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VII. Der Prophet.

Wenn wir den reichen Gedankeninhalt von Platons Leben in seinen Beziehungen zu der Griechenwelt betrachten, aus der er hervorgewachsen ist, so finden wir an allen Punkten ein eigenartig zwiespältiges Verhältnis zwischen beiden. Alle Motive seines Denkens stammen aus der griechischen Wirklichkeit und bewahren auch im Geiste des Philosophen ihre Ursprünglichkeit; aber das neue Gebilde, zu dem sie sich in ihm verschlingen, trägt gerade in seiner reifsten und feinsten Gestaltung ein fremdes, ungriechisches Gepräge. Mit allen Fasern in das nationale Leben eingewurzelt, sprengt das neue Gewächs den heimatlichen Boden und ringt sich in eine neue Welt empor.

So ist es schon mit seiner rein wissenschaftlichen Leistung, mit der Zweiweitenlehre. Die ethischen und erkenntnistheoretischen Gegensätze zwischen Sokrates und den Sophisten, die metaphysischen zwischen Heraklit und den Eleaten, die naturphilosophischen zwischen Anaxagoras und Demokrit, – das sind die Elemente, aus denen seine Dialektik ihre metaphysische Weltansicht gewinnt. Und siehe da, eine Lehre von der übersinnlichen Welt, von einer höheren Wirklichkeit springt heraus, der Glaube an eine Wahrheit, die kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat. Zahlreich sind die Anzeichen dafür, wie paradox dem Griechen die Ideenlehre war; am charakteristischsten erscheint die Anekdote, welche dem Diogenes den Ausspruch in den Mund legt: »den Tisch sehe ich, die Tischheit nicht«, – worauf ihm Platon geantwortet haben soll: »dafür fehlt dir eben das richtige Auge, – die Vernunft«.

Allein dies Ergebnis der Begriffsarbeit vermag sich sogleich ein Ahnen und Drängen der Volksseele zu assimilieren; der mystische Zug des dionysischen Kultus, das Schwärmen der vom Gott besessenen Seelen schmilzt in den Gedanken der höheren Welt ein und läßt in ihr das Reich der Geister, der Götter und Dämonen wiedererkennen. Aber eben damit wird dies Reich in edlerem Sinne vergeistigt und erhält einen sittlichen Inhalt. Aus dem Werk- und Weihedienst, dem Zauberkult der Sekte macht Platon einen moralischen Gottesdienst. Er erhebt – und das war wieder ein Gegenstand des Staunens und Verwunderns für den Griechen – den Unsterblichkeitsglauben zum Motiv des sittlichen Lebens; er macht vollen Ernst mit dem Gedanken des übersinnlichen Wesens und der himmlischen Bestimmung der Menschenseele, und er verlangt, daß sie ihr Erdenleben wesentlich danach einrichte. So viel schüchterne Ansätze dazu vorhanden sein mochten, bei ihm zuerst erscheint dies Prinzip als eine geschlossene Lehre und als eine gewaltige Predigt, – als eine düstere Mahnung in dem Erdengetümmel der Hellenenwelt.

Und diese Mahnung ertönt nicht nur an den Einzelnen, daß er seiner Seele Heil bedenke, sondern auch an die ganze Nation. Auch hier spricht Platon aus der Tiefe des Volksbewußtseins heraus; dem Schmerz und der Bedrängnis des geschlagenen und zerrütteten Staates gibt er Ausdruck, die Wunden des Krieges möchte er heilen, die Leidenschaften beruhigen, dem Zerfall des öffentlichen Lebens Einhalt tun. Wo es noch Brauchbares an alten Sitten und Einrichtungen gibt, da möchte er es erhalten und neu gestärkt wissen. Aber die neue Lebenseinheit, deren sein Volk bedürfen würde, um sich aus der Auflösung wieder zusammenzuraffen, kann er nicht im Umkreise des wirklichen Staats- und Gesellschaftslebens finden, er muß sie aus der religiösen Überzeugung holen, und so mutet er der griechischen Polis zu, eine Erziehungsanstalt für das ewige Leben zu werden. Auch in seiner sozialen Reform bricht mitten aus den Gewohnheiten des Griechentums ein neues, welterschütterndes Prinzip hervor.

So erhebt Platon über der Fäulnis und Zersetzung der griechischen Wirklichkeit die Fahne des Übersinnlichen. In der Hingebung an die höhere Welt besteht ihm allein das Heil des irdischen Daseins. Und so entsteht er seinem Volke als ein Prophet, der es aus seiner Not und Entzweiung zu neuem und besserem Leben erwecken will. Erfüllt und getragen von dem Bewußtsein einer neuen Wahrheit, die er als Offenbarung zu verkünden berufen ist, fährt er im lodernden Zorn gegen die Schäden der Zeit daher und sucht die Begeisterung für die neue Lehre in die Herzen seines Volkes zu pflanzen.

