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Dolomitenbilder.

Die Paladolomiten vom Lusiapaß.

Schon bei meiner ersten Winterreise in die hohe Tatra im Jahre 1884 hatte ich es lebhaft bedauert, daß ich die einzigen Eindrücke der großartigen Winterlandschaft nicht auf irgendeine Weise festhalten konnte, sie sich auch allmählich wieder verflüchtigen mußten in der vergeßlichen Erinnerung, wie so manches andere Schöne und Eigenartige. Das brachte mich auf den Gedanken, mich der Lichtbildkunst in die Arme zu werfen, die gerade damals durch die Erfindung der Trockenplatten einen Aufschwung nahm und auch Aufnahmen außerhalb des Ateliers ermöglichte. So einfach wie heutzutage war das nun allerdings nicht. Amateurphotographen gab es eigentlich überhaupt noch keine, und die Schwierigkeiten waren gerade bei der Hochgebirgsphotographie enorme. Aber das reizte nur, und ich freute mich höchlichst, daß hier Erfindungsgabe und Bastelei noch etwas leisten konnten. Was ich dabei alles durchzumachen hatte, läßt sich kaum beschreiben, aber meine Begeisterung wuchs ins Grenzenlose. Erst habe ich mich mit dem unerträglichen Gewicht zahlreicher Glasplatten so lange abgeschleppt, bis ich einen Plattfuß weg hatte, dann arbeitete ich mich durch Negativpavier, Strippingfilms und Gelatinefilms hindurch, die, abgesehen von allerhand Unvollkommenheiten jedes Jahr wieder eine andere Empfindlichkeit hatten und konstruierte mir zahlreiche Apparate, was man sich heute fertig im Laden kauft, das mußte man alles erst erfinden, konstruieren und unter vielen Umständen und Kosten herstellen lassen, um dann nach der nächsten Reise, die neue Gesichtspunkte brachte, wieder von vorne anzufangen. Viel unterhaltsame Anregung erhielt ich mit der Zeit auch in einem selbstgegründeten Amateurklub, der bald eine Anzahl Mitglieder zählte und in dem einer den anderen in Geschick, Erfahrung und praktischen Erfindungen zu überbieten suchte. Und dann dieser Eifer draußen bei der Aufnahme! Ich kann wohl sagen, daß es auf der ganzen Welt nichts gab, das mich abgehalten hätte, eine stimmungsvolle Hochgebirgsphotographie zu machen. Ich habe oft tagelang unter den schwierigsten Verhältnissen auf ein Bild gewartet, das ich in entsprechender Beleuchtung haben wollte. Mit der Zeit vervollkommnete ich mich dann auch. Das Hauptergebnis dieser ganzen Tätigkeit lag aber weniger in den verschiedenen tausend Negativen, die ich mir allmählich ansammelte, als darin, daß ich sehen lernte. Zunächst allerdings nur photographisch. Das mag ja nun manchem wenig genug dünken, zumal der Photograph nur mit Schwarz und Weiß arbeitet und ihm, damals wenigstens, die Farbenpracht fehlte. Einen künstlerischen Vorteil hatte das aber doch: die Konzentration. Wie oft kann man beobachten, daß der Maler in seinem Farbenrausch recht »genial« ist, das heißt, sich mit einer »Farbensymphonie« begnügt, bei der die dargestellten Dinge, so hübsch sie an sich gemalt sein mögen, einfach auseinanderfalten, so daß man die »Studie« unmöglich als ein »Bild« ansprechen kann. Demgegenüber muß sich der Photograph in der Komposition von Linien, Licht und Schatten ganz anders konzentrieren. Nun kann es mir natürlich nicht einfallen, die Photographie als Kunst neben die Malerei stellen, sie überhaupt als Kunst im strengen Sinne, zu der sie höchstens einige Ansätze zeigt, ausgeben zu wollen. Wohl aber kann sie das Kunstempfinden fördern und in ihrer ganzen Auffassung künstlerisch sehen lehren. Jawohl Auffassung, denn eine solche hat auch die Photographie. Zwei Photographen werden von demselben Gegenstand niemals dasselbe Bild machen, ein jeder hat seine charakteristische Eigenart, und der Kenner kann z. B. die bekannteren Hochgebirgslichtbildner in der Wahl ihrer Gegenstände, dem Arrangement, der ganzen Auffassung und der Technik der Ausführung ohne weiteres erkennen und voneinander unterscheiden. Auch die Photographie ermöglicht es eben, daß in alledem der Geist und das Wesen ihres Urhebers zum Ausdruck kommen.

Wenn ich somit äußerlich einen Anhalt hatte, einigermaßen künstlerische Wege zu gehen, so kamen dem auch die bei meinem Liebestraum gemachten Erfahrungen entgegen, die mich für Gefühlswerte empfänglicher gemacht hatten. Endlich fand ich dabei einen Ersatz für mein aufgegebenes Studium. Die Tatsache, »daß wir nichts wissen können«, machte mich empfänglicher für die Welt, die sich nicht mit dem Verstand abgibt, die mit ihrem Ahnen noch viel tiefere Zusammenhänge erschließt, Werte, Erlebnisse und Offenbarungen schafft, als es das bißchen Gehirn in seiner logischen Einseitigkeit und Kausalitätsbeschränkung je vermag. »So ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!« Also der Boden war jetzt für das künstlerische Empfinden geebnet. Meine Kunst aber wurde nicht etwa die Photographie, sondern der Alpinismus.

Der Alpinismus als Kunst!

Leonhard hat einst in einer Schrift, »Zur Stellung und Würdigung des Alpinismus«, gestützt auf Kant, nachgewiesen, daß der Alpinismus seiner wahren Natur nach ästhetischer Art und als eine besondere Kunstgattung anzusehen sei. Er geht sogar noch weiter und erklärt, daß zwei Umstände ihn über alle anderen Künste erheben. Einmal weil er sich an den Urquell jeder Kunst, die Natur wende, die stets der Jungbrunnen ist, aus dem der wahre Künstler schöpft, die ihn gegen alle Verirrungen immer wieder schützt. Ferner zeichne er sich dadurch aus, daß bei ihm jeder einzelne ein schaffender Künstler sei. »Hier gibt es keine nur rezeptiven Kunstfreunde, hier ist der ästhetische Genuß eines jeden einzelnen eigenstes Werk, durch eigene Kraft und Arbeit erworben und errungen. Der Bergsteiger teilt die ästhetischen Empfindungen eines Komponisten, der sein eigenes Werk hört. Was jede andere Kunst immer nur einzelnen Bevorzugten gewährt, das bietet der Alpinismus allen seinen Jüngern.«

Es verlohnt sich, etwas näher darauf einzugehen.

Wenn die Kunst das Ahnen des Unendlichen, das Herausfühlen des Ewigen aus den Dingen ist, so kann der Alpinist sich dieses Gefühl allerdings in besonderem Maße verschaffen, wenn er das nur will und sein Herz dafür empfänglich ist. Daß die Natur an sich schon eine beruhigende, befreiende und läuternde Kraft hat, unsere Seele erhebt, wer wollte es bestreiten! Wieviel mehr und intensiver aber ist das für den Empfänglichen beim Hochgebirge der Fall, in dieser geheimnisvollen Welt des Erhabenen, die unwillkürlich Ehrfurcht und heilige Schauer erweckt! Es ist gewiß nicht nur ein Zufall, daß den Naturvölkern die Berge als Heiligtümer erschienen, daß Moses und Elias auf den Höhen die Gottheit, also das Ewige, suchten, daß der Erlöser selbst hinaufging auf einen Berg, um zu beten. Die Stille dort oben, die Weite und Größe, ebenso wie das Walten unerhörter Mächte lösen Gefühle in uns aus, die weit über Menschenwitz und Verstand gehen. Mag man nun Panteist sein oder nicht, mag man glauben, daß die Welt die Gottheit selbst ist, oder daß diese sie von außen her umfaßt und durchdringt, Tatsache ist, daß ein jeder, dem Übersinnlichen auch nur halbwegs zugängliche Mensch dort oben »das Gefühl eines geheimnisvollen Empfangens« verspürt, ein Anklingen von Kräften, die er auch in sich selbst als die höchsten und edelsten empfindet, mit einem Wort; etwas vom Zusammenhang dieser Welt und ihrer Größe.

Am präzisesten gibt Falke diesem Gefühl in seinem Jungfraubuch Ausdruck. »Die Berge zeigen uns den Takt der Weltenuhr, den langsamen, erhabenen Rhythmus des Anorganischen, der jenseits aller Lust und Qual eines fühlenden Herzens, tief unter dem wechselvollen Traum eitler Menschenwünsche in unbeirrbarer Gesetzmäßigkeit vor sich geht. Das ist es, was beim Anblick der Berge so unbegreiflich beruhigend wirkt. – Die übermächtige Natur läßt uns leise in ihr Sinnen hineingleiten, man fühlt den schmerzlosen Untergrund des Unbewußten, dem wir entstammen und zu dem wir einst wieder zurückkehren. Eine tiefe Sehnsucht ergreift uns, unsern nervösen Herzschlag am Busen der Allmutter wieder mit dem ihrigen in Einklang zu bringen.«

Byron sind deshalb »hohe Berge ein Gefühl«.

»Auf Felsen sitzen, über Fluten träumen,
Still sich ergehn auf schatt'gem Waldespfad,
In nie von Menschen noch beherrschten Räumen,
Die selten, nie ein Sterblicher betrat,

Erklimmen einsam des Gebirges Grat,
Am Abgrund stehn, am schäum'gen Wasserbad,
Das ist nicht Einsamkeit, das heißt sich tauchen
In die Natur, die Seel in ihre Seele hauchen.«

Sind solche Weihestunden, ein solches Heimfinden zum All nun Kunst oder nicht, oder sagen wir wenigstens Kunstgefühl? Mag man darüber denken, wie man will; ich kann nur sagen, daß ich sie so empfinden lernte und glücklich bin, daß meine Seele im Gebirge in solche Berührung mit dem Übersinnlichen kommt, in ein Ahnen unfaßbarer und unbegreifbarer Zusammenhänge, wie es sonst nur der Religion und Kunst eigen ist, ein Ahnen, das mir oft genug eine Offenbarung und ein lebendiges Erlebnis bedeutete. Ich muß nun allerdings sagen, daß ich es meist mehr als Religion, denn als Kunst empfand. Doch was hat da der Name zu sagen!

»Nenn's Glück, Herz, Liebe, Gott,
Gefühl ist alles, umnebelnd Himmelsglut.«

Jedenfalls halte ich dieses Gefühl für das weitaus Höchste, was der Alpinismus zu geben hat.

Man hat viel darüber geschrieben und alles Mögliche daraus abgeleitet, daß der Alpinismus ein Sport sei. Gewiß kann er auch das sein, und kein Verständiger wird zum Beispiel einen jungen Alpinisten tadeln, der das Klettern als Sport betreibt. Es ist eine Lust, ja mehr noch ein Glück, einen gesunden, kräftigen und leistungsfähigen Körper zu haben. Es ist auch eine Lust, ihn im Wettkampf in geregelten Normen zu üben. Die Hauptsache ist das aber nicht, höchstens ein Mittel zur Erreichung höherer Ziele, und man könnte zum Beispiel ebensogut sagen, der Alpinismus sei die Grundlage für geologische, geographische oder andere Studien, die ja im übrigen auch ihre Gefühlswerte haben Können. Kehren wir also wieder zur Hauptsache zurück, daß sich nämlich das Sehen zum ahnungsvollen, künstlerischen Schauen und Empfinden erweitert. Es ist dies ein Schritt, dem eine bedeutsame seelische Tätigkeit innewohnt. Bekanntlich sieht der Bergbewohner nur, das heißt er beobachtet eine Unmasse von Detail, das dem Flachländer meist völlig entgeht, das er aber nicht innerlich verarbeitet. Nach Rosegger »erfaßt er nur die einzelnen Objekte und setzt sie zu seinem Leben wesentlich unter dem Gesichtspunkt des persönlichen Nutzens oder Schadens in Beziehung. Ebenso beschäftigt sich auch die Volkspoesie nur mit den praktischen Seiten der Berge. Der Hirt besingt die grünen Matten, der Holzhauer den dunkeln Wald, der Gemsjäger den schroffen Felsenschrund. Die Schönheit an sich entwickelt sich erst in der Gegensätzlichkeit. Dem Gebirgskind wird's bekanntlich erst im Flachland bewußt, wie sehr es die Berge liebt.«

Anders beim Schauen, wo es darauf ankommt, die Stimmungsimpressionen der Landschaft aufzusuchen, sie seelisch und gefühlsmäßig auszulösen, zu vertiefen, in ihrem Ewigkeitszusammenhang und ihren Harmonien zu ahnen. Dies ist um so schwieriger, als die Natur nicht wie der Künstler auf ein ästhetisches Ziel hinarbeitet und das Nebeneinander ihres Reichtums unbegrenzt ist. Sie läßt alles unbestimmt, es wohnt ihr keine künstlerische Absicht inne, und eigentlich können wir auch keine solche aus ihr herauslesen. Tun wir das doch, und als Künstler sollen und wollen wir es, so legen wir in Wahrheit Ewigkeitsgefühle in sie hinein, die wir dem eigenen Innern entnehmen. »Ich mache diese wunderbare Reise, um mich selbst an den Dingen kennen zu lernen,« sagt Goethe. Wie weit das oft geht, zeigt unter anderem Lammer, dem unablässig »seine Verwandtschaft mit den tausend Einzelerscheinungen«, z. B. ganz bestimmten Blumen, zum Bewußtsein kommt. »Jener flüchtige Sonnenblitz im wallenden Nebelrauch, der das einsame Hüttchen oder jenen Serac so wunderseltsam verklärt, läßt neue oder wieder uralte heimatliche Gefühle in mir aufklingen, jene Lawine spricht zu mir in verständlichster Sprache, nur kann ich alle diese Dinge, die ich sehr individuell und klar empfinde, nicht entsprechend ausdrücken.« Also:

»Mit Worten läßt sich's erschildern nicht
Und nicht mit Farben ermalen;
Mich dünkt so purpurgetempert und licht
Muß das heilige Land erstrahlen.«

Scheffel.

Die Frage, wie wir sehen sollen, beantwortet sich danach: mit offenem Herzen sollen wir aufnehmen, was am meisten in uns anklingt, sollen der innern Stimme liebevoll folgen, wenn sie sich ihr ahnungsvolles Gebäude aufbaut, sollen uns mit dem »unendlich beseligenden Unterton« begnügen, daß wir uns in diesen Stimmungen eins mit der Größe dort draußen fühlen, vernunftgemäß begreifen und fassen können und sollen wir es nicht. Wollen wir das doch, so eröffnen sich sofort wieder die Abgründe des Verstandes, der sich zu solchen Höhen nicht emporschwingen kann und alles Große zu sich herunterzerrt, dem sich die ewig verschlossene Pforte am allerwenigsten öffnet. Und wenn der eine meint, »daß eine Welt, die so viel Schönheit berge, nicht ohne einen großen Plan sein könne,« so betont der andere »die harte Brutalität und Erbarmungslosigkeit, mit der die Natur gerade dort oben alles Leben zertritt«, die »göttliche Zwecklosigkeit der Alpenwüste«.

Was nun mich betrifft, so waren mir die Berge jetzt bald nicht mehr bloß Gegner, mit denen ich kämpfte. Sie wurden mir Freunde, einzelne so sehr, daß ich immer wieder zu ihnen zurückkehrte, immer neue und tiefere Anregung von ihnen erhielt. Was mich anzog, war vor allem Größe, Kühnheit und Wildheit, kurz das eigentlich Hochgebirgsmäßige und Alpine. Ebenso liebte ich Wolken und Sturm. Der Blick in zerfetzte Nebelgebilde, die in mächtigen Kesseln lagern und an den steilen, zerrissenen Hängen hinaufragen, war mir stets eine Wonne, und eine schwere, dunkle Gewitterwolke, die einen Berg umarmte, ihn bald frei ließ, bald ganz einhüllte, sagte mir außerordentlich viel.

Auch die Bedeutung des äußeren Aufputzes lernte ich schätzen. Gibt es doch viele Berge, welche erst durch seinen Reichtum, durch wechselvolle Schnee- und Eismassen und ihre merkwürdigen, der Schwerkraft scheinbar oft völlig hohnsprechenden Gebilde, durch abenteuerliche Felsformen und eindrucksvolle Steilwände ihren wahren Schönheitscharakter erhalten, wenn zum Beispiel die Jungfrau wohl eine in ihrer Art schöne pyramidale Gipfelform zeigt, so sind es doch erst die prächtigen vorgelagerten Silberhörner mit ihrer abenteuerlichen Gletscherzerklüftung, die den Berg zu einem so wunderbar erhabenen, wechselreichen Gebilde machen.

Überhaupt das Detail! Zacken, Klüfte, Grate, Seracs, Spalten, Wächten und was es sonst noch gibt! Ich muß sagen, daß sie mir meist mehr bedeuteten, als die Berge selbst, hauchen doch diese riesenhaften Kleinigkeiten dem Ganzen erst wirklich Leben und Charakter ein und lassen uns seine ungeheuerliche Größe fühlen, umwoben von ihrem romantischen Schimmer, welche kaum faßbaren Wunder erlebt man da z. B. bei einer Besteigung des Matterhorns auf der Südseite, auf dem zerklüfteten Grat des Cimone oder den ungeheuren Gipfelblöcken des Crozzon! Die Details sind mir auch lieber, als der Fernblick vom Gipfel, der wohl eine unermeßliche Weite im Herzen eröffnet, ein Entrücktsein aus der Welt, mit seiner verflachenden Ballonperspektive auf die Dauer aber leicht monoton und verwirrend wirkt. Wenn nicht ein Wolkenmeer mit seinen hervorstehenden Inselzacken seine abgeklärte Ruhe darüber breitet, oder Sturmwolken und Schneegestöber ihm dramatisches Leben einhauchen. Besonders viel sagt mir auch der Blick vom Vorland auf das ferne Gebirge, das mit seinem eisigen Zackengewirre über der grünen Ebene so märchenhaft anmutet, beinahe wie ein besseres, unerreichbares Jenseits, dem unsere ganze Menschensehnsucht entgegenpocht.

Nicht vergessen möchte ich endlich die heldenhafte Geschichte, die oft einem Berg die Wucht eines historischen Hintergrundes und mit ihren heißen Bemühungen, Hoffnungen, Enttäuschungen und Schicksalsschlägen so manche kalte Örtlichkeit mit dem Zauber der Menschlichkeit umwebt und erwärmt.

Einige sportliche Einschränkungen mußten bei dieser Art künstlerisch-photographischen Alpinismus, der ich mich mehr und mehr ergab, naturgemäß in den Kauf genommen werden. Das Betrachten und Sinnieren hält ja an sich schon auf, das photographieren natürlich noch viel mehr. Auch brachte die Tatsache, daß ich meist zwei Apparate, darunter einen größten Formats mit mir führte, es mit sich, daß ich meist mit Führern gehen mußte. In gewissem Sinne bedauerte ich das manchmal und empfand es als seelisch störend und die Unternehmungslust hemmend, aber die lebhafte, präzise Erinnerung, die meine Photographien in Stimmung und Erleben immer wieder in mir erwecken, sind mir doch wesentlich mehr wert, als manches vielleicht verpatzte Abenteuer oder gar dieser oder jener nicht bestiegene Gipfel. »Man mueß nit überall g'wesen sein!« sagte mein Freund Stabeler einmal sehr treffend. Im übrigen sorgten mein Naturell und Temperament schon dafür, daß es auch in Zukunft nicht gar zu zahm zuging. Es entwickelte sich vielmehr eine Mischung von Unternehmungslust und Naturschwärmerei, bei der alles zu seinem Rechte kam, die mein ganzes Wesen vertiefte und mich jedenfalls so befriedigte, wie ich es andern nur wünschen kann.

Rosetta Pala Ball Saß Maor

Die südliche Palagruppe.

