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V. Der Theologe.

Platons Philosophie, wie das vorige Kapitel sie darstellt, entwickelte sich im folgerichtigen Zusammenhange aus den Voraussetzungen, die sie in dem ganzen Umfange der hellenischen Wissenschaft vorfand. Zur Tugend bedarf es eines anderen Wissens als des alltäglichen der Wahrnehmung: aber der Begriff ist nur dann Wissen, wenn er in einer anderen, einer höheren, unkörperlichen Welt seinen eignen Gegenstand hat; und dieses ewig gleiche Wesen ist doch zuletzt nichts anderes als der Sinn und die Vernunft, die dem wechselvollen Werden und der Körperwelt zwecktätig zugrunde liegt. So reich und mannigfaltig die Fragen sind, von denen die Dialoge ausgehen, und die Gegenstände, die sie behandeln, so gruppieren sich doch alle um jene einfachen und durchsichtigen Grundgedanken.

Allein deren Darstellung ist nun fast durchgängig mit anderen Gedanken durchflochten, die der bloß begrifflichen Entwicklung fremd sind und nicht nur dem Vortrage, sondern auch den Lehren selbst eine eigenartige Färbung geben: sie nötigen zu der Annahme, daß neben dem ethischen und dem intellektuellen noch ein anderes Motiv für die Ausbildung der platonischen Weltanschauung bestimmend gewesen ist.

Besonders deutlich tritt dies bei den sog. Mythen hervor, und man hat von jeher gefühlt, daß in ihnen ein merkwürdiger, eigner Erklärung bedürftiger Bestandteil der platonischen Werke vorliegt. Im allgemeinen verlaufen die Dialoge in der Form begrifflicher Untersuchungen, die mehr oder minder streng geschlossen sind und alle Interessen des griechischen Vorstellungskreises, insbesondere Kunst und Geschichte, gelegentlich berühren: aber mitten dazwischen, und z. T. an entscheidenden und hervorragenden Stellen, auf dem Höhepunkte oder am Schluß der Untersuchung, erscheinen Erzählungen, die in buntem und anmutigem Schmuck der Rede märchenhafte und mythologische Motive, wie es zunächst scheint, mit frei gestaltender poetischer Phantasie zur Ausmalung des Gegenstandes benutzen.

Die Deutung dieser Mythen hat viel Kopfzerbrechen gemacht, zumal da man meistens glaubte, alle solche ästhetisch ja besonders reizvollen Stellen nach demselben Prinzip erklären zu sollen. Das ist jedoch nicht angängig. Bald ist der Mythos nur eine Art herodotischen Fabulierens, wie im »Phaidros« die Historie von Teuth dem Buchstabenerfinder, – bald ist er nichts als ein breit und reich ausgeführtes Bild, das nicht als solches (wie das bekannte Höhlengleichnis in der Republik), sondern als Erzählung behandelt ist, z. B. der ein hesiodisches Motiv variierende »Mythos« von den drei Menschenarten in der Republik; – bald bringt der Mythos eine Allegorie wie im Kleinen das feine Geschichtchen von den Cicaden im »Phaidros« oder in großen Zügen die mit allen Mitteln der Phantasie ausgeführte Dichtung, womit im »Symposion« Aristophanes das Wesen des Eros schildert. Ähnlich verhält es sich mit dem Mythos über die ethischen Grundgefühle im »Protagoras«, falls hier nicht auch die mythische Form von dem Sophisten selbst stammt. In allen solchen Fällen ist das Mythische der Hauptsache nach schriftstellerisches Mittel; aber neben der künstlerischen Belebung und Veranschaulichung bemerken wir doch auch meistens noch einen Zug des Geheimnisvollen und Feierlichen, der auf ernstere Hintergründe deutet. Dies Moment aber steigert sich bei den eigentlichen und hauptsächlichen »Mythen«, deren Inhalt sich nicht aus dem Bildlichen ins Begriffliche umsetzen läßt. Hier wird meistens angenommen, daß Platon bei solchen Gegenständen, die sich dem begrifflichen Wissen entzogen, die dichterische Phantasie in der Richtung seiner Annahmen und Überzeugungen frei habe walten lassen. Solche Gegenstände aber seien für die Ideenlehre, die mit ihrer Dialektik auf das bleibende Sein gerichtet ist, alle Fragen des Geschehens, des Vergangenen namentlich und des Zukünftigen: daher erkläre sich denn z. B. auch der Dialog, der vom Ursprung der Körperwelt handelt, der »Timaios«, durchweg für mythisch.

Das ist nicht unrichtig, trifft aber den Hauptpunkt nicht. Alle die eigentlichen und wertvollen Mythen, die auf Vergleiche und Allegorien nicht zurückzuführen sind – sie finden sich im »Menon«, im »Gorgias«, im »Phaidros«, im »Symposion«, im »Phaidon« und am Schluß der »Politeia« – treffen in zwei entscheidenden Merkmalen zusammen: erstens führen sie sich als alte »Sagen« und als »Offenbarungen« greiser Seher und Seherinnen von priesterlicher Ehrwürdigkeit ein; und zweitens bewegen sie sich alle in ein und demselben Vorstellungskreise und beziehen sich auf ein und dieselbe Frage: auf das Geschick der Menschenseele im Jenseits vor und nach dem irdischen Leben. Das deutet unverkennbar darauf hin, daß diesen Mythen nicht nur im allgemeinen ein religiöses Motiv zugrunde liegt, sondern daß es sich in ihnen um die Vertretung der religiösen Lehren einer bestimmten Sekte handelt.

