Alfred Wolfenstein
Der Lebendige
Alfred Wolfenstein

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Über allen Zaubern

Das dicke kleine Buch trieb das Auge des Lernenden im Zickzack hinab – und hinauf in die neue fremde Seite. Aber er machte plötzlich ein Ende – sprang träumend hoch hinaus wie durch die Dachluke ein Verbrecher – über die schwindlige Höhe hetzte die Verfolgung aller Wirklichkeit hinter ihm her, Hunde pfiffen über die Gipfel der Schornsteine, er sprang durch die Luft, aber das Gesetzbuch in seiner Hand lehrte laut immer weiter –

Franz schüttelte sich und schlug mit den Knöcheln auf die Blätter, er sah wieder hinein, – es ging nicht. Diese Sätze packten ihn nicht. Diese hackenden Sätze wollten gepackt sein – Er aber dachte bei ihnen nur – an seine Gedanken – Er fühlte sich leidenschaftlich durch die Welt sausend – bewußt und teilnahmslos im Stuhle sitzen und die Wanduhr laut wie sein Herz klopfen. Seine Handflächen wurden so trocken, daß es ihn quälte, unaufhörlich hineinzuhauchen.

Aber dennoch –: Wüste! schrie er und starrte das Buch an, ich will, ich will über dich herrschen –! Du ziehst durch mein Gehirn – und bleibst gesiebter Sand darin – ich will dich – muß dich – Tränen in den Augen lehnte er sich zurück, warf sich wieder vor, die Stirn in der Hand, und stieß mit dem Ellenbogen auf den Tisch. O – selbst wenn er weiterkommt, lernt er nur Verzweiflung, denn nicht sein Verstand sondern sein Gefühl stellt sich ihm entgegen, die unausrottbare Form seiner Kindheit. Er ist weich, er ist menschenfreundlich, er ist unsicher, sehnsüchtig, er ist aus einer kleinen Stadt. Darum bezwingt er dies Reich der Macht nicht, das Gesetzbuch kommt aus der großen Stadt –

Er starrte in die Luft – gespenstische Fäden schlängelten 42 sich vor seinen Augen, Paragraphen verwickelten sich – Über dem Buche kämpften die langen Geister des Rechts, durchflogen sich leer, tauschten anteillos ihre Plätze für und wider und ihre gellenden Reden – verrannen unhörbar, fruchtlos wie Sand. In ihrer Mitte erhob sich besetzt mit immer spitzeren Gewalten die unnahbare Pyramide, wo sie in schwarzem Staat mit Messerlippen auf steifen Sesseln emporsaßen und das Recht befahlen, bis zu Einem hinauf, der von ihnen Allen angeschwollen gewaltig wie die Basis auf dem Gipfel balancierte und flüsterte: Über allen Gesetzen ist Ruh –

Franz, ärgerlich, daß er immer wieder versank, stand auf und sein Stuhl fuhr heftig ins Zimmer zurück wie ein Horcher am Schlüsselloch. Aus dem Fenster in die Dämmerung gelehnt, fühlte er das Haus von dröhnender Stadt erzittern, das Pflaster schwankte zwischen unterirdischem Rollen und schwarz sichtbarem Gewimmel. Aber eine scharfe Straße für sich baute krachend der Autoomnibus hindurch, ganz frei tobte die Kraft des gigantischen Kastens heran und Franz sah bewundernd den kühlen Lenker vorbeiziehn – Von der anderen Seite erschien ein anderer im Donner, mit regungslosem Statuenumriß entschwand er auf seinem zitternden Sitz. So herrschten sie durch die Stadt, ihre Linie durchzog wie ein Stahltau ihr klammerndes Auge und ließ unbeirrbar im Schlucken und Speien ihres rennenden Hauses die Riesenstadt sich abrollen.

Das war die Stadt der Gewalt, die menschenschlingenden Türme besetzt mit Gesetzen, das war die Stadt, in die er noch nicht eingedrungen war –: Wie wollte er da die Gesetze bewältigen, ihres steinernen Körpers Urzeugungen! Seelen, aufgemauert wie Berge von Leichen, 43 Automatenhäupter, Schienennervennetz, Ordnung über Ordnung, das war die erste Treppe gegenseitiger Herrschaft. Hinaufgetreten, wer weiterkommen wollte!

Er aber versteckte sich noch immer. Er war die kleine Stadt. In ihren kindlichen Umrissen zirkte sich sein Geist ab. Idyllisch wie Fachwerkhäuserchen reihten sich die Schritte, es verging sein Gesicht in den Massen, wie wenn jemand klein aus dem Kasernenfenster sieht und alles erblickt, doch nicht erblickt wird. Der grenzenlose Wille, mit dem er hierher kam, war grenzenloser Nebel über Wiesen und Feldern. Da bestaunte er die Nacktheit der Gewalt und schmückte sie doch immer mit Schleiern. Dann wieder breitete er wütend die Brust aus – Aber die Kindheit wie ein kleingezackter Stern legte an die Wölbungen aller Pläne ihr Maß an.

