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Zweites Kapitel.

Am nächsten Morgen stellte sich heraus, daß es David gewesen war, der auf das klagende Tier gefeuert hatte. Man lachte jetzt darüber; aber Helen hatte das Gefühl, als ob eine zweite solche Nacht für sie keineswegs lächerlich sein würde.

Nur Sir Edwin hatte nichts gehört, und das kam seiner Schwester fast unglaublich vor. Dabei sah er ganz elend aus, so daß sie sich voller Schrecken fragte, ob er wohl irgendwelche schweren Schlafmittel nähme.

Fräulein Givens erschien beim Frühstück in schlicht ländlicher Aufmachung, und Helen wünschte heiß, daß Seminow ihr seine Aufmerksamkeit widmen und dadurch zwei Probleme lösen möchte. Sie hatte morgens, als sie mit Kathleen und David vor der Haustür stand, wiederholen wollen, was sie nachts zu ihrer Tochter gesagt hatte. Aber Kathleen war plötzlich davongelaufen, um mit den andern ein Golfspiel zu verabreden. Hatte sie das absichtlich getan? Und David hatte verstimmt gefragt: »Wie lange wird dieser Kerl denn hierbleiben?« Womit er natürlich Seminow meinte.

»Ich weiß es nicht«, sagte Helen und legte eine Hand auf seinen Arm. »Du wirst sie behüten, nicht wahr?« flüsterte sie. »Ich – ich bin bange –«

Da gab es einen scharfen Knacks, und Davids Pfeife fiel auf die Erde. Er hatte das Mundstück durch gebissen. Als er sie aufhob, bemerkte Helen, daß er totenblaß war und zornig, wie sie ihn noch nie gesehen hatte.

»Er ist ein stattliches Biest – auf seine Art«, sagte David. »Wenn sie Golf spielen wollen, wird es wohl besser sein, ich gehe mit.«

»Ja, tu das ja!« bat Helen.

Sie selbst ging bis zu Frank Yardleys Haus mit und brachte es fertig, Seminow an ihre Seite zu locken.

Der Mann war erschreckend unverfroren und scharfsinnig und machte übertriebene Komplimente. Er sprach auch von Frank, und Helen entdeckte, daß ihr Bruder aus der Schule geschwatzt haben mußte.

»Ein alter Roman?«

»Das nun wohl nicht«, entgegnete sie ärgerlich. »Als Kinder waren wir oft hier zu Besuch. Sind sozusagen zusammen aufgewachsen.«

»Ein gescheiter Mann, dieser Yardley«, sagte Seminow. »Aber es kommt vor, daß man allzu gescheit ist.

Ah, da steht er ja und wartet auf Sie. Welch ein reizender alter Garten! Müssen wir Sie hier zurücklassen? Nun, in Ermangelung des Miniaturbildes werde ich mich mit dem Gemälde trösten.«

Helen schwankte. Sollte sie lieber mitgehen und sich todmüde machen? Aber Frank sah so erfreut aus und riß eilig die Pforte auf, und da war David, der nicht von Kathleens Seite wich. Ueberdies war Kathleen eine leidenschaftliche Golfspielerin. Selbst ein Seminow würde sie nicht von dem Spiel ablenken können.

Franks Garten in seiner prangenden Herbstpracht war ein Bild des Friedens und vollkommener Schönheit. Er pflegte hervorzuheben, daß es der älteste Garten in ganz England sei. Die Beete zwischen den beschnittenen Hecken flammten in bunter Farbenfülle, und eine Bank unter einem uralten Apfelbaum lud zu bequemem Sitzen ein. Helen setzte sich und blickte zu Frank auf. »Was für eine Seele von Mensch Sie doch sind!« rief sie aus.

»Haben Sie das erst jetzt gemerkt?« erwiderte er.

