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Die russische Dorfschullehrerin.

Die russische Dorfschullehrerin ist ein ganz eigenartiger Typus, wie er sich eben nur in einem Lande entwickeln konnte, wo das Volk in geistigem Dunkel dahindämmert und die Aufgabe, das Volk zu erleuchten, nicht dem Staate, sondern einzelnen Menschen zufällt, die ihr ganzes Leben dieser Aufgabe widmen.

Während bei uns ein junges Mädchen sich nur schwer entschließt, Dorfschullehrerin zu werden, und ihren Posten auf dem Dorfe als ein trauriges Provisorium betrachtet, das sie annimmt, weil sie aus materiellen Gründen gezwungen ist, rasch eine Stellung zu finden, oder weil es ihr an den nötigen, einflußreichen Verbindungen fehlt – ist es in Rußland ein häufig vorkommender Fall, daß Mädchen aus guten, wohlhabenden Häusern, Mädchen, die von frühester Kindheit im Wohlstand, ja Luxus gelebt haben, sich um Dorfschullehrerinnenstellen bewerben.

Es ist eine gewisse schwärmerische Exaltation, die sie veranlaßt, sich, wie sie sich ausdrücken, dem »Volke zu nähern« und »Licht in die unteren Schichten zu tragen«.

Man wird in Rußland Dorfschullehrerin, wie man in katholischen Ländern Nonne wird; es ist eine Art Weltflucht, ein Streben, zu vergessen und vergessen zu werden, eine oft nur momentane, beinahe krankhaft ekstatische Sucht, Gutes zu schaffen, ein heißes Verlangen, sich zu demütigen, sich aller hoffärtiger Gedanken und Handlungen zu entwöhnen.

Die russischen Dorfschullehrerinnen haben häufig etwas Märtyrerhaftes an sich. Sie schämen sich ihrer feinen Kleidung, ihrer weißen Hände, ihrer gewählten Sprache; sie schämen sich all der Gewöhnungen, die sie als Mädchen aus gutem Hause haben. Sie suchen ihre Bedürfnisse auf ein Minimum herabzudrücken, ihre Kleidung auf das notwendigste zu beschränken, ihre Hände durch harte, ungewohnte Arbeit zu vergröbern, ihre Sprache der des Volkes anzupassen. Bevor sie anfangen zu lehren, lernen sie selbst von ihren Schülern.

Nichts ist schwerer, als das Vertrauen des russischen Bauern zu gewinnen; denn er ist mißtrauisch und hochmütig, trotz des freundlichen Lächelns und der tiefen Verneigungen. Anfänglich bleibt die Dorfschullehrerin doch immer »das Fräulein«, d. h. etwas Fremdes, Aufgezwungenes, beinahe Feindliches, etwas, das irgendeine Kommission aus irgendeiner großen Stadt hergeschickt hat, um einzugreifen in das ruhig dahinfließende Leben der Dörfler, um sich ein Recht anzumaßen über die Kinder, um Macht zu gewinnen über die Erwachsenen, und dann womöglich Bericht zu erstatten dort, in der großen Stadt, bei den großen Herren. Kein Wunder daher, daß die Bauern sich anfänglich in den meisten Fällen gegen die Errichtung einer Schule sträuben. Sie haben gerade genug am Popen (Geistlichen), der die begabtesten Kinder des Dorfes bei sich unterrichtet, und der sie dafür nach jeder Richtung hin ausbeutet. Und dennoch weicht in sehr vielen Fällen diese Voreingenommenheit einer herzlichen Sympathie, und das feindlich begrüßte »Fräulein« wird bald das liebe »Mütterchen«, selbst wenn die junge Pädagogin kaum die Zwanzig überschritten hat.

