zertreten, und mit einem Male fand er mitten zwischen ihnen das, wonach er gesucht hatte, seit er das Zimmer betreten hatte, wo Peter Seminow ermordet worden war: ein langes, breites Messer mit wie Rost aussehenden Flecken an Griff und Schneide. Natürlich lag noch keine Gewißheit vor, daß dies tatsächlich die Mordwaffe war.

»Hallo!« rief er in unbefangenem Tone. »Hat einer von Ihnen vielleicht sein Messer verloren?«

Lonny und sein Gefährte starrten es an und schüttelten den Kopf.

»Nun, dann werde ich es verwahren«, sagte Haney und steckte es in die Tasche. »Hören Sie mal, mit dem Begraben des Affen hat es keine Eile. Es hat bis morgen Zeit. Legen Sie ihn vorläufig nur in eine Kiste, und decken Sie ihn zu. Ich möchte gern, daß der Tierarzt ihn sich ansieht. Auf ein Wort, de Roget! Wir wollen zusammen zurückgehen. Bullett, schicken Sie doch ein paar Leute mit einer Kiste her!«

Herr Bullett nickte mürrisch, und der andere Mann schloß sich ihm an.

Auch Lonny sah verdrießlich aus. Er schlenderte, beide Hände in den Taschen, neben dem Inspektor her und bemühte sich, möglichst gleichgültig auszusehen.

Ja, er habe einen Bruder namens Alfonse, erwiderte er auf Haneys Frage.

»Wann haben Sie ihn zum letzten Male gesehen?«

Lonny wurde rot. »Vor ein paar Jahren«, erwiderte er.

»Wissen Sie, wo Ihr Bruder jetzt ist?«

»Ich weiß, wo er war.«

»Dann werden Sie gehört haben, daß er entwischt ist.«

»Ich las es in der Zeitung.«

»Befindet Ihr Bruder sich in England?«

»Woher soll ich das wissen? Wie soll er herübergekommen sein?«

»Das möchte ich ja gerade von Ihnen erfahren«, sagte Haney, indem er stehenblieb, um eine Zigarette anzuzünden. Er bot Lonny eine an, der jedoch stumm ablehnte.

»Ich weiß gar nichts über die Sache«, erklärte er. Er sprach reines Englisch, ohne jeden französischen Akzent.

Haney drückte ihm darüber seine Anerkennung aus und fragte, ob sein Bruder ebenso gut Englisch spräche.

Lonny zuckte die Achseln.

»Mag sein«, sagte er, »ich weiß es nicht. Warum aber alle diese Fragen? Was soll mein Bruder denn getan haben?«

»Nun, er ist doch aus dem Gefängnis ausgebrochen.«

»Ach, das! Das würde jeder Gefangene tun, der die Möglichkeit dazu hätte. Ich hoffe, daß sie ihn nicht wieder einfangen werden«, versetzte der junge Mann halb gleichgültig, halb erbittert. »Für das, was er tat, hat er lange genug gesessen.«

»Sie kennen wohl den Namen des Mannes, den er zu töten versuchte?« fragte der Inspektor.

Lonny machte eine zustimmende Kopfbewegung.

»Ja, ich kenne ihn.«

Haney ging zu einem anderen Thema über.

»Herr Bullett erzählte mir, Sie seien am Donnerstag von Le Havre herübergekommen. War Sam da noch gesund?«

»Nicht so ganz.«

»Wann haben Sie Ihre letzte Vorstellung gegeben?«

»Am Dienstag in einem Dorfe namens Vienges, dicht bei Le Havre.«

»War da Sam noch imstande, aufzutreten?«

»Ja, aber er war nicht mehr der alte.«

»Wie kam es eigentlich, daß Sie Ihren Bruder in Le Havre trafen?« fragte Haney rasch und unerwartet, so daß Lonny heftig zusammenfuhr.

»Wie es kam, daß ich –? Aber ich habe ihn ja gar nicht getroffen!«

»Ich möchte es doch glauben. Ich bin sogar überzeugt davon, aber –«

»Nun?«

»Warum sind Sie nicht aufrichtig, Roget? Warum sagen Sie mir nicht, was Sie darüber wissen?«

Der junge Mensch verzog spöttisch den Mund.

»Weil ich nicht mehr weiß als Sie«, entgegnete er sarkastisch. »Ich kann Ihnen nicht das geringste sagen, was Sie nicht schon wissen. Was mich anbetrifft, so weiß ich nichts weiter, als was ich in Zeitungen gelesen habe. Wenn Sie glauben, daß mein Bruder hier mit bei dem Zirkus ist, warum sehen Sie dann nicht nach? Der alte Bullett wird Ihnen nichts in den Weg legen. Er ist nicht der Mann, gegen die Gesetze zu verstoßen.«

»Ich glaube nicht, daß Herr Bullett etwas über die Sache weiß«, sagte Haney. »Nur Sie interessieren mich. Und wo Ihr Bruder jetzt auch sein mag – hier in der Gegend wird er sich keinesfalls aufhalten.«

»Ach, wie gescheit!« versetzte Roget. »Das hätte ich Ihnen selbst sagen können. Und er ist nie in dieser Gegend gewesen!«

Da sie inzwischen das Dorf erreicht hatten, begab Haney sich eilends nach dem Herrenhause zurück und verbrachte eine ganze Stunde am Telephon.

Er war fest überzeugt, daß Alphonse de Roget sich in England befand, und daß sein Bruder dies wußte. Wie Alphonse es fertiggebracht hatte, herüberzukommen, obwohl sämtliche Häfen scharf bewacht wurden, war rätselhaft. Aber Haney begann eine Theorie zu entwickeln. Für morgen waren zwei Leichenschau-Verhandlungen angesetzt: eine im Gasthof zum Stern, und eine in Madder Grange, und der Inspektor beschloß, beiden beizuwohnen.

Indessen lief spät abends eine sehr enttäuschende Telephonbotschaft aus Scotland Yard ein. Haney war sehr verdrießlich, als er sie hörte; denn sie schien seine Theorien gänzlich zu zerstören.

Alphonse de Roget, der aus Antierres entflohene Sträfling, war in Paris wieder eingefangen worden, und zwar, als er im Begriffe gewesen war, mit einem Paß in der Tasche in den Schnellzug nach Marseille zu steigen. Wie die Behörden vermutet hatten, war er nach einer Hafenstadt unterwegs. Aber nicht nach Le Havre!

Trotzdem konnte Haney sich nicht entschließen, seine Theorie gänzlich fahren zu lassen.


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