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Prinz Achab.

Prinz Achab war der Sohn des Fürsten Dunar Achab, und Fürst Dunar Achab war Diener beim Grafen Remetjeff in Moskau.

Fürst Dunar Achab – »Knjasj« – (Fürst) wurde er der Abkürzung wegen genannt, hatte eine wunderbare Art, das Parkett spiegelblank zu bürsten. Es war sein Geheimnis, das ihm Graf B... weder für ein Zwanzigmarkstück, noch die reizende Frau des ersten Atachés bei der französischen Gesandtschaft für ein charmantes Lächeln abkaufen konnte. Fürst Dunar war unbestechlich. »Ich verkaufe mich nicht«, sagte er in gebrochenem Tatarenrussisch, womit er auf die 50 000 Rubel anspielte, die ihm die russische Regierung angeboten hatte, für den Fall, daß er auf seine lächerlichen Prätensionen als »Thronerbe« eines kleinen, längst mediatisierten tatarischen Fürstentums im Kaukasus verzichten würde.

Vor vierzig Jahren etwa hatten die Kosaken vom Don die im Kaukasus so zahlreichen Tatarenfürsten wie mit dem Besen von ihren Holzthronen fortgefegt. Den Gutwilligen gab man Geld, daß sie nach den großen Städten ziehen und dort einen Kaufladen aufmachen konnten, wo sie mit seltenen Seidenstoffen, kostbaren Türkisen und edelsteingeschmückten Waffen handelten.

Der Großvater vom Prinzen Achab war aber nicht gutwillig. In seinem kleinen Fürstentum wurde daher gesengt und gemordet, die fürstliche Familie mit Schimpf und Schande und einigen Knutenhieben auf den Rücken davongejagt. Später gelang es dem rabiaten Fürsten noch eine kleine Schlacht zu inszenieren, die für ihn so günstig ablief, daß man sich auf Verhandlungen einließ. Man war bereit, ihm 50 000 Rubel auszuzahlen; aber er sollte »verzichten«.

Der Fürst ließ sein Brüderchen, »den großen Zaren«, grüßen und verfluchte auf einem großen freien Platze alle seine Nachkommen bis in das sechste Glied, falls es ihnen je einfallen sollte, das Land und den Thron ihrer Väter preiszugeben. Es war ein entsetzlicher Fluch – die Weiber rissen sich die Haare in Strähnen aus, und die Männer zerfetzten ihre Kleider. Die Kosaken aber lachten, ließen ihre Nagaika fröhlich in der Luft herumsausen und »säuberten« das Land.

Die Fürstenfamilie lebte kläglich, aber stolz von dem Erträgnis etlicher hundert Liter Pferdemilch – Kumiß genannt – und schmiedet die abenteuerlichsten Pläne, um wieder in den Besitz ihres kleinen Reiches zu kommen.

Der Sohn des Rebellen – Fürst Dunar – wie er sich nannte, heiratete erst spät, verkaufte nach dem Tode, des Vaters die Stutenherde, die Holzhütte und siedelte sich in einem der kleinen, reizend gelegenen kaukasischen Badeorte an, wo er als Fremdenführer, Dienstmann und gelegentlicher Tafeldecker bald sein gutes Einkommen fand.

Auch da nannte er sich stolz »Fürst Dunar«, und es fiel niemand ein, ihm seinen vornehmen Titel streitig zu machen. Er wurde bald eine bekannte und geachtete Persönlichkeit und gehörte zu den Sehenswürdigkeiten des Ortes, wie der warme Sprudel, der Malachitfelsen und die Stechpalmenallee.

Ein vornehmer Moskauer, Graf Remetjeff, fand Gefallen an dem originellen Tataren und schlug ihm vor, in sein Haus als Diener zu treten. Dunar nahm den Vorschlag an. Er war seit kurzem Witwer, und sein größter Wunsch war es, seinem kleinen Jungen eine gute Erziehung zu geben. Als der Graf nun gar versprach, dem kleinen »Prinzen Achab« eine Freistelle im Gymnasium zu verschaffen, da gab es für den Alten kein Bedenken mehr.

Fürst Dunar lebte sich glänzend in seine neue, ungewohnte Stellung ein und trug den schwarzen Frack – zu einer Livree hätte er sich nie verstanden – mit unnachahmlicher Würde und natürlicher Eleganz. Die Dienstboten nannten ihn »Knjasj« (Fürst) und auch sein Herr sprach nie anders zu ihm. Er hatte sein eigenes Zimmer und speiste allein an einem gedeckten Tisch.