Aber der Prophet gilt nicht in seinem Vaterlande. Platons sozialpolitische Reform blieb völlig wirkungslos und mußte es bleiben; sie füllte den neuen Wein in den alten Schlauch. Die griechische Polis, die ihr bestes Wesen in Athen ausgelebt und abgelebt hatte, konnte den neuen Inhalt, den ihr Platon geben wollte, nicht tragen. So ist von unmittelbaren Wirkungen seines Versuchs in der griechischen Geschichte nichts zu verspüren. Auch das religiöse Leben, selbst in der ihm nahe stehenden Sekte, ging seinen alten Weg des hergebrachten Kult- und Zauberdienstes weiter; es vermochte weder den wissenschaftlichen noch den sittlichen Inhalt, den der Philosoph ihm hatte zuführen wollen, sich lebendig zu eigen zu machen; es ist keine Spur davon zu sehen, daß das Dogma, wie er es zu begründen begann, irgendwie über den Kreis der Akademie hinaus in der nächsten Zeit die religiöse Praxis vertieft und umgestaltet hätte.

Auch in der griechischen Wissenschaft hat Platon zwar tiefe und gewaltige Wirkungen ausgeübt, aber nicht in der Richtung, die ihm zunächst am Herzen lag. Die politisch-sozialen Interessen traten schon zu seinen Lebzeiten in der Akademie mehr und mehr zurück, und der Verein nahm einen rein wissenschaftlichen Charakter an. Dabei wurde – dem allgemeinen Zuge der Zeit gemäß – das Übergewicht der Gelehrsamkeit und der empirischen Forschung immer stärker, und was von metaphysischem Interesse übrig blieb, wurde von Platons Nachfolgern zuerst an pythagoreisierenden Zahlenspekulationen ermüdet und sodann, besonders durch Xenokrates, in rein theologische Bahnen gelenkt, so daß es in ein System der Götter- und Dämonenlehre auslief. Die Ideenlehre dagegen in ihrem rein philosophischen Sinne war sehr bald durch die glückliche Umbildung verdrängt worden, die ihr Aristoteles gab. Dieser hob die reale Scheidung des Wesens und des Werdens wieder auf; er lehrte wieder nur noch eine Welt, in der das Wesen selbst als Werden wirklich sei, und er fand diese Vermittlung durch den Begriff der Entelechie oder der Entwicklung. Damit gerade war das Ungriechische aus Platons Weltansicht wieder ausgeschieden, und deshalb wurde die aristotelische Lehre zu der abschließenden Metaphysik der griechischen Philosophie. In dieser abgeschwächten, insbesondere des Dualismus entledigten Form, mußten die schöpferischen Gedanken der Ideenlehre zunächst weiterwirken.

Am bedeutsamsten ist Platons Einfluß auf den Betrieb der griechischen Wissenschaft durch das große Beispiel der Organisation geworden, das er in der Akademie gegeben hatte. Sie wurde das Muster der übrigen Schulbildungen, die sich noch während des vierten Jahrhunderts in Athen vollzogen: der peripatetischen, der stoischen, der epikureischen. Der ausgedehnte und methodisch geregelte Fortgang der wissenschaftlichen Arbeit, die sich dann im alexandrinischen Zeitalter auch an den im Osten erstehenden Bildungszentren fortsetzte, geht zuletzt auf die Organisation der Akademie zurück, und wenn diese auch von Aristoteles in noch vollkommenerer und fruchtbarerer Weise ausgestaltet wurde, so lag doch ihr Ursprung und ihr Sinn immer in dem intimsten Wesen des platonischen Geistes.

Der Wettkampf dieser Schulen jedoch bezog sich nicht mehr auf metaphysische Prinzipien, sondern teils auf die erfolgreiche Bearbeitung der Spezialwissenschaften, teils besonders auf das sittliche Lebensideal. In letzterer Hinsicht suchte die Akademie eine ausgleichende Stellung einzunehmen, und wenn sie sich dabei in ihrer »Metriopathie« an die Güterlehre des »Philebos« hielt, so verzichtete sie doch auf den Abschluß, den diese dialektisch in der Idee des Guten gefunden hatte. Noch mehr wurde die Schule der Ideenlehre untreu, als sie für eine Anzahl von Generationen der skeptischen Denkart anheimfiel; und erst im letzten Jahrhundert v. Chr. sehen wir sie sich zu den Grundgedanken ihres Stifters zurückwenden.