»Nein, ich habe es immer gewußt, Frank; ich bin besorgt.«

»Sie mögen den Nabob nicht leiden?«

»Das ist der richtige Ausdruck für ihn – ein wirklicher Pascha!«

»Ich möchte wohl wissen, wie Sie das entdeckt haben.«

Helen errötete heiß.

»O – Intuition –« murmelte sie. »Er hat es ganz offenbar auf Kathleen abgesehen und dem Kind vollständig den Kopf verdreht.«

»O nein«, entgegnete Yardley. »Der Mann besitzt hypnotische Kraft. Er ist sozusagen eine stark magnetisierte Persönlichkeit. Ich beobachtete ihn gestern abend und sah, welchen Eindruck er auf alle machte. Edwin war wie betäubt davon –«

»Ach, Frank, ich wollte Sie schon fragen – Wissen Sie, ob Edwin etwa irgendwelche – solche Mittel –?«

»Gott bewahre! Ein bißchen viel Portwein vielleicht, nach meiner Ansicht. Aber in der Beziehung neige ich wohl zur Uebertreibung, bin ja nun mal Antialkoholiker. Ich möchte glauben, daß er irgend etwas auf dem Herzen hat – aber das haben wir wohl fast alle. Hoffentlich ist es etwas ebenso Nettes, wie ich es seit langen Jahren mit mir herumtrage.«

Ob es daran lag, daß sie müde und sorgenvoll war, oder daran, daß der tiefe Frieden von Larke Minnis so süß über dem Garten brütete, oder einfach daran, daß sie Frank Yardley immer lieb gehabt hatte – jedenfalls duldete sie es halb unbewußt, als sie plötzlich in den Armen eines Mannes lag, der sie zart und vorsichtig küßte wie einer, der sich nicht aufs Küssen versteht, dessen zitternde Leidenschaft sie aber doch bis ins Innerste bewegte.

»Ja, Frank, ja! Wenn du mich wirklich noch willst? Ich glaube, ich habe dich immer geliebt – war nur zu jung, um es zu begreifen. O, du Lieber, Guter – all die verlorenen Jahre!«

»Nicht verloren, wenigstens nicht für mich!« erwiderte er, »denn ich habe dich immer im Herzen getragen, und ich war nicht unglücklich – nur oft so einsam. Du wirst mich nicht lange warten lassen, nicht wahr, mein Lieb?«

»Sobald Kathleen verheiratet ist. Ich habe diese Nacht beschlossen, daß die Hochzeit schon im Februar stattfinden soll.«

Nun erzählte sie ihm von der nächtlichen Ruhestörung, von dem sonderbaren Amulett und dem Chinesen, der es als Eigentum seines Herrn an sich nahm.

»Lach mich, bitte, nicht aus, Frank! Ich hab' es mir wirklich nicht eingebildet, aber das Zeichen war tatsächlich noch nach einer Stunde ganz deutlich auf meiner Handfläche zu erkennen. Und es war genauso wie das, das du auf Onkel Harrys Stirn bemerkt hast.«

Yardley blickte versonnen vor sich hin. »Warte einen Augenblick!« sagte er dann plötzlich, rannte nach dem Hause und kehrte gleich darauf mit einer Lupe zurück.

»Welche Hand war es denn?«

Sie hielt ihm die Rechte hin.

»Ja«, sagte er nach kurzer Prüfung. »Es ist dasselbe Zeichen – wie eine Brandwunde. Genauso. – Huih! Das ist seltsam. – Nein, ohne die Lupe kannst du's nicht sehen. Hier – nun sieh es dir an! Morgen wird es wohl ganz verschwunden sein.«

»Ja, ich sehe es. Ach, ich bin so froh, Frank! Ich fürchtete, du würdest denken, es wäre Einbildung von mir. Was kann es nur sein? Es brannte, als ob ich eine Nessel angefaßt hätte; es ging aber gleich vorüber. Und ganz dasselbe hast du nach Onkel Harrys Tode auf seiner Stirn gesehen?«

Yardley nickte. »Seminow ist noch nie hier gewesen; das kann ich beschwören«, sagte er.

