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Zirkus im Tagesgrauen

Seinerzeit im Frühherbst, im September, kamen regelmäßig die großen Zirkusse in die Stadt, – die Ringling Brothers, Robinsonson's und die Barnum and Bailey Shows –, und wenn so ein Zirkus in der Frühe eintreffen sollte, dann hetzte ich mich, der ich damals Zeitungsausträger an einem Morgenblatt war, irrsinnig ab auf meiner Route durch die kühle, erregende Dunkelheit kurz vor Tagesanbruch, und dann eilte ich heim und holte meinen Bruder aus dem Bett.

Aufgeregt-leis miteinander redend gingen wir schnell unterm Rascheln des Septemberlaubs zum hochgelegnen Stadtplatz hinauf durch kühle Straßen, die schon grau dalagen in jenem stillen, unirdischen und magischen Vortagslicht, das plötzlich die große Erde wiederzuentdecken scheint, so, daß sie mit einer bangemachenden, herrlich steinbildhaften Stille aus der Dunkelheit heraustritt und man sie mit dem freudig-ungläubigen Gefühl anschaut, mit der sie die ersten Menschen gesehn haben müssen, denn dies ist eins von den Dingen, woran sich Menschen stets erinnern und beim Sterben denken werden.

Auf dem steinbildhaft stillen Stadtplatz, an dessen einer Ecke wir, in dieser Halbhelle gespenstisch fremd und dennoch vertraut, unsres Vaters schäbige, kleine Steinmetzenwerkstatt erkennen konnten, erwischten mein Bruder und ich die erste Tram, die hinunter zum Bahnhof und zum Zirkusplatz fuhr; – es konnte aber auch sein, daß wir einen Bekannten trafen, der uns in seinem Auto mitnahm.

Im schmutzig-schmierigen, baufälligen Bahnhofsviertel stiegen wir aus und schritten schnell über die Geleise des Güterbahnhofs, auf dem es für uns dann immer viel zu sehn und zu hören gab; da standen Lokomotiven, die ließen Dampf ab, und aus den Heizlucken flackerte der mächtige Feuerschein; Güterwagen wurden hin- und hergeschoben und rumpelten mit den Puffern aneinander; Schellen beierten; dann und wann schnaubte mit jähem Polterdonner eine rangierende Lokomotive heran, das Gedröhn großer Züge klang auf den Schienen.

Zu all diesen bekannten Klängen und Bildern, die mit ihren jubelnden Wahrsagungen von Flucht, Reisen, Morgen und strahlenden Städten in mich eindrangen, zu den scharfen erregenden Eisenbahngerüchen, dem Geruch nach Schlacken, beißendem Rauch, dumpfen, rostigen Güterwagen und nach dem frischen Tannenholz der Lattenverschläge und Kisten, in die Lebensmittel verpackt werden, und zu den Düften von frischen Lebensmittelfrachten, von Orangen, Kaffee, Mandarinen, Schinken, Speck, Mehl, Rindfleisch, – zu all dem kamen nun unvergeßlich zauberhaft und sonderbar vertraut all die Geräusche und Gerüche vom Zirkus, der bereits angerollt war.

In langen Reihen auf den Geleisen, aneinandergekuppelt, noch dunkel und stumm, schwer und mächtig in ihrer Ruhe, standen die fröhlich-gelben, üppig aussehenden Wagen, in denen die Artisten wohnen und schlafen; ringsum aber war mit Lärm und wütiger Betriebigkeit die Ausladearbeit bereits voll im Gang, und die immer weiter zurückweichende Bucht der fliederfarbnen, schwindenden Nacht war erfüllt vom wilden Gebrüll der Löwen, dem mörderisch jachen Gefauch der großen Dschungelkatzen, den Trompetentönen der Elefanten, dem Gestampf der Pferde und von muffigen, stechenden, unvertrauten Tiergerüchen, dem gerberlohen Kamelgeruch, den Gerüchen von Panthern, Zebras, Tigern, Elefanten und Bären.

