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Ober-Engadin.

Meint man nicht, man stehe vor einem norwegischen Fjord, wenn man diese Seenreihe vor sich sieht, mit den steilen Hängen, den Schneefeldern und massigen Bergen darüber? Aber während das düstere Grau des Nordlands auch düstere Gedanken erweckt, herrscht hier eine märchenhafte Farbenpracht und Vielseitigkeit, in der Wälder, Wiesen, glitzernde Seen und Gletscher mit dem blauen Himmel sich zu überbieten suchen. Dazu die zahlreichen Ortschaften mit ihren schmucken Häusern, die überall hervorlugen, und die sonstigen unzähligen malerischen Kleinigkeiten! »Vor allem aber ist das Licht, das aparte, reine, kindliche Licht das Geheimnis dieses merkwürdigen Tales.« Auch die Trennung der Gewässer in mehrere Seen bringt gegenüber der Fjordlandschaft eine größere Abwechslung mit sich, zumal diese Seen durch Talbarrieren voneinander getrennt sind, die der Landschaft den Charakter des Mittelgebirgs inmitten der schneebedeckten Riesen geben, welch unvergleichliche Fülle von Spaziergängen jeder Art bis hinauf zur Hochgebirgswanderung gibt es da!

Alles in allem ist das Engadin eine sehr vornehme Landschaft, die bekanntlich ein recht verwöhntes Publikum anzieht und als das eleganteste Viertel der Alpen gilt, das sich nur noch mit den großen Badeorten der Riviera vergleichen läßt. Man fährt da im Wagen hinauf zum Malojapaß, wo »die Verblüffung des abrupt in die Tiefe stürzenden Bergells wie ein plötzlich in die Hölle gefallenes Stück Engadin neben dessen Schönheitstraum steht,« rudert auf den Seen, bummelt im schönen Fex-, Roseg- oder Morteratschtal, fährt hinauf zu Muottas Muraigl, besteigt auch den Piz Languard, Corvatsch oder gar den Piz Morteratsch, alles Aussichtsberge erster Klasse, überschreitet die Diavolezza und führt im übrigen ein luxuriöses Hotelleben mit all seinen interessanten Pikanterien, während im Winter der intensivste und exklusivste Sport getrieben wird, zu dem nur Geldbeutel erster Klasse zugelassen sind.

Vornehm ist auch die Berninagruppe, das hauptsächlichste Gebirge des Ober-Engadins. Als ein mächtiger, von West nach Ost ziehender Eiswall, von dem die Seitenarme des Piz Corvatsch, Piz Bernina und der Diavolezza nach Norden ins Berninatal abfallen, hebt es sich in ruhiger Pracht in den Himmel hinein. Wir sehen da keine scharf ausgeprägte Gipfelbildung, und nur wenig erheben sich die Spitzen über die Kämme. Dafür herrscht aber eine um so vielgestaltigere Entwicklung der überaus großartigen Gletscherwelt. Je mehr wir in das Gebirge eindringen, um so mehr müssen wir über den Reichtum der eisigen Gletscherformen staunen. Nirgends sehen wir jene monotonen Firnhänge, welche in den Schneeregionen so oft das Auge ermüden. Überall sind den Firnen phantastische Eisgebilde vorgelagert, zackige Grate ziehen sich an ihnen herab, durchbrechen die gewaltigen Formen und erregen das Entzücken des Bergsteigers immer von neuem. Das vor allem bewirkt es, daß man das Gebirge um so mehr lieben lernt, je mehr man sich mit ihm vertraut macht.

Piz Bernina und Piz Morteratsch von der Diavolezza.

Auch uns ging es so im Jahre 1898, obgleich wir nur wenige Tage zur Verfügung hatten. Es machte mir dabei zunächst ein besonderes Vergnügen, über die Diavolezza zu gehen, bei welchem Spaziergang ich die Erinnerung an meine Wintertour auffrischen, sie Frau Maud erzählen und über die Wechselfälle des Lebens nachdenken konnte. Wie sich die Dinge ändern können! Man hält es oft für ganz unmöglich, und doch folgt dem Winter immer wieder der Frühling und Sommer.

Piz Roseg.

Die nächste Besteigung galt dem Kulminationspunkt der Gruppe, Piz Bernina (4052 m). Von der Diavolezza gesehen, ähnelt dieser Berg der Jungfrau von der Wengernalp, ohne im übrigen ihren Gestaltenreichtum zu erreichen. Die vornehm einfache Engadiner Ruhe tritt da mehr hervor, als bei der Perle des Oberlands. Die Tour charakterisierte sich im allgemeinen als eine mühsame Schneewaterei, bei der die zerklüfteten Eismassen des »Labyrinths«, der Sonnenaufgang an dem Felskoloß der schönen Crast' Agüzza und der herrliche Gipfel des Berges als erhebende Glanzpunkte hervortraten. Es ist ein messerscharfer Firngrat, wie man nur selten einen findet, der sich dort oben im Zickzack hin- und herzieht und mit seinen plastischen Schatten und reizvollen Lichtern auf engstem Raum eine Welt voll eigen eisiger Pracht über den Abgründen bildet. Auch die Aussicht ist überaus großartig, vor allem nach Süden auf den majestätischen Monte della Disgrazia, den schönen Unglücksberg. Der Abstieg an dem steilen Hang war infolge des inzwischen durch die Sonne gelockerten Schnees, der kein Stufenschlagen erlaubte, recht heikel.

Der Piz Morteratsch (3754 m), dem dann ein Besuch abgestattet wurde, hat als Aussichtsberg vor seinen schon erwähnten Genossen den Vorteil voraus, daß er sich mitten im Gebirge befindet und sein Ausblick instruktiver und großartiger ist. Auch ist seine Besteigung nicht so ganz bedeutungslos, wie ein Abenteuer zeigt, das drei Touristen und zwei Führern begegnete, die von einer losgelösten Lawine über 300 Meter weit in die Tiefe gerissen, in Spalten geworfen und wieder herausgeschleudert wurden, ohne daß im übrigen jemand erhebliche Verletzungen erlitt.

Wir selbst nahmen uns alle Zeit zu der interessanten Tour und bewunderten den mächtigen Gipfelblock mit seinen beiden wächtengekrönten Kuppen, seinen prächtig glitzernden Schneeflächen und den langgestreckten Felsenschatten nach Gebühr. Auf dem Gipfel zeigte sich uns eine wunderbar wilde Aussicht. Da war vor allem der nahe Piz Bernina mit seinem mächtigen Turm und der berüchtigten Scharte, daneben der breite Monte Scersen, von dessen Überschreitung Güßfeld eine so abenteuerlich plastische Schilderung gegeben hat, und endlich mein Lieblingsberg in der Gruppe, der interessante Piz Roseg. Wohl eine Stunde lang hielten wir uns auf dem breiten Firnplateau in jener wohltuenden, unendlichen Ruhe auf. welche das Gemüt für die Schönheit und Größe des Hochgebirgs so empfänglich macht.

Bernina, Scersen und Roseg vom Piz Morteratsch.


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