 

Es war ein Zufall, der mich 1892 in das Gebiet der Pala-Dolomiten führte. Ich hatte eine Photographie des Timone della Pala in die Hände bekommen, die mich so entzückte, daß ich beschloß, mir diesen Berg, der es mir beim ersten Blick angetan hatte, näher anzusehen. Dieser Entschluß war vor allem in photographischer Hinsicht ein äußerst glücklicher und hat mir sehr viel Anregung gegeben. Wenn die Dolomiten an sich schon vortreffliche und verhältnismäßig leicht zu meisternde Objekte der Lichtbildnerei sind, so zeigt die Palagruppe mit ihren vielgestaltigen Felsen, den häufigen malerischen Wolkenbildungen, die ihnen ein so eigenes Leben einhauchen, und dem südlichen Charakter der ganzen Landschaft besonders pittoreske Formen. Es war eine Lust, sich da seine Bilder zu suchen, oder vielmehr dieselben drängten sich mir in einer Weise auf, wie ich es kaum irgendwo gefunden habe. Auch sonst traf ich es recht gut in dem komfortabeln Hotel von San Martino di Castrozza, wo ich eine recht sympathische Gesellschaft vorfand. Auf meinen Touren ging ich teils allein, teils in Begleitung des trefflichen Michele Bettega, eines Prachtkerls und erstklassigen Führers, der mit leidenschaftlicher südlicher Lebhaftigkeit die größte Harmlosigkeit und Gutmütigkeit verband. Ich habe dabei vor allem mehrmals den Timone bestiegen, die Vezzana, Pala di San Martino und später den hochinteressanten Saß Maor, mich auch vergeblich an der Cima di Ball abgemüht, wo ich mich bei einer Alleinkletterei gründlich verstieg. Zu erwähnen ist dabei weiter nicht viel, und ich möchte nur auf einige der Eindrücke eingehen, die besonders hafteten.

Da wurde vor allem der Cimone della Pala geradezu eine Wunderwelt für mich. Man hat den Berg auch das Matterhorn der Dolomiten genannt, und wenn man ihn vom Rollepaß aus betrachtet, so ist eine gewisse Ähnlichkeit unverkennbar. Nur ist der ganze Aufbau ein spitzerer, mehr nadelartiger, und die Blöcke, aus denen er von Zyklopenhänden zusammengesetzt zu sein scheint, geben ihm wohl einen größeren Reichtum, nehmen ihm aber auch die Wucht des aus einem Gusse aufgebauten Zermatter Riesen; es herrscht nicht jene eherne Ruhe über ihm, aber er ist dafür lebendiger. Ich will dabei nicht weiter davon reden, daß man in dem zweiten mächtigen Block rechts unterhalb des Gipfels ein regelrechtes Bärengesicht erkennen kann, denn ich gehöre nicht zu den Leuten, die überall Gesichter sehen und wurde erst später von anderer Seite darauf aufmerksam gemacht. Mir war das Leben interessanter, das die prachtvolle Wolkenbildung der von Süden anrückenden Nebelbank dem Berg verlieh, als ich ihn zum erstenmal sah. Wie das huschte und hin und her wogte, ihn bald geisterhaft verdeckte, bald in seiner ganzen Wucht und Größe aus den grünen Matten hervortreten ließ! Ein Schauspiel ohnegleichen! Ich rannte wie ein Verrückter, bebenden Herzens, ob ich noch rechtzeitig einen geeigneten Standpunkt für eine Aufnahme finden würde. Ich hätte mich nicht so zu beeilen brauchen, denn wie sich bald herausstellte, ist diese Wolkenbildung eine charakteristische Eigentümlichkeit des Berges, die sich beinahe täglich wiederholt, und schon 22 Jahre vorher schrieb der erste Besteiger: »Ich hatte einen der schönsten Anblicke, die ich je gesehen. Der höhere Teil des Berges war allein sichtbar und umgeben von einem Kranz von Nebeln, der ihm das herrlichste Aussehen gab, das man sich nur denken kann.«

Wie ganz anders nun nimmt sich der Berg von dem Gipfel der benachbarten Rosetta aus! Sollte man glauben, es mit demselben Berg zu tun zu haben? Eine riesenhafte Felswand erhebt sich hier wiederum aus den Nebeln, die so ganz anders geartet ist, als die spitze Nadel vom Rollepaß. Der Berg bietet uns hier seine Breitseite dar, und der Vergleich der beiden Bilder läßt erkennen, wie scharf der Grad dort oben sein muß, der so senkrecht zu beiden Seiten abfällt. Man beachte auch die gigantische Linienführung, in welcher die Riesenwand nach links, dem Rollepatz zu abfällt. Wieder ein ander Bild! Wir haben unsern Berg von dem ihn umgebenden Hochplateau aus vor Augen. Hebt er sich da nicht wie eine luftige Burg mit Zacken und Türmen und vorgelagerten trotzigen Bastionen in die Lüfte, oder wie ein riesenhaftes verwunschenes Zauberschloß, dessen Umgebung zu Stein erstarrt ist? Wie klein erscheint daneben das Menschenbauwerk der Rosettahütte an seinem Fuß, welche riesenhafte Bewohner kann man sich dort hinaufdenken!

Ich möchte hier noch etwas näher auf die Bedeutung der Größenverhältnisse eingehen. Wenn der Alpinismus das Ahnen des Unendlichen fördert, so hat er noch den Vorzug, daß er uns dieses Unendliche gewissermaßen greifbar vor Augen stellt und uns damit einen Größenmaßstab gibt, den wir sonst nirgends finden. Wohl herrschen am gestirnten Himmel noch ganz andere Größenverhältnisse, aber Leßlie Stephen hat recht, wenn er von den zehnstelligen Zahlen der Astronomen sagt: »Du meine Güte, auf ein paar Nullen mehr oder weniger kommt's da gar nicht mehr an, man versteht sie ja doch nicht.« Die Größenverhältnisse des Gebirges aber sind dem Alpinisten noch faßbar und verständlich. Sie geben ihm einen Maßstab, der die Seele für das Unermeßliche vorbereitet und empfänglich macht und »lehren ihn damit eine Sprache, welche sich dem gewöhnlichen Menschen nur zum Teil offenbart«.

Cimone della Pala vom Rollepaß

Vergleichen wir zu diesem Zweck die beiden Bilder des Cimone vom Plateau, welche genau an derselben Stelle aufgenommen sind. Wie reckt sich da bei dem Fernrohrbild die mächtige Wand in die Höhe, wie heben sich die Zacken und Türme heraus, wie türmt sich Abgrund über Abgrund! Und das alles nur auf dem Bilde! Betrachten wir nun auch gleich den Gipfel, der sich auf den beiden ersten Bildern kaum als ein Punkt darstellt, so können wir doch vielleicht das Gefühl der ungeheuerlichen Größenverhältnisse bekommen, können verstehen, wie ergreifend sie auf das Gemüt wirken müssen. Auch das Detail des Bildes »Einstieg am Drahtseil«, das in der Scharte zur Rechten des Gipfelblocks aufgenommen ist, läßt uns bei vergleichender Betrachtung die packende Vielgestaltigkeit der ungeheuerlichen Formen dort oben ahnen.

Daß die Besteigung des Berges, welche senkrecht an dem Turm zur Rechten empor und dann über den Grat zum Gipfel führt, eine überaus interessante und wechselvolle ist, ergibt sich aus dem Vorstehenden. Sie bringt nicht nur großartige Klettereien auf gutem Gestein, herrliche Details und Ausblicke aller Art mit sich, sondern hatte für mich auch einige geradezu ideale Eindrücke. So wird mir die Morgendämmerung auf dem Travignolopaß ewig unvergeßlich sein. Noch während der Nacht waren wir in einer felsumbrandeten Schneerinne angestiegen. Mühsam, noch halb verschlafen, immer die steile Firnwand unmittelbar vor uns, hatten wir der Umgebung kaum geachtet. Die Dämmerung war eingetreten, ohne daß wir es bemerkten. Da mit einem Schlag auf der Paßhöhe eröffnete sich eine Welt zu unseren Füßen, so weit das Auge reichte, wie ein bleiernes Meer lagen die wogenden Morgennebel über den Tälern, darüber die Berge, Inseln gleich, und überall Sonne und Leben. Wie fühlten wir uns da gehoben auf unserer luftigen Höhe, wie beseeligt in dieser anderen, schöneren Welt. Ja, ja, ihr Schläfer dort unten, reckt und streckt nur eure Glieder, bis ihr euch endlich zum Aufstehen bequemt und redet klug! Wir hier oben wissen es besser.

Cimone della Pala. Der Einstieg am Drahtseil.

Und dann dieser herrliche Grat! Wohl eine halbe Stunde lang geht es da auf der scharfen Höhe entlang, über Zacken und Türme, in Risse hinein, an Blöcken hinauf, nicht geringer als der das Ganze krönende Gipfelblick. Dabei immer die ungeheuerlichen Abgründe zu beiden Seiten. Überaus merkwürdig war mir auch, als ich, vom Gipfel der Vezzana nach dem Berge hinüberblickend, ein Brockengespenst dort drüben sah. Wohl merkte ich bald an den Bewegungen, daß es meine eigene ins Riesenhafte vergrößerte Wenigkeit war, die sich dort drüben zu schaffen machte, aber beinahe übernatürlich kam mir die Sache doch vor.

Hochinteressant war auch die Besteigung der einst viel belagerten Pala di San Martino. Freilich um den Berg zu verstehen, müssen wir versuchen, unserem Bilde wenigstens einigermaßen die Größe der Wirklichkeit einzuhauchen. Dann erst fühlen wir die grandiose Wucht dieses viel gerippten Felsens, bei dessen Ersteigung wir uns aus den ungeheuerlichen Abgründen emporarbeiten, die ihn im Halbkreis umgeben und das Gefühl trostlosester Verlassenheit erwecken, mit dem wir ebenso kämpfen müssen, wie mit dem schwer ersteigbaren Gestein. Auch der Blick von dem Gipfel ist überaus merkwürdig und schreckhaft. Da er das umgebende Plateau nur wenig überragt und der Fernblick deshalb beschränkt ist, wirken die Abgründe des Kessels ringsum geradezu wie eine Hölle.

Bei der Besteigung des Saß-Maor-Doppelgipfels ist es vor allem die prächtige Turmgestalt der Cima della Madonna, die die Aufmerksamkeit fesselt. Auch sonst ist sie charakteristisch. Man vergleiche die Seitenwände des Turmes mit dem pyramidalen Gipfel, während sie in ihrem gleichförmig senkrechten Abfall einen massig düstern, nach unten weisenden Eindruck macht, zeigt schon die kleine Gipfelpyramide den Drang nach oben. –

Zur Abwechslung nun noch ein amüsantes kleines Abenteuer, das ich in der Rosettahütte hatte. Ich befand mich da an einem Abend mit Michele, als wir draußen Stimmen hörten und zu unserem Erstaunen drei italienische Weiber, darunter ein recht hübsches junges Mädel, vorfanden, die mächtige Körbe trugen und es sich in dem kleinen Anbau bequem machten.

Cima della Madonna.

»Sie sind wohl Schmugglerinen?« fragte ich.

» Si Signore,« war die ohne jedes Zögern abgegebene Antwort.

»Haben sie keine Furcht, daß ich sie anzeige?«

» O no! Die Touristen tun uns nichts.«

Ungeheuer war das Gepäck, das sie trugen. Volle 80 Pfund wog jeder der drei mit Kaffee, Zucker, Salz, Tabak usw. gefüllten Körbe. Es war die reine Viktualienhandlung.

»Gehört das alles Ihnen?«

» O no, wenn wir so reich wären! Wir tragen das nur und bekommen dafür 3 Lire pro Person. Wir sind gewöhnlich zwei Tage unterwegs.«

Michele hatte inzwischen die Jüngste der drei mit sichtlichem Wohlgefallen betrachtet und bat mich, die Gesellschaft in die Hütte hereinzulassen, was denn auch geschah. Da wurde es denn bald recht vergnüglich. Man kochte Polenta, sang italienische Lieder, und Michele, der Schwerenöter, wurde immer galanter. Die Alte freilich verstand darin keinen Spaß und war eine grimmige Wächterin, so daß er den Polentastecken mehrere Male gehörig auf den allzu neugierigen Fingern zu verspüren hatte. Vor dem Schlafengehen erstaunte ich dann nicht wenig, als Rosenkränze hervorgeholt wurden und ein Betgemurmel anfing, das nicht mehr aufhören wollte, bis es mir schließlich doch zu viel wurde.

»Betrügen Sie lieber nicht, das ist gescheiter, als hier so demonstrativ drauflos zu beten.«

Aber da kam ich schön an. Erregt fuhr die Alte auf und kreischte mich an: Sie seien keine Betrüger, sie seien ehrliche Leute, die alles bar bezahlt haben.

»Sie betrügen den Staat.«

»Das ist keine Sünde!« erwiderte sie erregt.

Nun, wer kann gegen solche Logik aufkommen!

Schon am frühesten Morgen waren die drei dann wieder verschwunden.

Die Dolomiten hatten mir es so angetan, daß ich mich schon an Weihnachten wieder unter ihnen befand. Die Reise galt den Ampezzaner Dolomiten und wurde wohl meine ereignisreichste Wintertour. Wir folgen dabei am besten meinem Tagebuch.

Dreizinnenhütte, 27. Dezember 1892.

Hei, wie das wild ist hier oben und schaurig! Eine völlige Polarlandschaft. Eis, nichts als Eis und nackter Fels, der sich gegen die kalte Umarmung wehrt, wie klein und verlassen die Hütte dasteht! Und doch hält sie den Elementen stand. Menschenwerk, kleines trauriges Menschenwerk, aber Sinn liegt drin und Verstand und ein gutes Stück Trotz. Seht nur her ihr unförmigen Kolosse, hier stehe ich, ein Hüttlein, klein und unscheinbar! Aber was könnt ihr ungeschlachten Riesen mir anhaben? Hier in meinem Innern ruht die Macht und die Kraft und der Sieg über euch alle, versucht es nur, euch aufzulehnen! Man wird den Fuß auf eure Häupter setzen, und ihr habt es zu erdulden. Der Tod ist euer Los und ewiges dumpfes Schweigen.

Wir sind heut spät weggekommen von Sexten, mit den üblichen Sprüchen. »Sie gelt, schauen's zue, daß nix passiert! wissen's im Winter san die Berge halt wieder ganz anders als im Sommer.« Und wie entsetzt die Leute heraussahen aus den kleinen Fenstern, als ging's direkt ins Jenseits! Leb wohl, du nettes eingeschneites Dörfchen mit den behaglich rauchenden Kaminen! Lebt wohl, ihr verschneiten Tannen und Wälder! Wir wollen höher hinaus. Wie kalt es ist! Der harte Schnee knirscht ordentlich unter den Füßen, ein eisiger Duft liegt über dem Tal, und der Bach hat sich in eine Dunstwolke gehüllt, die langsam in die Höhe dampft.

Anfangs kommen wir rüstig vorwärts, dann aber verschwindet der Weg. Immer tiefer sinkt der Fuß in den Schnee, und immer schwerer drückt die Last auf dem Rücken. Da sind mir endlich! Wer wir? Mein Freund Michele Bettega, Johann Watschinger aus Sexten und meine Wenigkeit. Michele habe ich extra aus San Martino kommen lassen. Ich weiß, was ich an ihm habe. Nun, auch Watschinger ist ein stämmiger Gesell, der seinen Mann schon stellen wird. Auch spricht er nur Deutsch, Michele aber nur Italienisch. Jetzt bin ich der alleinige Dolmetscher ihrer Gefühle und damit unumschränkter Herr.

Wie unsagbar gewaltig und eisig die Drei Zinnen auf unser Hüttlein herabsehen! Nun um so gemütlicher ist es hier drinnen an dem flackernden Feuer. Was für ein spaßiger Kauz dieser Michele ist! Er hat sich Polenta gekocht und macht jetzt eine große Kugel daraus. Er verzehrt sie mit Hochgenuß zusammen mit einem Peitschenstecken. Steinhart ist dieses Stück Wurst, das er sich auch noch am Feuer geröstet hat, und schwarz wie die Nacht, wie die Polentakugel in seiner Hand. Wohl bekomm's!

Was wir wohl morgen unternehmen werden? Ich werde mich hüten, meine Pläne auszukramen. Sonst gibt's ja doch nur Schwierigkeiten.

Draußen ist die Nacht wunderbar. Der Mond scheint über die weiten Schneefelder hinweg, die Wolken ziehen, und stumm stehen dort die riesenhaften Zinnen. Wie drohende Wächter.

Dreizinnenhütte, 28. Dezember.

Wir haben uns auf die Große Zinne geeinigt. Sie konnte schließlich bezwungen werden. Im stillen ist mir ja auch die Kleine durch den Kopf gegangen, aber wie sollte das möglich sein, jetzt zur Winterszeit!

Wir sind um 7 Uhr aufgebrochen, zwischen Tag und Dunkel. Langsam verschwinden die Sterne, ein goldener Schein legt sich über die Schneeriesen und die Felsen flimmern. Man meint, es sei Tag, aber es ist eine Täuschung. Immer heller wird's und heller, die eisigen Hänge glühen, und der düstere Himmel wird blau. Da plötzlich ein Flämmlein an der höchsten Spitze der Zinnen! Es ist Sonnenlicht. Wie eine Welle schreitet es herab, an den eisigen Hängen, und eh' wir's uns versehen, ist es Tag. Und doch ist es nicht jene strahlende Sonne, die den Erdball belebt. Kalt starrt ihr das Leichentuch entgegen, eisig, wohin sie blickt, und sie vermag es nicht zu durchdringen, noch zu erwärmen. So setzt sie teilnahmslos ihren Weg fort, ein feurig roter Ball in der frostigen Umarmung der Atmosphäre.

Wir haben den Fuß der Kleinen Zinne umgangen und wenden uns dem Sattel zu, der sie von der Großen trennt. Bald führt dann eine Schneerinne nach links in die Höhe und wir sinken bis um die Hüften ein. Dann kommt eine Kletterei durch enge, beinahe senkrechte Kamine. Sie ist recht schlimm, denn eine fürchterliche Kälte herrscht da drinnen. Haufenweise ist der Schnee aufgestaut und mannshohe Zapfen hängen von den steilen Wänden herab, ein geradezu arktisches Bild. Ob wir wohl hinaufkommen durch jenes finstre Loch, das so eng ist, daß man schon im Sommer hindurchkriechen muß? Ganze Lasten von Schnee wälzen wir in die Tiefe und doch umfängt uns völlig die eisige Umarmung. Aber wir ringen uns durch, schweißtriefend trotz aller Kälte.

Endlich erreichen wir ein kleines Plateau, und die Sonne scheint uns wieder. Hurra! Und da ist ja die Kleine Zinne, meine geliebte Kleine Zinne! Einen Stein könnte man hinüberwerfen, so nah steht sie da. Welch mächtiger, ungeheuerlicher Turm! Und wir sind schon höher und sehen über den Berg hinweg. Dazu diese Polarlandschaft ringsum! Es ist einfach überwältigend! – Wie wär's, wenn ich es nun doch mit der Kleinen Zinne versuchte? Immer wieder schießt mir der Gedanke durch den Kopf und läßt mich nicht mehr los, wie eine alte Liebe. Doch vorwärts, sonst frieren wir noch an! Hurra, wir sind oben! Unter einem Stein ist das Ersteigerbuch in einer Blechkapsel. Heraus damit! »Morgen wird die Kleine Zinne bestiegen!« Dies meine Inschrift. Es war das erste, an was ich dort oben dachte.

Wie gewaltig dieser Gipfel ist! Mächtige Felsblöcke türmen sich übereinander auf, und tief verschneite Schluchten ziehen sich durch das morsche Gestein, wie wir da herumkletterten, bis wir endlich wieder Abschied nahmen!

Da ist ja die Kleine Zinne wieder, unnahbar steil! Und da will ich hinauf, in dieser fürchterlichen Kälte? Die Hände werden mir wegfrieren. Nein, das ist ja ganz ausgeschlossen! Und droben steht es jetzt in dem Buch, schwarz auf weiß. Man wird mich auslachen als Renommisten.

Beim Heimweg zur Hütte gingen wir direkt über die Scharte zwischen den beiden Bergen. Eine steile, vereiste Rinne führte von da hinab. Der Sturz meines Begleiters in den Cadinen fiel mir ein, als ich so zagend auf der Höhe stand und nicht recht wußte, wie die Sache angreifen. Ach was, ein tüchtiger Satz und den Pickel fest eingestemmt! Eins, zwei, drei, es geht wie der Sturmwind.