Zerstöre sie! war sein Gedanke jetzt immer – Mache die Vergangenheit zu einem Zufall, wirble hinaus in die Luft und schüttele ab, was nicht zum wurzellosen Flug gehört!

Er warf sich in den Stuhl und sah nach dem grünen Buch hinüber. Er trug den Stuhl am Gesäß wieder zum Tisch. Müde stützte er die Schläfen in die Hände und blickte hinab, wo das Buch langsam wie zufallende Lider weiß wurde –

Es war still – – bis er plötzlich von fern Klavier spielen hörte, kühles Spielen – ein neuer Nachbar – Die oberen Töne stiegen in rasendem Lauf nach jedem Sinken höher – begruben mit tanzender Stimme die schwere Arbeit der Baßtöne – griffen immer weiter von ihnen fort über die Tasten hinaus in eisigschönem Flammenklang wie auf höhere Klaviere über – und griffen dennoch immer näher 44 – bis in ihrem Schwung eine Stimme weiter sprach:

Ich helfe gern.

Franz sah auf, und glaubte, ein Spiegel stehe vor ihm: ein weißes Gesicht mit dunklem Haar starrte ihn nahe an, doch hohl und langgezehrt mit schneidenden Lippen. Darunter aber wuchtete quadratisch wie ein Buch ein grüner Rumpf, mit großen Worten bedruckt, der schräg auf seinen tischkurzen Beinen lehnte. Ohne Hals stak der Kopf wie ein beinernes Lesezeichen darin. Grinsende Mundwinkel schlitzten das dünne Gesicht bis in die Luft hinaus, daß die Furche sich erst fern zu verlieren schien – Und Franz fühlte sich unter den Achseln gefaßt – hinweggehoben – Wind sauste um ihn, er fuhr auf etwas endlos Breitem – Ohrenbetäubendes Klingeln, kalt melodisch wie hohe Klaviertöne, hörte er vorn –:

Der Mond kam heraus und Franz sah sich die Landstraße entlang auf einer Dampfwalze reiten. Zuerst schien es ein Autoomnibus, dann schwoll eine Eisenwandung paukend und schmetternd unter ihm an – Er aber wuchs mit, ausgreifend umringten seine Beine wie Gewölbegurte die vor Größe fast regungslos brausende Walze. Hoch aufgerichtet saß er da, vom Lenker wehte Zuversicht zu ihm zurück, vom kühlen Beherrscher des ungeheuren Steuers, der die menschenlosen Straßen des Reiches wie eine stündliche Linie durchfuhr – auf wohlbekannte kleine Häuser zu –:

In die schlafende Heimatstadt zog tutend die Maschine ein. In frische Luft voll Sterne und Gärten wühlten sich auf beiden Bürgersteigen die Räder vorwärts – Erker sprangen vor, zerschmettert, Haufen Nähkörbchen stürzten heraus – Schaufenster schnellten auf den Damm, mit 45 allen Vorräten zerbarst das Warenhaus, daß die Luft erfüllt wurde von glitzernden Geschenken, Kalendern, Pantoffeln, Atrappen, Heringen, Plüschmöbeln. Kreuz und quer überwirbelt von abrasierten Laternen und Bäumen stießen sie auf den Platz hinaus, der erzitterte bei ihrem furchtbaren Anblick – Jedes Fenster war ihm hier vertraut – Alle Scheiben zersprangen, wegpolterte die Limonadenbude aus der Schulzeit. Über Wackersteinpflaster um die einstürzende Ecke – ein Ehebett entblößt hing im Gerippe der Balken. Schon platzten neue Ecken von der bremsenlosen Fahrt, aus einem Heer hochgestapelter Betten stoben die Schlafmützen, nirgends ein Liebespaar.