Allein wenn so dasjenige, worin wir Platons Eigenart und die dem Griechentum fremde Neuheit seines Wesens gefunden haben, – dies Herausragen aus der sinnlichen in die übersinnliche Welt – auf seine nächste räumliche und zeitliche Umgebung einen im Ganzen nur schwachen Einfluß ausgeübt zu haben scheint, so ist doch im Laufe der Zeit die Wirksamkeit dieses Propheten aus seinem Volke, an das er zunächst dachte und sich wandte, mit siegreicher Gewalt zu weltgeschichtlicher Bedeutung hervorgebrochen, und was er wollte, ist in ungeahnter Kraft und Ausdehnung zur Verwirklichung gelangt. Haben wir bisher uns vorgeführt, was er für seine Schule durch die philosophische Lehre, für seine Gemeinde durch seine Theologie, für seine Nation durch seine Reformpläne getan und gewollt hat, so bleibt uns noch übrig, uns zum Bewußtsein zu bringen, was er mit all diesem gewesen ist und ist für – die Menschheit.

Die Gesellschaftsideale der »Politeia« und der »Gesetze« enthalten eine straffe Anziehung und zum Teil eine Überspannung des Staatsgedankens, die an die wertvollsten Erinnerungen der griechischen Geschichte appellierte und trotzdem in der allgemeinen Auflösung des griechischen Wesens wirkungslos verhallen mußte. Sie predigen aber nicht nur den Lokalpatriotismus des Stadt-Staates, sondern auch das griechische Nationalbewußtsein mit der eindringlichsten Kraft. Allein sie heben jede Form der Vaterlandsliebe auf eine ideale Höhe, indem sie ihr von den physischen Voraussetzungen her einen geistigen Inhalt zu geben suchen. Weder die natürliche Notwendigkeit noch die Interessengemeinschaft reichen zu dem Staatsbegriffe Platons aus; ein wahrhaft gemeinsames Leben, eine dauernde und wertvolle Zusammengehörigkeit von Menschen ist für ihn nur durch ihre intellektuelle Einheit möglich. Die Gemeinschaft der Überzeugung, das Zusammenarbeiten an dem geistigen Gesamtinhalt des Lebens ist das wahre Band, das die Masse der Individuen zu einer organischen Einheit verknüpft.

Damit spricht Platon den Begriff des Kulturstaates aus. Nur ein Grieche konnte es tun; denn kein Volk zuvor hatte die physische Lebensgemeinschaft und den technischen Apparat des Interessenausgleichs zu einem geistigen Gesamtleben gesteigert, dessen sich der Einzelne in freier Selbständigkeit bewußt werden durfte. Aber auch der Grieche mußte die allzu menschliche Wirklichkeit des Staatslebens seines Volkes auf das in ihr heraufdämmernde Ideal potenzieren, um zu dieser Formulierung ihres Wesens zu gelangen. Selbst wenn er jedoch sich dabei mit einem so dürftigen intellektuellen Gesamtinhalt der staatlichen Gemeinschaft begnügte, wie es in den »Gesetzen« geschah, so war eben trotzdem darin die Einsicht ausgesprochen, daß nur in solchem geistigen Gesamtleben die sittliche Berechtigung alles staatlichen Zwanges und aller Unterordnung der Individuen unter das Gesetz begründet ist. Und ohne jede unmittelbare Anlehnung an Platons Lehre ist die Geschichte der abendländischen Völker diesen Weg gegangen, daß ihre von den historischen Voraussetzungen aus wechselnden Staatenbildungen die geistige Einheit zu ihrem Richtpunkte genommen haben: das Prinzip der Nationalstaaten hat darin seine letzte und bedeutsamste Wurzel.