Einen höchst interessanten Einblick in das Leben und Wirken einer russischen Dorfschullehrerin gewährt ein Tagebuch, das eine junge Russin auf ihrem schweren und einsamen Posten geführt hat, und dem ich nachfolgendes entnehmen. Die rührenden, wenn auch vielfach noch unbeholfenen Versuche der gebildeten Klassen, mit der Volksseele Fühlung zu gewinnen, treten aus diesen Blättern lebendig entgegen. Mancherlei pädagogische Maßnahmen, die dem Westeuropäer als entschiedene Mißgriffe erscheinen mögen, erklären sich aus dem Bedürfnis, das niedergedrückte Volk zu gewinnen durch ein Unterbieten von Demut und äußerer Einfachheit. Noch niedriger sein wollen als das Volk, – das überrascht, gewinnt, schafft Vertrauen. Zugleich bieten diese Aufzeichnungen noch ein besonderes kulturhistorisches Interesse, da sie zeigen, wie weit die Tolstoischen Ideen, deren Wert für das Leben zivilisierter Völker nicht allzu hoch angeschlagen werden darf, im praktischen Leben der mittleren und unteren Volksschichten Rußlands auf Sympathien und auf Verwirklichung rechnen dürfen.

»Ich bin in Petrowsk, einem kleinen Dörfchen in Südrußland, angelangt. Das ist der Ort, den mir die Schulkommission angewiesen hat. Der Gutsbesitzer von Petrowsk ist Mitglied des Schulrats. Da ich von niemandem empfangen wurde, fuhr ich zum Gutsbesitzer, um ihn zu fragen, wo ich wohnen sollte. Die Herrschaften aber waren noch in der Krim, und nur die Wirtschafterin konnte mir Auskunft geben. Sie ließ mich von einem Mädchen zu meiner Wohnung geleiten. Wir mußten durch das ganze Dorf gehen, das aus vierzig Häusern besteht; auf einer Anhöhe befindet sich die Kirche, und etwas weiter von ihr entfernt, am Waldessaum, eine einsam stehende kleine Hütte. Als ich eintrat, kam mir kalte, feuchte Luft entgegen. Das Mädchen ging fort, und ich blieb allein. Ich setzte mich in meinem Pelz auf eine Bank am kalten Ofen und klapperte mit den Zähnen. Lange blieb ich so sitzen; plötzlich näherte sich ein Schlitten, hielt vor der Hütte, und ich erblickte zwei Freundinnen von mir: die Lehrerin und die Feldschererin aus dem nächsten Dorf. Sie waren empört über die mir zugewiesene Wohnung; aber ich sagte, wenn andere vor mir in dieser Hütte gewohnt hätten, so könnte ich es auch. Dann gingen wir ins Dorf, holten Reisig und heizten den Ofen. Unterdessen kamen meine Sachen, und ich richtete mich ein. Als alles, auch mein Klavier, seinen Platz gefunden hatte, fand ich meine Behausung ganz gemütlich. Dann fuhren meine Freundinnen fort, und ich blieb wieder allein.

Erst am anderen Tage fand ich eine Frau aus dem Dorfe, die mir für einen Rubel monatlich (etwas über zwei Mark) einige Dienste leisten wollte. Meinen ersten Besuch machte ich beim Geistlichen, der schwindsüchtig ist und ohne Unterlaß hustet, meinen zweiten bei der Familie eines Tischlers. Der Alte wollte immerzu über den Kaiser Peter I. und die Kaiserin Katharina II. verschiedene Einzelheiten wissen – er nahm mich ordentlich ins Verhör. In meiner Anwesenheit erhielten die Alten den Brief eines Sohnes, der eben Mönch geworden war. Sie baten mich, ihnen den Brief vorzulesen, und lobten dann mein Lesen sehr. Die Tochter kann übrigens lesen. Ich fragte sie, was sie läse; es stellte sich heraus, daß die Leute kein einziges Buch besitzen, nicht einmal das Evangelium. Endlich erinnerten sie sich, ein Büchlein in irgendeinen Winkel geworfen zu haben. Die Frau des Lohnes raucht. äußerlich gaben sie sich Mühe, ›fein‹ zu sein, wie sie sagen. Ich versprach ihnen, eine Geschichte vorzulesen.