»Vielleicht hat der Chinese gelogen, und das Ding gehört gar nicht seinem Herrn?«

»Aus Gold, sagtest du?« fragte Yardley nachdenklich.

»Es sah so aus, aber ganz blaßgelb.«

»Radium könnte in Frage kommen. Das Metall kann damit imprägniert sein – aber das frißt durch fast alles durch. Ich meine: so etwas könnte man nicht beliebig herumliegen lassen. – Und auf der Handfläche des Chinesen sahst du dasselbe Zeichen?«

»Ja. Und da kannst du dir es ja selbst ansehen.«

»Wenn ich Gelegenheit dazu habe!« murmelte Yardley.

»Du kommst doch zum Frühstück, Frank?«

»Nein, verzeih, wenn ich das nicht tue. Aber zu Tisch.«

»Ach, komm doch! Ich hab' dich nötig, Frank!«

Er umschlang sie mit einem Arme und streichelte zärtlich ihr Gesicht.

»Meine süße Helen, ist es eigentlich wirklich wahr oder nur ein Traum? Ich habe die langen Jahre hindurch nur an dich gedacht und immer gehofft, du würdest zu mir zurückkehren. Zuweilen schrieb ich lange Briefe an dich – schickte sie aber nie ab.«

»Hättest du's doch getan!« seufzte Helen. »Ich hatte immer das dunkle Gefühl, als ob du mir meine Heirat nie verzeihen würdest.«

»Liebes Herz, du nahmst den Mann, den du liebtest!«

»Nein, er nahm mich! O, ich kann es nicht erklären! Aber dann kam Kathleen und machte es mir leicht. Frederick war ein bedeutender Mann – wäre wahrscheinlich Premierminister geworden, wenn er sich nicht – mit einer anderen Frau zugrunde gerichtet hätte. Ich konnte ihn nicht retten – obgleich ich's versuchte. Zuletzt – als er so krank war – bat er mich, zu kommen, und dann habe ich ihn ein Jahr lang bis zu seinem Tode gepflegt. Da hatte ich Zeit, mir darüber klar zu werden, wie ich mein Leben verpfuscht hatte, und will nun um jeden Preis verhindern, daß Kathleen den gleichen Fehler begeht. Dieser Mann – dieser Seminow –«

»Aber liebste Helen, das Kind hat ihn gestern zum ersten Male gesehen, und Montag wird er doch abreisen.«

»Ach, junge Mädchen sind zuweilen so eindrucksfähig«, seufzte die besorgte Mutter. »Wenn ich zum Beispiel an mich und Frederick denke, kann ich das nur bestätigen. Er war der erste bedeutende Mann, der mir nahetrat, und es schmeichelte mir, daß er mich auszeichnete. Er war ja so viel älter als ich. Neben ihm kamst du mir wie ein Knabe vor, der du ja auch noch warst. Und das ist es, was mich besorgt macht. Du konntest neben Frederick nicht aufkommen, Frank. Er schob dich beiseite, stellte dich in den Schatten. Und ebenso macht Seminow es mit David. Nur fängt dieser an, aufsässig zu werden, während du gekränkt und verwirrt warst. Und Peter Seminow ist kein guter Mensch. Das – das fühle ich! Alle Reichtümer der Welt würden mich nicht trösten, wenn er wirklich einen bleibenden Eindruck auf Kathleen machte. Lieber möchte ich das Kind im Grabe sehen, als das erleben!«

Helen bewahrte nur mühsam ihre Fassung. Niemals durfte Yardley erfahren, wie sie Seminow kennengelernt hatte!