Für den Gewinn und die Aufrechterhaltung dieser geistigen Einheit des öffentlichen Lebens hat Platon das richtige Mittel in der staatlichen Erziehung gesehen. Die Forderung, die er damit aufstellte, kannte die griechische Gesellschaft nicht, und sie hat sie sich ebensowenig angeeignet wie die römische. Der Gedanke daran mußte den Völkern, die sich einer autochthonen, in sich selbst allmählich sich herausbildenden Kultur erfreuten, fremd sein und fremd bleiben. Er ergab sich dagegen von selbst für die nachkommenden Völker, die in eine überlieferte Kultur hineinwuchsen und mit ihrem staatlichen Leben den Zusammenhang einer intellektuellen Tradition übernahmen. Deshalb gilt uns heute die staatliche Erziehung als etwas völlig Selbstverständliches; sie stellt die innere Einheit des Volkes über dem Wechsel der Generationen, die geistige Selbsterhaltung und Selbsterneuerung des Staatskörpers dar, und sie gilt uns in ihrer ganzen Ausdehnung ebenso als ein unverbrüchliches Recht wie als eine unabweisliche Pflicht des Kulturstaates. Um so bedeutsamer erscheint es, daß Platon auch dieses Moment in seinem vollen Werte erkannt und es im Gegensatze gegen die Gewohnheit und die Meinung seines Volkes und seiner Zeit verlangt hat.

Mit der Verstaatlichung der Erziehung hängt aber auf das Innigste auch die Forderung Platons zusammen, daß die wissenschaftliche Bildung zur Regierung des Gemeinwesens berufen sei. Sie hat freilich niemals ihre Erfüllung in der radikalen Form finden können, daß nur den »Philosophen« die Herrschaft zugefallen wäre: davor hat die Geschichte das menschliche Geschlecht gnädig bewahrt. Aber schon das römische Reich hat in der Organisation seiner riesigen Verwaltung eines wissenschaftlich und technisch geschulten Beamtenstandes bedurft; die mittelalterliche Lebensordnung hat, zumal in bezug auf die Rechtsverhältnisse, ähnliche Erscheinungen zutage gefördert, und der modernen Welt ist der sokratisch-platonische Gedanke, daß die Befähigung zum staatlichen Amt durch eine theoretische Ausbildung gewonnen und bewährt werden müsse, wiederum so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er zum unentbehrlichen Bestandteil der heutigen Gesellschaftsordnung geworden ist. So mannigfach Geburt und Freundschaft, Vermögen und persönlicher Einfluß Ansprüche auf politische Bedeutung gewähren mögen – die Herrschaft derer, die etwas gelernt haben, das Schwergewicht des wissenschaftlich gebildeten Beamtentums ist ein platonisches Moment unserer sozialen Zustände, das auch das leidenschaftliche Interessengetriebe des parlamentarischen Regiments überdauern wird. Je mehr sich mit seiner fortschreitenden Entwicklung das menschliche Kulturleben auf den Ergebnissen seiner intellektuellen Arbeit aufbaut, um so weniger kann es der Aristokratie des Erkennens entraten, deren ideales Urbild Platon gezeichnet hat.

Ebensoweit hat Platon seiner Zeit vorausgeschaut, wenn er das Heil der Zukunft in der Herrschaft eines Dogmas suchte. Ein solches Verlangen war durch und durch ungriechisch. Denn das religiöse Leben der alten Völker bestand wesentlich im Kultus und ließ an sich der um dessen Bedeutung spielenden Phantasie den freiesten Spielraum. Nur einen Kultzwang kannte deshalb der antike Staat, und mehr hat auch der römische nie ausgeübt. In Platons Gedanken der Überzeugungseinheit aber, ohne welche ein vernünftiges Gemeinwesen nicht bestehen könne, lag von vornherein auch die Tendenz zu einem Gewissenszwange. Eine Lehre galt als die feste Grundlage des Staates, und zu den ersten Pflichten des Bürgers mußte deshalb auch die Anerkennung und Befolgung dieser Lehre gehören. Ihr gegenüber durfte von einer Freiheit und Selbständigkeit der Individuen keine Rede sein; sie waren nicht nur in ihrem Leben, sondern auch in ihrem Fürwahrhalten an jene höchste inhaltliche Einheit des Staatswesens gebunden.

Darin lag die große Gefahr des platonischen Grundgedankens. Die »Politeia« wie die »Gesetze« sprechen ihn mit voller Unumwundenheit aus. Wer der Wahrheit so sicher zu sein glaubt, wie Platon, wer in dieser Wahrheit das einzige Heil des irrenden und sündigenden Menschengeschlechts erfaßt zu haben meint, der muß verlangen, daß diese Lehre nicht nur die äußere Ordnung des gemeinsamen Lebens, sondern auch innerlich die Glaubensüberzeugung jedes einzelnen Mitgliedes dieses Gemeinwesens bestimme: denn nur dadurch kann der Einzelne ihm wirklich auch innerlich und vollkommen angehören.