Prinz Achab aber besuchte das Gymnasium. Es war ein bildhübscher, begabter Junge, mit einem leisen Zug von Grausamkeit auf den feingeschnittenen Mund. Sonntags saß er seinem Vater gegenüber am weißgedeckten Tisch. Dann aßen sie Pilaff, den der Vater nach heimatlichem Rezept eigenhändig bereitete, und der Alte sprach von einem Lande, in dem Milch und Honig floß, und das ihr eigenes Land war, aus dem man sie widerrechtlich vertrieben hatte, und das sie zurückerobern mußten, wenn auch um den Preis ihres Lebens.

Der kleine Prinz Achab hörte mit leuchtenden Augen zu, denn er war in dem Alter, wo man entweder Kutscher oder General werden will.

Dann wurde er in das Spielzimmer der kleinen Grafen Remetjeff herübergeholt, und dort spielte er Krieg. Koko und Tata waren die Kosaken, das große Ledersofa – sein bedrohtes Fürstentum. Er schlug so lange mit dem Holzsäbel um sich, bis sich die Kinder angstvoll, zitternd in einen Winkel verkrochen; dann warf er sich der ganzen Länge nach auf das eroberte Sofa und schrie:

»Ich fürchte mich vor keinem Kosaken, ich mache sie alle tot, alle ... Denn mein Vater ist ein großer Fürst ... ja, ein großer Fürst ...«

Eines Tages waren Tata und Koko ganz anders als sonst. Gar nicht ängstlich. Sie lachten über Achabs laute Drohungen, und als er sich wutentflammt auf sie stürzen wollte, um sie zum Niederknien zu zwingen, da drehten sie ihm eine Nase und schrien:

»Du bist ja gar kein Prinz, dein Vater ist ja gar kein Fürst, das ist doch nur so ... Spaß. Knjasj ist nur unser Diener ...« Achab verstummte und wurde sehr blaß. Ohne einen Blick auf die Kinder mehr zu werfen, ging er hinaus.

Fürst Dunar saß in seinem Stübchen am Tisch und las im Koran. Es war ein alter, ganz zerfetzter Band, aus dem sein Urgroßvater schon gebetet hatte.

»Vater, bist du ein wirklicher Fürst?«

Der Alte zuckte zusammen. Dann erhob er sich in voller Größe:

»Natürlich bin ich Fürst. Was fragst du so dumm? Und du bist Thronerbe. Was fragst du?«

»Ich frage, weil sie dich hier Diener nannten. Es ist sehr niedrig, Diener zu sein.«

Dunar wurde bleich bis in die Lippen.

»Niedrig ist es, sich zu verkaufen«, sagte er kurz. Plötzlich aber übermannte ihn der Zorn, und die Stirnadern schwollen drohend an.

»Wir sind Fürsten aus altem Geschlecht. Vergiß das nie – niemals, hörst du! Beim Fluche meines Vaters!«

In seinen Augen funkelte etwas so urwüchsig Grausames, ja Bestialisches, daß der kultivierte kleine Gymnasiast sich zitternd in einer Ecke verbarg. Dort stand er, bis der Vater ihn bei der Hand nahm und ihn zur Schule schickte.

»Jetzt geh, mein Sohn, und lerne. Du sollst ein großer Fürst werden, ein mächtiger Fürst ... Lerne ...!«

Prinz Achab ging gern in die Schule, denn er war der Erste in seiner Klasse, und die Schüler hatten Respekt vor ihm, trotzdem er Tatar war. Sie fürchteten seine scharfe Zunge und seine kräftigen Fäuste.

Eines Tages aber erfuhren sie, daß sein Vater als Diener beim Grafen Remetjeff angestellt war, und nun brach der durch Furcht gezügelte Übermut los. Im Schlafsaale verlangte einer, Achab solle ihm die Stiefel ausziehen, wie dies ja auch Knjasj Dunar beim Grafen Remetjeff täte. Die Folge davon war eine Prügelei, die Achab acht Tage Arrest eintrug, ihn aber ein für allemal vor weiterem Gespött bewahrte.

Übrigens vermochte ihn nichts mehr zu bewegen, mit den Grafenkindern zu spielen, und er empfand es als eine wahre Erlösung, als der Graf plötzlich starb und sein Vater in einen andren Dienst trat – in das Haus eines reichen Kaufmannes.