Wenn ich nur das dumme Zeug nicht in das Buch dort oben geschrieben hätte! Es war so unnötig. Diese Blamage, wenn nichts draus wird! Aber halt! Schließlich gehe ich eben wieder hinauf und reiße die Seite heraus.

Albergo Misurina, 29. Dezember.

Da sitzen wir in der Küche am Feuer um den großen Kessel herum und wärmen uns seelenvergnügt. Er wird mir unvergeßlich bleiben, dieser Wintertag an der Kleinen Zinne.

Wieder bin ich bangend dort oben gestanden in der Nische unter dem Gipfel, und habe hinaufgeblickt in der schmalen senkrechten Schlucht, die noch überwunden werden mußte. Diesmal bei einer Kälte von 20 Grad. Wir hatten wahrlich schon genug zu tun gehabt, um bis dahin zu gelangen, an dem eisigen Gestein herauf. Und jetzt soll die Hauptsache erst losgehen!

Michele hat den Berg noch nie bestiegen, wie wird er's angreifen, wird es gelingen? – Aber was ist denn das? Er zieht sich Rock und Stiefel aus, bei dieser Kälte! Nun ja, er will unbehindert sein, und die Strümpfe kleben besser an den Felsen als die ungelenken, vereisten Stiefel. Er fängt zu klettern an, und es herrscht Todesstille, langsam schiebt und zieht und windet er sich in die Höhe. Oft versagen die eisigglatten Griffe und Tritte ganz, und er muß sich gewaltsam zu beiden Seiten der engen Felsschlucht anstemmen. Jetzt kommt er an die schwierige Stelle unter dem überhängenden Block. Wenn er da den Halt verliert, dann ist's sicher aus mit ihm. Wie er sich abmüht und vorsichtig das glatte Gestein abtastet! Aber es geht ja, Hurra, er ist oben auf dem Block! Jetzt bin also ich an die Reihe. Es ist natürlich unermeßlich viel leichter als für ihn und ein paarmal baumele ich eben am Seil. Was hat das weiter zu sagen!

So stehen wir also wieder beisammen auf dem Block, zitternd vor Kälte. Die senkrechte Rinne, die vollends hinaufführt ist stark vereist und dem Gestein nicht zu trauen, aber die Gipfelkrankheit hat uns mächtig erfaßt, die große Passion, bei der es kein Besinnen gibt, und ehe wir's uns versehen, sind wir auf dem kleinen, schneebedeckten Plateau. Triumphierend blicke ich hinaus über die weite Schneelandschaft mit ihren phantastischen Zackengebilden ringsum, warum soll ich mich darüber nicht freuen! – Aber was macht denn Michele, ist er verrückt geworden? Wie ein Besessener stampft er die Füße in den Schnee, schlägt sich die Arme um den Leib herum und flucht, wie nur ein Italiener fluchen kann! Freilich, es ist so eine Sache, im Dezember 2881 m hoch zu sein, ohne Rock und Stiefel! Es ist ja nicht nett von mir, aber ich habe geheult vor Lachen. Dieser wilde, halbnackte Kerl mit dem langen, fliegenden Haar, dem struppigen, schwarzen Vollbart, den lodernden Augen und rasenden Gesten hier oben in der eisigen Bergeseinsamkeit! Wie ein tobender Berggeist kam er mir vor.

Und nun sitzen wir hier behaglich ums Feuer, nachdem wir allerdings noch manches ausgestanden. Ein bekannter Bergsteiger sagte einmal, am schwersten sei ihm bei der Besteigung der Zinnen der Rückweg nach Misurina geworden. So ging's auch uns. Je weiter wir herunter kamen in das Tal, um so tiefer wurde der Schnee, so daß wir uns schließlich beinahe die Seele herausgekeucht haben. Nun jetzt geht's ja wieder besser.

»Hallo, noch eine Flasche Asti! – Und jetzt noch eine! – Und noch eine! Wir haben's verdient.«

Albergo Misurina, 30. Dezember.

Da stand er wieder, kalt und abweisend, mein Turm in den Cadinen, der Kleine Popena, und ich bin auch diesmal nicht hinaufgekommen. Der Schnee war aber auch zu tief. Und dazu dieser verdammte Asti!

Mich schaudert, wenn ich an mein Bett denke! Wie das gestern ausgefroren war in dem unheizbaren Zimmer! Wie ein Wurm habe ich mich darin gekrümmt und vor Kälte geschnattert.

Cortina, 31. Dezember.

Das Glück war mir wieder hold, der Monte Cristallo lag zu unseren Füßen. Aber welche Mühen hat es gekostet!

Um 3 Uhr sind wir von Misurina weggegangen, in stockdunkler Nacht beim Scheine der Laterne. Um 4 Uhr glaubten wir nach Tre Croci zu kommen. Es wurde beinahe 6 Uhr. Sollte man es glauben, den ganzen Weg mußten wir Stufen hauen. Auf der ebenen Landstraße! Sie war mit blankem Eis bedeckt, das schräg abfiel. Man rutschte da beständig, und nachdem wir unsre Knochen erst einige Male tüchtig angeschlagen hatten, auch in dem tiefen Schnee daneben nicht vorwärts kamen, hieben wir eben Stufen.

Und welcher Marsch die weite Schutthalde hinauf zum Cristalljoch! Stunde um Stunde verrann, Flasche um Flasche wurde getrunken, und das Joch war so weit wie nur je. Erst um 9 Uhr erreichten wir das Große Band, wo wir vergeblich Wasser zu finden hofften, denn unser Wein war längst dahin.

Was soll ich über den Weitermarsch sagen! Die Hände im Schnee, die Füße im Schnee und brennender Durst bei 20 Grad Kälte, so kletterten wir in die Höhe, ohne übrigens den Humor zu verlieren. Nein, wer am 31. Dezember so hoch hinaus will, der muß auch etwas ertragen können, das ist klar. Und was haben wir nicht alles gesehen an riesenhaften Klüften und Felsen, alles im Schnee, mit überall herabhängenden, ich möchte sagen übernatürlich großen Eiszapfen.

Gegen 2 Uhr nachmittags kamen wir auf den Gipfel und konnten hinabblicken auf den tiefverschneiten Gletscher mit seinen grinsenden Spalten in dem ewigen Halbdunkel, das jetzt dort unten herrscht. Unwillkürlich mußte ich an den guten Michel denken, der in so einem trügerischen Riß sein Leben verlor.

Der Abstieg brachte nichts Neues. Todmüde kamen wir bei Tre Croci an und tranken in langen Zügen das Eiswasser aus dem Bach. Dann zogen wir müde die Straße hinunter nach Cortina, während sich vor uns im milden Abendsonnenglanz die herrlich gezackte Tofana erhob, die unser nächstes Ziel sein sollte.

Draußen vor dem Dorf schießen sie jetzt mit Böllern und freuen sich, daß ein neues Jahr beginnt. Nun ja, mir ist's auch wohler, als damals im Wegwärterhaus am Schwarzhorn, und auch der brave Papa Verzi vom Croce Bianca sorgt geradezu rührend für mich.

Cortina, 2. Januar.

Der Rasttag ist vorüber. Draußen schneit und stürmt es, daß man verzweifeln möchte.

Cortina, 3. Januar.

Mit Michele bin ich heute nach Lorca hinuntergefahren, um ihm ein Stück weit das Geleit zu geben, denn er geht wieder nach Hause. Während der ganzen Fahrt haben wir kaum die Hände vor dem Gesicht gesehen, so stark war das Schneetreiben. Jetzt sitze ich wieder da, und die Zeit verstreicht tatenlos. Aber ich gebe nicht nach, obgleich jedermann sagt, daß es wochenlang so fortstürmen könne.

Cortina, 5. Januar.

Nun ist es doch geglückt! Als gestern früh ein Stückchen blauen Himmels zu sehen war, hielt ich es nicht länger aus und zog mit dem trotzigen Antonio Dimai nach der Tofanahütte. Es war ein prächtiger Spaziergang durch den verschneiten Tannenwald und so recht weihnachtsmäßig. Dazu dieser südliche Glanz, der über den pittoresken Bergen lagert und der nordisch kalte Schnee! So etwas trifft man nur in den winterlichen Dolomiten. Die Hütte war prächtig gelegen, in einer verschneiten Felsschlucht mit himmelhohen, gezackten Wänden, in der überall riesenhafte Blöcke herumlagen. Nur an einer schmalen Stelle sah man hinaus auf das weite Bergland und hinunter auf die verschneiten Tannen. Die Besteigung war in der Hauptsache mühsam und lawinengefährlich. Einmal dachte ich sogar ans Umkehren, aber Antonio sah mich nur finster an, und so kämpften wir uns weiter bis zum Gipfel, wo Antonio mitten im Schneesturm sein rotes Taschentuch stolz an den dort befindlichen Stecken band. Beim Abstieg konnten wir eine Zeitlang wie auf einem wogenden Wellenmeere abrutschen, das die rollenden Schneemassen bildeten, und hatten manchen herrlichen Blick über die weite verschneite Landschaft. Den Abschluß bildete eine sausende Fahrt im Hörnerschlitten. Antonio verstand sich darauf, wie kein zweiter.

Michele Bettega

Ein hübscher Marsch über Schluderbach nach Toblach beendete die ereignisreiche Tour, auf die ich jetzt noch mit besonderer Genugtuung zurückblicke.

Auch ein unwiderstehliches Sehnen ließ sie in mir zurück, und so sah mich der Sommer 1893 wieder in den Ampezzaner Dolomiten, diesmal im Zeichen des höchsten photographischen Fanatismus.

Die Besteigung des Monte Pelmo (3169 m).

Der Leser kennt meine Vorliebe für den Süden. Es gab nichts Schöneres für mich, als aus den Schnee- und Eisregionen hinunterzuziehen in Italiens lachende Gefilde mit ihrer herrlichen Vegetation, ihren malerischen Gestalten und romantischen Bauwerken, aus denen die Jahrhunderte reden. Der Wechsel ist so groß und ergreifend, daß er mit magischer Gewalt packt und gefangen nimmt. In düsterm Träumen sind wir dagestanden in dem ewigen Schnee, bestrebt, die Rätsel dieser Schöpfung zu ergründen und einzudringen in ihr eigen wild Geheimnis. Wir waren überwältigt von der eisigen Pracht, die unserem klopfenden Herzen so ferne steht, haben uns hinaufgerungen im Kampf mit uns selbst, germanische Naturen, die in unermüdlichem Drang das Unendliche zu greifen suchen. Wie ganz anders sind wir dann dort unten! Wir pflücken die Kastanien von den Bäumen, trinken fröhlich süßen Wein, freuen uns an dem blauen Himmel und den beweglichen bunten Menschen, liegen am Ufer eines Sees und blicken hinweg über die grüne Flut, ohne quälende Gedanken, jeder Sorge los und ledig. Dolce far niente. Was wollen wir weiter! Was kümmern uns die Rätsel dieser Welt! Weg mit dir, du törichtes Grübeln! Dolce far niente!

Diesmal ist mir's gerade umgekehrt ergangen. Ich kam aus dem schönen Italien froh und heiter. Die südliche Sonne hatte mich beschienen und erwärmt. Ich war wieder einmal aufgetaut. Jetzt stehe ich dort oben auf den Schneefeldern des Monte Pelmo. Weg sind die weichen Lüfte, kein auch nach so ärmliches Pflänzchen ist zu sehen. Nur Fels und Eis starren mir entgegen und ringsum tobt wilder Sturm. Was will ich da oben, was? – Was aber soll ich unten? Was geb' ich für ein ausgeträumtes Leben, das tatenlos verstreicht? Folgt nicht Erwachen stets dem Traum, zerstört die rauhe Wirklichkeit nicht stets den Wahn? Nichts tun, ist auch nichts! Du hast genug geträumt, also vorwärts, weiter! Da nur liegt des Gebens wahre Lust und Wonne, wo sie erkämpft wird und erstritten!

Wenn nur die Sache nicht gar so niederträchtig angefangen hätte!

Ich war des Abends in San Vito eingetroffen. Ein herrlicher Tag lag hinter mir voll fesselndster Eindrücke, und noch umfing mich Italiens Zauber.

Wir machten uns früh auf die Beine. Der Weg war weit, denn noch am selben Abend gedachten wir in Cortina zu sein. Stumm schritt ich hinter den beiden Führern drein, im dunkeln Wald beim Schein der Laterne. Wie wohl das Wetter werden wird? Unsinn, wie soll es weiter werden, wir sind ja noch in Italien! Da muß es doch schön sein! Aber es regnet ja, wahrhaftig es regnet. So eine Gemeinheit! Also warten wir unter einer Tanne! Eine halbe Stunde ist vergangen, eine Stunde. Ich schnattere vor Kälte. Es ist hell geworden und naß sind wir ja doch, also weiter! Wenn wir nur erst bei der Hütte wären! Endlich erscheint sie, Gott sei Dank! »Venezia« ist sie »getauft«, und wahrlich, an Lagunen hat mich ihre Umgebung erinnert. Einen Schlüssel haben wir auch nicht, den hat es zu der frühen Jahreszeit in San Vito noch nicht gegeben, und das Vertrauen auf meinen Vereinsschlüssel erweist sich als trügerisch. Da stehen wir also in dem strömenden Regen. Der Versuch, durch die wohlverschlossenen Läden zu gelangen, mißglückt, und selbst vom Dach her gelingt es nicht, in die jungfräuliche Feste einzudringen. Lasciate ogni speranza! Ein offener Nebenraum ist ja allerdings da, aber wie sieht der aus! Acht Fuß breit, acht Fuß lang, ein lehmiger Fußboden und als Einrichtung zwischen unmenschlich vielem Dreck eine hölzerne Bank. Voilà! O, Photograph, was bist du für ein Esel! Als Bergsteiger, Mensch und Tourist würde mich keine Macht der Erde abhalten, weiter zu steigen oder zurückzugehen, aber als Photograph heißt's einfach ausharren. Zunächst wird also in dem Schmutzloch ein Feuer angezündet, an dem wir uns zu trocknen suchen.

»Wie steht's denn mit dem Wetter?«

»Es gießt.«

»So laß es gießen!«

Also kochen wir uns eine Suppe, die kann nie schaden.

»Wieviel Uhr ist's denn?«

»Acht Uhr.« Morgens, wohlverstanden!

»Und das Wetter?«

»Es gießt.«

Allmählich kommt ein solcher Rauch in das Lokal, daß man kaum atmen und die Augen öffnen kann. Also Tür auf! Aber der Zug, der jetzt hereinkommt, ist in den nassen Kleidern unerträglich und der Blick da hinaus in das Regenwetter entsetzlich. Ganze Bäche strömen von dem Dach herunter, gerade an der Tür. Es ist nicht mit anzusehen. Tür zu! Lieber Rauch und Dunkelheit, als solchen Anblick.

»Wieviel Uhr ist's denn jetzt?«

»Halb neun Uhr.«

Die beiden Führer sind hinausgegangen, um Strauchwerk für das Nachtlager zu holen, von einer Besteigung kann ja heute doch keine Rede mehr sein. Ich habe mich auf die Bank gelegt und sinniere, wie hübsch wäre es, wenn man dort oben herumphotographieren könnte! Jedermann hat mir den Pelmo als einen so interessanten Berg geschildert. Besonders auch das Große Band. Es ist da eine Stelle mit einem Loch, durch das man liegend hindurchkriechen muß. Welcher Genuß für meinen Apparat! – Aber was ist denn das für ein Kerl, der da hereinkommt, den kenn' ich ja gar nicht. Augenscheinlich ein Vagabund, groß, ruppig, finster. »He, was wollen Sie?« Keine Antwort. Der Kerl kommt drohend auf mich zu. »Oho, mit dir werde ich schon noch fertig!« – Verdammt, er hat mich gepackt, drückt mich zu Boden und würgt mich, wenn ich nur die Arme frei hätte, ah! – Nun, gar so schlimm war die Sache schließlich doch nicht, ich habe nur geträumt auf der steinharten Bank und wische mir jetzt den Schweiß von der triefenden Stirne. Noch zwölf solche Stunden, bis wir zu »Bett« gehen. Ich werde daran denken.

Gipfel des Monte Pelmo.

Am folgenden Morgen war das Wetter einigermaßen passabel, also los!

Am Monte Pelmo ist alles großartig, gewaltig, imponierend. Man trifft da keine zierlichen Nadeln und Zacken, die das Bild beleben. Alles ist nur ungeheure Masse, bedrückend und doch erhebend, wenn man sich erst als Herr über sie fühlt. Mochte es jetzt wehen und stürmen, ich setzte meinen Fuß auf den mächtigen Gipfel und hatte die trotzig stolze Siegerfreude inmitten tobender Wolken, die immer wieder neue Ausblicke eröffneten.

Die Croda da Lago (2709 m).

An der Westwand der Croda da Lago

Auch an diesem Berg hatte ich einen Tag Regenwetter für meine photographischen Gelüste auszuhalten. Allerdings war's diesmal weniger langweilig, denn wir befanden uns bei Hirten auf der Federa Alp, deren Leben und Treiben mich interessierte und dann, wie wurde ich belohnt! Schon an dem prächtigen Lago da Lago, diesem einzig schönen See! Auch so wechselvoll ist die Tour. Von dem in halber Höhe des Berges befindlichen Großen Band steigt man erst die steile Ostwand zu einer Scharte hinauf, aus der sich der doppeltgezackte Gipfel erhebt. In halber Höhe des Gipfelblockes geht es dann schräg hinüber zu der ungeheueren Westwand, auf der sich die gewaltigsten Ausblicke eröffnen. Welch grandiose, bedrückende Felsenwildnis! Und wie kann man da klettern! Mit welchen Schwierigkeiten ich zu kämpfen hatte, zeigt folgendes Erlebnis, das doch ziemlich bedenklich war: Um den Gipfelblock aufzunehmen, war ich von der Scharte nach links in die Höhe gestiegen, während die Führer jenseits die eigentliche Besteigung ausführten.

Sarapißgipfel.

Daß ich mich da auf völlig unbetretenem Boden befand, bewiesen bald die ungeheuren Felsmassen, die bei jedem Schritt losbröckelten und dröhnend in die Tiefe stürzten. Nun ich war vorsichtig und kam schließlich auch zu einem Band, wo ich meine Aufnahmen machen zu können wähnte. Also heraus mit dem Stativ! Da ich schrecklich wenig Raum hatte, setzte ich mich hin, stellte den Apparat auf, so gut es ging und, den Kopf unter dem schwarzen Tuch, sah ich durch die Mattscheibe. Da plötzlich ertönt drüben ein entsetztes Geschrei: »Santo Dio, passen's auf!« Der ganze Block, auf dem ich saß, war langsam und ohne daß ich es gleich bemerkte, ins Rutschen gekommen, und schon donnerten die Felsblöcke in die Tiefe, daß es dröhnend von allen Seiten widerhallte. Ich aber hatte noch immer das schwarze Tuch um den Kopf.

Gipfel der Croda da Lago

»Erst das Roß und dann der Reiter!« Oder ins Photographische übersetzt: Erst der Apparat und dann der Photograph. Das waren so etwa meine Gedanken, als ich das Stativ mit der linken Hand an einem Bein packte. Dann warf ich mich auf den Rücken nach der Wand zu und erwischte mit der Rechten nach eine Felskante, welche hielt. Da hingen wir. Mein Tornister freilich, der neben mir gelegen, war in der Tiefe verschwunden.

Daß ich meine Aufnahme jetzt erst recht machte, war klar. Und nicht bloß die eine! Denn so eine Gelegenheit, wie dort oben, findet man selten. Auch meinen Tornister bekam ich wieder. Als wir nach der Besteigung den Berg umgingen, fanden wir ihn an seinem Fuße behaglich daliegen. Daß ein leichter, leerer Tornister rund 1000 Fuß tief fallen kann, ohne sich unterwegs an den Riemen zu verfangen, ist ein genügendes Zeichen für die Steilheit und Glätte dieser Westwand, die der Leser im übrigen auch auf unsrem Bilde beurteilen kann. Die Fallstelle befindet sich da etwa zwischen den beiden Kletterern, an der jenseitigen dunkeln Wand.