Da begannen die Kirchenglocken zu stürmen, während es rosig dämmerte – Der Lenker zwinkerte zurück, sein lachender Mund zerschnitt seinen Kopf – Und er hielt sich nicht mehr an die zarte Linie der Straßen, schwenkte die Walze nach rechts und nach links und rannte in die Wände. Kästchenleicht kippten die Häuser auf das Pflaster, gute Stuben mit Überzügen, leiterdünne Treppen mit Barrieren, Kochgruden, Plumpen, Hofaborte mit Herztüren. Dazwischen stieg das Feuerwerk der seltenen Dinge, beim geringsten Gang immer von neuem groß eingeprägt – die er niemals bisher aus der Erinnerung verjagt hatte: In Sekunden fielen jetzt Denkmal mit Schwert und Palmenzweig, Anschlagsäule, Droschkenhalteplatz, Bankfiliale, Villa, deren Neubau beim Sonntagspaziergang immer wieder überraschte, ein Dorf knüpft sich da einmal als Vorstadt an –

Aber mit höchster Lust nun in die Leute hinein – die kreischend in den Ruinen irrten, einst Hände in den Hosentaschen vor manchmal klingelnden Läden, vor 46 Kaffeedecken, auf Haustürbänken, in ihrem mühelosen Klatsch hübsch nah bei einander und giftig entfernt von Welten der Anderen –: Da flogen sie endlich gebrochen durch die Luft, in ungeheuren Bögen – kleinlich nachschnüffelnder Vormund, dummstolzer Bürgermeister, seit frühestem Gedächtnis unauslöschlich bestaunt, ahnungslose Oberlehrer, die an Schläfenhaaren zogen oder feig auf Finger schlugen oder die Armmuskeln kniffen, Gymnasiasten mit unaufhörlichem Gruß ohne sich zu ekeln die Kavalierstraße auf und ab, Jugendfreunde mit rasch väterlich entjungten Gesichtern, Mädchen rasch verlobt und beleibt –:

Ein Brei von Schutt und Fleisch war die kleine Stadt. Nur zwischen Umrissen huschten noch entsetzte Gespenster. Da stiegen sie ab, die Walze versank unter Donner, sie schleuderten Flammen in die Trümmerstätte, die im Feuer ganz zerschmolz – der Wind schnitt hindurch – eine leere Ebene lag da.

O herrliche Leere! Dankend sank Franz auf die Knie – Freiheit, Erleichterung, gewaltiger Platz war in seiner Seele! Aber nun – neue Fülle komme! anderes Leben in den freien Raum seines Innern! – Sie flogen schon auf hellsurrenden Tönen zurück, die aus immer höheren Explosionen in den Äther übersprangen – bis das blendende Licht der Stadt den Himmel bedeckte – Franz lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück, Herden von Riesenwalzen weideten unter den Fenstern erschütternd vorbei – Er sah erwartungsvoll auf den Mund – der sprach:

Ja – jetzt lehre ich dich Macht – Und wie Nachklang summte es noch langsam aus: Mühelos – Dort liegt die Stadt der Macht – Du aber brauchst dich nicht zu rühren – ich verleihe dir ihren Extrakt – und du herrschst –

47 Er zog die Brauen lachend hoch, sie schwangen sich über die glashelle Stirn hin, durch die Zimmerwände bis an den Horizont zog sich ihre Spur. Er verschwand. Dann kam von fern perlende Musik herein, eine schattenhafte Hand fingerte durch die Tür und zog ihn über finstere Korridore. Hinten leuchtete opalen eine Öffnung ihm entgegen, und eine Stimme schrie, als er die Schwelle überschritt: Lerne Bewußtsein!

Er schloß die Augen, aber das blendende Licht drang durch die Lider – er sah sich in einem steilen Saal mit einer Decke von blinden Scheiben – Tropfen fielen aus ihnen, sie waren Eis und tropften, wohin er trat. Zugleich kam ein unaufhörliches Zischen – auf die brennenden Fliesen des Bodens, rot von unsichtbarem Feuer, fiel der Frost der Tropfen. Es dampfte nicht, nur ein Lichthauch schien davon zu einer Gestalt zusammen, die durch den Raum schlingerte und in wütendem Kampf sich die steinern vortretenden Zähne von oben ins Herz schlug. An horizontweiten Wänden entlang starrten wie aus bauchigen Zellen herein zahllose nackte Gesichter. Ihre furchtbaren Kinne, von Vorhängen abgeschnitten, sprangen hart in den Saal vor. Darüber wuchsen blutig kokosdicke Münder, während ihre Stirnen tief in den Vorhang zurückwichen. Zwischen den Kinnriffen, die sich mitten im Saal kreuzten, bewegte sich auf dem Boden ein schaumweißes Lager:

Davor stand der Andere. Der breite Foliant seines Rumpfes verdeckte es finstergrün –

er flüsterte: mach die Augen auf!

er gellte: und sieh meiner Lust zu!!