»Mein liebes Kind, du übertreibst. Kathleen ist bildhübsch und zieht alle Männer an. Aber sie ist doch sicher von ›Familiendrachen‹ umgeben; dieser Mann aber ist heute hier und morgen da. Mit dem hat es nichts auf sich! Dagegen muß man diese Amulettsache untersuchen. Was für Geschäfte hat Edwin denn mit Seminow?«

»Ich glaube, es handelt sich um irgendwelche Teeplantagen.«

»Seit wann kennt er den Mann überhaupt?«

»Das weiß ich nicht und kann auch nicht einmal sagen, ob Seminow Onkel Harry gekannt hat.«

Yardley begleitete Helen bis ans Parktor und kehrte dann nach Hause zurück. Er brannte darauf, zu sehen, ob er in seiner Bibliothek irgendeinen Aufschluß oder doch wenigstens einen Wink in bezug auf das seltsame Metall finden würde.

 

Für Helen war der Morgen rasch verflogen. Die Golfspieler kehrten bald nach ihrer Heimkehr zurück und schienen – mit Ausnahme von Fräulein Givens – ziemlich verstimmt zu sein.

»So früh hatte ich Sie gar nicht erwartet«, sagte Helen heiter, worauf Fräulein Givens ihr plötzlich einen lächelnden Blick zuwarf und munter erklärte:

»Ach, es gab allerlei kleine Zwischenfälle, und – da sind wir nun wieder.«

Sir Edwin verschwand wortlos im Eßzimmer, von wo aus dann das Zischen eines Syphons ertönte, was David bewog, ihm zu folgen, während Seminow mit der Miene einer beleidigten Gottheit nach oben ging.

Da bewies Fräulein Givens plötzlich, daß es ihr nicht an Verständnis und Takt fehlte.

»In Wirklichkeit ist eigentlich gar nichts vorgefallen«, sagte sie zu Helen, indem sie einen Arm um Kathleens Schulter legte, »und Sie dürfen Fräulein Cornish nicht böse sein.«

»Es lag an David«, schluchzte Kathleen. »Ich – ich will nie wieder mit ihm sprechen!«

»O, sagen Sie das nicht!« rief Fräulein Givens aus. »Es lag doch nur daran, daß er es nicht verstand. Und das war kein Wunder, obwohl Herr Seminow es gewiß nicht böse gemeint hat.«

»Aber Onkel Edwin sagte doch auch, daß es töricht von David war, sich darüber aufzuregen.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Helen erfuhr, was sich zugetragen hatte. Seminow hatte plötzlich einen herrlichen Taubenblut-Rubin aus der Westentasche hervorgeholt und Kathleen gebeten, das als Hänger oder Brosche gefaßte Juwel als Andenken an den heutigen Morgen von ihm anzunehmen. Da hatte David seinen Schläger wütend gegen einen Baum geschleudert, so daß er in Stücke brach, und Dinge gesagt, die Kathleen ihm niemals verzeihen wollte. Wie es schien, hatte er ihr verboten, das kostbare Geschenk anzunehmen.

»Daran hat er recht getan«, erklärte Helen. »So etwas ist mir denn doch noch nie vorgekommen! Kathleen, du kannst doch unmöglich auch nur daran gedacht haben, den Stein anzunehmen!«

Kathleen trocknete ihre Augen. »Onkel Edwin sagte, er sähe nicht ein –«

»Aber ich sehe es ein, und David hatte vollkommen recht«, fiel Helen ihr energisch ins Wort.

»Herr Seminow nahm die Ablehnung furchtbar übel, und auf dem Rückwege sagte Onkel Edwin, er würde tausend Pfund darum geben, könnte er es ungeschehen machen.«

»Er hätte lieber Herrn Seminow tadeln sollen«, bemerkte Helen.

Es war einzig und allein Fräulein Givens Verdienst, daß das Frühstück einigermaßen gut verlief. Sie brachte eine scheinbare Versöhnung zwischen David und Seminow fertig, so daß die bewölkte Stirn des gekränkten Gottes sich ein wenig erhellte.

Nach einem Gespräch unter vier Augen mit ihrer Mutter erklärte Kathleen sich bereit, den Bruch mit David Mackenzie aus Rücksicht auf Sir Edwin vorläufig zu verschieben, und zu Helens Freude machte David keine Miene, seinen Besuch plötzlich abzubrechen. Nach dem Frühstück wanderte das Brautpaar sogar gemeinsam in den Garten hinaus, um sich zu versöhnen, wie Helen hoffte.