Am anderen Tage brachte mir die Tischlersfrau Milch, und schlug mir vor, mich bei ihr für den Mittagstisch in Kost zu geben. Meine Aufwartefrau kam auch und küßte mich ohne den geringsten Grund. Ich freue mich, daß man mir herzlich entgegenkommt; das tröstet mich in meiner Einsamkeit. Mit Ungeduld erwarte ich die Eröffnung der Schule. Die Frau des Tischlers möchte gern schreiben lernen; aber ihr Mann will es nicht erlauben, weil er glaubt, daß sie sich in den Feldscherer verlieben und ihm dann zärtliche Briefe schreiben wird. Ich mußte lange mit ihm sprechen und ihm sein Unrecht klarlegen. Für seine alte Mutter schrieb ich einen Brief an ihren Lohn, den Mönch. Sie war sehr zufrieden mit dem Brief, und daß ich ihn in so ›mütterlichem Geiste‹ geschrieben ...

Endlich, sechs Wochen nach meiner Ankunft, wurde die Schule eröffnet. Mütter und Väter brachten ihre Kinder; es sammelten sich sechsundzwanzig Personen an. Es ist üblich, daß die Eltern mit dem Kinde zugleich einen Laib Brot mitbringen – sie hatten aber diesmal nichts gebracht. Nur ein Vater brachte mir einen Rubel; ich nahm das Geld jedoch nicht an. Die Kinder sind lernbegierig und sind daher um acht Uhr stets vollzählig versammelt. Ein Kleiner ist sogar heimlich von seinem Vater fortgelaufen, um die Schule zu besuchen ...

Die Zahl der Schüler wächst mit jedem Tage; jetzt habe ich schon zweiunddreißig. Ich schlug denen, die Singen lernen wollten, vor, nachmittags zu mir in die Hütte zu kommen. Es erschienen so viele Kinder, daß ich kaum Platz für sie hatte. Erst kam es ihnen komisch vor, als ich nach dem Klavier ihre Stimme und ihr Gehör prüfte; da ich aber ernst blieb, wurden sie es auch allmählich. Nach dem Singen las ich ihnen ein Gedicht vor und dann eine Geschichte aus einer Fibel.

Die Singstunden haben Erfolg, obwohl die Kinder noch immer auflachen müssen, wenn ich sie einen Ton wiederholen lasse. Ein Vater kam während der Stunde, um zuzuhören und zu ›staunen‹; dann blieb er noch, um etwas zu schwatzen. Er fragte mich, ob man dem Traumbuch glauben dürfe; dann erzählte er mir von seinen Verhältnissen und sagte, daß seine Familie mich nicht ›verlassen würde‹ ein jeder würde mir etwas bringen, der Öl, jener Mehl usw. ...

Die Eltern, ja selbst die Kinder, sind recht unzufrieden, daß ich gar keine Strafen gebe. Woher soll denn die Furcht kommen? fragen sie. Eines Tages, während der Stunde, entstand unter den Kindern ein großer Streit über das Strafen. Die meisten Kinder waren dafür. Endlich trat ein Knabe vor, und sagte: ›Der Geistliche war furchtbar streng, und wir haben doch nicht gehorcht; also ist es besser, es gibt keine Strafen und wir richten uns nach unserem eigenen Gewissen.‹ Während dieser Debatte erschien die Frau des Gutsherrn und gleichzeitigen Schulrats. Sie brachte den Kindern Obst und Nüsse und verteilte alles unter sie, die Kinder benahmen sich sehr bescheiden; als die Frau aber fort war, sahen sie sich verblüfft an und fragten: »Was machte sie hier? Warum hat sie uns was gegeben?«

Ein Knabe brachte mir Öl, ich nahm es an, da ich Gaben jetzt nicht mehr zurückweise, um nicht für hochmütig zu gelten.