Auch dort wurde Dunar Knjasj genannt, ein Titel, der wie schallender Hohn an Achabs Ohr klang. Ebensogut hätte man ihn Peter oder Paul nennen können. Es war kein Titel mehr, sondern ein Name, mit dem sich keine bestimmte Vorstellung verknüpfte. Trotzdem, und obwohl er auch kein eigenes Zimmer mehr hatte, sondern die Leutekammer mit dem Kutscher und dem Koch teilte, bewahrte Dunar eine strenge Unnahbarkeit und das unerschütterliche Bewußtsein seiner Fürstenwürde. Er betrachtete seine augenblickliche Lage nur als eine Prüfungszeit. Er hatte ja einen Sohn, einen Sohn, der ihn einsetzen würde in alle seine Rechte, ihm sein Land zurückgeben würde. Und täglich betete er: Allah möge Achabs Herz läutern, seinen Geist reifen, seinen Arm stärken ...

Achab war der Stolz des Gymnasiums. Der Unterrichtsminister, der zufällig den letzten Prüfungen beiwohnte, wurde aufmerksam auf ihn, erkundigte sich nach seinen Verhältnissen. Ach so ... Achab Dunar ... Ja, ja, in den Archiven von Petersburg ruhte so eine komische Geschichte ... Und das Geld war wirklich vorhanden ... Freilich – freilich – da mußten schon ein paar hunderttausend Rubel beisammen sein.

»Gratuliere Ihnen, junger Mann, mit Ihrer Begabung und bei dem Vermögen steht Ihnen alles offen. Kommen Sie nur bald nach Petersburg und ordnen Sie die Geschichte. Ich will mich Ihrer erinnern und die Angelegenheit bei der zuständigen Behörde beschleunigen.«

Achab verneigte sich tief, so tief, daß man das Zucken seiner Mundwinkel nicht sehen konnte.

Wie sollte er die Geschichte ordnen? Der Vater würde seine Einwilligung nie geben. Aber wenn er großjährig war, durfte er denn dann nicht für sich handeln, ohne Wissen des Vaters?

Er dachte an den Fluch des alten Achab Dunar und schauerte leicht zusammen.

Das war noch das tatarische Blut in ihm, das er haßte, das ihn minderwertig machte in den Augen der anderen, hatte denn die moderne Erziehung, die er genossen, nicht die Macht gehabt, ihn von allen Vorurteilen zu befreien? Schon längst betete er nicht mehr nach dem Koran. Seit Jahren, wenn auch ohne Wissen seines Vaters, teilte er den Religionsunterricht seiner Mitschüler. Und nun war es bei ihm beschlossene Sache: Er bezog die Petersburger Universität.

»Komme groß und mächtig zurück«, sagte ihm der Vater beim Abschied. »Unsere Feinde sind es, die dort leben, sei stärker als sie, denke an unser Land.«

Geduldig wartete Fürst Dunar zehn Jahre auf die Heimkehr seines Sohnes. Er wußte: große Dinge brauchten Weile. Er wurde alt und grau inzwischen, aber doch nicht mutlos. Im Gegenteil, stolzer und zuversichtlicher mit jedem Jahre.

Der Tag kam, an dem Dunar seinem Sohne die Hände segnend aufs Haupt legte, denn er war zurückgekommen, mächtig und groß, wie der Vater ihm geheißen. Im eigenen Wagen holte Achab seinen Vater ab aus dem fremden Dienste. Über prächtige Treppen führte er ihn in zwei helle Zimmer, die er fortab bewohnen sollte.

In einer kostbar geschnitzten Truhe lagen schwere, seidene Gewänder, wie sie Tatarenfürsten zu tragen pflegten. In der Mitte des Zimmers war ein seidener persischer Teppich ausgebreitet. Auf einem niederen Tisch aus Rosenholz mit eingelegtem Elfenbein lag der neue Koran in neuem, silberbeschlagenem Einband.

Fürst Dunar war eingezogen in das Haus seines Sohnes.

Er war bereit, noch weitere zehn Jahre zu warten, um einzuziehen in das Land seiner Väter ...

»Auch die Zeit wird kommen«, sagte sein Sohn ausweichend.

Das einzige, worüber Dunar sich wunderte, war, daß sein Sohn ihn nie begleitete, wenn er das arme Tatarenviertel aufsuchte. Und das einzige, was ihn verdroß, war, daß ihn im Tatarenviertel keiner nach seinem Sohn fragte, obwohl er diese Frage gern vom alten Gafar gehört hätte.