Währenddessen bemühte sich Fräulein Givens auf der Terrasse, den Hausherrn umzustimmen, und Helen ging in die Bibliothek, weil sie sich nach einer Zigarette sehnte. Ihre Finger zitterten ein wenig, als sie sie anzündete, und plötzlich stieß sie unwillkürlich einen Schrei aus.

»O, wie haben Sie mich erschreckt!«

Diese Worte galten Seminow, der ganz leise hereingekommen war.

»Madame, ich möchte Sie sprechen. Haben Sie eine Minute für mich übrig?«

Sie nickte stumm und setzte sich, weil ihre Knie ihr den Dienst versagten. Er sah sehr ernst und ungemein würdevoll aus.

»Madame, Sie haben gehört, was sich heute morgen zugetragen hat. Mein unbedeutendes kleines Geschenk wurde zurückgewiesen.«

»O, Herr Seminow –!«

»Es war vielleicht meine eigene Schuld –«

»Sie meinten es sicherlich gut, Herr Seminow. Aber Sie wissen doch, wie junge Leute sind. David ist sehr verliebt und deshalb eifersüchtig. Ich verstehe natürlich, daß meine Tochter in Ihren Augen ein Kind ist.«

»Verzeihung!« unterbrach er sie. »In meinen Augen ist sie kein Kind. Ich denke an sie, wie ein Mann an seine zukünftige Frau denkt. Ich wünsche Kathleen zu heiraten. Wichtige Entscheidungen pflege ich rasch zu treffen. Ich werde Ihrer Tochter Sonne, Mond und Sterne zu Füßen legen, wenn sie danach verlangen sollte. Alle Schätze, alle Schönheit der Welt werde ich ihr wie einen Teppich zu Füßen breiten. In meiner Heimat bin ich ein Fürst, obwohl das Ihnen und ihr vielleicht nichts ausmachen wird. Ich habe gelebt und geliebt, aber niemals so geliebt, wie ich Ihre Tochter liebe. Einst – traf ich eine Frau. Ja – eine Frau, die ich hätte lieben können. Aber ich hatte sie kaum kennengelernt, als sie entschwand. ›Schiffe, die sich nachts begegnen‹, wie man zu sagen pflegt. Sie war ein kleines Schiff, das sich rasch in der Nacht verlor, und Kathleen erinnert mich an sie. Verzeihen Sie meine etwas wirren Worte! Madame, habe ich Ihre Erlaubnis, mich um die Hand Ihrer Tochter zu bewerben?«

Helen fühlte ein sonderbares Pochen im Kopf. »Wenn ich nicht bald ein wenig schlafen kann, werde ich verrückt!« schoß es ihr jäh durch den Sinn. Dabei sagte sie:

»Herr Seminow, Sie haben meine Tochter gestern zum erstenmal gesehen, und, wie Sie wissen, ist sie bereits verlobt. Es kann also durchaus keine Rede davon sein, daß Sie um sie werben.«

»Wirklich nicht?« Seine Stimme nahm einen rauhen, kalten Ton an. »Nur einmal in meinem Leben habe ich das, wonach ich verlangte, nicht erreicht. Zum zweitenmal wird das nicht vorkommen.«

Er verbeugte sich tief und überließ sie ihren Gedanken.

Dieser unglücklichen Frau war, als ob er sie zermalmt habe. Daß er sie wiedererkannt hatte, stand fest, und auch, daß er ihr nie verziehen hatte und sich jetzt an ihr rächen wollte. Sollte sie ihr Kind an sich reißen und bis ans Ende der Welt entfliehen? Aber nein, so konnte sie ihren Bruder doch nicht im Stich lassen. Er hatte ihr anvertraut, daß die Firma Mathers, Mackenzie u. Co. mit dem Geschäft, das er mit Seminow abzuschließen hoffte, stand oder fiel.