Gestern war ich sehr müde und legte mich um elf Uhr schlafen, plötzlich klopfte es ziemlich heftig an mein Fenster. Ich machte Licht, warf mein Kleid über und öffnete die Tür. Draußen standen zwei junge Burschen, die mich bestürmten, ein wenig mit ihnen zu lernen. Ich ließ sie herein, und wir arbeiteten bis um halb ein Uhr nachts. Einer von den Burschen hatte schon früher was gelernt, aber alles vergessen; der andere hatte nur kurze Zeit eine Schule besucht ...

Heute war ich im Nachbardorf, um den dortigen Geistlichen, und die Lehrerin kennen zu lernen. Die Schule befindet sich im Wächterhäuschen neben der Kirche, die Luft ist tödlich wie in einem Keller. Bücher sind fast gar keine vorhanden, auch an sonstigem Schulmaterial fehlt es vollständig; an Platz ist großer Mangel. Die Kinder hocken zumeist auf dem Boden, es sind ihrer siebzig. Die Schule ist in zwei Klassen geteilt; um von einer Klasse in die andere zu gelangen, muß die Lehrerin über den eiskalten Flur gehen. Die Verhältnisse dort haben mir gar nicht gefallen.

Ich unterrichte jetzt abends um sechs Uhr fünf erwachsene Schüler, und es melden sich immer neue. Mir bleibt für mich selbst kaum Zeit genug zum Teetrinken. An Feiertagen kommen die jungen Burschen zu mir; wir trinken Tee, singen, und ich lese ihnen vor. Dann und wann erscheint auch einer von den Eltern, um sich nach den Fortschritten der Kinder zu erkundigen. Da es hier mehrere gibt, die lesen können, werde ich öfters um Bücher angegangen. Das erste Buch, das ich leihe, gefällt immer am besten; bei den folgenden sagen sie: ›Aber so schön geschrieben wie da erste ist doch keines. So eines wie das erste möchte ich gern haben.‹

Ich bin kaum einen Augenblick allein, die Schule ist noch nicht aus, da stehen schon Buben und Mädchen vor meiner Hütte, um bei mir zu singen, zu lernen, vorlesen zu hören. Mein Stübchen ist immer voll, so daß man sich darin kaum bewegen kann. Manchmal, besonders abends, spiele ich ihnen Beethoven vor, und sie fangen an, die Musik zu lieben. Überhaupt benehmen sie sich allmählich freier, natürlicher, und wagen es, laut aufzulachen, wenn ihnen etwas komisch vorkommt. Dennoch fühle ich, daß ich – so sehr ich mir auch Mühe gebe, mich den Bauern zu nähern – ihnen doch fremd bleibe. Einige kommen, um mich anzustaunen, andere, um mich über das Traumbuch auszufragen, dieser, um mir etwas zu bringen, jener, um mich kennen zu lernen; aber keiner betrachtet mich als zu ihm gehörig, und im Grunde halten sie mich für dümmer als sich selbst. Sie legen einem in der Tat oft Fragen vor, auf die es ohne Vorbereitung schier unmöglich ist, Antwort zu geben ...

Als ich einmal in die Klasse kam, erklärte mir einer der Knaben vor den versammelten Kindern, daß ein Bauer mich durchprügeln wollte, weil ich nicht ordentlich lehre, d. h. keines von den Kindern während der Stunden haue und es nicht zum Lernen zwänge. Ich antwortete darauf, daß das Lehren meiner Ansicht nach nicht im Strafen und prügeln bestehe, und wenn der Bauer mich prügeln wolle, so solle er's nur tun. Diese Antwort hat großen Eindruck gemacht.

Beim Schulrat habe ich durchgesetzt, daß die Kinder ein Handwerk lernen, und so gibt ihnen jetzt ein Schneider im Nähen Unterricht. Heute bemerkte ich, wie er einem Knaben einen Hieb versetzte; der Junge lief zu mir und beklagte sich. ›Seht Ihr,‹ sagte ich, ›und noch vor kurzem wolltet ihr, daß ich euch strafe und prügele.‹ ›Nein, das ist schlecht‹, sagte das Kind und spuckte aus. Noch eine Freude habe ich gehabt: ich hörte, wie einer von meinen Schülern seinem jüngeren Bruder Mut machen wollte, zu mir zu kommen, indem er ihm sagte: ›Geh' nur, geh', sie tut nichts, sie ist ganz wie eine Bäuerin.‹ ...

