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Landstreicher um Sonnenuntergang

Langsam, einzeln, mit dem Schlendergang von Männern, die gerade gegessen haben, und die keine Zeit und kein Geschäft drängt, kamen die Landstreicher aus dem Dickicht. Sie setzten über die abschüssige, ein paar Fuß hohe, lehmerdige Abdämmung des Eisenbahneinschnitts, hinunter aufs Geleisbett, und gingen dort auf den Schienen weiter, ganz ohne Eile, auf den Wasserturm zu. Es war um Sonnenuntergang. Die Sonne war soeben hinabgeglitten, aber ihre letzten, entlegnen Strahlenschäfte fielen ohne Hitze und Heftigkeit noch auf die Wipfel des verdämmerten Walds und die Spitze des Wasserturms. Und dieses Licht, seltsam erdentrückt, getönt wie feine, alte Bronze, weilte nicht lang, wo es lag; es nahm nicht teil am köstlichen, kühlen Dunkelwerden der Erde, dem die Wälder schon tief anheimgefallen waren; – es war wie Kummer und wie Verzücktheit und schwand schnell dahin wie ein Gespenst.

Von den fünf »Hoboes«, die aus der »Dschungel« über dem Bahndamm herausgetreten waren und nun in einer Streife auf den Wasserturm zugingen, mochte der älteste fünfzig oder auch sechzig sein. Sein Alter blieb eigentlich unbestimmbar, er war einfach eine Ruine von einem Menschen, ein Bündel aus gedunsnen Lumpen, verfilztem Haar und menschlichem Fleisch und Bein; er wirkte wie etwas, das von einem Dauerregen getränkt und in die Erde eingeweicht worden ist. Der Jüngste, ein Farmerbursch mit frischer Haut und hellen, verwunderten Augen, war wohl kaum älter als sechzehn. Von den drei andern war einer noch ziemlich jung, jedenfalls nicht über dreißig. Er hatte ein Frettchengesicht; die meisten Vorderzähne im Oberkiefer fehlten ihm. Er schritt vorsichtig aus wie auf zarten Sohlen, und es war ihm anzusehn, daß er es nicht gewohnt war, zu Fuß zu gehn. Er stellte einen wahren Triumph schmutziger Eleganz dar in seinem strichelstreifigen Anzug, der mit großen Schmierplacken bedeckt und am Hosenboden sehr fadenscheinig war. Den Rockkragen hatte er hochgeschlagen und die Hände tief in die Taschen gesteckt, und so, die knochigen Schultern nach vorn geschoben, sah er aus, als ob ihn trotz der Hitze des Tages fröre. Er hatte eine schlaffe Zigarette im Mundwinkel hängen. Beim Sprechen bewegte er die Lippen kaum und zog auf eine auffallend widerliche Art den Mund schief. Alles an ihm verriet eine unsaubre Heimlichkeit.

Die beiden übrigen von den fünf Männern trugen als einzige die überzeugenden Wahrzeichen des echten Vagabundentums. Der eine war ein kleiner Kerl mit einem zähen, abgezehrten Gesicht. Seine Augen waren hart und kalt wie Achat. Sein dünner, schiefgezogner Schlitzmund war wie eine Narbe.

Den andern hätte man wohl auf Mitte der Fünfzig geschätzt. Er hatte die wuchtig-schwerfällig-lässige Gestalt und das ausgemergelte Gesicht des berufsmäßigen Vagabunden. Dieses Gesicht und diese Gestalt waren von einem eigenartigen brutalen Adel. Das von allen Wettern geschlagne, von löcherigen Narben gezeichnete Gesicht war wie aus einem Granitblock gehauen, und an dem ganzen Mann war die ungeheure Legende seiner Wanderschaft zu lesen, eine Legende von rumpelnden Eisenbahnrädern und ruckelnden Achsenstangen, von rohen Händeln und blutigen Raufereien, von der wüsten Wildnis, den grausam-öden, einsammachenden Entfernungen Amerikas.

