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Ferne und Nähe

Am Rand der Kleinstadt, auf einem anschwellenden Hügel neben den Eisenbahngeleisen, stand weißgestrichen mit fröhlichgrünen Fensterläden das kleine, saubere Holzhaus. Auf der einen Seite daneben lag ein Küchengarten mit musterhaft angelegten, wohlbestandnen Grünbeeten und einer Rebenlaube, in der spät im August die reifen Trauben hingen; auf der andern Seite war ein Bordenstreif bunter Blumen, und vor dem Häuschen standen drei mächtige Eichen, die es im Sommer mit ihrem dichten, scharfrandigen Schatten beschirmten. Das ganze Anwesen machte den Eindruck von Reinlichkeit, Sparsamkeit und bescheidnem Behagen.

Jeden Tag, ein paar Minuten nach zwei Uhr nachmittags, kam der Expreßzug auf seiner Fahrt zwischen zwei Großstädten an dieser Stelle vorbei. Der große Zug, der kurz zuvor am Bahnhof des Städtchens ausgeschnauft hatte, fing dann gerade an, richtig in Fahrt zu kommen, aber seine furchtbare Höchstgeschwindigkeit hatte er noch nicht erreicht. Nachdem er ziemlich gemächlich in Sicht gekommen war, fegte er vorüber mit den gewaltigen Schütterstößen der Lokomotive und dem dunkelruhigen Gerumpel der schweren Wagen auf der glatten Stahlspur und verschwand dann in einem Einschnitt. Eine Weile noch konnte man sehen, wo die Lokomotive fuhr, denn der dicke, wie mit einem Blasebalg heraufgepaffte Rauch zerschellte in beraumten Abständen am grasbewachsnen Rand des Erdeinschnitts. Hernach war der Zug nur noch zu hören, und schließlich ging das rüstige Klacketiklack der Räder leiserwerdend in die schläfrige Nachmittagsstille ein.

Jeden Tag, über eine Spanne von mehr als zwanzig Jahren hinweg, hatte der Lokomotivführer, wenn der Zug sich dem Häuschen näherte, die Dampfpfeife angelassen, und jeden Tag, auf dieses Signal hin, war eine Frau auf der Rückveranda des Häuschens erschienen und hatte dem Lokomotivführer zugewinkt. In der ersten Zeit war ein kleines Mädchen, das sich an den Röcken der Frau festhielt, neben ihr gestanden; jetzt aber war dieses Mädchen vollends zur Frau herangereift, und jeden Tag trat nun auch diese Frau gemeinsam mit ihrer Mutter auf die Veranda und winkte.

Der Lokomotivführer war alt und grau geworden im Dienst; zehntausendmal hatte er den großen, mit der Last von Menschenleben beladnen Zug durch das Land gefahren. Seine eignen Kinder waren erwachsen und hatten sich verheiratet, und viermal hatte er vor sich auf den Schienen das Gräßliche gesehn, die Katastrophe, die wie eine heranbrausende Kanonenkugel grauenhaft auf den Lokomotivkessel zukam: – ein leichtfedernder Wagen, in dem Kinder saßen, ein Kranz von kleinen, entsetzten Gesichtern; ein billiges Automobil, das vorm Geleis steckengeblieben war, mit den hölzernen Gestalten der vor Furcht gelähmten Insassen; ein abgerißner Vagabund, der auf den Schienen ging, zu alt und taub schon, um die warnende Signalpfeife zu hören; eine Menschengestalt, die schreiend am Fenster des Führerstands vorübergerissen wurde, – das alles hatte dieser Mann erlebt und erfahren. Er hatte überhaupt alles erfahren, was das Leben eines solchen Mannes an Kummer, Freude, Gefahr und Arbeit mit sich bringt; die Jahre treuen Dienstes hatten ihm zugesetzt und ihn mitgenommen, und so, im Glauben, im Mut und in der Demut geschult, war er alt geworden und hatte dabei jene Größe und Weisheit des Wesens erworben, die Männern in seinem verantwortungsvollen Berufe zuteil wird.

Aber soviel Gefährliches und Trauriges der Lokomotivführer auch erlebt hatte, der Anblick jenes Häuschens und der beiden, ihm tapfer und freimütig zuwinkenden Frauen hatte sich in seinem Gemüt zu etwas unverrückbar Schönem und Stetem verfestigt und verdichtet, zu einem Wahrbild, das allen Wandel und Verfall überdauern und immer dasselbe bleiben würde, ganz gleich, was sonst an Unheil, Trübsal und Fehl den ehernen Gang der Tage unterbräche.

Der Anblick des Häuschens und der beiden Frauen schenkte ihm die alleraußergewöhnlichste Glückseligkeit, die er je empfunden hatte. Er hatte die beiden Frauen und ihr kleines Haus in tausend Beleuchtungen und hundert Wetterstimmungen gesehn, – im harschen, kahlen Winter durch das graue Licht hindurch, das auf das braune, frostige Gestoppel auf der Erde drückte, und in der grünen, lockenden Zauberei des April.

Er verspürte für die beiden Frauen und für das Häuschen, in dem sie wohnten, eine solche Zärtlichkeit, wie sie ein Mann etwa für seine eignen Kinder empfinden mag, und schließlich hatte sich das Vorstellungsbild vom Leben der beiden ihm so scharf ins Herz gegraben, daß ihm war, als kenne er sie ganz und gar und wisse um jede Stunde und Minute ihres Tags, und er beschloß, einmal, wenn seine Dienstjahre herum wären, hinzugehn und diese Frauen aufzusuchen und endlich mit ihnen zu sprechen, deren Wesen ihm so sehr ins eigne geschmiedet war.