Auf den Bahnsteigen neben den Zügen, die den Zirkus hergebracht hatten, erschallten die lauten Rufe und Flüche der Arbeiter, zaubrisch tanzende Laternen wurden im Halbdunkel geschwungen, und schwerbeladne Möbelwagen und Waggons rumpelten an die Laderampe, wo die Lasten gehoben, abgesetzt und auf dem Rollweg weitergeschoben wurden. Und überall in dieser erregenden Geheimnisluft aus Dunkelheit und Vortagslicht nahm in Hast und mit ungeheurem Gedränge das wirre und doch ordnungsvolle Geschehn seinen Verlauf.

Große Grauschimmel, vier und sechs im Gespann der klirrenden Schirrketten, von heiser schreienden Männern getrieben, stapften schwer durch die dicke weiße Staubdecke der Straße. Die Männer pflegten die Tiere zur Schwemme und Tränke in den Fluß zu treiben, der gleich neben dem Bahnkörper vorüberfloß, und im ersten Morgengrauen konnte man Elefanten in diesem vertrauten Fluß waten sehen und große Pferde, die langsam und vorsichtig ans Ufer gingen und ihren Durst löschten.

Auf dem Schauplatz schossen derweil mit träum- und zauberhafter Schnelligkeit die Zelte in die Höhe. Auf dem ganzen Platz – er lag gleich neben dem Bahnhof und war im gebirgigen Stadtbild das einzige flache Feld, das groß genug war, einen Zirkus zu fassen – herrschte derselbe wildeilige, heftig-wirre und doch ordnungsvolle Betrieb. Große zischende Bogenlampen begrellten die zähen, ausgemergelten, narbigen Gesichter der Zirkusarbeiter, die mit Treibhämmern Pflöcke einrammten und so rhythmisch-präzis zusammenarbeiteten, daß sie wie ein einziges, vielarmiges Wesen, wie eine aus Menschen erstellte Einpflöckmaschine wirkten, wenn sie mit der unglaublichen Sekundengeschwindigkeit von Gestalten in einer beschleunigten Zirkusaufnahme einen Pflock in den Boden jagten. Und als das Licht zunahm und die Sonne durchbrach, erstand eine Szene aus Magie und Ordnung vor uns. Mit heftiger Geschäftigkeit ging die Arbeit voran, die Fuhrleute fluchten und redeten auf ihre besondre Art mit ihren Gespannen, ein Benzinmotor lief laut und unregelmäßig pustend an, die Vorarbeiter schrien und schimpften, Ketten klirrten, Holzteile wurden auf die eingetriebnen Pflöcke gehämmert und geschraubt, es staubte.

Auf dem festgestampften Boden eines großen, freigebliebnen Raums wurden bereits die Pflöcke für das große Schauzelt eingeschlagen. Ein Elefant schlingerte gewichtig heran, auf seinem Schädelhöcker saß wie angeklemmt ein Mann, und auf Befehl des Mannes neigte der Elefant den großen, schwingenden Kopf, rollte ein- oder zweimal schnörkelig den grauen, runzligen Rüssel und schlang ihn dann feierlich ernst um eine Zeltstange, die so lang und dick war wie der Mastbaum eines Rennschoners. Und dann ging der Elefant rückwärts und schleifte die Riesenstange mit, als wäre sie ein Zündholz.

Bei diesem Anblick brach mein Bruder ins große Wha-Wha seines übermütigen Lachens aus und stocherte mich mit seinen stupsigen Fingern in die Rippen. Etwas entfernt von uns standen zwei Neger aus unsrer Stadt, die mit hervorquellenden Augen die Tüchtigkeit des Elefanten bewunderten. Die Neger sahn einander an, grinsten wie Affen, bogen sich vor Lachen, klatschten sich auf die Knie, brüllten ihr schwarzes, üppiges Niggerlachen heraus und unterhielten sich dabei mit einem gleichsam chorisch-rhythmischen Frage- und Antwortspiel: –

»Der mach' kein Spaß, nich' wah'?«

»Nöh, nöh! Der schick' kein' Lehrbub'n!«

»Der sag' kein Wart-e-Weil, nich' wah'?«

»Nöh, nöh. Der sag': ›Du komms' mit!‹ Das is', was er sag'!«

»Bei dem geht's Bucketi-Bucketi«, sagte der eine und machte mit dem schwarzen Gesicht nach der Erde hin eine streichende Schubsbewegung, die dem Klangwort und der damit geschilderten Bewegung entsprach.