Bei dem nun folgenden Marsch nach der Dreizinnenhütte kam ich auch wieder an den Cadinen und damit an meinem Turm, dem Kleinen Popena vorbei, nach dem mein Sehnen seit der Schluderbacher Zeit schon so oft gestanden. Daß er diesmal fallen würde, war keine Frage, denn ich hatte zwei vortreffliche Führer bei mir. Auf diese Weise war das freilich auch keine besondere Leistung, und als wir am Fuße des Berges eine kurze Rast hielten, begann ich mich doch zu schämen. Allein hatte ich damals hinauf wollen und mußte das von Rechts wegen auch jetzt tun, ohne daß die andern es merkten. Ich erklärte also, daß ich erst rekognoszieren wolle und verschwand hinter der nächsten Ecke. Dann ging es rasch auf meinem alten »Weg« in die Höhe. Er kam mir sehr viel leichter vor als damals. Ich hatte inzwischen etwas gelernt in der edlen Kletterkunst und triumphierte schon, denn die Stelle, an der ich einst umgekehrt, war passiert, und ich befand mich nur noch wenige Dutzend Meter unter dem Gipfel. Da kam plötzlich ein Halt! Der steile Fels wurde so brüchig, daß die größten Steinlawinen sich loslösten und ich nicht mehr weiterkam. Machtlos hing ich an der Wand und machte mir deprimierte Gedanken, während die Führer rasch nahten. Aber sollte es wirklich allein nicht gehen? Ach was! Ein rascher Ruck, ein Hagel polternder Blöcke, und ich hatte weiter oben wieder festen Fuß gefaßt. Es ging doch, und ich konnte die beiden triumphierend auf dem Gipfel begrüßen.

Der Kleine Popena.

Dann wurde ein Steinmann gebaut, wie die Alpen noch selten einen gesehen. Man ist nun einmal ein Kindskopf da oben, und das ist auch gut so. Jugendlichkeit kann nie etwas schaden, nur Blasiertheit ist dumm. Bei meiner Tour an Weihnachten hatte ich in Erfahrung gebracht, daß Jeanne Imink, eine bekannte Bergsteigerin, die Croda da Lago schon im Winter bestiegen hatte. Ich hatte die Dame auf der Rückreise in München besucht, und wir hatten uns verabredet, in diesem Sommer einige photographische Klettertouren zusammen zu machen.

Unser jetziges Zusammentreffen in der Dreizinnenhütte erfolgte zunächst unter nicht gerade günstigen Verhältnissen. Die Hütte war von lautem Volk völlig überfüllt, und der Abend verlief deshalb ziemlich ungemütlich. Um so interessanter war's am folgenden Tag, der wieder einmal der Kleinen Zinne gewidmet war. Meine liebenswürdige Begleiterin ergab sich da humorvoll in ihr Schicksal, meinem photographischen Fanatismus verfallen zu sein, der sich erst nach 36 Stativaufnahmen größten Formats zufrieden gab, nachdem wirklich nichts mehr zu photographieren war.

Doch hören wir sie selbst darüber!

»Zu einer Bergpartie hatte er mich aufgefordert, und was war es? Eine zwölfstündige photographische Aufnahme ohne Unterbrechung. Was sind die Alpen, was ist die Welt überhaupt für ihn, als ein großes Atelier, eine Versuchswerkstätte, wo alles man noch photographieren kann!

Es war meine erste Tour in diesem Jahre, und für den Anfang doch gerade keine Kleinigkeit.

Wir waren behaglich zu dem Bande angestiegen, und Wundt folgte langsam. Bis hierher war er ganz normal und nichts fiel mir auf an ihm. Jetzt aber erfaßte ihn plötzlich eine eigene Nervosität. Ohne ein Wort zu sagen, stürmte er voraus. Was er wohl vor hatte? Doch keine Unvorsichtigkeit, denn an solchen Felsen war wahrlich nicht zu spaßen. Da, gerade als ich eine schmale Stelle, die unangenehmste von allen passierte, wo der jäh abstürzende Fels eine Wölbung nach außen bildet, rief es halt. Und wahrhaftig, dort an der senkrechten Wand stand er und wollte photographieren. Kaum einen Fuß breit war der Vorsprung, auf dem er sich befand, und der brave Führer der auch nicht viel besser postiert war, hatte alle Mühe ihn zu halten. Doch das kümmerte ihn wenig. Im Nu hatte er das dreibeinige Ungetüm aufgeschlagen und ein schwarzes Tuch über den Kopf gezogen. Die linke Hand höher! Noch Höher! So! – Den linken Fuß vor!‹ Und das alles im Kommandotone, als ob man an den senkrechten Felsen exerzieren könnte! Dabei drehte und wendete er sich mühevoll hin und her, um den Apparat nicht zu erschüttern oder gar hinunter zu werfen. Doch er beginnt. ›So, jetzt bitte recht freundlich!‹ Auch das noch! Ich mußte laut lachen trotz aller Schwierigkeiten meiner Lage. Aber die Prozedur war jetzt wenigstens ausgestanden und ich hatte wieder meine Freiheit. Ich triumphierte zu früh. Kaum war ich einige Schritte gegangen, als schon wieder von hoch oben sein ›Halt!‹ ertönte, Wieder hatte ich mich an weiß Gott was für ungeheuerlichen Stellen zu postieren, die Hand vor, den Fuß zurückzunehmen und ›recht freundlich‹ zu sein. So ging es weiter, Stunde für Stunde, ohne Unterbrechung.

Auf der ›Kanzel‹ verließ er uns und ging hinüber zu dem südlichen Vorgipfel, während wir am Hauptgipfel anstiegen. Es war wirklich halsbrecherisch, wie er da herumkletterte, um einen guten Standpunkt zu bekommen. Die größten Felsblöcke lösten sich los von dem völlig morschen Gestein, und wir verzweifelten beinahe um ihn. Aber uns konnte er wenigstens nichts mehr anhaben, denn er war wohl über 100 Schritte entfernt, Weit gefehlt! Jetzt ging es erst recht los. Zunächst wurden wir mehrere Male in der ›Nische‹ aufgenommen, und als wir dann durch den Kamin ansteigen wollten, kam wieder das unerbittliche ›Halt!‹ Es sei noch nicht Zeit, die Beleuchtung müsse erst günstiger werden. Dann aber war er unersättlich, und einmal wäre mir beinahe ein Unfall zugestoßen. Gerade an der schwierigsten Stelle im Kamin, unter dem bekannten Block, konnte ich es ihm gar nicht recht machen. Da mit einem Male brach der Fels, auf dem ich stand, ab und polterte in die Tiefe. Ich hing frei in der Luft. Es hat mir einen starken Ruck gegeben, aber der Führer hielt das Seil gut und – die Photographiererei ging erst recht los. In welchen unmöglichen Stellungen hat er mich noch aufgenommen, ohne Ende zu finden!

Nie in meinem Leben lasse ich mich wieder photographieren!«

Nun, den Abend verbrachten wir recht vergnüglich in dem Misurina Hotel und hatten Tags darauf eine idyllische Kahnfahrt auf dem herrlichen See, so recht behaglich, bummelig, schwärmerisch. Stundenlang sahen wir in das grüne Wasser hinein und über die Wälder hinweg hinauf zu den Zinnen, zu meinen geliebten Cadinen und hinüber zu der Mauer des Sorapiß, die sich so ungeheuerlich wuchtig über dem Val d'Ansiei erhebt. Dolce far niente!

Zwei Stunden bin ich gelegen
An deinem schattigen Bord,
Nimm meinen Wandersegen,
Bevor ich ziehe fort:
Daß dich des Himmels Güte
vor malenden Backfischlein
Und angelnden Briten behüte
Und Wirten mit saurem Wein.

R. Baumbach.

Misurinasee mit Sorapiß.

Die Besteigung des Sorapiß (3206 m).

Unser nächstes Ziel war der Sorapiß, an dessen steiler Nordwand Jeanne Imink gerade hinauf wollte, eine Route, welche nur einmal zuvor gemacht worden war. Ein behaglicher Spaziergang führte uns durch den schönen Wald zu der prächtig gelegenen Pfalzgauhütte. Über dem benachbarten kleinen See neben dem Gletscher erhebt sich die Mauer unseres Berges im Halbkreis so hoch in die Lüfte, daß man es kaum begreifen kann, und dort schweift der Blick über die Wälder hinweg zu unsern wohlbekannten Gipfeln, dem Monte Cristallo, Piz Popena und den Cadinen. In der Hütte selbst war es urbehaglich. Das Proviantdepot enthielt alles, was das Herz nur wünschen konnte, und Damen verstehen nun einmal die edle Kochkunst ganz anders, als wir Männer. Was Wunder, daß ich mich da im Laufe des gemütlichen Abends verleiten ließ, die verschiedentlichen Bierflaschen zu leeren, die sich vom Vorjahr her noch im Proviantdepot vorfanden! Sie sollten sich fürchterlich rächen.

Wir gingen sehr früh weg am andern Morgen; denn die Tour war außergewöhnlich lang. Sie führte uns zuerst über den Gletscher in eine riesenhafte Schlucht, wie ich noch selten eine gesehen. In ihr ging es über zyklopische Blöcke und durch höhlenartige Risse, bis wir die offene Felswand erreichten, an der es wohl 6 Stunden lang in die Höhe ging. Das alles hätte ganz schön sein können, wenn nur das alte Bier vom Abend zuvor nicht gewesen wäre!

Nach mehrstündigem Klettern kam die Pièce de resistance Wir befanden uns auf einem breiten Bande, vor dem sich eine senkrechte, völlig glatte Mauer etwa 4 m hoch erhob. Es gab nur ein Mittel, um da hinaufzukommen. Ein Führer stellte sich auf die Schulter des andern und dann hoben wir die ganze »Maschine« in die Höhe, bis der oberste einen Griff erwischte und sich daran hinaufziehen konnte. Das weitere war Tierquälerei. Wie die Säcke wurden wir einzeln aufgehißt. Das Hängen muß eine Kleinigkeit dagegen sein, denn ich wenigstens habe die vom Seil verursachten Striemen noch acht Tage lang gespürt.

Endlich haben wir den Kamm erreicht, und nur noch eine Schlucht trennt uns von dem eigentlichen Gipfel. Aber das ist ja gar kein Gipfel, sondern geradezu ein Meer von Felskämmen, die sich in wirrem Durcheinander nach allen Richtungen hinaus erstrecken! Die Nebel huschen darüber hinweg, bald hier, bald dort, lassen sie verschwinden und wieder auftauchen, ein gewaltiges, wild ursprüngliches Bild. Wie lange sind wir da gesessen und haben uns gefreut an dieser schönen Welt mit den grünen Tälern und freundlichen Dörfchen dort unten, den gewaltigen Felsen und huschenden Nebeln ringsum! Jetzt zu des Lebens ganzem Ernst, zu der schwerwiegenden Frage, an der man nun einmal nicht vorbeikommt! Wie heißt es da doch?

Beklemmungen.

»Hier ruht in Gott N. N. 26 Jahre lebte er als Mensch und 37 Jahre als Ehemann.«

Ja, alter Junggeselle, wenn es erst so weit ist und Hymens Fesseln winken, dann wird der Mensch abgestreift, um sich in jenes merkwürdige Zwischenwesen zu verwandeln, das aus lauter Rücksichten zusammengesetzt ist, stets fragend nach der Gattin schielt, die schreienden Kinder auf den Knien schaukelt, keinen Zug ertragen kann und höchstens noch in unbewachten Stunden wehmütig die Melodie vor sich hinsummt: »Schön ist die Jugend, sie kehrt nicht mehr!«

Und dazu sollte es nun auch mit mir kommen?

Was würden da schon meine Freunde sagen? Nun ja, meinetwegen! Aber würde ich mich darein finden können, war das überhaupt denkbar, nach solchen 36 Junggesellenjahren? Konnte ich denn meine Freiheit und Ungebundenheit missen, jene herrliche Rastlosigkeit, die mich immer so schön weiter trieb, und vor allem die Bergsteigerei, die mir doch nun einmal über alles ging? Wohl wußte ich ja, daß »sie« eine große Verehrerin meiner geliebten Berge war und schon versuchen würde, mir dort hinauf zu folgen. Aber würde sie das auch können, nachdem sie bis dahin so gut wie keine Touren gemacht? Würde nicht sofort das und jenes Bedenken oder Hindernis auftauchen und uns bald genug ein unerbittliches »Halt!« entgegenrufen? Was vermag denn der Einzelne gegen die Macht der Verhältnisse, an denen er sich höchstens den Kopf einrennt. Und dann war's eben auch um mich geschehen: »36 Jahre lebte er als Mensch und ...« Brrrrr!

Aber alter Freund, sagte es da auch leise in mir, wie kommst du denn dazu, es plötzlich mit der Angst zu haben? Du, ein Bergsteiger, der vor nichts zurückzuschrecken wähnte! Und wozu bist du denn der große Philosoph, der die Wandlungen dieses kleinen Erdendaseins mit olympisch gelassener Ruhe hinzunehmen vorgibt, wenn du so vor einem Schicksal zitterst, dem man doch nicht entgeht? –

So faßte ich denn den Mut des Unvermeidlichen, und dieser gab mir jenen unverwüstlichen Optimismus, der zu allem nur milde lächelt, jene unverfrorenste Zuversicht, an der alle Schwierigkeiten abgleiten, die bedingungslos auf ihr Glück baut, das ja bekanntlich auch dazu gehört auf dieser unvollkommenen Welt. Also mit einem Wort, ich war gefaßt auf alles, was konnte mir jetzt noch passieren? – wie war das doch damals bei meiner ersten Tatrareise, wo ich das Wandern lernte?

»Nun hab' ich mein' Sach' auf nichts gestellt,
Und mein gehört die ganze Welt.«

Sollte es bei der Ehe nicht ebenso sein, wie beim Wandern?

Doch hören wir nun, wie es mir erging!

Es war diesmal mehr als blinder Liebeswahn oder gar schwächliche Verliebtheit. Zeit meines Lebens war ich für eine nette Kameradschaft zwischen Mann und Frau gewesen, für das, was man damals »Emanzipation« nannte, für Emanzipation von der »gutbürgerlichen« Anschauung, daß das brave Gretchen immer nur die Augen niederschlagen müsse, um ihre Sittsamkeit zu zeigen, daß dreimal an einem Abend zusammen tanzen soviel wie eine Verlobung bedeute, daß die Frau für die Haushaltung und die Kinder da sei und sich nicht in andere Dinge zu mischen habe usw. Ich hatte auch schon manche nette Kameradschaft mit jungen Damen gehabt, hatte dieselbe nie mißbraucht und war durch meine exotische Sache immerhin etwas gewitzigt. Also unsere Beziehungen bauten sich auf einem kameradschaftlichen Verhältnis auf, woraus sich dann ganz allmählich die tiefere Neigung entwickelte.

Wir kannten uns schon über ein Jahr, und ich wußte genau, daß wir in allem prächtig zusammen stimmten, in unserer Zuneigung, unserer Unternehmungslust, in einem gesunden, natürlichen Wesen, das sich nicht in überirdischen Phantastereien erging. So erklärte ich mich denn eines Tages und nahm glücklich das Jawort entgegen. Soweit war alles in schönster Ordnung. Aber freilich: »Das Heiraten, sellen is nit so einfach!« hatte einst der gute Michel Innerkofler gesagt, und das Drum und Dran will überwunden sein, zumal es mir wahrlich nicht leicht gemacht wurde.

Betrachten wir also zunächst meine Nöte, in dieser Hinsicht.

Meine Braut war Engländerin und befand sich in Deutschland, um Musik zu treiben und Deutsch zu lernen. Ihr Vater wohnte in einem kleinen Städtchen in der Nähe von London, und sie hatte zwei Brüder und fünf Schwestern. Das war alles, was ich über ihre äußeren Verhältnisse wußte. Genügte es zum Heiraten? Also ich packte Weihnachten 1893 mein Köfferlein und fuhr englandwärts, wo »sie« sich seit einiger Zeit wieder befand.

Ich kam einen Tag früher an, als ich mich angesagt. Das hatte sich im letzten Augenblick so gemacht. Da stand ich also auf dem kleinen, unansehnlichen Bahnhof, nicht ohne Beklemmungen, denn in der Nähe nehmen sich die Dinge doch immer wieder anders aus, als aus der Ferne.

Zögernd gab ich mein Billett ab und fragte den Schaffner, wo Mr. Walters wohne?

»Welcher Mr. Walters?«

Die Frage war nicht gerade ermunternd.

»Nun, der mit den vielen Töchtern.«

Er wußte nun Bescheid, beschrieb mir den Weg, und so zog ich denn nachdenklich los. Vor allem betrachtete ich mir eingehend die einzelnen Häuser, nicht ohne dann und wann einen Stoßseufzer von mir zu geben, »Hm, wär' nicht übel, wenn er da wohnen würde!« Oder: »Hoffentlich geht dieser Kelch vorüber!« Schließlich, ganz in der Nähe, bekam ich vor einem recht wenig einladend aussehenden Haus beinahe Herzklopfen – um dann um so angenehmer enttäuscht zu werden. Kein Zweifel, jene stattliche Villa dort in dem großen Park war das gesuchte Heim.

Ja, ja, alter Junggeselle, Glück gehört eben auch dazu!

Als ich meinem Schwiegervater später die Sache erzählte, meinte er humorvoll, das Haus gegenüber, vor dem ich einen solchen Schrecken bekommen hatte, wäre gar nicht so übel gewesen. Man lasse sich da leicht durch die Außenfront täuschen, die gar nichts besage. Noch besser freilich wäre es gewesen, wenn ich ein Haus weiter, zu dem nächsten Nachbar, einem großen Londoner Bankier, gegangen wäre.

Nun, ich war durchaus zufrieden, wie es war, und fühlte mich bei der Braut und den vielen hübschen Schwägerinnen bald recht heimisch, zumal auch das Weihnachtsfest ganz nach deutscher Art abgehalten wurde und sich unsern Wünschen keine unüberwindlichen Schwierigkeiten in den Weg stellten.

Wenn sich somit die Dinge hier über Erwarten gut anließen, so lagen sie bei meinen lieben Freunden und Bekannten schwieriger. Als ich nach Hause zurückgekehrt, bei einer kleinen Gesellschaft, die ich meinen Kameraden und ihren Frauen gab, mit meiner Verlobung herausrückte, lächelten sie nur milde und hielten die Sache für einen schlechten Witz. Wie sollte ein Mann wie ich dazu kommen, sich zu binden, wie sollte ein Mädchen einen solchen Freiheitsfanatiker nehmen! Nein, das glaubte man einfach nicht und lachte mich aus. Als dann die gedruckten Verlobungsanzeigen erschienen, war allerdings nichts mehr zu machen, und nun schwelgte alles in reiner Schadenfreude, daß ich doch noch gefangen worden sei und jetzt natürlich mehr als jeder andere unter den Pantoffel kommen werde.

»Und mit der Kraxelei ist's selbstverständlich auch aus! Ja, ja, so geht's!«

Als ich dann den mitleidig Lächelnden erklärte, daß gar nichts aus sei, wir vielmehr unsere Hochzeitsreise in's Gebirge machen würden, brach der Sturm von neuem los. Solche unverantwortliche Torheiten gäbe es nicht in der Ehe. Da müsse ich auch an meine Frau denken, und könne nicht einfach dort oben herumtoben wie bisher. Als ich auch dem standhaft Trotz bot, folgte ein bezeichnendes Schweigen. Na ja, dachte man augenscheinlich, er heiratet eben eine von jenen Bergsteigerinnen, so ein Mannweib, das überhaupt für nichts Feineres Gefühl hat.

Da ich nun in dieser Sache doch Partei bin, so möchte ich die Schilderung der Erscheinung und des Auftretens meiner Frau einem bekannten italienischen Schriftsteller überlassen, den wir einige Jahre später zufällig in Breuil trafen und der seine Eindrücke darüber veröffentlichte.