Dieser Mann, augenscheinlich der Führer des Trupps, ging mit einem kräftigen, schweren Schiebeschritt, er ging stillschweigend und gleichgültig und sah die andern nicht an. Einmal blieb er stehen, griff mit der großen Hand in die vollgestopfte Rocktasche und zog eine Zigarette heraus, die er mit einer einzigartigen Bewegung in der hohlen Hand anzündete. Und nun wurde seine Miene schwelgerisch; er zog den Rauch tief ein in die mächtige Lunge und ließ ihn dann langsam aus den Naslöchern herauskräuseln. Sein starkes, sinnenfreudiges Gebaren verlieh dem Akt des Rauchens die ganze Ursprünglichkeit, dem würzigen Tabak den vollen, herbscharfen Reiz. Offenbar besaß dieser Mann die seltne Macht, jedem Ding, das er anrührte, und jeder Handlung, die er vollzog, dieses Ursprüngliche und Lebensfüllige mitzuteilen, denn die erregenden Eigenschaften, Daseinsfreude und Überschwang, waren, irgendwie spürte man es, in ihm.

Der junge Bursch war die ganze Zeit Gleichschritt haltend, die Augen auf den breiten Rücken gerichtet, hinter diesem Mann hergegangen. Nun, als der Mann stehen blieb, holte ihn der Junge ein, blieb gleichfalls stehen und fuhr fort, ihn anzusehn, ein wenig unsicher zwar, aber mit dem Ausdruck steten Zutrauens.

Der Landstreicher ließ den Rauch seiner Zigarette langsam aus den schwelgerisch geblähten Naslöchern qualmen, ging mächtig schwingenden Schritts weiter und sprach zunächst nicht mit dem Jungen. Dann aber, beiläufig, rauh, eine grobschlächtige Freundlichkeit in der Stimme, fragte er:

»Wo willste hin, Kid? In die große Stadt?«

Der Junge nickte; es sah aus, als wolle er etwas sagen, dann aber blieb er stumm.

»Schon mal dort gewesen?« fragte der Mann.

»Nein«, sagte der Junge.

»Zum erstenmal, daß Du im Radgestäng reitest, was?«

»Ja«, sagte der Junge.

»Was issen los daheim?« fragte der Landstreicher grinsend. »Zu viel Küh zu melken auf der Farm, was? Isses das?«

Der Junge grinste verlegen, sagte dann: »Ja.«

»Dachte ich mir«, sagte der Landstreicher, behaglich in sich hineinlachend. »Herrje! So frische Burschen vom Land wie Dich, die kenn ich schon am Gang, wenn se noch 'ne Meile wegsind ... Na, also«, sagte er nach einer kleinen Weile, eine rauhe, barsche Freundlichkeit in der Stimme. »Halt Dich an mich, wenn De in die große Stadt kommen willst. Ich will auch hin.«

»Yeah!« Der kleine Landstreicher – der, dessen Mund wie eine Narbe war, – lachte höhnisch-gehässig auf und raunzte: »Yeah! Halt Dich zum Bull, Kid! Der hilft Dir durch die ganze, verdammte Welt! Da kommste an den Limonadensee und durchs Brotlaibtal und dorthin, wo die Schinkenbäume stehn und die gebratnen Truthühner an den Sträuchern wachsen. Ne' wah', Bull?« fragte er auf eine spöttisch anspielende, dabei aber doch unterwürfige Art. »Also, Kid, halt Dich zum Bull, da wirste eines Tags Perlen im Schlips tragen! ... Ä-ä-äh! ...« Plötzlich wurde der kleine Landstreicher bösartig giftig. »Du morsches Bübchen! Was zum Teufel bildest Du Dir ein, das wir mit Dir anfangen können? Das ist die Sauerei heutzutag. Uns ging's ganz ordentlich, bis diese Rotzbuben scharenweis gelaufen kamen und mitmachen wollten ... Warum sollten wir uns so einen aufladen? Das hätt' grad noch gefehlt!« Er wandte sich garstig fauchend an den Jungen. »Meinste zum Teufel verleich', ich wär Dein Kindermädchen? Scher Dich fort, Du kleiner Morscher!« fauchte er und zückte die geballte Faust, als wolle er den Jungen schlagen. »Hau ab! Wir können Dich nich' brauchen! ... Mach Dich dünn! ... Scher Dich zum Teufel, eh' ich Dir eine lange!«