»Der reiß' mit dem Rüssel!« sagte der andre und beschrieb mit dem Kopf die Bewegung eines sich einwühlenden Rüssels.

»Der sag': ›Hau-u-ruck!‹« sagte der erste.

»Der sag': ›Großer Jung', wir sein unterwegs!‹« antwortete der zweite.

»Har! Har! Har! Har! Har!« Sie lachten üppig, keuchten und quietschten vor Lachen, schlugen sich auf die Schenkel, daß es feist klatschte, während sie einer dem andern den Arbeitsmut des Elefanten zu beschreiben versuchten.

Das große Speisezelt der Zirkusleute – ein Dachzelt ohne Seiten wände – war dann schon aufgeschlagen, und an langen Tischen – die Tischplatten ruhten auf säge bockartigen Untergestellen – saßen dort die Artisten beim Frühstück. Und der Duft der Frühstücksgerichte, die sie verzehrten, schien uns nun – erlebt in diesem Zustand der Erregung, gemischt mit den mächtigen, gesunden Tiergerüchen, versüßt durch die ganze Geheimnisfreudigkeit, den Jubel und den Zauber und die Herrlichkeit des Morgens und der Zirkusankunft – der würzigste, appetitanregendste und tollste Duft unter allen Speisen zu sein, die wir je gerochen oder gekostet hatten.

Wir konnten sehn, mit welch wildem Genuß diese starken, kraftvollen Menschen ihre ungeheuren Frühstücke verzehrten. Sie aßen gebratne Beefsteaks, Schweinskoteletten, schnellgeröstete Speckschnitzen, ein halbes Dutzend Eier, Riesenscheiben gebacknen Schinkens und ganze Säulen aufeinandergeschichteter Weizenpfannkuchen, die ein Koch buk und eine stämmige Kellnerin gar nicht schnell genug auftragen konnte; geschickt wie ein Jongleur fläppte der Koch die Weizenpfannkuchen in der Luft auf die andre Seite, und die Kellnerin eilte an die Tische mit den schwerbeladnen Auftragbrettern, die sie hochhielt und mit starker Hand wunderbar auf den Fingerspitzen balancierte. Und über all den rasendmachenden Düften nach würzig-gesunden Speisen hing stets das köstlich-schwiemelige Arom von starkem, kochendem Kaffee, der den Reiz und Anreiz des herbkräftigen, aufregenden Morgenlebens noch zu erhöhen und zu verschärfen schien. Wir sahen die Kaffeemaschine, eine riesige, blanke Metallurne, aus der der Dampf in Wolken zischte, und wir sahen, wie die Artisten eine Tasse Kaffee nach der andern hinunterstürzten.

Diese Männer und Frauen, eine Berufselite, sahen so fein aus, waren so schöne und starke Menschen, unterhielten und gehabten sich mit einer so an Strenge grenzenden Würde und wahrten in allem einen so hohen Anstand, daß uns ihr Leben so glanzvoll und wunderbar vorkam, wie es ein Erdendasein überhaupt nur sein kann. In ihrem Betragen war nichts Loses, Rauhes oder Gemeines, die Artistinnen sahen nicht aus wie geschminkte Dirnen und benahmen sich auch nicht anstößig mit den Männern. Es war vielmehr so, als hätten es diese Leute auf eine erstaunliche Weise fertiggebracht, eine Gemeinschaft unter sich zu bilden, die eine geordnete Existenz auf Rädern führte, eine Gemeinschaft, in der mit einer strengen, in Städten unbekannten Zucht und Treue die Schicklichkeitsgesetze des Familienlebens eingehalten wurden.