Gafar war auch ein vertriebener Fürst, der aber jetzt mit Teppichen handelte und in großem Ansehen bei seinen Landsleuten stand. Es war seit Jahren Dunars Traum, seinen Sohn mit der hübschen Tochter Gafars, der tugendhaften Katitza zu verheiraten. Oft hatte er darum gebetet, sowohl damals, als er noch bei fremden Leuten im Dienst war, wie jetzt, wo er auf kostbarem persischen Teppich zu Allah schrie.

Seine Andeutungen jedoch schien Achab nicht zu verstehen, oder er ging mit einem Scherzwort darüber hinweg. Eines Tages beschloß daher Fürst Dunar, der Sache auf den Grund zu gehen. Er ließ den Wagen vorfahren, kaufte unterwegs einen großen Türkis, den er nach alter Väter Weise dem jungen Mädchen schenken wollte, um ihr sein Wohlgefallen zu zeigen, und suchte den alten Gafar auf. Nach den üblichen zeremoniellen Begrüßungen sagte er:

»Mein Sohn, Prinz Achab, muß nun bald heiraten.«

»Wünsche Glück und Frieden dazu, Dunar«, war die Antwort.

»Deine Tochter Katitza gefällt mir wohl, Gafar, gib ihr diesen Stein von mir, bis mein Sohn ihr die Fassung dazu schenkt.«

Der alte Tatar sah Dunar unwillig an, dann sagte er kurz: »Laß die Scherze, Fürst. Dein Sohn heiratet keine Tatarin, so wenig wie eine Tatarin deinen Sohn heiratet.«

Dunar erhob sich langsam.

»Was soll das heißen?«

Gafar blinzelte ihn von unten herauf an.

»Weißt du's denn nicht? Bist du der einzige, der es nicht weiß?«

»Nein ... was denn ...? So rede doch.«

»Dein Sohn ist Russe geworden, geht in russische Kirchen und macht das Zeichen des Kreuzes«, sprach Gafar hart.

Dunar wankte.

»Was ... das tut mein Sohn ...? Der Erbe meines Landes?«

Der Tatar zuckte die Achseln.

»Frag' ihn, wo es ist, dein Land! – ... In der Bank ist dein Land ... Sein Haus ist dein Land, deine zwei Stuben sind dein Land, dein persischer Teppich, von dem du mir erzählt hast, dein silberbeschlagener Koran – das ist dein Land! Da, da ... der Wagen draußen und das Pferd davor – das ist dein Land! ...

»Hör' auf ... hör' auf ...«

Dunar lag auf dem Boden, stöhnend rangen sich die Worte von seinen blauen Lippen.

Schwerkrank brachte man ihn nach Hause. Der Sohn klopfte an seine Tür.

»Wenn du hereinkommst, stoße ich dich nieder wie einen tollen Hund«, schrie der Alte.

»Vater, hör' mich an ...«

»Ich bin dein Vater nicht mehr ... Der Fluch komme über dich ... der Fluch! ...«

Achab zuckte zusammen, dann lachte er kurz auf. »Ammenmärchen! Wenn man dem allen glauben wollte! ...« Er entfernte sich raschen Schrittes und vertröstete sich auf morgen. Der Alte würde sich schon beruhigen. Und dann würde er ihm alles erklären, ihm seine Schimäre ausreden. Er mußte ja einsehen, daß er richtig gehandelt hatte. Er bedauerte keinen Augenblick, was er getan. Er hatte studieren können, reisen – – . Sein Name hatte schon guten Klang in der Gelehrtenwelt ... nein, er bedauerte nichts.

Die ganze Nacht gellten schauerliche Flüche durch das stille Haus. Flüche in tatarischer Sprache, Flüche so entsetzlich, wie es die vom alten Achab Dunar gewesen sein mußten.

Der Enkel lag in seinem Bett und hielt sich die Ohren zu.

Am andern Morgen war Dunar spurlos verschwunden. Er hatte nichts mitgenommen aus dem verfluchten Hause, nicht einmal den Koran mit den silberbeschlagenen Ecken.

Achab wußte, es wäre vergeblich, den Vater zu suchen, ihn zur Umkehr zu bewegen. So lebte er denn weiter in demselben Hause – allein.

Ein Jahr später heiratete er. Seine Frau war jung, schön, reich, aus angesehener russischer Großkaufmannsfamilie. Bald darauf wurde ihm die Professur für Chemie an der Moskauer Universität angetragen, und als ihm seine Frau nach Jahresfrist einen Jungen schenkte, fehlte nichts mehr zu seinem Glück, und ein mitleidiges Lächeln huschte über sein Gesicht, wenn er an den barbarischen Fluch des Vaters dachte.