Aber in diesem Augenblick überwog ein überwältigendes Verlangen nach Schlaf alles und jedes; als habe sie ein Betäubungsmittel eingenommen. Und wenn es um ihr Leben ging und um Kathleens Zukunft – sie war außerstande, sich noch länger aufrechtzuerhalten.

»Ein wenig Ruhe – einen Augenblick Schlaf!« sagte sie sich. »Dann wird mein Kopf wieder klar sein.«

Aber es wurde bereits Abend, als die Dunkan ins Schlafzimmer hereinkam, die Kerzen anzündete und leise, um ihre Herrin nicht zu wecken, die Fenstervorhänge zusammenzog. Dabei blickte sie verstohlen hinaus, machte mit erhobenem Zeigefinger irgendein Zeichen und ging dann zum Kamin.

Dort kniete sie nieder, zog eine kleine Schachtel aus der Tasche, öffnete sie und ließ den Inhalt auf das Feuer hinabstäuben. Sofort schoß eine grünlich-gelbe Flamme empor und weckte Helen, die schlafbefangen, mit halboffenen Augen zugesehen hatte, vollends auf.

»Mein Gott, was war denn das?« rief sie aus und fuhr empor.

»Das Holz, gnädige Frau. Die Scheite flammen auf, wenn man hineinstochert. Es ist schon dreiviertel sechs. Welches Kleid soll ich herausnehmen?«

Helen stand auf, setzte sich vor den Toilettentisch, und die Dunkan schickte sich an, ihr das Haar zu bürsten.

»Vorsichtig! Sie zerren ja so!« rief Helen und blickte vorwurfsvoll zu dem Spiegelbild ihrer Jungfer auf.

»Ach, ich bitte um Entschuldigung. Ich bin heute abend so schrecklich zittrig«, jammerte diese und brach in Tränen aus. »Aber seit Sir Edwin den Zirkusleuten erlaubt hat, ihren großen Affen im Schuppen anzuketten, ist mir ganz greulich zumute.«

»Zirkusleute? – Ein Affe im Schuppen? Was meinen Sie denn um Himmelswillen damit, Dunkan?«

»Wissen gnädige Frau es denn nicht? Auf dem Dorfanger lagert doch ein Zirkus, der auf dem Wege nach Maidstone sein soll. Die Leute haben einen riesigen Affen, der allerhand Kunststücke machen kann, aber immer an der Kette liegt, weil er sich nur von seinem Wärter anrühren läßt und gern böse Streiche macht. Na, und jetzt soll er ein bißchen erkältet sein, was bei Affen sehr gefährlich ist, und der soll viel Geld gekostet haben. Deshalb hat der Zirkusbesitzer Sir Edwin gebeten, ob er ihm vielleicht eine Scheune oder so etwas vermieten könnte, wo man das Biest nachts anketten kann, und Sir Edwin hat ihm erlaubt, dazu den alten Schuppen zu benutzen. Gnädige Frau werden ja wissen, den Schuppen, wo –«

Helen schauderte. Natürlich! Der Schuppen, wo man den armen Onkel Harry gefunden hatte! Er lag nur etwa hundert Schritt vom Hause entfernt, und der Gedanke, daß dort ein Menschenaffe übernachten sollte, war keineswegs behaglich.

Dennoch sagte sie in verweisendem Tone: »Seien Sie doch nicht so töricht, sich darüber zu beunruhigen, Dunkan!« und beendete dann hastig ihre Toilette, weil sie ihren Bruder noch vor Tisch zu sprechen wünschte.

Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, schlich die Jungfer leise auf die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Dann kniete sie wieder vor dem Kamin nieder, steckte die vorhin geleerte Schachtel tief in die Glut hinein, was wieder eine fahl aufflackernde Flamme hervorrief, und murmelte dann befriedigt: »So, das wäre gemacht!«


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