Im Speisezelt erschienen ein kräftiger, junger Mann, eine stattlich-schöne, junge Blondine von amazonischer Gestalt und ein schwer und stämmig gebauter Mann von mittleren Jahren mit einem Glatzkopf und einem ernsten, von Verantwortung gefurchten Gesicht. Diese drei waren vermutlich Luftakrobaten. Man konnte sich vorstellen, wie sie zusammenarbeiteten, konnte gleichsam sehen, wie der junge Mann und die Frau sich vom schwingenden Trapez absausen ließen durch den Raum und in den festhändigen Griff des älteren Manns, dann mit kühnem Satz wieder das baumelnde Trapez packten und, nachdem sie drei Räder in der Luft geschlagen hatten, auf die schmale Sitzstange zurückturnten, – und somit eine gefahrvoll-schöne Schaustellung in der Kunst des Gleichgewichts, der Genauigkeit und der Körpersicherheit gaben.

Nun, als diese drei ins Speisezelt kamen, wechselten sie einen kurzen, aber höflichen Gruß mit den andern Artisten und nahmen an einem der langen Tische Platz. Sie saßen in einer Familiengruppe zusammen, frühstückten mächtig und mit ganzer Hingabe und sprachen dabei kaum miteinander; und wenn sie es taten, war ihre Rede sachlich, ernst und knapp.

Mein Bruder und ich musterten diese drei Akrobaten mit faszinierten Blicken. Mein Bruder, der eine Weile sein Augenmerk auf den Glatzköpfigen gerichtet hatte, wandte sich zu mir und wisperte:

»S-s-s-siehst Du den Glatzkopf da? Na, d-d-der schafft die Sch-sch-schwerarbeit!« bemerkte er bescheidwisserisch. »Der muß die andern in der Luft auf-f-f-fangen! Der muß seine Kunst v-v-verstehn! Du weißt doch, wa-wa-was da ein Fehlgriff bedeutet, nicht wahr?« fragte er.

»Was denn?« fragte ich fasziniert.

Mein Bruder schnipste mit zwei Fingern und ließ die Hand durch die Luft sausen.

»'rum! Erledigt!« erklärte er. »Der Be-be-betroffne wäre tot, eh er's noch recht m-m-merkte! Sicher!« bekräftigte er sich und nickte. »Tatsächlich, ein Fehlgriff, und alles ist 'rum! Der K-k-k-kerl muß seine Sache können«, behauptete mein Bruder. »Ei ja!« sagte er leis, im Feierton ernster Überzeugung. »Mich sollte es nicht wu-wu-wundern, w-wenn er fünfundsiebzig bis hundert Dollar die Woche verdiente. Tatsächlich!« rief er, sich bekräftigend, aus.

Und wieder ruhten unsre faszinierten Blicke auf jenen glänzenden, romantischen Geschöpfen, deren Dasein von unserm so verschieden war, und die wir mit einer so vertrauten, zuneigungsvollen Intimität zu kennen schienen. Und schließlich, als es schon hellichter Tag geworden war und die Sonne am Himmel stand, verließen wir widerwillig den Zirkusplatz und machten uns auf den Heimweg.

Und irgendwie kam es dann immer so, daß der Eindruck von all dem, was wir an diesem herrlichen Morgen erlebt hatten, daß die Erinnerung an das Frühstückszelt der Artisten und all die wunderbaren Speisedüfte einen so reißenden Heißhunger in uns weckte, daß wir nie mit dem Essen warten konnten, bis wir heimkämen. Wir gingen in der Stadt in einen Lunch-Room, und dort saßen wir auf den hohen Hockern vorm Schanktisch und verschlingen mit Schinken und Ei belegte Butterbrote, heiße Hamburger Beefsteaks, schön rot im Kern und scharf und saftig, aus grobgehacktem, scharfgewürztem, blutigrohem Rindfleisch zubereitet, wir tranken Kaffee und ein paar Gläser schaumiger Milch und verspeisten Ringkrapfen dazu, und dann pflegten wir heimzugehn und alles aufzuessen, was wir auf dem Frühstückstisch stehen sahen.


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