Als ich das letztemal die Familie des Schulrats besuchte, mußte ich dort übernachten wegen des schlechten Wetters. Die Kinder hatten mich den ganzen Abend vergebens in meiner Hütte erwartet, und da sie nicht fortgehen wollten, so übernachteten sie bei mir auf der Diele. Am anderen Morgen räumten sie alles ordentlich auf. Die Zuneigung zu mir hindert sie aber nicht, manchmal recht ungezogen zu sein und meine Geduld auf eine harte Probe zu stellen. So wollten sie sich dieser Tage plötzlich nicht dazu verstehen, das Schulzimmer auszufegen; schließlich nahm ich selbst den Besen zur Hand. Als ich dann fortgehen wollte, hatten sie mich eingeschlossen. Dennoch beherrschte ich mich und verwies ihnen nur in sanften Ausdrücken ihre Ungehörigkeit. Den nächsten Tag schrieb ein Schüler auf die schwarze Tafel: ›Verzeihen Sie uns,‹ Ich antwortete auf derselben Tafel: ›Ich habe schon verziehen, verzeiht mir!‹ Darauf schrieb er wieder: ›Gott wird verzeihen, und wir verzeihen,‹ Das war unsere Aussöhnung. –

Die Kinder sind schon sehr vertraut mit mir, einige nennen mich nur beim Vornamen. Sie kommen in meine Hütte zu allen Tageszeiten, bis in den späten Abend. Sie sehen mich in allen meinen Stimmungen, bei all meinen Beschäftigungen. Manchmal bin ich noch gar nicht gekämmt, wenn sie kommen, und dann kämme ich mich eben vor ihnen, oft räume ich noch bei mir auf mit ungewaschenen Händen. Aber es scheint mir, daß, wenn sie mich bei irgendeiner gewöhnlichen, schmutzigen Arbeit sehen, sie sich mir noch näher fühlen. Und das ist gut.

Manchmal – besonders am Abend – kommen oft ganz Fremde zu mir, Männer und Frauen. Die hören zu, wie ich mich mit den Kindern beschäftige, und bitten dann, ihnen etwas vorzulesen. Ich wähle einfache Volksgeschichten, Fabeln, auch Abschnitte aus der Bibel. Die Bergpredigt hat immer besonders gefallen. Da sagten mir einige Frauen: ›Das ist schön, was man bei Ihnen zu hören bekommt, wenigstens hört man nichts Unrechtes, andere sollten auch kommen und hören.‹ ...

Die Familie des Gutsherrn und Schulrats ist seit einiger Zeit kühler zu mir; sie necken mich dort mit meinen Tolstoiideen, wie sie das nennen. Er, der Schulrat, kann sich mit meiner Lehrmethode nicht befreunden. Die Kinder müssen mit Strenge behandelt werden, sagt er. Wir können uns nicht verstehen ... Vor kurzem war der Schulinspektor da; er schien sehr unzufrieden; das Wissen der Kinder befriedigte ihn nicht. Daß die Lernbegier, das Denkvermögen der Kinder durch mich geweckt worden ist, dafür hat er keinen Blick. Es soll eben alles beamtenmäßig, nach der Schablone vor sich gehen. ›Das Volk hat nicht zu denken; wenn es lesen, schreiben und rechnen kann, weiß es mehr als genug.‹ Mir tat das Herz weh bei diesen Worten.