Nun hat schon Platon selbst auf dem Übergange von der »Politeia« zu den »Gesetzen« diese dogmatische Einheit aus der philosophischen in die theologische Form übergeführt: und so betrachtet, kündet sich in seinen sozialpolitischen Forderungen die kirchliche Organisation der Gesellschaft an. Wir brauchen nicht einmal an die sekundären Analogien zu denken, welche das Priestertum des römischen Christentums zu den besitz- und ehelosen »Wächtern« der »Politeia« darbietet, oder an die bedingungslose Unterwerfung auch dieser »Gehilfen« unter den Geist und Zweck des Ganzen – es genügt schon das Merkmal des Glaubenszwanges und seiner Durchführung im bürgerlichen Leben, um die tiefe Verwandtschaft der römisch-katholischen Lebensordnung mit den sozialpolitischen Idealen Platons zutage treten zu lassen. Die Herrschaft der Lehre – das ist das Entscheidende in beiden. In diesem Sinne hat das mittelalterliche Gesellschaftssystem des Abendlandes tatsächlich erfüllt, was Platon vorahnend verlangt hatte, und die europäische Menschheit hat die Gefahren dieses Prinzips in ihrer ganzen Größe und Ausdehnung bis auf den letzten Rest auskosten müssen.

Allein noch tiefer greift Platons prophetische Bedeutung, und sie trifft damit das Tiefste und Edelste seines Wirkens. Sein Gedanke der übersinnlichen Welt, aus dem Griechentum geboren und vom Griechentum verschmäht, sollte das Lebensprinzip der Zukunft werden. Wenn aber der Schwerpunkt des menschlichen Wollens aus der irdischen Welt in das Jenseits verlegt wurde, wie es Platon mit aller Entschiedenheit verlangte, so begann damit die größte »Umwertung aller Werte«, welche unser Geschlecht in seiner Entwicklung erfahren hat. Eine Entwertung der Erdengüter des Besitzes und der Ehre und ebenso eine Entwertung der alltäglichen bürgerlichen Moral – das waren Folgerungen, die schon Platon zu ziehen kein Bedenken trug. Bedeutsamer jedoch als diese negative, war die positive Seite des Vorgangs: das Ergreifen der Werte der Innerlichkeit, die Erhebung des Heiles der unsterblichen Seele zum Mittelpunkte alles Wollens. Damit öffnen sich die Quellen eines völlig neuen Lebens, und niemand hat diese Verinnerlichung, die Vertiefung des Bewußtseins in sich selbst, der das Altertum als seinem letzten und höchsten Kulturergebnis zustrebte, so einfach und großartig ausgesprochen wie Platon.

Wie ein befremdendes Wunder tritt dieser Gedanke aus Platons Lebenswerk in die erdenfrohe Griechenwelt. Aber schon begannen – das gerade hatte er ja gesehen und verstanden –, schon begannen die Zeiten, in denen mit der völligen Zersetzung des öffentlichen Lebens, mit dem Verlust der politischen Selbständigkeit, mit dem Hereinbrechen des Elends eines durch Gewalt und Verbrechen zusammengehaltenen Weltreichs auch dem Griechen der Trank des Erdenlebens schaal wurde. Schon wußte der »Weise« nichts Besseres, als aus dem Weltlauf sich auf sich selbst, auf die »Unerschütterlichkeit« seines inneren Bewußtseins, auf den Selbstgenuß und die Selbstgenügsamkeit seiner »Tugend« zurückzuziehen. Die Flucht aus der Sinnenwelt begann, ein fieberhaftes Sehnen ergriff die Völker, und über den Trümmern des irdischen Glücks erschien die Ahnung einer übersinnlichen Seligkeit. So hat es nur weniger Jahrhunderte bedurft, um dem Gedanken, der in den Werken des attischen Philosophen als wissenschaftlich geformte Lehre geboren war, die Welt zu erobern und sie zum Platonismus zu bekehren.

Als dann um die Wende unserer Zeitrechnung das orientalische Religionsleben in die Kulturwelt der Mittelmeervölker einströmte, da wurde Platons Philosophie zum Kristallisationspunkt der größten Gedankenverschmelzung, welche die menschliche Geschichte gesehen hat. Der Dualismus der sinnlichen und der übersinnlichen Welt, wie ihn die Ideenlehre begrifflich darbot, wurde zum Grundriß aller religiösen Vorstellungen, und Platons Theologie wurde zur Mutter zahlreicher theologischer Systeme. Seitdem die Neupythagoreer damit begonnen, war der religiöse Platonismus für Jahrhunderte der einheitliche Grundzug des abendländischen Denkens, und er beherrschte als wissenschaftliches Prinzip die beiden größten Systeme des religiösen Glaubens: die Theologie des Neuplatonismus und die Kirchenlehre des Christentums.


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