Dieser Tag kam. Endlich war es so weit, daß der Mann den Zug, den er so oft gefahren hatte, nach Belieben verlassen konnte. Die Jahre auf den Schienen waren herum, der Lokomotivführer war pensioniert, er brauchte nicht mehr zu arbeiten. Er stieg aus auf dem Bahnhof der kleinen Stadt, in der die beiden Frauen wohnten, und ging langsam hinaus auf die Straße. Hier war ihm alles so fremd, als hätte er diese Stadt nie gesehn. Als er weiterging, nahm das Gefühl der Bestürzung und Verwirrung zu. Konnte das die Stadt sein, an der er zehntausendmal vorbeigefahren war? Waren das die Häuser, die er so oft durch die Seitenfenster des Führerstands gesehn hatte? Das alles hier war ihm so unvertraut, so beunruhigend wie eine Stadt im Traum, und beim Weitergehn nahm seine Betretenheit ständig zu.

Bald darauf kamen die verstreut umherliegenden Außenposten der Stadt; aus der gepflasterten Straße war ein Feldweg geworden, und zwar war es der Feldweg, an dem die beiden Frauen wohnten. Es war heiß und staubig, das Gehen wurde dem Manne sauer, und schließlich stand er vor dem gesuchten Haus. Er erkannte das Anwesen sofort, er sah die herrlichen Eichen vorm Haus, die Blumenbeete, den Küchengarten mit der Rebenlaube und seitwärts drunten die gleißenden Schienen.

Ja, das war das Haus, das er suchte, der Ort, an dem er so viele Male vorbeigefahren war, das Ziel, nach dem er sich so glückselig gesehnt hatte. Aber nun, nachdem er hergefunden hatte, nun, nachdem er dastand, – warum zögerte seine Hand nun am Torgatter? Warum waren Stadt, Straße, Erde, warum war sogar der Eingang zu diesem geliebten Ort ihm unvertraut geworden wie eine Landschaft in einem häßlichen Traum? Warum bedrängte ihn dies aus Verwirrung, Zweifel und Hoffnungslosigkeit gemischte Gefühl?

Eine kleine Weile später war der Mann durchs Gartentor eingetreten und langsam den schmalen Pfad hinaufgegangen; er hatte die drei Treppenstufen zur Vorveranda erstiegen und an die Haustür geklopft. Kurz darauf hörte er Schritte in der Diele, die Tür ward aufgemacht, und vor ihm stand eine Frau.

Und augenblicklich, mit einer bitter schmerzlichen Empfindung des Verlorenhabens, tat es ihm leid, daß er gekommen war. Er erkannte sofort, daß die Frau, die da vor ihm stand und ihn mißtrauisch musterte, dieselbe war, die ihm so viele tausend Male zugewinkt hatte. Aber ihr Gesicht war unwirsch, säuerlich und karg; die gelbliche Wangenhaut hing herab in verdrießlichen Falten, und in den kleinen, lugenden Augen standen schnöder Argwohn und unbehaglicher Zweifel. Und Tapferkeit und Freimut, Wärme und Herzlichkeit, wie sie der Mann jahrelang in die winkende Gebärde dieser Frau hineingelesen hatte, – das alles war entschwunden im Augenblick, als er die Frau sah und ihre unfreundliche Stimme hörte.

Seine eigne Stimme klang ihm nun unwirklich und geisterhaft, als er seinen Besuch zu erklären versuchte, sagte, wer er sei, und aus welchem Grund er käme. Das Sprechen fiel ihm schwer, aber er kämpfte hartnäckig gegen das Entsetzen, das in ihm aufstand und mit Reue, Verwirrung und Unglauben seine frühere Freude ertränkte, und er schämte sich, daß Hoffnung und Zärtlichkeit ihn hergetrieben hatten.

Schließlich forderte die Frau ihn beinah unwillig auf, ins Haus hereinzukommen, und rief harsch und schrill ihre Tochter. Und dann, auf eine kurze Zeit, in der er Sterbensqualen ausstand, saß der Mann in der kleinen, häßlich eingerichteten guten Stube und versuchte mit den beiden Frauen zu sprechen, die ihn mit dumpfer, betretner Feindseligkeit, mit mürrischer, blöder Zurückhaltung anstarrten.

Und schließlich, ein unbeholfnes Lebewohl stammelnd, ging er weg. Er ging den Gartenpfad und dann den Feldweg hinunter auf die Stadt zu, und plötzlich erkannte er, daß er ein alter Mann war. Sein Herz, das vorm vertrauten Anblick des Schienenstrangs immer tapfer und vertrauensvoll gewesen war, war nun krank vor Zweifel und Entsetzen vor dem fremden, unverhofften Antlitz einer Welt, die er, immer nur einen Steinwurf weit weg, nie gesehn und erkannt hatte. Er wußte, daß die ganze bannende Gewalt des hellen, verlornen Schienenwegs, der Blick auf die gleißenden Geleise und jene Wahnbild gewordne Ecke seines kleinen, guten, von Wünschen und Hoffnungen bewegten Weltalls auf immerdar und unwiederbringlich vergangen war.


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