Edmondo de Amicis, der Verfasser von »Herz«, schrieb damals: »Nach allem, was man von ihr hörte, wurde sie mit Spannung erwartet, besonders von denen, die sie noch nicht kannten. Wir dachten, sie sei eine männliche, kriegerisch stolze Frau, ihrem riesenhaften Mann im Aussehen wie in der Konstitution gleich. Aber für uns alle war ihr Erscheinen eine angenehme Enttäuschung. Sie war groß, aber zart und schlank. Ein kleiner, blonder Kopf, den niedlichen Hals etwas vorgebeugt, zarte Züge, lebhafte milde Augen, ein süßes Lächeln, wie von einem träumerischen jungen Mädchen und eine wohlklingende, diesem Lächeln ganz entsprechende, kindliche Stimme. Dabei war sie außerordentlich einfach in ihrem Wesen und in ihrer Art zu sprechen eher Mädchen als Frau, graziös, beinahe schüchtern. Es machte einen merkwürdigen Eindruck, wie sie mit ihrer süßen Stimme von ihren Touren und den dabei ausgestandenen Mühen erzählte. Es war, als höre man eine junge Nonne kriegerische Melodien singen. Sie war allen sympathisch, sogar einigen Damen, die jedermann kritisierten. Am Tag nach ihrer Ankunft machte sie eine kleine Tour, und da man wußte, daß sie in Männerkleidung gehen würde, waren einige Neugierige auf der Lauer. Aber alle mußten zugeben, daß sie äußerst gewandt, ohne Ostentation, ganz der Würde und Liebenswürdigkeit ihres Geschlechtes entsprechend auftrat, so daß es niemand einfallen konnte, einen Scherz über sie zu machen.«

Also auch in dieser Hinsicht mußte ich meine »guten Freunde« enttäuschen.

Nun muß ich ja allerdings gestehen, auch jetzt noch erschien mir der Schritt in die Ehe so tiefgreifend, bedeutete eine solche Wendung ins Unbekannte, daß der Junggeselle in mir noch einmal mit elementarer Wucht hervorbrach und ich das unüberwindlich Bedürfnis hatte, ein letztes Mal meine Freiheit zu feiern, mich zum Abschied gründlich auszutoben. So kam es zu meiner Ostertour ins Berner Oberland, die einen völlig winterlichen Charakter trug und bei der ich meinen Zweck auch in hervorragender Weise erreichte.

Zunächst ging es hinauf zur Schwarzegghütte, wo ich mehrere Tage im tiefsten Hochgebirgswinter zubrachte.

Was wollte ich da? Nichts, als wieder einmal Mensch sein, Nur-Mensch, wollte kraxeln, am Feuer sitzen, Erbswurst essen, nasse Strümpfe bekommen, frieren, mit einem Wort mich noch einmal so recht unvernünftig jung und frei fühlen.

Eingang des Grindelwalder Eismeers.

Das alles habe ich aufs gründlichste genossen. Denn wenn auch angesichts der frühjahrlichen Lawinenverhältnisse von einer größeren Besteigung keine Rede sein konnte, so bot sich doch auf dem tief verschneiten Eismeer mit seinen Tausenden von Spalten, seinen großartigen Gletscherstürzen und Eisbrücken eine geradezu ideale Gelegenheit zu Klettereien, und ich kam in Situationen genug, wie sie bei ber schwierigsten Besteigung nicht schlimmer sein können. Dazu sternenklare Mondnächte über den fahlen Gletschern kaltes Dämmerlicht, heller Sonnenschein unter dem stahlblauen Himmel, schwere Wetterwolken und tobendes Schneetreiben, alles in der ungeheuerlichen Polarwelt des Grindelwalder Eismeers! Herz, was willst du noch mehr?! Interessant war auch der trotzige Ulrich Almer, einer meiner beiden Führer. Ein kleines, unscheinbares Männlein von unverwüstlicher Energie, war er eine jener Naturen, die sich überhaupt über nichts wundern, denen gar nichts befremdend vorkommt, mag es nun sein, was es will, also kurz gesagt, das richtige Vorbild für einen zukünftigen Ehemann. Drei Tage lang zogen wir dort oben herum, ziel- und planlos, kreuz und quer, über alles hinweg und freuten uns des Abends am Feuer unseres Tuns.

Zum Abschied kam dann noch ein Marsch über die Strahlegg nach dem Grimselhospiz. Da war zunächst ein prächtiges Nachtbild. Sternenklarer Himmel und vom Mond beschienener Schnee, dessen phosphoreszierendes Leuchten der wilden Landschaft ein eigen merkwürdiges, geisterhaftes Leben gab. Dazu die riesenhaften Bergkolosse, wie Schreckhorn, Finsteraarhorn, Eiger, an deren weiten, fahlen Steilhängen die rabenschwarzen Schatten in phantastischen Formen emporkrochen.

Jenseits der Paßhöhe dann ein kleines Abenteuer, indem der hinten befindliche Führer beim Abstieg in einen Bergschrund fiel. Ich war nicht wenig erschrocken, aber Almer in seiner kurzen Art nahm überhaupt keine Notiz davon.

»Der wird schon wieder herauskommen!«

Und richtig, bald erschien auch ein Arm, ein Kopf und schließlich der ganze Mensch an der Oberfläche, worauf Almer auch sofort und ohne ein Wort zu verlieren die pfeilschnelle Abfahrt an dem steilen Hang begann.

Ein entsetzlich mühevoller Tag folgte und eine dunkle Nacht, die die sich mehrenden Gletscherspalten kaum erkennen ließ. Auch jetzt war Almer prächtig. Fröhlich und ohne nur einen Schritt auszuweichen, übersprang er alles, was ihm in den weg kam, als ob es nichts Schöneres geben könne.

Endlich ein Nachtlager in einer aus rohen Blöcken gezimmerten Alphütte. Wir räumten erst den fußtief angewehten Schnee, unter dem sich etwas Heu befand, auf die Seite und versuchten zu schlafen. Aber das Heu bestand aus feuchten, moderigen Klumpen, und bald standen wir wieder auf, frierend und zähneklappernd, daß es zum Erbarmen war. Wohl fanden wir nun etwas Holz, mit dem ein kleines Feuer angezündet wurde, aber bald war es verbrannt, und unsere verzweifelten Versuche mit den Pickeln den schweren Stämmen Brennmaterial zu entreißen, waren so gut wie fruchtlos. Das flackernde Feuerlein brannte vollends ab, und schnatternd vor Kälte standen wir im Dunkeln.

Eiskletterei.

»Also legen Sie sich eben wieder hin,« meinte Almer, »Wir werden Sie schon anwärmen.« Das geschah, die beiden nahmen mich in die Mitte und drückten aus Leibeskräften von der Seite her. Dabei wurde ich doch einigermaßen warm und schlief den Schlaf des Gerechten bis um 7 Uhr morgens, während die andern schon längst aufgestanden waren und wie rasend auf und ab tobten, um sich zu erwärmen.

In dem einsamen, tief verschneiten Grimselhospiz wurde uns dann wieder am Feuer bei ungeheuren Mengen heißen Grogs geradezu mollig wohl, und wir zogen fröhlich das Tal hinab durch die weihnachtlich verschneite Landschaft mit ihren schneelastschweren Tannen und den herrlichen Bergeshöhen darüber, bis es bei Meiringen hinaus in den Frühling ging.

Damit hielt ich mich reif für die Ehe, ein Urteil, das ich im übrigen dem Leser überlassen möchte.

Nun die Vorbereitungen zur Hochzeitsreise!

Daß dieselbe ins Gebirge führen sollte, habe ich schon gesagt und war eigentlich selbstverständlich. Ebenso natürlich war wohl auch mein Wunsch, etwas Rechtes zu unternehmen. Man macht nun einmal nur eine Hochzeitsreise, und dann mußte ich doch auch meinen »guten Freunden« mit etwas Besonderem aufwarten.

Was aber sollte das sein?

Ich selbst war mir für meine Person darüber durchaus im klaren. Der Leser weiß, daß das Matterhorn es mir schon auf meiner zweiten Alpenreise angetan hatte, als es auf der Riffelalp so plötzlich und unerwartet in seiner ganzen Größe aus den Nebeln vor mich getreten war. Es war ein erstes Durchschauertsein von höheren Mächten gewesen, das haftete und immer noch in mir nachzitterte. Später hatte Whympers Buch mich zum eigentlichen Bergsteigertum angefeuert, meine Begeisterung für den Riesen noch gesteigert und durch das Interesse für seine Geschichte vertieft, die mir wie eine Tragödie allergrößten Stils erschien. Da war vor allem das dämonische Locken dieses Berges der Berge, der einen jeden in seinen Bann zwang und doch so mit seinen geheimnisvollen Schauern erfüllte, daß auch das neue, scheinbar keinen Halt kennende Geschlecht endgültig vor ihm zurückzuschrecken begann. So wurde er als Inbegriff der Unzugänglichkeit des Gebirgs die letzte sagenhafte Heimstätte jener phantastischen Gestalten, Riesen, Zwerge und Drachen, mit denen vergangene Jahrhunderte die Naturgewalten poesievoll verklärt hatten. Er fiel dann doch, aber nur, um diesen entscheidenden Triumph der neuen, zur Höhe strebenden Zeit in die größte Alpenkatastrophe zu verwandeln, die als ein furchtbares Memento in alle Zukunft hineinleuchtet, daß menschliche Kraft und Unternehmungslust ihre Grenzen haben und es noch höhere Mächte gibt, die wohl einmal außer acht gelassen, aber nie mißachtet werden können. Dazu kam das menschliche Interesse, das ich wie ein jeder für den Hauptträger dieser Tragödie, Edward Whymper, jenen Bergsteigerheros empfand, der bei aller Kühnheit so schwärmerisch veranlagt war, daß er von seinem Berg nicht lassen konnte, einem »törichten Verliebten« gleich, »der den Gegenstand seiner Neigung auch dann noch umkreist, wenn er einen Korb bekommen«; der immer und immer wieder nach dem Höchsten griff und trotz aller Widrigkeiten auch in der größten Niedergeschlagenheit nicht verzagte. Endlich diese überwältigenden Eindrücke dort oben, von denen er so packend zu berichten, die er mit dem ganzen Glanz der Poesie der Tat zu verklären wußte!

Wenn mich somit mein ganzes Herz nach dem Berge hinzog, so kam dazu noch, daß auch ich schon einmal dem Locken der Sphinx gefolgt und höhnisch von ihr abgewiesen worden war.

Es war gelegentlich meines Zermatter Aufenthalts 1886 nach der Pariser Reise gewesen. Angesichts der frühen Jahreszeit hatte der Berg nicht bestiegen werden können, und erst ganz zum Schluß meines Urlaubs zeigte er ein einigermaßen zugänglicheres Aussehen. Wenn alles klappte, so hatte ich gerade noch Zeit zu der Besteigung, aber auch keinen Tag länger. Ich versuchte es also auf gut Glück. Es wird mir unvergeßlich bleiben, wie ich noch in dunkler Nacht jene geheimnisvolle »Schranke«, die den Berg umgibt, überschritt und in die phantastischen Felsregionen dort oben eindrang. Tiefer Schnee bedeckte die weiten Hänge, und die Mühe war groß. Immerhin kamen wir, wenn auch langsam, vorwärts und erreichten schließlich den unteren Teil der »Schulter«. Ein steiles Firnfeld zog sich vor uns in die Höhe, und unmittelbar darüber erhob sich drohend der mächtige Gipfelblock. Zuversichtlich sah ich hinauf. Sei's um einige Stunden, und er war besiegt. So dachte ich wenigstens. Da begannen meine Führer, zwei im übrigen recht minderwertige Leute, zu streiken. Es sei schon spät, der Schnee schlecht usw. Ich war wie vom Donner gerührt. Aber was half es, daß ich mich vom Seil losband und allein weiterzugehen versuchte! Die beiden hatten keinen Ehrgeiz.

Es war ein trauriger Rückzug, und der Berg trieb geradezu Hohn mit mir. In der Hütte waren schon mehrere Partien versammelt, um ihn nach dem schönen Sommertag zu besteigen, was denn auch gelang, so daß ich sie am andern Morgen von Zermatt aus noch auf dem Gipfel beobachten kannte und unter dem Achselzucken der Umstehenden weggehen mußte. Daß ich dem Berg das nicht vergaß, war klar, und gerade die Hochzeitsreise erschien mir als eine besonders günstige Gelegenheit, um mich zu rächen.

Nun war es gewiß ein günstiges Zusammentreffen, daß sich auch meine Braut im Banne des großen Berges befand. Sie schreibt darüber:

»Es war meine Mutter, die mir die Liebe zu den Bergen ins Herz pflanzte. Obgleich selbst keine gute Fußgängerin, liebte sie doch nichts mehr, als den Aufenthalt in den Alpen. Nicht an den viel begangenen fashionablen Mittelpunkten. Nein, sie pflegte nach hochgelegenen kleinen Plätzen zu gehen, wo sie den Bergen nahe war und sie in ihrer ewigen Schönheit und Eigenart genießen konnte. Zum erstenmal nahm sie mich 1889 mit sich nach der Riffelalp bei Zermatt, wo wir mehrere Wochen blieben.

Nie werde ich den Eindruck vergessen, den da das Matterhorn auf mich machte, wir waren in strömendem Regen angekommen, ohne etwas zu sehen. Beim Erwachen am andern Morgen traute ich meinen Augen nicht, als der Berg über und über mit frischem Schnee bedeckt, einem wunderherrlichen Bilde gleich, durch den Rahmen meines Fensters hereinsah. Es kam da zu einer Liebe auf den ersten Blick. Rasch zog ich mich an und rannte hinunter zum Teleskop, um eine nähere Bekanntschaft mit der Schönheit zu machen. Als ich dann ein paar Tage später eine Partie auf dem Berg entdeckte, kannte meine Erregung keine Grenzen, wie großartig mußte es sein, diese scheinbar unersteiglichen Felsen zu erklettern, auf dem herrlichen Gipfel zu stehen, nur noch den Himmel über sich und die ganze kleine, unbedeutende Welt zu Füßen! Es wurde der Traum meiner Jugend, und Bergsteiger waren richtige Helden für mich. Damals freilich konnte keine Rede von einer Verwirklichung meines Traumes sein. Wohl aber engagierte meine Mutter für mich und meine Schwester einen Führer, der uns erst auf Edelweißspaziergänge nahm und schließlich auch hinauf auf das Breithorn und den Furggengrat. Ein andermal waren wir in Beatenberg und Mürren im Berner Oberland, ohne jedoch Touren machen zu können und 1892 in Partenkirchen, wo ich mit meiner Schwester die Zugspitze und Dreitorspitze bestieg. Daß dabei das Matterhorn noch immer in meinem Herzen lebte und nach alledem, was mir mein Bräutigam darüber erzählte, erst recht das Ziel meiner Sehnsucht war, brauche ich wohl kaum zu sagen.«

Wenn somit meine Braut bezüglich des ersten und hauptsächlichsten Zieles unserer Reise durchaus mit mir übereinstimmte und fröhlich das Unternehmen wagen wollte, so war der Entschluß dazu angesichts ihrer mangelnden Übung doch recht schwer für mich. Denn eines stand fest: wenn ich mich überhaupt mit dem Berg einließ, dann konnte ich mich mit der Besteigung auf der üblichen Zermatter Route nicht begnügen. Bekanntlich hat der Riese ein doppeltes Gesicht. Wohl hat ihm sein grandioser Anblick von dem vielbesuchten Zermatt aus den Ruhm des Berges der Berge verschafft und erhält ihm denselben dauernd, aber seine Besteigung ist hier verhältnismäßig einfach, streckenweise auch monoton. Demgegenüber zeigt die weniger eindrucksvolle, aber vielgestaltigere Südseite im einzelnen eine Großartigkeit und Abwechslung, die nicht mehr übertroffen werden kann. Dort haben auch die großen Kämpfe um die Bezwingung des Berges stattgefunden, die ihn zum klassischen Boden des Alpinismus gemacht haben. Wer ihn also wirklich kennen lernen will, dem kann die Zermatter Route nicht genügen, und mein Plan ging deshalb dahin, ihn von Süden nach Norden zu überschreiten. Freilich, diese alpine Tour par exellence ist nicht bloß recht schwierig und außerordentlich lang, sondern auch durch die bekannten Wetterlaunen des Berges mit seinen plötzlichen, aus heiterem Himmel kommenden Gewittern stark verrufen. Wer aber an ungünstiger Stelle von einem dieser häufigen, unvorherzusehenden Stürme überrascht wird, kämpft um sein Leben, und schon mancher ist dabei zu Grund gegangen. Sollte ich aber darum mein Vorhaben aufgeben, das unsern beiderseitigen innersten Wünschen entsprach? Nun erklärte allerdings meine Braut bezüglich der zu überwindenden Schwierigkeiten ruhig: »Ich liebte meinen Bräutigam und hatte ein unbegrenztes Vertrauen zu ihm. Er würde alles schon recht machen.« Aber durfte ich mich damit zufrieden geben? Genügte das Vertrauen der Liebe, um das Wagnis einer solchen Tour zu rechtfertigen? Und doch lockte die große Sphinx mit unwiderstehlicher Gewalt. Da verfiel ich in meiner Bedrängnis auf einen Ausweg. In der Überzeugung, daß eine erfahrene Besteigerin meiner jungen Frau doch manchen guten und nützlichen Rat geben, sie auf das und jenes aufmerksam machen, ihr in allerhand Kleinigkeiten helfen könne, machte ich den Vorschlag, Jeanne Immink zu dieser Tour einzuladen. Das geschah denn auch und wurde beiderseits fröhlich angenommen.

Daß auch dieser Entschluß lebhaft kritisiert wurde, konnte natürlich nicht ausbleiben, und wenn einer meiner ganz klugen Freunde meinte, diese Hochzeitsreise mit zwei Frauen sei ihm ein »psychologisches Rätsel«, so gab er damit nur der allgemeinen Überzeugung Ausdruck.

An den Felsen der Tête de Lion.

Nun schien allerdings ein widriges Geschick alle unsere Pläne zunichte machen zu wollen. Kurz vor der Hochzeit erhielt ich die Nachricht, daß sich meine Braut beim Tennis den Fuß verstaucht habe und überhaupt nicht auftreten könne, was nun? Wohl rannte ich von einem Doktor zum andern, natürlich nur um ein Achselzucken und Kopfschütteln zu erhalten. So richtete ich mich im stillen auf eine ruhmlose Badekur ein und machte mir meine Gedanken über das eheliche Leben. Doch es kam anders. Schon nach 8 Tagen war die Fußgeschwulst verschwunden, und bald dachte kein Mensch mehr daran.

Nun die Hochzeit! Fröhlich fuhr ich den Rhein hinunter und dann über den Kanal, um mir die Braut zu holen. Aber wenn man 36 Jahre seine Freiheit so genossen hat, wie ich, dann ist so eine Zeremonie doch immerhin eine etwas nachdenkliche Sache. Als sich an jenem denkwürdigen Vormittag in dem schwiegerelterlichen Haus unter allen Vorbereitungen so gar niemand um mich kümmerte und ich mir so völlig überflüssig vorkam, war mir doch nicht so recht wohl. Ja, ja, das Heiraten, sellen is nit so einfach! Da nahm sich mein vortrefflicher Schwager, der augenscheinlich mit mir fühlte, meiner an und schlug mir einen Spazierritt vor. Das vertreibe »trübe Gedanken« am besten. So galoppierten wir denn durch die benachbarten Downs, daß es eine wahre Freude war, und ließen uns verleiten, auch noch eine weitere Schleife zu reiten. Ganz durchbrennen konnte ich ja allerdings nicht mehr, nachdem England nun einmal eine Insel war, ja, ich bekam sogar keinen kleinen Schreck, als ich plötzlich bemerkte, daß wir uns verspätet hatten und nur mit knapper Not rechtzeitig zur Trauung kommen konnten. Alter Freund, sagte ich vorwurfsvoll zu mir, jetzt ist die Sache nicht mehr so einfach, jetzt bist du eben gebunden und hast deine Pflichten. Basta! So stürmten wir denn in richtiger Steeplechase geradewegs auf unser Ziel los. Aber wir hatten die Rechnung ohne den Besitzer des »Privatwegs« gemacht, auf dem wir uns befanden. Derselbe hielt uns an, erklärte, daß wir uns auf verbotenem Grund befänden und mit ihm zum Rathaus zu gehen hätten, um festgestellt und bestraft zu werden. Wohl parlamentierte mein Schwager hin und her mit dem Mann, ohne jedoch zum Ziel zu gelangen, bis ich dem Grimmen erklärte, daß ich in einer halben Stunde heiraten und da sozusagen doch auch dabei sein müsse. Da sah mich der Mann lange nachdenklich an und ließ uns ziehen. Augenscheinlich hielt er mich für gestraft genug. So kam es, daß ich doch noch rechtzeitig getraut wurde. Wer kann seinem Schicksal entgehen!