Bald ist Ostern, und es kommen immer weniger Kinder in die Schule, da sie zu Feldarbeiten gebraucht werden. Das Wetter ist feucht und kalt, und ich fühle mich recht krank. Da ich kaum zehn Schüler mehr habe, lasse ich sie zu mir kommen, anstatt in die Schule. Sie sitzen, wo sie Platz finden: auf dem Bett, auf meinem Koffer, dem Fensterbrett; aber alle sind fleißig und aufmerksam ... Jetzt ist mein letzter Schüler fort, und ich komme mir verwaist vor, weiß nicht, was ich den Tag über anfangen soll. Aber doch kommen hin und wieder Knaben, die mich um Unterricht bitten, Kinder, die das Vieh auf die Weide treiben und sich für ein Stündchen frei machen ...

Endlich ist der Sommer vergangen, und der Winter mit seiner Arbeit hat wieder begonnen.

Meine Hütte ist nach wie vor jedem offen. Fremde, Männer und Frauen, kommen herein zu mir, wenn sie Licht sehen, und bitten mich, ich möchte ihnen vorlesen. Vielen leihe ich Bücher, kleine, volkstümliche Erzählungen ... Die Kinder lieben sehr die Musik. Jetzt verlangen sie nicht mehr, daß ich die ihnen bekannten Volkslieder vorspiele, sondern bitten mich um Beethoven, dessen Name ihnen geläufig geworden ist. Dann plaudern wir viel zusammen, indem wir an das Gelesene anknüpfen; wer will, der liest oder schreibt nach dem Diktat. Auch das Rechnen betreibe ich energisch, aber ich hüte mich, die Kinder zu etwas zu zwingen; sie sollen aus eigenem Antriebe fleißig sein, und viele sind es auch. Die Prügelstrafe kommt noch öfters aufs Tapet; Väter kommen zu mir und bitten mich, ihre Jungen ›fest durchzuhauen‹. Ich muß immer lange predigten über die Schädlichkeit des Prügelns und der Strafen im allgemeinen halten, aber ohne Erfolg. Im Lande verbreitet sich die Ansicht, daß ich gleichgültig gegen das Böse sei ... Die Leute haben gar kein Verständnis dafür, daß ich durch Beispiel, gute Lektüre, Ermahnungen und die Übung des religiösen Gefühls erzieherisch wirken will. Die Kinder sollen eine böse Tat nicht aus Furcht vor Strafe unterlassen, sondern aus der inneren Erkenntnis heraus, daß die böse Tat an und für sich verwerflich ist ...

Heute kam der Adelsmarschall zu mir, unter dem Vorwande, zu sehen, wie ich lebe, in Wahrheit aber, um mich über meine politischen und pädagogischen Gesinnungen auszuforschen. ›Ist es wahr, daß Sie Zusammenkünfte bei sich abhalten, daß Sie Bücher herausgeben?‹ fragte er. Ich sagte, daß mein Haus jedem offen stehe, der sich physisch und geistig erwärmen wolle, daß ich keine Bücher herausgebe, wohl aber Bücher verleihe. ›Seien Sie vorsichtig,‹ meinte er, ›man ist aufmerksam auf Sie geworden ... und Sie wissen, man liebt solche Annäherung an das Volk nicht. Auch mit den Kindern müssen Sie strenger sein; ich hörte, Sie sind zu nachsichtig mit ihnen – das dürfen Sie nicht. Sie müssen mit den Kindern nicht räsonieren, sondern sie einfach zum Gehorsam zwingen.‹

Ich war wie niedergeschmettert von dem Besuch, denn ich fühle, daß ich von Feinden umgeben bin, die sich allen meinen Bestrebungen entgegenstellen. Aber dennoch kann ich mein Benehmen nicht ändern, kann mich nicht all den Leuten, denen ich mich mit ganzem Herzen gegeben habe, plötzlich entziehen. Die Kinder haben ein heiliges Recht an mich. Sie nennen mich ihre ›Mutter‹ und sie sind es gewohnt, zu allen Zeiten, in allen Lagen bei mir Schutz, Trost und Erhebung zu finden.