Das Kind war zwei Jahre alt, als die Wärterin eines Tages verzweifelt nach Hause kam und schrie, sie hätte das Kind verloren. Im großen Alexandergarten habe es gespielt, immer vor ihren Augen gespielt, mit anderen Kindern, und plötzlich, sie hätte sich kaum eine Minute abgewendet, um eine Blume zu pflücken, wäre das Kind verschwunden gewesen.

Die gesamte Polizei wurde aufgeboten, das Kind wiederzufinden – vergeblich. Die Mutter erkrankte und erlag eine Woche später einem Herzschlag.

Der Professor nahm Urlaub und reiste ins Ausland. Er war halb wahnsinnig vor Schmerz.

Da brach in Rußland die Revolution aus. Eine Depesche rief ihn zurück. Sein Vermögen, das er hauptsächlich in Spekulationspapieren angelegt hatte, schien ernstlich gefährdet.

Er hielt seinen Einzug in Moskau unter Kanonendonner und Gewehrknattern; er war achtundzwanzig Jahre alt und hatte völlig weißes Haar. Instinktiv lenkte er seine Schritte nach dem Tatarenviertel. Die Tore der Häuser waren verrammelt, er hörte Kinderschreien und Kinderlachen. Sein Herzschlag stockte; ihm war, als hätte er hinter einem verschlossenen Tor die Stimme seines Kindes gehört. Er hämmerte mit den Fäusten wie toll auf das eisenbeschlagene Holz, bis Schutzleute und Soldaten auf ihn zusprangen und ihn forttrieben.

»Mein Vater ist drin – mein Kind ist drin«, schrie er.

Man lachte über ihn, denn er war ein fein angezogener Herr mit goldenem Zwicker und goldener Uhrkette. Wie kam der zu einem Vater und zu einem Kinde im schmierigen Tatarenviertel? Der hatte wohl zuviel getrunken oder die Angst vor den Kanonen hatte ihn toll gemacht!

Er wankte weiter ohne Hut, ohne auf die Halterufe der Wachen zu achten, mitten durch fliehendes Volk, reitende Kosaken, unempfindlich gegen Hiebe und Stöße ... Er rannte immer weiter, immer geradeaus, dorthin, wo der Lärm am größten, das Gewehrknattern am schrecklichsten war.

»Wohin – wohin?« Rauhe Stimmen schrien es ihm entgegen. »Zurück!«

Und er taumelte wirklich zurück.

Aus seinem hübschen, hellen Hause prasselten die Flammen, schlugen schwarze Rauchwolken empor.

Nichts anderes fiel ihm in diesem Augenblick ein als der Koran, der noch immer in des Vaters Zimmer lag. Den Koran mußte er retten, das heilige Buch, von dem er sich abgewendet hatte. Wie erloschen waren die letzten zwanzig Jahre seines Lebens: er war wieder der kleine Achab, der dem Fürsten Dunar, seinem Vater, mit der heiligen Scheu das heilige Buch brachte, der gläubige Muselmann, der treu an den Gebräuchen seines Volkes hing, sein Leben für seinen Glauben ließ.

»Laßt mich – es ist mein Haus!«

Er stürzte vorwärts, Kugeln prasselten hinter ihm drein, das rohe Lachen der Kosaken gab ihm das Geleite.

Da ... jetzt war er im Zimmer des Vaters, der Qualm brannte ihm die Augen aus, drohte ihn zu ersticken. Er hatte es nie mehr betreten, dieses Zimmer, seit jenem Morgen, da der Vater daraus verschwunden war. Aber er hatte es instand halten lassen, als könnte der Vater jeden Augenblick zurückkommen. Da lag noch der persische Teppich, auf dem der alte Dunar so oft für ihn gebetet hatte, und hier auf dem Tisch der Koran.

Er stürzte sich auf das Buch und hob es triumphierend hoch. Wüstes Schreien und Rufen drang durch die Fenster herein, vermengte sich mit dem Donner der Kanonen, dem Knattern der Gewehre, dem Krachen der herabstürzenden Balken und – da ... prasselnd in tosendem Lärm fiel das Dach zusammen.

Sechs Stunden später wurde die Leiche des Professors unter dem schwarzen Schutt entdeckt. Er lag eingequetscht, aber nicht entstellt, zwischen schweren Balken, den Kopf auf dem halbversengten Koran mit silberbeschlagenem Einband.

Der Fluch des alten Tatarenfürsten hatte sich erfüllt.

*


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