Über die Hochzeitsreise wurden nicht mehr viele Worte verloren. Meine Schwiegermutter ergab sich angstvoll in das Unvermeidliche und verlangte nur tägliche Telegramme, mein Schwiegervater aber meinte klugerweise: »Das wird eine schöne Erinnerung für das ganze Leben sein.«

Drei Tage darauf waren wir in Zermatt, wo uns Jeanne Immink am Bahnhof mit den Führern erwartete.

Hochzeitsreise.

Italienischer Matterhorngipfel.

Daß meine junge Frau zu der Matterhorntour erst einiger Übung bedurfte, war klar, und ich hatte das auch in Aussicht genommen, aber ich muß gestehen, daß ich es recht ungeschickt anfing. Mein nächster Plan ging nämlich dahin, den Monte Rosa zu besteigen, der zwar höher ist als das Matterhorn, aber durch die auf einem seiner Gipfel befindliche Capanna Margherita eine vorteilhafte Einteilung der zu leistenden Arbeit ermöglichte. Dort oben gedachte ich eine Nacht zuzubringen und dann über den Hauptgipfel abzusteigen. An sich war das durchaus keine schwierige Tour, die keinerlei Gefahr bot, aber sie führte in zu große Höhen und war wegen des tiefen und weichen Schnees zu mühsam. Nicht etwa für meine Frau, sondern – so hat die Ehe nun einmal ihre Überraschungen – für mich. Doch greifen wir nicht vor.

Wir hatten zunächst einen schönen und warmen Abend an den Plattjefelsen am Fuß unseres Berges, wo ein Zelt für uns aufgeschlagen war, da eine Hütte hier damals noch nicht bestand. Bis spät in die Nacht hinein lungerten wir gemütlich herum, freuten uns der großartigen Ausblicke und träumten fröhlich von den Dingen, die da kommen sollten. Weniger angenehm war allerdings das enge Zelt mit seinem steinharten Boden, in dem von Schlafen kaum die Rede sein konnte. Daß am andern Morgen Föhnwetter herrschte, der Schnee sehr weich war und die Führer schlechtes Wetter prophezeiten, kümmerte mich wenig: So schnell gab ich den einmal gefaßten Plan, der dazu noch in Zermatt bekannt geworden war, nicht auf. Nun kamen wir ja auch nach gut zwölfstündigem Marsch in unserer 4559 m hohen Hütte an, aber das Waten in dem tiefen Schnee und die noch gänzlich ungewohnte Höhenluft bewirkten, daß ich schließlich – zum einzigen Male in meinem Leben – bergkrank wurde und mich nur mühsam zu dem sturmumtobten Asyl hinaufschleppen konnte, wo ich die Nacht in völliger Apathie verbrachte. Es war mir dabei nur ein geringer Trost, daß dann auch die andern, einschließlich Führer, von der Krankheit befallen wurden. Am andern Morgen, wo der wütende Sturm noch immer die Hütte umbrauste, gab es nur eine Rettung: so rasch wie möglich wieder hinunter! Mit Aufbietung aller Kräfte stürmten wir den Hang hinab, um in der tieferen, zuträglicheren Luft allmählich wieder in eine normale Verfassung zu kommen.

Dieser erste, gründliche Mißerfolg war natürlich wenig aufmunternd, wenn ich mir auch aus dem eigenen Versagen weiter nicht viel machte und meinen bergsteigerischen Ruf schon wiederherzustellen gedachte, so waren doch Frau Mauds Begeisterung und Selbstvertrauen einigermaßen ins Wanken gekommen und mußten erst wieder gehoben werden, ehe ich an unsere große Unternehmung denken konnte.

Das nächste Mal fing ich die Suche geschickter an. Wir machten zunächst den prächtigen Spaziergang zu der am Fuß unseres Berges großartig gelegenen Schweizer Matterhornhütte, wo wir die Nacht zubrachten, um tags darauf ein Stück weit an den verhältnismäßig leichten Felsen emporzuklettern. Das gefiel Frau Maud schon wesentlich besser. Sie schreibt darüber: »Ich freute mich riesig über das abenteuerliche Leben und Treiben in der Hütte. Der Spaß, uns unser Essen selbst zu kochen, die Vorbereitungen für den folgenden Tag, die Schwierigkeiten, die es machte, daß man für nichts Platz hatte und schließlich alles in den Rucksack warf, das Strohlager, der pfeifende Wind draußen während der Nacht, das alles erschien mir höchst interessant und unterhaltsam. Je abenteuerlicher, um so besser! Und wie freute ich mich über die Kletterei! Das war doch ganz etwas anderes als die Schneewaterei am Monte Rasa. Auch fand ich dabei nicht die geringste Schwierigkeit, und es machte mir die größte Freude, daß mein Mann mit mir zufrieden war. Es war mein Stolz, überall mit ihm gehen zu können, wohin er wollte.«

Ebenso erfrischend war dann auch der herrliche Spaziergang über das Gebirge nach Breuil mit seinen Ausblicken auf die großartige Eiswelt ringsum und dem abwechslungsreichen Marsch hinunter nach den italienischen Gefilden.

Nachdem wir so glücklich an dem Südfuß unseres Berges angelangt waren, beschloß ich zunächst einmal zu der halbwegs unter dem Gipfel gelegenen italienischen Matterhornhütte zu gehen. Dabei bekam Frau Maud gründliche Gelegenheit zu Klettereien aller Art und Schwierigkeit, wir konnten uns auf dem »klassischen Boden des Alpinismus« umsehen und dann vielleicht die Überschreitung des Riesen kurz entschlossen wagen.

Der Marsch da hinauf führt erst nach dem Fuß der Tête de Lion, einem Vorberg, an dessen Felsen es wagrecht zu dem Col de Lion hinübergeht, worauf dann der eigentliche Berg betreten wird. Er ist geradezu fabelhaft abwechslungsreich und von denkbarster Großartigkeit und Wildheit. Man kann sich kaum etwas Gewaltigeres vorstellen, als wenn bei jener bekannten Ecke am Fuße der Tête de Lion sich so plötzlich und unerwartet der Blick auf die ungeheuren Felsen des Riesen mit ihren unermeßlichen Steilwänden, ihren phantastischen Blöcken, Türmen, Zacken und schwindelnden Graten eröffnet, eine finstere Welt für sich, die die ganzen Schauer des Unbegreiflichen, Unfaßbaren und Unerhörten auf die Seele des Eindringlings wirft. Es gibt kaum etwas Mächtigeres, als das schmale Felsentor des Col de Lion mit seinem reizvollen, fensterartigen Durchblick auf die fernen Schneeberge. Dann das Betreten des Berges selbst, ein weihevoller Moment, den man nicht mehr vergißt; die schwierigen Felsen darüber, die einem nach Tyndall »das Blut in den Adern erstarren machen« und endlich der verblüffende Anblick der beiden, scheinbar an den senkrechten Felsen klebenden Hütten des »Großen Turmes«, die ein so trotziges und doch zugleich anheimelndes Wahrzeichen menschlichen Unternehmungsgeistes in dieser ungeheuerlichen Öde bilden. Ich muß sagen, so groß auch meine Erwartungen gewesen, sie wurden von der Wirklichkeit weit übertroffen und mein ganzes Sein im Tiefsten und Innersten ergriffen. Das alles war mir wie eine Offenbarung.

Wie aber erging es Frau Maud? Sie nahm die Sache merkwürdig leicht.

»Die Tour machte mir einen großartigen Spaß. Erst freuten mich die hübschen Blumen auf den schönen Wiesen, und dann war es mir ein Genuß, immer höher zu kommen, immer mehr auf die Welt dort unten hinabzublicken. Die Freude an der nun folgenden Kletterei war wohl zum großen Teil eine rein physische. Das Gefühl der Kraft: ich kann es, eiferte mich an. Dazu kam das Vergnügen, Schwierigkeiten zu überwinden, und meinem Mann zu zeigen, daß er sich nicht in mir getäuscht habe, daß ich ihm auch in seinen Bergen ein ebenso guter Kamerad sein könne, wie im Tale. Auch kargte er bald nicht mit seiner Bewunderung, was mir große Freude machte und ein mächtiger Ansporn war, der mir mehr half als alle Übung. Im übrigen kam mir unsere Auffassung vom Sport zugut. Wir waren dazu erzogen, uns zu zwingen, gegen Schwierigkeiten anzukämpfen, eine einmal angefangene Sache unter allen Umständen zu Ende zu führen, kurz, ich sah die Tour durchaus nicht bloß als ein Vergnügen an. An den Blick in die Tiefe gewöhnte ich mich rasch. Von den zahlreichen an dem Berge verankerten Seilen machte ich so wenig als möglich Gebrauch und war entsetzlich ärgerlich, daß mir an der schwierigen Stelle im ›Kamin‹ schließlich doch geholfen werden mußte.«

Der »Große Turm« mit den beiden Hütten.

Nachdem so alles über Erwarten gut gegangen, war es doppelt schön, nun auch unsere eigenartige, so ganz von der Welt abgeschlossene Lage zu genießen und die grandiosen Eindrücke dort oben in Ruhe auf uns einwirken zu lassen, wo alles geradezu ins Unermeßliche gesteigert ist. So kletterten wir einen vollen Tag lang an den Felsen des Berges herum, hinauf zu der alten Hütte, auf den »Großen Turm« und besahen uns die Stelle, wo Whympers Rivale Carrel seinen Namen in den Fels gemeißelt hatte, als Zeichen, daß der Berg ihm und sonst niemand gehöre. Weiterhin überschritten wir das heikle »Leichentuch«, erkletterten das Seil, das Tyndall einst zurückgelassen, tummelten uns auf dem schwindelnden »Hahnenkamm« mit seinen, jedem Schwergewicht scheinbar spottenden Blöcken und besuchten die an der »Crawatte« gelegene oberste Hütte, die einst mit so geräuschvoller Begeisterung erbaut worden war und nun nur noch an die Vergänglichkeit der Zeiten erinnert. Wie hat uns das alles interessiert, wie haben wir geschwelgt in den maßlos großartigen Ausblicken, wie hat uns das romantische Leben in der kleinen Hütte gefreut und angeheimelt! Wir hätten wochenlang da oben bleiben können, umwoben von dem Geist des mächtigen Riesen, der uns so ganz mit seinen Rätseln und Schauern erfüllte. Auch noch anderes, Persönliches kam für mich hinzu, um diesen Tag zu einem so unvergeßlichen zu machen: ein Stolz, ein Jubel über Frau Maud, die mit solchem Interesse meinen Erzählungen folgte, alle Anstrengung und Gefahr mit solcher Selbstverständlichkeit auf sich nahm und immer wieder neues, tieferes Leben in mir weckte. Ja, alter Junggeselle von damals, wie klein begannst du mir allmählich vorzukommen!

Der Entschluß zu der eigentlichen Besteigung des Berges wurde mir am andern Morgen durch mehr als zweifelhaftes Wetter recht schwer gemacht, aber ich wagte ihn. Allerdings nicht, ohne einen Träger hinüber nach dem auf der anderen Seite des Berges befindlichen Schwarzseehotel zu schicken, um unser Unternehmen dort mitzuteilen. Meine Besorgnisse waren auch nicht ungerechtfertigt; wir sollten die ganze Wildheit und Tücke des dämonischen Berges zu spüren bekommen.

Zunächst ging alles gut. Durch huschende Nebel, die all die riesenhaften Details und Ausblicke noch vergrößerten, stiegen wir hinauf zu dem Pic Tyndall, einem mächtigen Vorsprung der Bergeskante, von dem aus ein scharfer Grat zu dem letzten Gipfelblock hinüberführt. Der Blick von da ist wohl einer der großartigsten der ganzen Alpenwelt. Obgleich man sich schon in einer Höhe von 4200 m befindet, erhebt sich der Riese scheinbar so hoch und mächtig wie nur je in die Lüfte. Ich muß gestehen, daß sein Anblick mich in meinem Vorhaben doch etwas stutzig machte, zumal die Nebel bis zu uns heraufdrangen, und das Wetter jeden Augenblick umschlagen konnte. Immerhin wurde der Weitermarsch gewagt und mit allseitigem Beifall aufgenommen. Frau Maud insbesondere erklärte mir später, sie habe schrecklich Angst gehabt, ich werde sagen, die Sache sei zu schwer für sie, und umkehren.

Der Marsch über den Tyndallgrat hat einen ganz merkwürdigen Reiz. Man geht da eine halbe Stunde lang wie auf des Messers Schneide, teils über Firn, teils auf Fels, und die Abgründe zu beiden Seiten sind so ungeheuerlich, daß sie jeglicher Vorstellung spotten. Pikant ist auch die »Enjambée«, eine Schlucht im Grat mit einem Felszacken darin, über die man in zwei weiten Sätzen hinwegspringt. Der Anstieg zum Gipfel war sehr steil, und insbesondere die Ersteigung der »Echelle Jordan«, einer ziemlich brüchigen und schiefen Strickleiter, die an dem ausgebauchten Fels hängt, eine recht kitzlige Sache. Dann aber ging es trotz aller Schwierigkeiten rasch an dem riesenhaften Block in die Höhe, bis wir den italienischen Gipfel erreichten, glücklich, triumphierend, erwartungsvoll und – in dickem Nebel, der sich plötzlich von oben herab senkte.

Rückblick auf den Tyndallgrat.

Da waren wir also an dem ersehnten Ziel, die Sphinx aber hatte sich verschleiert und wir sahen nichts. Auch dem herrlichen Übergang auf dem scharfen Grat zu dem Schweizer Gipfel war ein großer Teil seines Reizes genommen, wenngleich die trotzigen Details riesenhaft hervortraten. Dort warteten wir dann wohl eine Stunde lang vergebens auf Aussicht, bis wir schließlich wohl oder übel und natürlich schwer enttäuscht den Abstieg antreten mußten; denn noch lag ein weiter und schwieriger Weg vor bzw. unter uns.

Auf dem Gipfelgrat des Matterhorns. (Nach Boppa.)

Er hat sich als ein solcher erwiesen.

Nach einem kurzen Steilabstieg über Schnee und gefrorenes Geröll kamen wir an jenen senkrecht abstürzenden Felsgrat, den man als die Kante des einem Haus ähnelnden Gipfelblockes bezeichnen kann. Es ist der schwierigste Teil des ganzen Weges, an dem zahlreiche Seile und klirrende Ketten herabhängen. Er ist so steil und nach allen Seiten zu frei gelegen, daß wir froh an den Nebeln waren, die uns den Blick in die Tiefe verbargen.

Dann wurde die »Schulter« erreicht, ein scharf gezackter Felsgrat, der zu jenem steilen Schneefeld hinunterführt, auf dem ich einst hatte umkehren müssen. Unerreichbar war damals der mächtige Gipfelblock vor mir gestanden, und mit Sehnsucht und Groll im Herzen hatte ich den Rückweg antreten müssen. Jetzt kam ich siegreich von oben herab, aber der ersehnte Gipfel war mir so fremd wie nur je. Hatte der grimme Berggeist mich wieder verspotten wollen?

Da plötzlich wurde ich in meinen Träumen jäh unterbrochen. Ein helles Leuchten, nur wenige Schritte entfernt, ein fürchterlicher Krach, und betäubender Donner rollt drohend an den weiten Felswänden entlang. Der Blitz hat in nächster Nähe eingeschlagen, und ein Gewitter entladet sich, wie es schrecklicher nicht gedacht werden kann. Wie erstarrt vor Schreck stehen wir da und hören in dem Toben des Unwetters nur noch das Sausen unserer Pickel und das Knistern der Haare in der von Elektrizität geschwängerten Luft.

»Vorwärts, vorwärts!« schreien die Führer, und in wilder Hast, halb springend, halb rutschend, geht es an dem steilen Firnhang hinab. Blitz auf Blitz schlägt rings um uns ein, furchtbar dröhnt der Donner, der wütende Sturm peitscht uns den stromweise herabstürzenden Regen und Hagel ins Gesicht, und es ist, als habe sich die ganze Natur gegen uns verschworen. Wilde Szenen spielen sich ab. Wir haben die Felsen unterhalb des Firnfeldes erreicht, und die ringsum einschlagenden Blitze treiben uns bald hierhin, bald dorthin. Beständig werden durch das allzu hastige Klettern Blöcke losgelöst. »Achtung, Achtung!« ertönt es immer wieder; ein Sprung auf die Seite, und prasselnd donnert das Gestein vorbei, hinunter in die unermeßliche Tiefe. Jetzt erst wird es klar, welche Abgründe sich unter uns befinden. Dazu diese beständigen Blitze in nächster Nähe, dieses grausige Knistern der Pickel und Haare, das man trotz Wetter und Sturm selbst noch von den anderen her hört. Nur gut, daß wir wenigstens den schwierigsten Teil des Weges schon hinter uns haben! Wir wären dort oben niemals weiter gekommen.

Aber wenn wir gehofft hatten, daß das Gewitter sich nur auf die oberen Teile des Berges beschränke, so daß wir durch rasches Vorwärtsstürmen aus ihm herauskommen würden, so erwies sich das als trügerisch. Vier volle Stunden waren wir der Wucht des Unwetters preisgegeben, kämpften uns weiter durch Regen, Sturm und Blitze. Erst nachdem wir die verfallene obere Hütte hinter uns hatten, klärte sich der Himmel einigermaßen auf, und man sah tief unten die bewohnten Regionen.

»Hallo, die Sonne!«

Hallo, hallo! tönt es von unten herauf. Man konnte Gestalten erkennen, und eine ganze Karawane von Führern rückte an, um uns zu helfen, was wir jetzt allerdings nicht mehr nötig hatten. Bald war dann die untere Hütte erreicht, ein prasselndes Feuer und ein wärmender Grog erwarteten uns, und kurze Zeit darauf saßen wir in geborgten Kleidern beim fröhlichen Mahl um die Tafel des Schwarzseehotels. Und welchen Spaß machte es mir Tags darauf in Zermatt, wo »die beiden Frauen auf der Matterhornhochzeitsreise« die Sensation des Tages bildeten, Frau Maud mit ihren 21 Jahren im weißen Mädchenkleid zu zeigen, das sie doppelt jung und kindlich erscheinen ließ. Sie hatte sich glänzend gehalten und war den schwierigsten Lagen durchaus gewachsen gewesen. Auch Jeanne Imminks, die nun ihre Aufgabe für erfüllt hielt, sei noch einmal dankbar gedacht. Als »zweite Frau« hatte sie sich der »Rivalin« getreulich angenommen, war ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden und hatte uneigennützig ihr redlich Teil zum Gelingen beigetragen. Kein Zweifel, es war ein glücklicher Gedanke gewesen, sie mitzunehmen.

Wie aber stand es nun eigentlich mit unserer Unternehmung? Wohl hatten wir den Riesen trotz allen Wütens besiegt. Aber war das denn ein Sieg? Nachdem wir nichts dort oben gesehen hatten! Sollten wir uns damit begnügen, gewissermaßen auf halbem Wege stehen bleiben? Nein, die Sphinx mußte uns alles zeigen! Und sie zeigte es. Zwar wurden wir bei unserem nächsten Versuch schnöde zurückgetrieben und mußten in strömendem Gewitter Schutz in der Schweizer Hütte suchen, aber wenige Tage darauf standen wir doch wieder oben. Bei herrlichstem Wetter waren wir über die Schweizer Seite hinaufgestiegen, hatten die prächtig gelegene Ruine der alten obern Hütte, die darüber aufragenden mächtigen Türme bewundert und fröhlich den schwindelnden Aufstieg an der Kante des Gipfelblockes gemacht, um jetzt frei hinausschauen zu können über die Lande, soweit das Auge reichte.