Ich leite jetzt jede Stunde durch das Lesen eines Abschnittes aus den Evangelien ein. Sie begreifen den Geist der christlichen Lehre immer mehr. Auch die Eltern kommen oftmals zu mir und bitten mich, ihnen aus der Heiligen Schrift vorzulesen. Die Großen stehen jetzt auch auf ganz vertrautem Fuß mit mir. Gestern kam ein Bauer und bat mich um ein Darlehn von zehn Rubel. Ich sagte ihm, daß, wenn ich ihm die zehn Rubel gäbe, mir selbst nicht eine Kopeke mehr bliebe. ›Nun,‹ sagte er, ›so will ich mir nur sechs Rubel davon nehmen und die übrigen vier Rubel Ihnen geben.‹ Hinterher ärgerte ich mich, daß ich erst an mich selbst gedacht hatte. Der Bauer brauchte zehn Rubel, und war doch gleich bereit, mir von diesen zehn Rubel vier abzutreten! Er war besser als ich. – (!)

Jetzt geht es wieder zum Frühling. Der zweite Winter in der Hütte hat mich ganz krank gemacht; ich atme schwer und huste; mein ganzer Körper schmerzt mich. Ich suche durch körperliche Arbeit das körperliche Leiden zu betäuben. So habe ich mit Hilfe meiner Aufwartefrau meine Hütte selbst geweißt, wobei ich mich anfänglich recht ungeschickt benahm. Auch mein Holz für den Ofen hacke ich selbst. Die Kinder sehen mir zu bei der Arbeit und bieten sich oft an, mir zu helfen.

Manchmal kommen Burschen und Erwachsene zu mir, und bitten mich, ein gutes Wort bei der Gutsherrschaft für sie einzulegen; ein Ochse oder eine Kuh hätte sich auf die herrschaftliche Weide verlaufen und wäre eingefangen worden. Um das Tier einzulösen, müßten sie eine Strafe zahlen, die ihre Mittel überstiege. Der Schulrat ist immer sehr ärgerlich, wenn ich mit einer solchen Bitte an ihn herantrete. Er sagt, das hieße das Volk demoralisieren, wenn, man es unbestraft lasse. Darauf antworte ich, daß durch Auferlegung von Geldstrafen das moralische Bewußtsein nicht gehoben würde. Aber alles, was ich sage, ist umsonst. Er und ich verstehen uns nicht, können uns nicht verstehen ...

Warme Tage wechseln mit kalten ab. An diesen kommen die Hirtenjungen zu mir und bitten mich um die Erlaubnis, sich bei mir wärmen zu dürfen. Ich benutze die Zeit und schlage ihnen vor, ein wenig mit mir zu arbeiten. Dieser liest ein wenig, jener schreibt nach einem Diktat; dazwischen laufen sie hinaus, um nach ihren Schafen zu sehen, und kehren dann zurück zu ihrem Buche. Ein Kleiner brachte einmal ein Körbchen mit Brot und Käse, das seine Mutter ihm mitgegeben hatte. Er fing an zu essen und teilte seinen Vorrat mit mir. Erst wollte ich das Opfer nicht annehmen; aber da ich selbst seit ein paar Tagen nichts als trockenes Brot und Tee zu mir genommen hatte, so aß ich schließlich mit Vergnügen das mir so herzlich Angebotene. ›Wirst du denn bis zum Abend nicht hungrig werden?‹ fragte ich meinen kleinen Freund. ›Ja, kann man denn das nicht aushalten?‹ – Das russische Volk hält viel aus an Hunger, Kälte und mancherlei Unbill! – Der Kleine hatte Papier und Bleistift mitgebracht und sagte: ›Zeigen Sie mir nun, wie man schreibt!‹ ...