Franz fuhr zusammen –: Zwischen dem krummen knorpeligen Dreieck der Beine sah er dort ein Auge erglänzen – 48 einen zarten Blick – und jetzt mit rührendem Schimmer einen nackten Leib – Herab regneten die Blicke, die Vorhänge hoben sich steil gebläht vor den Gestalten rings und krochen heran. Der Andere wies mit grinsend geöffneter Hand auf das Weib, und indem er umherblickte, wie in der Menge einer Zauberbude, flogen seine Kleider von ihm ab. Seine scheußliche Entblößung zeigte auf Franz und im Kreise herumdrehend auf die aufgerichteten Männer – als reihe er Franz unter sie ein – – und ließ sich langsam niederknickend auf die Liegende hinab – Sein Gesicht aber schien durch seinen Kopf zurück und stierte mit züngelndem Munde Franz nach wie vor an.

Und Franz in beginnendem Banne sah die Zuschauer: Wie unter Wintersonnen hingen aus ihren sinkenden Lefzen Eiszapfen, ihre Lippen, zwei in Nichts sich aufhebende Fragezeichen, küßten sich selbst mit einsamem Kuß, zu einem Schlangenparagraphen verschlungen. Gläsern, blau und leer blies sich um ihren Kopf eine Kugel auf, und wie sie alles Leben rings in sich abfing, erschien jetzt in ihrem kalten Spiegel der dicke grüne Rumpf, der sich von flatternden Nerven wie aufgeblättert in das Lager hinabließ. Und Franz fühlte die grauenhafte Gewalt der einsamen unfruchtbaren eisfeuerspeienden steifen Anschwellung rings, den schweigenden Chor der Lust, die Gipfel der letzten kahlsten Lieblosigkeit: – Noch liebloser als nicht lieben: der Liebe zusehen! Und er fühlte mit letzten Funken, wer das vermag, ist der Liebe für ewig entrückt – hat die schneidendste Waffe, hat nur Waffen, sonst nichts, und kann mit der Welt machen, was er will – stärker als Napoleon –

Jetzt mußte der letzte weiße Abstand vom Lager 49 erlöschen – Da sich schüttelnd hob er seine Arme empor, packte das Eislicht – und schmetterte durch das grinsende Gesicht des Hinterkopfes hindurch bis in die Luft – –

Und fühlte sich selbst seinem Hiebe nachsinken – und einen wunderbaren Menschenleib berühren – – ein Funke schlug hervor und zerschmolz mit Getöse die eisige Hölle. Die Augen schließend sah er des Abgrunds klaffende Ränder zusammenfahren – Und öffnete die Arme, dicht ein Herz zu empfangen, er fühlte das Feuer der Nähe, das Feuer der Nähe tausendfach flammen, er fühlte, wie alle Wege teuflische Umwege, Irrwege, Irrwillen, als leere Formen rings vergingen und nur ein Weg zum Menschen leuchtete – Ein Menschenmund nahte und plötzlich in der Haut seiner Brust sah er rot geschwungen ein Herz aufglühn – Bis ins Haupt drang ein glühendes Herz und besiegte starrende Gewalten. Ein Menschenmund gebar neu sein Herz, damit es nun herrsche!

Noch ein Mal hoben sich, um mit heftigerem Schwung in die Seligkeit der Nähe hinabzusinken, seine Schultern zurück –

Er sah auf – – in eine blasse Lampe, die auf dem hell besonnten Tisch vor ihm mit schwachen Fäden brannte. Mit starrem Nacken blickte er aus den Winkeln der schmerzenden Augen seitwärts und sah sich am Rande des blauen Himmels sitzen in dem der Tag schallte.

Es war Morgen. Er war erwacht.

Seine Arme lagen steinhart vor dem Buch auf der Tischkante – Aber mit allen Gelenken griff er danach, sprang jubelnd auf und warf es zum Fenster hinaus – –:

Liebe!

Über allen Zaubern: Liebe!

50 Die Kindheit ist zerstört – aber nun ist die Jugend! Durch den gelichteten Raum wälze sich nicht Gewalt weiter – Gefühl erblühe! Aber groß nun, frei für die Welt!

Dies Buch für den, der alt oder blind ist –! Traum sah ihn aus Nacht, aus Morgenanfang und ewig an – Gott, die Dämmerung aller unfruchtbaren Qual sah ihn an – und schenkte ihm das Wissen – !

Er dehnte die Brust in die Strahlen: O Menschen, euch tötet, kaum daß ihr entstanden seid, die Qual, wie ihr lernt, lehrt, leert! Vom Pflaster zaubern Stufen und Geländer euren Straßengang herauf – bis zum Dach, nicht höher. Aber Liebe ist darüber, sie schwebt über dem Lernen, mit rauschendem Flügel, von Menschlichkeit rauschend.

Zu Menschen – in die Welt – zur Liebe! Werde Gärtner – was du willst! – werde nichts! – und aller Raum bleibe für sie.

 


 


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