So hatten wir also voll gewonnen, uns zu einem jener Momente hindurchgerungen, die man nicht vergißt, die dem ganzen Leben ihre Weihe geben. Wer wird es Frau Maud verdenken, wenn sie darüber jubelte und sagt: »Mir war als lebe die Seele des Matterhorns in mir auf, diese Verkörperung von königlichem Trotz und stolzer Größe, die nichts neben sich duldet. Wohl hatte ich zunächst ein unbeschreibliches Gefühl der Einsamkeit, als sei ich mitten in der Luft gefesselt über dieser äußersten Welt; denn die Flanken des Berges sind so steil, daß man nur eine ganz kurze Strecke an ihnen hinuntersieht. Aber dieses Gefühl der Einsamkeit machte bald dem trotzigen Stolz Platz, den einsamen König besiegt zu haben. Ich fühlte mich selbst als Königin über alle Lande dort unten. Vielleicht erscheint das als Anmaßung, aber das Gefühl war zwingend und unauslöschlich; ohne es eigentlich zu wollen, hatte ich die Idee des Berges in mich aufgenommen.«

Nun, auch ich fühlte mich als König und mußte an ein anderes Wort der tapfern Gefährtin denken, das den Jubel über unsere gelungene Tat, wie über die Schönheit dort draußen noch verdoppelte, mich dankbar an die nicht weniger große Welt in dem eigenen Innern erinnerte: »Ich liebte meinen Mann. Das ließ mich alles wagen und siegreich durchführen.«

Nachdem ich Frau Maud so die düstere Felsenwelt des grimmen Matterhorns gezeigt, sollte sie nun auch in die strahlende Eisespracht der Schneeberge eingeführt werden. Daß es sich dabei nur um die zweite wahrhaft große Schönheit der Schweiz, die Jungfrau, handeln konnte, war für uns von Anfang an klar. Also hinüber ins Berner Oberland!

Was dieses Gebirge bedeutet, weiß ein jeder, der auch nur einmal die Nordschweiz betreten hat. Bis zum Bodensee, dem Schwarzwald und den Vogesen leuchten die Alpen hinaus in die Lande, ein schneeweißer Wall von Bergen, eine unermeßliche Anzahl von Spitzen und Zacken, die in ihrer Vielheit das Auge verwirren. Ein Bild aber prägt sich dem Beschauer sofort unauslöschlich ein: der Blick auf das Berner Oberland. Stolz hebt es sich aus dem übrigen Volk von Bergen heraus, und seine zahlreichen Gipfel dominieren das Zackengewirre durch überragende Höhe und packende Eigenart. Kein Zweifel, das Berner Oberland ist die Perle unter den Nordalpen. Aber so mächtig sich auch seine Gipfel, ein Finsteraarhorn, Schreckhorn, Wetterhorn, erheben, sie treten doch zurück hinter dem Dreigestirn der Jungfrau mit ihren beiden Genossen, Mönch und Eiger, das alles andere stolz beherrscht. Und was wir aus der Ferne bewundern, das gewinnt noch an Macht und Größe, bis auf der Wengernalp der Höhepunkt erreicht ist. »Eine Welt voll Pracht und Herrlichkeit« erhebt sich vor uns, so großartig in ihrem Aufbau, so vielseitig in ihren Formen, so herrlich in ihrem glitzernden Strahlen, wie man es sonst nirgends sieht. Dazu der Kontrast zu den lieblichen Regionen grüner Weiden und hochstämmiger Wälder hier unten! Tausendfach glitzern dort die Schneekristalle an den herrlichen Firnwänden, an denen die Sonne tiefste Schatten wirft, und klar hebt sich das grünliche Eis von den dunkeln Felsen ab. Das alles liegt unmittelbar vor uns, beinahe zum Greifen nahe, und doch befinden wir uns auf grüner, blumenbesäter Flur, wir haben bekannten Boden unter den Füßen, und es dünkt uns, als blickten mir in eine Ewigkeit hinein.

In ihrer Vielgestaltigkeit macht die Jungfrau mehr den Eindruck eines Gebirgsstockes, als den eines einzelnen Berges. Eine Reihe herrlicher Vorgipfel, die Silberhörner und das Schneehorn, umgeben die Spitze, mächtige, von schroffen Felsen durchsetzte Gletscherströme ziehen sich in wilder Zerklüftung an den steilen Wänden herab, gezackte Kämme wechseln mit weiten Schneefeldern und abgelegenen Schluchten, und nur die edle Form der alles überragenden Gipfelpyramide gewährt einen Ruhepunkt in dem wechselvollen Bilde, das etwas so geheimnisvoll Unnahbares an sich hat.

Dieses Geheimnis zu lüften, die Vielgestaltigkeit des Berges zu ergründen und zu genießen, war unser Ziel. Da die vorgerückte Jahreszeit eine Besteigung von der Wengeralp her wegen zu großer Ausaperung (Trockenheit) der Gletscher verbot, so beschlossen wir, zunächst wenigstens auf das hier gelegene Schneehorn (3415 m) zu gehen, einen Vorberg zwar nur, der aber keineswegs leicht zu ersteigen war und ebenso instruktive wie intime Einblicke in die Welt dort oben versprach.

Den ersten eigenartigen Eindruck hatten wir dabei in der netten, kleinen Guggihütte, wo es umgekehrt war, als drüben auf der Wengeralp, und man von dem wilden Kessel des Jungfraujochs mit seinen Felswänden und Gletscherströmen hinüberblickte nach den Wäldern und Matten, hinaus in die fröhlich grüne Landschaft mit ihren Bergen, Tälern und Seen. Sonnenuntergang! Die Firne um uns erstrahlen noch einmal in hellem Glanz, die Schatten kriechen aus den Tälern empor, leichte Dünste erheben sich, und die Wolkenwand am fernen Horizont beginnt, sich zu vergolden. Wir hören das Geläute der Herden auf der Alp, die sich langsam in die friedliche Dunkelheit des Abends hüllt, bis endlich die Sonne auch an den eisigen Schneegipfeln verschwindet, um dem glühenden Rot der weiten Eisflächen Platz zu machen, das sich ganz allmählich in dem kalten Grau der Nacht verliert. Nacheinander kommen die Sterne an dem dunkeln Himmel hervor, der Mond beginnt seinen Lauf, und die unendliche Stille der Hochgebirgsnacht hält ihren Einzug.

Die Tour des andern Tages stand angesichts ihrer Länge und der schwierigen Eisverhältnisse von Anfang an unter dem etwas bedrückenden Gedanken, daß sich sehr leicht ein Freilager auf dem Gletscher als notwendig erweisen konnte, eine Möglichkeit, auf die Lauener, unser Lokalführer, dem auch die beiden mitgenommenen Zermatter Führer beistimmten, immer wieder hinwies.

Wir brachen noch in dunkler Nacht auf und hatten das geisterhafte Schauspiel eines Gletschermarsches beim Mondenschein. Es ist ungeheuerlich, welche Zerklüftung der Guggigletscher, den wir seiner ganzen Länge nach zu durchschreiten hatten, zeigt. Ein Chaos von Eistrümmern, zwischen denen der kleine Mensch geradezu verschwand, erhob sich in abenteuerlichen Formen ringsum, und die in der Dunkelheit besonders lebhafte Phantasie gestaltete alles doppelt eigenartig aus. Es war ein langer Marsch durch das nicht endenwollende Labyrinth, hinauf und hinab, herüber und hinüber, bis wir endlich das höher gelegene Gletscherplateau erreichten. Nach einiger Zeit sollte dann ein seitlich von oben herabkommender Eisstrom zur Rechten erstiegen werden. Es war eine steile Wand, und darüber hing, scheinbar frei in der Luft, eine zerklüftete Masse von Eistrümmern, in der man ein beständiges Poltern und Dröhnen hörte. Zerfall und Zerstörung trieben da ihr ewiges Werk und bedrohten den Eindringling. »Der Marsch da hinauf würde ebenso sein, wie ein Spaziergang vor einer Batterie Kanonen, die jeden Augenblick zu schießen anfangen können.« Ein bekannter Bergsteiger hatte einst diesen aufmunternden Ausspruch getan, der uns im übrigen natürlich nicht von unserem Vorhaben abhielt.

Bald waren wir in einer Linie übereinander eingefädelt, und während der vorausgehende Führer mit Wucht die Stufen schlug, warteten wir, den Blick auf die glatte Wand gerichtet, bis die Reihe an uns kam, einen Schritt vorwärts zu tun. Die losgeschlagenen Eisteile flogen uns um die Ohren, die Füße wurden kalt von dem langen Stehen, das Gesicht glühte im Sonnenbrand, und das beständige unheimliche Krachen und Poltern über uns gab Gelegenheit zu allerhand betrachtlichen Gedanken. Wenn die dort abbröckelnden Eisblöcke hier herunterkamen, so waren wir rettungslos verloren; denn ausweichen konnten wir unmöglich an der glatten Wand. Dabei fiel mir ein Abenteuer ein, das sich einst hier zugetragen. Abstürzende Eisteile hatten eine Partie getroffen und ins Rutschen gebracht, so daß zwei Mann in einer Spalte frei am Seil hingen, der dritte mit dem Kopf voraus so unglücklich an dem Spaltenrand lag, daß er sich nicht zu rühren vermochte. Das Schicksal aller hing von dem obenstehenden Führer ab, dem es gelungen war, festen Fuß zu fassen. Helfen aber konnte er nicht, und gab er auch nur einen Schritt nach, so war alles vorüber. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wie lange er es aushalten würde; denn den Gedanken des Seildurchschneidens wies der Brave ohne weiteres von sich. Verzweifelt stand er da und hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, als merkwürdigerweise eine zweite Partie, von der man keine Ahnung gehabt hatte, in diese sonst so völlig verlassene Gegend kam und der gefährlichen Lage ein Ende machte. Also: nur nicht nachlassen!

Wir selbst erreichten schließlich glücklich den über uns befindlichen Eisbruch, und wenn wir bis dahin in beständiger Furcht vor abstürzenden Trümmern geschwebt hatten, so zeigte sich jetzt, daß diese Gefahr mehr eine eingebildete, als eine wirkliche gewesen war. Es lagen da so ungeheure Spalten, daß sie völlig genügten, um alle von oben herabkommenden Trümmer in sich aufzunehmen. Wie nun aber darüber hinwegkommen? Nun fanden wir ja nach langem Suchen eine »Schneebrücke«, die in kühn geschwungenem Bogen nach jenseits hinüberführte, und unter entsprechenden Vorsichtsmaßregeln überschritten werden konnte, aber viel war damit freilich nicht gewonnen, wir befanden uns jetzt in einem Labyrinth von haushohen Eistrümmern, die, völlig unterminiert, beständig in sich zusammenbrachen. Es gab da nur eine Möglichkeit: auf gut Glück so rasch wie möglich hindurch! Es war eine arktische Wildnis von unheimlicher Pracht, in der senkrechte, blaugrün schimmernde Wände kaum ein kleines Stückchen Himmel freiließen. Mannshohe Eiszapfen hingen herab, und überall zeigten sich Spalten, Risse und Trümmer. So vergingen bange zehn Minuten, die wir wehrlos dem Schicksal anvertrauten, aber es war uns hold, und wir erreichten glücklich das unter dem Jungfraujoch gelegene Firnplateau.

Der weitere Weg führte beinahe eben nach den Felsen unseres Berges, die uns nur noch wenig überragten. Er war jetzt durchaus unschwierig – wenn es nur gelang, eine riesige Spalte zu überschreiten, welche sich über das ganze Plateau hinwegzog.

»Es ist zu spät für den Guggigletscher im August,« meinte Lauener zum hundertsten Male, und auch die beiden Zermatter schüttelten bedenklich die Köpfe, zumal es schon 11 Uhr war. Nun, auch diesmal half uns das Glück in Gestalt eines Vorsprungs in der Tiefe der Spalte, der es schließlich doch ermöglichte, nach jenseits hinüber zu kommen. Damit war das Schneehorn gewonnen. Nur ein banger Augenblick kam noch, als wir uns auf den Felsen unter der ungeheuren, überhängenden Gipfelwächte mit ihren mächtigen Eiszapfen befanden. Bei ihrem Durchschlagen mußten wir darauf gefaßt sein, daß die ganze Geschichte über uns abbrach und wir den Anprall der abstürzenden Lawine auszuhalten hatten. Doch nichts dergleichen passierte. Bald war ein Loch durch den Schnee gehauen, und vorsichtig kroch einer nach dem anderen durch das eisige Tor. Dann ging es rasch auf den Gipfel.

Jungfrau mit Schneehorn und Silberhörnern.

Und nun das Lüften des Geheimnisses, denn als ein solches erschien mir die Gestaltung des Berges mehr und mehr. Es kam mir vor, wie ein weihevolles Entschleiern, als wir mit einem Male das abgelegene, eiserfüllte Hochtal unmittelbar vor uns sahen, das sich am Fuß der Gipfelpyramide nach der »Silberlücke« zieht und die schneeweißen Silberhörner, diesen eisigen Busen der Jungfrau von ihr trennt; eine Welt für sich, ein von den Schauern der Einsamkeit und Unnahbarkeit umgebenes, glitzerndes und strahlendes Heiligtum, vor dem wir in staunender Verehrung den Atem anhielten.

Wahrlich, es war Lohn genug für unsere Mühe!

Gehen wir, um die geheimnisvoll riesenhafte Gestaltung unseres Berges ganz kennen zu lernen, in Gedanken noch einen Schritt weiter, hinauf nach der höchsten Spitze unseres Bildes! welche Überraschung steht uns da bevor! Wiederum erhebt sich in klassischer Ruhe und Einfachheit in urgewaltiger Block aus dem weiten Firnfeld. Er ist der eigentliche, von der Wengernalp überhaupt nicht sichtbare und auch sonst vielfach verdeckte Gipfel. Jetzt erst ist das Geheimnis der Jungfrau ganz entschleiert.

Jungfraugipfel vom Vorgipfel.

Beim Abstieg verwandelte sich unsere Furcht vor einem Gletscherbiwak in eine Humoreske. Trotz aller Schwierigkeiten kamen wir rascher vorwärts, als wir gedacht, und schon um 6 Uhr abends erreichten wir die Hütte wieder. Was aber hatten wir jetzt noch hier verloren! Wie verlockend winkte dort drüben das komfortable Scheidegghotel! Also weiter! Gegen Abend wurde es erreicht, und wonnig reckten und streckten wir die müden Glieder. Welcher Genuß, es sich jetzt bequem zu machen und alle die wohlverdienten Annehmlichkeiten der Zivilisation behaglich durchzukosten!

Doch der Mensch denkt und der Wirt lenkt, oder anders ausgedrückt: man glaubt zu reisen und man wird gereist. Wir hatten gestern die große Sünde begangen und den Proviant von unserem Hotel in Lauterbrunnen mitgebracht, das Anerbieten des Scheideggwirts, uns damit zu versehen, ausgeschlagen. Jetzt gab es auch keinen Platz mehr für uns. Keinen Platz für eine Dame nach einer solchen Tour! Ich wetterte und tobte, stieß aber auf ein gleichgültiges Achselzucken, wie das nur Kellnerseelen eigen ist. So blieb schließlich nichts übrig, als weiterzugehen, und zwar dann auch gleich ganz hinunter nach Lauterbrunnen zu unserem Gepäck.

Zunächst ließ sich die Sache nicht übel an. Was gibt es denn Schöneres für ein junges Liebespaar, als eine Mondscheinpromenade in solcher Landschaft! Arm in Arm zogen wir behaglich über die prächtige Wengernalp hinab, bewunderten die Berge, lauschten dem Summen der Käfer und beobachteten das Einbrechen der Nacht mit ihrer stillen Schönheit, wie man das in diesem Fall so zu tun pflegt. Bald machte sich dann aber der prosaische Hunger geltend, die müden Beine kamen allmählich in ein rascheres Tempo, immer mehr zog sich die Gesellschaft auseinander, und schließlich wurde der Marsch zum Wettlauf.

Wer gewann?

Die schöne Leserin wird gewiß triumphieren, wenn sie hört, daß ich total geschlagen wurde. Schon in Wengen hatte ich das Rennen längst aufgegeben. Nun gibt es auf der ganzen Welt keinen miserableren Weg, als den von da hinunter nach Lauterbrunnen, der damals wenigstens eine Art ausgetrocknetes Bachbett mit darin herumliegenden zahlreichen Steinen war, Dinge, die nach einem 16stündigen Marsch den Humor in stockdunkler Nacht nicht gerade erhöhen. Und die Laterne befand sich natürlich vorne bei Frau Maud. So zog ich denn mit wachsendem Grimm diese Via Dolorosa weiter, ohne daß die Lichter des infamen Dorfes da unten näher kommen wollten. Wie würde sich das Wiedersehen gestalten? Ich war in schrecklicher Laune, aber als mir Frau Maud auf der Schwelle des Hotels in einem frischen, weißen Kleid heiter entgegentrat und erklärte, sie habe ein herrliches Bad genommen, da machte ich eben gute Miene zum bösen Spiel und erwiderte: »Mit dir mache ich noch einmal eine Hochzeitsreise!« Dann nahm ich auch ein Bad, aber ein innerliches.

Da wir nun gerade beim Baden sind, so möchte ich ein unterhaltsames kleines Ereignis erwähnen, das sich anderen Tages in unserem Hotel, einem aus Holz gebauten Schweizerhaus zutrug. Fröhlich saßen die Gäste bei der Suppe um den Tisch, als plötzlich ein strömender Regen von der Decke herabkam und alles entsetzt auseinanderstob. Ich hatte in meinem darüber befindlichen Schlafzimmer ein Bad zu nehmen versucht und die Wanne glücklich umgeworfen, so daß man jetzt dort unten das Mittagessen mit aufgespannten Regenschirmen beenden mußte. Nun, angesichts meines Kostüms war ich wenigstens vor der tobenden Wirtin sicher.

»Und dieses Mann habe ich verheiratet!« meinte Frau Maud, die damals das Deutsch noch etwas gebrochen sprach.

Die Überschreitung der Jungfrau (4243 m).

Auch im Westen, gegen den in das Lauterbrunner Tal mündenden Rottalkessel, ist der Abfall unseres Berges ein tiefer und steiler, wenn auch weniger gestaltenreich als auf der Nordseite. Im Süden dagegen ragt er kaum aus dem Hochplateau des Jungfraufirns hervor, das sich in dem Aletschgletscher nur ganz allmählich in das Rhonetal hinabsenkt. Die Besteigung, welche zum erstenmal schon 1812 gemacht wurde, ist denn auch von hier aus eine verhältnismäßig einfache, wenngleich das steile Eisfeld über dem Rottalsattel und der Schrund unterhalb desselben schon verschiedene Opfer gefordert haben.

Da ich den Berg schon 1884 von Grindelwald her über das Mönchjoch erstiegen hatte, beschlossen wir, ihn jetzt von dem Rottal aus anzugreifen und über den Jungfraufirn nach Grindelwald abzusteigen, eine Tour, die eine Fülle von Abwechslung und eisiger Pracht versprach.

Zunächst fing die Sache recht stattlich an. Stolz fuhren wir in einem uns zur Verfügung gestellten Vierspänner das schöne Lauterbrunner Tal hinauf, bewunderten fröhlich die glitzernden Schneeriesen über uns ebenso, wie die von den hohen Felswänden auf die blumenbesäten Wiesen herabströmenden Silberfäden der Staubbäche, und bemitleideten die zahlreichen Fußgänger, die sich im Schweiß ihres Angesichtes auf der staubigen Landstraße abmühten. Da war so ein flotter Vierspänner doch etwas ganz anderes! Hochwichtig kamen sich auch die Führer vor. Die Pickel in der Hand, die Seile um den Leib geschlungen und in dem Gefühl, daß es sich bei uns um etwas Rechtes handle, saßen sie ernst und würdevoll auf den weichen Polstern.

Etwas anders sah die Sache freilich aus, als wir uns dann ebenfalls zu Fuß und schwerstbepackt in die höhern Regionen hinaufarbeiten mußten. Erbarmungslos brannte die Sonne auf den steilen Hang herab, eine unerträgliche Schwüle hing über dem Tal mit seinen monotonen Hängen, und es ist nicht zu verwundern, wenn »manch gräßlicher Fluch schwitzender Touristen an diesen steilen Wänden klebt«. Nach fünfstündigem Keuchen änderte sich dann mit dem Betreten des hochgelegenen Rottalkessels die monotone Szenerie, wir kamen in eine Trümmerwüste von Felsblöcken und konnten über den zerklüfteten Gletscher hinweg an dem mauerähnlichen Firnwall hinaufblicken, der so hoch in die Lüfte steigt, daß man sich wie in einen engen Raum eingeschlossen fühlt. Eine bedrückende Einsamkeit herrscht auf diesem »Tanzplatz der Rottalherren«, die hier als wildes Heer mit Hussa und Hallo ihr Unwesen treiben sollen, und nur der herrliche Blick nach den schmucken Gestalten des Breithorns, Tschingelhorns, Gspaltenhorns und der Blümlisalp bringt Leben in das schauerlich öde Bild.