Heute war der Hauslehrer der Gutsherrschaft bei mir und klagte, daß die Bauern ihr Vieh immer auf die herrschaftliche Weide jagen. Ich sagte ihm, daß dies nicht absichtlich geschehe, und warf ihm vor, daß er als Lehrer sich nicht schäme, das Vieh der Bauern einzufangen und sie beim Gutsherrn anzuschwärzen. ›Ja, was würden Sie denn tun, wenn man bei Ihnen stähle?‹ – ›Ich würde dem Dieb verzeihen,‹ antwortete ich, ›und dadurch gewiß ein besseres Resultat erzielen als durch das Auferlegen von verhältnismäßig hohen Strafen.‹ Ich war sehr empört, und er verließ mich in großer Erregung. Einige Stunden später ließ mich der Schulrat holen. Er beschuldigte mich in heftigen Ausdrücken, daß ich das Volk aufwiegle und es in seiner Neigung zum Bösen unterstütze. Meine Handlungsweise wäre ungesetzlich und strafbar. Der beste Rat, den er mir geben könne, wäre, meine Entlassung bei der Schulkommission einzureichen und mich um eine Schule in einer anderen Gegend zu bewerben. Er, als Schulrat, wolle nichts gegen mich aussagen und mir keine Hindernisse in den Weg legen. Ich antwortete ihm darauf, daß, wenn ich ungesetztlich gehandelt hätte, es seine Pflicht sei, mich dem Gericht zu überliefern. Er sagte, das wolle er nicht tun, aber das beste wäre jedenfalls, ich entfernte mich. Ich erklärte mich bereit, seinen Wunsch zu erfüllen.

Zehn Tage sind nach dieser Auseinandersetzung vergangen. Ich bin bereit, das Dorf zu verlassen, in dem ich zwei Jahre gewirkt habe. Zwei Jahre sind eine kurze Spanne Zeit, und doch ist mir, als umfaßten diese zwei Jahre ein langes, reiches Leben. Ich kam her gesund und stark, ich gehe – geschwächt und krank, aber die Keime des Guten, die ich hier gesäet habe, werden aufgehen, und wenn nur einer von den vielen, die täglich an meinen Lippen gehangen, in Erinnerung an mich und meine Worte, eine gute Tat vollbringt, oder vor einer schlechten zurückschreckt, so habe ich meine Gesundheit nicht umsonst geopfert, diese zwei Jahre nicht umsonst gelebt. Mein Bündel ist geschnürt. Wohin ich meine Schritte lenke, weiß ich noch nicht. Aber ich bin unbesorgt. Kinder, Menschen finde ich überall; dort, wo ich lehren kann, dort ist mein Platz.«

Soweit die Aufzeichnungen der russischen Dorfschullehrerin. Freilich ist sie eine von denen, die ihren Beruf von der idealsten Seiten auffassen, aber sie ist keine Ausnahme. Das Leben, das diese Lehrerin äußerlich geführt hat, ist das fast aller russischen Dorfschullehrerinnen, die aus Liebe zu ihrem Beruf die schwierigen Posten wählen, der für sie um so schwieriger ist, je mehr sie sich dem Volke nähern, es zu verstehen, und zu beeinflussen suchen. In allen Fällen steht die Regierung diesen Bestrebungen feindlich gegenüber und nimmt jede von den Paragraphen abweichende Handlungsweise mißtrauisch auf. So kommt es, daß die Lehrerin selten lange an einem Ort bleibt, sondern ruhelos durch das weite Reich wandert, verfolgt vom Mißtrauen der Obrigkeit, des Schulrats, des Gutsbesitzers, ja oft sogar des Geistlichen, der in ihrem Verhalten mit Unrecht ein Eingreifen in seine Rechte erblickt.

Es finden sich aber Dorfschullehrerinnen, die es verstehen, die vollste Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten zu gewinnen, die an den Teeabenden im Gutsherrenhause teilnehmen, mit dem Geistlichen Karten spielen, die Schulkinder mit Fuchtel und Rute in Respekt halten und ihr Haus ängstlich vor dem »schmutzigen Gesindel« hüten; aber die bleiben dem Volke ewig fremd. Sie hinterlassen in den Herzen ihrer Zöglinge nichts als die peinliche Erinnerung an öde Klassenstunden, an harte Strafen. Sie bleiben stets »das Fräulein«, an dem sich das Kind mit scheuer Angst vorbeidrückt, und das der Erwachsene in leisem Gemurmel als »Spion« bezeichnet.

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