Der Mann, der Bull genannt wurde, drehte sich um und blickte den kleinen Landstreicher stillschweigend an. Dann sagte er ruhig: »Hörmal, Mug! Du läßt den Kid in Frieden. Der Kid bleibt, verstehste?«

»Ä-ä-äh«, knurrte der andre gereizt. »Was issen das überhaupt? 'ne Kleinkinderschule oder so was?«

»Hörmal«, sagte Bull. »Du hast mich verstanden, ne' wah'?«

»Ä-ä-äh«, murrte der kleine Landstreicher, »ich werd' doch nich' so'n morsches Bübchen in der Wiege schaukeln?!«

»Haste verstanden, was ich gesagt hab oder nicht?« fuhr ihn Bull in heftig drohendem Ton an.

»Hab schon verstanden. Yeah«, murmelte der andre.

»Also: ich will kein Wort mehr hör'n aus Deiner Klappe. Ich sagte, der Kid bleibt, – und da bleibt er.«

Der kleinere Landstreicher brummte mürrisch vor sich hin, sagte aber kein Wort mehr. Bull, die Stirn finster heruntergerunzelt, warf ihm noch einen drohenden Blick zu, drehte sich dann um und ging über das Schienenbett auf ein Nebengeleis. Er setzte sich auf einen Handwagen, der dort, auf dem Nebengeleis, rückwärts gegen einen Werkzeugschuppen angefahren stand.

»Komm mal her, Kid«, sagte er rauh, während er in seinen Taschen nach einer Zigarette fingerte. Der Junge ging übers Schienenbett zum Handwagen.

»Haste was zu rauchen?« fragte der Mann, noch immer in seinen Taschen suchend. Der Junge brachte ein Päckchen Zigaretten zum Vorschein und bot es dem Manne an. Bull klaubte sich eine Zigarette heraus, die er mit jener einzigartigen Bewegung anzündete. Zwischen der hohlen Hand und dem zähen, ausgemergelten Gesicht flammte das Streichholz. Dann, mit der gleichen, mächtig-geräumigen Gebärde steckte Bull das Päckchen Zigaretten in seine Tasche.

»Danke«, sagte er, während der würzige Rauch ihm aus den wollüstig geblähten Naslöchern quoll. »Setz Dich zu mir, Kid!«

Der Junge setzte sich neben den Mann auf den Handwagen. Während Bull rauchte, sahen zwei von den Landstreichern einander schlaulächelnd an; der jüngere – der, der den schmutzigen Strichelstreifenanzug anhatte – grinste mit dünnlippigem, eingefallnem Mund sein zahnloses Grinsen und murmelte ein höhnisches: »Herrje!«

Bull sagte nichts. Er saß da, ein wenig nach vorn gebeugt in der Kniestütze, gediegen wie ein Fels, und rauchte.

Es hatte sich beinah ganz eingedunkelt, nur noch ein matter Nachglanz des Abendscheins blieb in der Luft, und schon begannen am wolkenlosen Himmel die großen Sterne zu blitzen und zu funkeln. Irgendwo in den Wäldern rauschte Wasser. In der Ferne, halbgehört, halbgeahnt, war ein dynamisches Gedröhn auf den Schienen. Der Junge saß da, lauschte und schwieg.


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