Es ist nicht gerade erfreulich, wenn man, wie wir, am späten Nachmittag in eine schon nahezu vollbesetzte Hütte kommt und ihre Insassen um fünf Köpfe vermehrt. Wer auf einer langen Eisenbahnfahrt sich zum Schlafen niedergelegt hat, um dann plötzlich von einem Mitreisenden überrascht zu werden, der »gleiches Recht für alle« verlangt, der kennt die Gefühle, mit denen man bei solcher Gelegenheit empfangen wird. Nun, unter uns Touristen herrschte bald die schönste Harmonie. Dagegen konnten wir bei den Führern eine Erregung beobachten, die die Stimmung der Zeit charakterisiert. Den Gegenstand dieser Erregung bildeten nämlich zwei Studenten, die die damals noch ganz unerhörte Absicht hatten, die Jungfrau führerlos zu besteigen. Das fehlte gerade noch, daß jetzt auch die großen Schweizer Berge von diesen Führerlosen heimgesucht wurden! »Erst darf man ihnen den Weg zeigen und schöne Stufen schlagen, damit sie dann mit ihren Heldentaten prahlen können und die Berge in Mißkredit bringen.« Auch ihr Verhalten hier unten wurde einer scharfen Aufsicht unterzogen. »Ich bin der Obmann der Hütte,« wetterte einer der Führer, »und dafür verantwortlich, daß sie gut im Stand bleibt, wie das bei den Führerlosen zugeht, weiß man. Da wird nichts geputzt und gewaschen. Ich werde ihnen aber morgen genau auf die Finger sehen und beim Kochen kommen wir zuerst. Die können sehen, wie sie sich ihren Kaffee machen!«

Nun, die beiden Attentäter haben sich nicht übel gerächt. Schon um 1 Uhr morgens standen sie leise auf, legten ihre Decken zusammen, aßen etwas Brot und gedörrtes Obst, um dann geräuschlos zu verschwinden. Kaum war das geschehen, da stürmten auch schon die Führer herein, um nachzusehen, ob auch alles wieder ordnungsmäßig instand gesetzt sei, und als sie mit dem besten Willen nichts aussetzen konnten, ließ ihnen der Gedanke, daß die beiden nun voraus waren, keine Ruhe mehr.

»Stehen Sie auf! Wenn wir sie nicht fangen, dann können wir heute die Besteigung nicht machen. Da muß alles zusammen bleiben, sonst gibt's Steinfall. Bei diesen Leuten ist man ja so wie so nicht sicher davor. Wir Führer sind verantwortlich, daß nichts passiert,« usw.

Alles protestierte. Es sei ein Unsinn, so bald wegzugehen. Vergebens. In aller Eile mußte der Kaffee getrunken werden, und um 2 Uhr begann das Wettrennen draußen in der stockdunkeln Nacht. Es war ein entsetzlicher Marsch über das Trümmerfeld, bei dem man jeden Augenblick Arme und Beine brechen konnte. Doch das alles war jetzt gleichgültig, »wenn wir sie nicht einholen, müssen wir umkehren.« Damit wurde jeder Widerspruch kategorisch abgetan. Aber so einfach war die Sache nicht. Schon flackerte die feindliche Laterne hoch oben in den Felsen und bewegte sich munter weiter. Durch einfaches Nachrennen war da nichts zu erreichen. So kam es zu lauten Auseinandersetzungen, von denen das ganze Tal widerhallte. Was Wunder, daß nun auch die Touristen nervös wurden! »wenn Sie nicht halten, dann schieße ich mit dem Revolver«, rief einer. Das half. Die Attentäter warteten, um endlich den Führern den Vortritt zu lassen, was diese würdevoll unter entsprechenden Bemerkungen taten. Allmählich brach dann ein trüber Tag an, der nichts Gutes erwarten ließ, so daß ich es für geraten fand, einen ruhmlosen Rückzug zu befehlen. Es war ein harter Schlag für meine Führer, daß sie nicht bloß die anderen Partien, sondern auch die verhaßten Führerlosen wieder vorlassen mußten. Auch mir war ja offengestanden nicht so recht behaglich zumute, wenn nun die andern doch hinaufkamen! Jeder Sonnenstrahl wurde ärgerlich empfunden und machte mich wieder schwankend. Als dann aber gerade beim Betreten der Hütte um 7 Uhr morgens schwere Tropfen fielen und die »Rottalherren« in einem orkanartigen Wolkenbruch ihren Tanz begannen, da kam ich mir entsetzlich klug vor und legte mich am wärmenden Feuer vergnüglich wieder zum Schlafen nieder.

Im Laufe des Vormittags hielten dann auch die andern Partien bei strömendem Regen wieder ihren Einzug, nur die beiden Führerlosen ließen sich nicht blicken. Stunde um Stunde verrann, und man mußte sich unwillkürlich auf ein Unglück gefaßt machen. »Es ist die alte Geschichte,« meinten die Führer, »wenn den Leuten etwas passiert, dann können wir sie wieder herausreißen. Man hätte sie einfach zur Umkehr zwingen sollen.« Schließlich kamen sie dann doch, nachdem sie stundenlang unter einem Felsblock Schutz gesucht hatten. Alles in allem hatten sie sich als recht respektable Bergsteiger gezeigt, vor denen man nur den Hut abziehen konnte.

Ein langer und langweiliger Nachmittag folgte; denn alle andern Partien waren zu Tal gezogen.

Betrachten wir die Jungfrau aus der Gegend des obersten Lauterbrunner Tales von der Mutthornhütte aus, so sehen wir zur Rechten unseres Bildes in das zum Teil mit Wolken bedeckte Rottal hinein. Das darüber befindliche breite Bergmassiv zeigt drei Zacken, den eigentlichen Gipfel in der Mitte, rechts das wesentlich niedrigere Rottalhorn mit dem dazwischen liegenden Rottalsattel, zur Linken den etwas höheren Vorgipfel, welchen wir vom Schneehorn aus gesehen haben. Zwischen diesem Vorgipfel und dem Hauptgipfel fällt ein breites Schneefeld ein ziemliches Stück weit verhältnismäßig flach ab, bis dann steilere Felswände kommen, darunter eine Art keilförmiger Klotz, welcher den Anstieg vom Rottal aus vermittelt.

Unsere Tour am andern Morgen stand im Zeichen von Frau Mauds Geburtstag, der in Grindelwald seinen festlichen Abschluß finden sollte. Das Wetter war zweifelhaft. Sonne, Wind und Nebel kämpften lange miteinander, bis sie schließlich einen Pakt schlossen, dahingehend, daß den Wolken die Täler, die Gipfel aber der Sonne gehören sollten. Der Marsch führte über ein breites, steiles Trümmerfeld, das mit seinen morschen Felsen, tief eingerissenen Schluchten und massigen Türmen eher einer Ruine als einer stolzen Jungfrau glich. Die Kletterei war nicht gerade schwierig, aber interessant, da sie meist schräg an dem Hang hinaufführte und manche Abwechslung bot. So kamen wir rasch vorwärts und erreichten nach einer hübschen Schlußkletterei durch eine wilde, kaminartige Schlucht schon um 8 Uhr das hochgelegene Schneefeld, welches den Gipfel auf der Nordseite umgibt.

Eigentlich hätten wir nun, dem üblichen Gebrauch entsprechend, direkt zum Gipfel ansteigen sollen. Ich zog es aber vor, erst zu dem zur Linken befindlichen Vorgipfel hinüberzugehen, von dem aus man zu dem Schneehorn hinabsehen und den letzten Gipfelblock, dessen Anblick wir ja schon kennen, in seiner ganzen Wucht bewundern konnte. Solche kleine »Umwege«, die oft ein ganz neues Licht auf die Umgebung werfen, möchte ich überhaupt empfehlen. Bald darauf war dann auch die Spitze erstiegen.

Es ist immer wieder ein erhebendes Gefühl, wenn man einen solchen Hochgipfel betritt. Das Bewußtsein, den Riesen bezwungen, allen Schwierigkeiten getrotzt zu haben, sich so hoch über der Erde dort unten in den luftigen Himmelsregionen zu befinden, ergreift einen unweigerlich, so oft man es auch schon erlebt hat. Alle Blasiertheit, diese Krankheit der Täler, fällt weg vor der Leistung und dem Ergriffensein über die Erhabenheit dieser Welt. Man wird da immer wieder jung, mag man auch nach so viele Jahre im Rucksack haben.

Aus Firnschnee bestehend, hat der Jungfraugipfel eine beständig sich ändernde Form. Meist ist er ein scharfer, nur wenige Meter langer Firngrat, auf dem man rittlings sitzen muß. Wir selbst hatten es heute besser und konnten auf bequem hergerichteten Plätzen die Blicke frei über das grandiose Panorama hinausschweifen lassen.

Einen Hauptreiz verleihen der Jungfrauaussicht der Mönch und Eiger. Nur wenige Kilometer entfernt, bilden diese mächtigen Bergesgestalten einen überaus packenden Vordergrund, der in der Morgensonne besonders plastisch hervortritt. Das Auge findet hier einen Ruhepunkt, zu dem es immer wieder bewundernd zurückkehrt, und jenes ruhelose Hin- und Herirren an den zahllosen Zacken am Horizont, das Bergpanoramen meist charakterisiert, fällt weg. Das Dreigestirn des Berner Oberlands gehört eben auch hier oben zusammen und gibt dem Gebirge ebenso wie vom Tal aus sein Gepräge.

Mächtig ergreifend ist ferner der Kontrast zwischen der grünen Landschaft im Norden und den eisigen Gefilden im Süden. Während wir dort auf die lachenden Fluren mit ihren Wäldern, Wiesen, Seen und Ortschaften hinabblicken, starren uns hier die Riesen des Gebirges, Aletschhorn, Finsteraarhorn, Schreckhorn und wie sie alle heißen, entgegen. Dahinter die ganze Kette der Zentralalpen in Schnee und Eis gepanzert. Dort heimelt uns das Leben an, wir fühlen uns als Kinder dieser grünen Erde mit ihren Freuden und Leiden, hier blicken wir in die unheimliche Pracht der starren Unendlichkeit hinein, winzige Atome und doch Träger von weltbeherrschenden, ewigen Ideen.

Der Abstieg zum Rottalsattel führt über einen außerordentlich steilen Eishang hinab und war um so schwieriger, als wir, das heißt der vorausgehende Führer, unsere Stufen erst zu schlagen hatten. Notdürftig in den kleinen Tritten stehend und den Blick in die gähnende Tiefe vor uns, mußten wir beständig überlegen, wie der nächste weite Schritt wohl am besten zu machen sei. Einige Zeit war so vergangen, als man eine Partie von unten heraufkommen sah. Sie schien sehr eifrig zu sein, und es wäre doch ungerecht gewesen, ihren Ruhm durch weiteres Stufenschlagen unsererseits zu kürzen. Es wurde also haltgemacht, und wir wandten unsere Aufmerksamkeit wieder der Umgebung zu. Merkwürdig, wie sie sich durch den jetzt höheren Sonnenstand verändert und alle Plastik verloren hatte! Überall weite Eisflächen in jener monotonen Helligkeit, die das Auge blendet und jede malerische Wirkung ausschließt. Also Morgenstunde usw.! Inzwischen war die berganstrebende Partie herangekommen, und wir mußten uns, immer zu zweien in einer Stufe stehend, in gegenseitiger Umarmung aneinander vorbeischieben, was Frau Maud als eine besondere Geburtstagshuldigung hinnahm.

Der Rottalsattel ist ein schmaler, vereister Paß, dessen mächtige überhängende Schneewächten heute schon von der Anstiegpartie durchschlagen waren. Auch der darunter liegende Bergschrund machte keine besondern Schwierigkeiten, und bald befanden wir uns nach einer solennen Rutschpartie am Fuße unseres Berges auf dem weiten Jungfraufirn. Damit schlug die Stunde des Abschieds von unsern Walliser Führern, welche sich jetzt über den Aletschgletscher wieder nach Hause begaben. Da sie die ganze Hochzeitsreise mitgemacht hatten, so bedeutete das immerhin einen Abschnitt in unserer kurzen Ehe, und während ich prosaisch mit Franken und Rappen rechnete, ließ es sich Frau Maud nicht nehmen, den beiden Stück für Stück unseres schönen Proviants in die Rucksäcke zu stecken, damit sie in der Konkordiahütte doch auch liebevoll an uns denken konnten, wenn wir drunten in Grindelwald festlich Geburtstag feierten. Freilich, diese Gutmütigkeit sollte sich bitter rächen.

Unser weiterer Weg führte vom Jungfraufirn über das Ewigschneefeld an dem Mönch vorbei und dann gegenüber dem Eiger, wo sich die Berglihütte befindet, in den Kessel des Eismeers hinab. Es war ein langer Marsch. Endlos dehnten sich die weiten Schneegefilde vor uns aus, mit geradezu fürchterlicher Glut brannte die Sonne herab und versengte die welke Haut, und das Waten in dem tiefen Schnee wurde immer entsetzlicher. So wurde es 4 Uhr nachmittags, bis wir endlich halbtot vor der Berglihütte anlangten, wo eine kurze Rast beschlossen wurde.

Eismeerkessel mit Jungfrau, Mönch und Eiger.

Es sah recht wohlig in dem kleinen Stübchen aus. Erleichtert warfen wir die Rucksäcke beiseite, reckten und streckten die müden Glieder, und ohne viel zu reden, legte man sich der Reihe nach aufs Ohr. Welche Wonne! – Sehr lange dauerte der Genuß freilich nicht. Der an den Kleidern hängende Schnee fing zu schmelzen an, das schweißige Hemd wurde kalt, und das Schneewasser in den Stiefeln trug auch nicht gerade zur Erhöhung der Behaglichkeit bei. Bald war also eins nach dem andern wieder aufgestanden, man begann den Schnee von den Kleidern abzuschütteln und die Stiefel auszuziehen, um das Wasser heraustropfen zu lassen.

Und nach Grindelwald waren es noch gute sechs Stunden! Dabei brodelte es dort unten in der Tiefe wie in einem Hexenkessel und regnete augenscheinlich in Strömen. Nein, es war klar, da kamen wir heute nicht mehr hinunter!

»Aber wie steht's dann mit dem Geburtstagsessen?«

Teufel, ja, das Essen! Jetzt schnabulierten die Walliser drüben in der Konkordiahütte ihr lukullisches Mahl, während wir unsere Magen noch 18 Stunden lang knurren lassen sollten!

»Drehen wir mal die Taschen um! Da findet sich immer noch etwas.«

Eine Bergsteigertasche! Wer hat nicht schon in ein so unerschöpfliches Reservoir mit bangem Schaudern hineingegriffen, was alles an seinen Fingern hängen bleiben würde! Doch jetzt war keine Zeit für Sentimentalitäten. Es wurde also alles umgedreht und der Inhalt auf den Tisch geschüttet, aber freilich, es kam herzlich wenig Brauchbares zutage: der Inhalt der Lanolinbüchsen und sonstigen Pomadentöpfe, welche Frau Maud zum Vorschein brachte, konnte ebensowenig als Suppe Verwendung finden, wie unsere Talglichterstumpfen, Seifenstücke, Zigarren, Opiumtabletten und andere Luxusartikel. Schon begannen die Gemüter, sich zusehends zu verdüstern, als Lauener bedächtig an seinen Rucksack ging. Natürlich, der war von Frau Mauds freigebiger Hand verschont geblieben; da mußten sich ja ganze Schätze drin befinden. Mit atemloser Spannung sahen wir der Entleerung des wertvollen Stücks entgegen. Zunächst kamen allerdings nur Dinge wie Strümpfe usw. zum Vorschein, dann aber wurde die Sache bald geradezu großartig. Triumphierend zog der Brave einige Brotstücke hervor, an denen das »Weiche« allerdings stark durchnäßt war, dazu eine Tafel Erbssuppe und schließlich gar ein Stück Schokolade. Es war entzückend. Als dann Frau Maud auch noch eine ganze Ladung Pfefferminz aus einem der entlegensten Winkel ihrer Taschen zutage förderte, herrschte eitel Freude, und liebevoll wurde das Festmahl zubereitet. Erbssuppe mit geröstetem Brot, Pfefferminzwasser aus Schnee und Schokolade, was konnte man sich Herrlicheres denken! Bald dröhnte die Hütte von dem Hoch wider, das auf das Geburtstagskind ausgebracht wurde, und auch draußen schien die ganze Natur bei der Feier mitwirken zu wollen: der Regen platschte auf das Dach, und der Donner dröhnte, daß es nur so eine Art hatte, wahrend uns immer wohliger da drinnen wurde und wir bis in die tiefe Nacht hinein uns fröhlich unterhielten.

Prächtig war dann am andern Morgen der Marsch hinunter durch den Eismeerkessel, dieses wohl gewaltigste Amphitheater Europas, dessen ursprüngliche Pracht mit den wilden Ausblicken auf Felsen, Gletscherstürze und Spalten noch durch sogenanntes schlechtes Wetter erhöht wurde. Drunten über der mächtigen Ausgangspforte, die sich der leibhaftige Gottseibeiuns in höchst eigener Person geschaffen haben soll, lagerte eine dichte Wolkenschicht, während hier oben ein erbitterter Kampf der Element stattfand. Ruhelos zogen die Nebel hin und her, dazwischen warf die Sonne greifbar dicke Strahlenbündel auf die weiten Eisflächen, und über diesem urweltlichen Gebrodel erhob sich das gewaltige Schreckhorn zu seiner riesenhaften Höhe, ein unvergeßliches Bild.

Allmählich stiegen wir dann in den strömenden Regen hinunter und waren nach mehrstündigem nassen Marsche froh, die bekannte Leiter zu erreichen, die von dem Gletscher an den Felsen hinauf zum Bäreggwirtshaus und damit in die bewohnten Regionen führt. Erst aber mußten wir dem Besitzer der Leiter einen Franken pro Person berappen, ehe wir wieder zu den Segnungen der Zivilisation zugelassen wurden. Waren sie das wirklich wert? Dann stürmten wir weiter nach Grindelwald, und es gab da etwas anderes als Schneewasser mit Pfefferminz, so bekömmlich dasselbe auch sein mag.

Einige richtige Hochzeitsreisetage folgten in Interlaken, wo man in dem Strudel von Leuten aller Art bei Konzerten, Rößleinspiel und Feuerwerk das genus homo sapiens in Seide und Pomade, bei Flirt und Gigerltum in seiner ganzen zivilisatorischen Größe bewundern und sich seine Gedanken darüber machen konnte, wo es eigentlich schöner sei, droben oder hier unten. Na, zur Abwechslung ...

Dann ging's über den Brünig nach Engelberg, um den Urirotstock, dieses Wahrzeichen des Vierwaldstätter Sees zu besteigen. Es war eine lange und recht nasse Tour. Anfangs konnten wir aus der Ferne noch einmal das Berner Oberland bewundern, dessen verschneite Gipfel sich wie Gestalten einer anderen Welt aus dem grünen Land erhoben. Auch auf dem Gipfel gab es einen großartigen Wolkenausblick. Dann aber brach einer jener Gebirgsregen herein, gegen die überhaupt nichts aufkommt, so daß wir schließlich herzlich froh waren, in einem kleinen Bergwirtshaus Schutz zu finden, und den Abend in geborgten Kleidern zubrachten. Ein gemütvolles Familienbild, wie wir so um den Tisch saßen! Ich ohne Hemd in meinem unzuknöpfbaren Rock, dessen Ärmel gerade noch über die Ellbogen reichten und in Beinkleidern, die wirklich keine Gefahr liefen, abgetreten zu werden, während die schlanke Frau Maud in den faltenreichen Gewändern der rundlichen Wirtin völlig verschwand. Auch bei der Fahrt über den Vierwaldstätter See am andern Tag regnete es unaufhörlich. Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter. Also nach Hause!


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