Denn die Vorstellungen von einer ursprünglichen Zugehörigkeit der Menschenseele zu einer höheren, unsichtbaren Welt, von ihrer sündigen Verirrung in den Leib und ihrer Reinigung und Erlösung aus allem körperlichen Wesen bilden das Grundthema aller dieser Mythen. Diese Vorstellungen aber waren weit entfernt, ein ursprüngliches Gemeingut der hellenischen Religion zu sein. Wie die letztere uns in den homerischen Gedichten entgegentritt, weiß sie im allgemeinen von solcher Trennung der Seele und des Leibes nichts und kennt auch keine metaphysische Geschichte der Seele: selbst die »Schatten« sind nur die abgeblaßten, leblosen Doppelgänger der ganzen leiblich-seelischen Persönlichkeiten.

Der Gedanke dagegen, daß die »Seele« als ein fremdes Wesen in den Leib fährt und aus ihm wieder ausfährt, daß sie aus höheren Regionen in ihn gebannt ist und aus ihm wieder erlöst werden soll, um dahin zurückzukehren – diesen Gedanken hat erst die dionysische Religion nach Griechenland gebracht. Als ein wilder Dienst des neuen Gottes ist sie, wie es scheint, aus dem thrakischen Norden hereingebrochen und hat wie ein Rausch und Taumel die Hellenen, besonders die weibliche Bevölkerung ergriffen. Unwiderstehlich riß – so läßt es uns Euripides miterleben – der göttliche Wahn (μανία) auch die Widerstrebenden mit sich fort zu dem nächtlichen Schwarmdienst, wo bei betäubendem Lärm und wüster Sinnenerregung die »Bakchen« durch die Berge und Haine schweiften – außer sich; denn sie hatten ihre Seele mit dem Gott getauscht, er wohnte in ihnen, sie waren ἔγϑεοι«, und dieser »Enthusiasmus«, diese »Ekstase« war der selige Zustand, die Befreiung von der alltäglichen Gefangenschaft der Seele im Leibe.

Der delphinische Apollon-Kult hat diese fiebernde Volksbewegung in sich aufgenommen, gebändigt und abgeklärt: in den orphischen Mysterien aber entwickelten sich jene Vorstellungen, die dabei dunkel und phantastisch zugrunde lagen, allmählich zu deutlicheren Lehren. Die Menschenseele ward zum Dämon; ursprünglich göttlicher Natur, gehörte sie der unsichtbaren Welt der Geister an, die überall in der sichtbaren Welt schweifen und schwärmen, zu gewissen Zeiten aber mit dem Gott als ein wildes Heer die Länder durchrasen. Der menschliche Leib ist für einen solchen Dämon ein Grab und ein Gefängnis: durch seine Schuld ist er darin und daran gefesselt. Deshalb aber wird der Dienst des Gottes zur Erlösung: durch geheimnisvolle Weihen soll die schuldige Seele entsühnt werden, der Kultus hat. die Reinigung (χάϑαρσις) der Seele zu seinem Inhalt, auf daß sie dereinst wieder aufsteigen könne zu den lichten Höhen ihrer Heimat, wo die Götter in ewiger Reinheit wohnen.

Solche Lehren erstarkten während des sechsten Jahrhunderts in Griechenland überall, und als ihre Vertreter erscheinen die Weihe- und Sühnepriester, die man in großen Volksnöten herbeiruft, um die bösen Dämonen zu beschwören: unabhängig von der Staatsreligion, die kein Dogma kennt, breiteten sich diese Sekten aus, in deren Kult und Lehre die Sorge um das Geschick der Seele den Mittelpunkt bildete. Je heißer die religiöse Inbrunst war, die sich dabei entfaltete, um so größer war die Gefahr, die darin für das intellektuelle Leben der Griechen lag, die Gefahr einer dogmatischen Erstarrung. Da ist es denn die Großtat der ionischen Naturforscher gewesen, daß sie das Nachdenken über die »Natur der Dinge« von dem religiösen Triebe freizumachen, den kosmogonischen Vorstellungen das poetische und mythologische Gewand abzustreifen und die Erkenntnis der Welt nur auf Beobachtung und Überlegung zu gründen unternahmen. Sie haben damit dem griechischen Geiste die Freiheit gewahrt, durch die er zum Lehrer aller folgenden Völker geworden ist.

Aber neben der Wissenschaft erhielten sich in den dionysischen Sekten als Glaubenssätze jene Lehren, in denen das religiöse Erlebnis des entsühnenden Enthusiasmus, der erlösenden Verzückung seinen theoretischen Ausdruck gefunden hatte – zwei starke geistige Strömungen, die nebeneinander herliefen, nicht ohne sich feindlich zu berühren, aber auch nicht ohne streckenweise friedlich miteinander zu gehen. Es ist von jeher aufgefallen, daß Männern wie Pythagoras und Empedokles Aussprüche zugeschrieben werden, welche mit den wissenschaftlichen Prinzipien, deren Vertreter sie in der Geschichte der Philosophie sind, sich nur äußerst schwierig und künstlich in Zusammenhang bringen lassen: alle solche Aussprüche aber bewegen sich in dem Vorstellungskreise der orphisch-dionysischen Seelenreligion, deren nahe Beziehung zu den pythagoreischen Kultgenossenschaften außer Frage steht.

Und das ist nun die eigenartige Stellung, welche Platon in der Geschichte des griechischen und damit des abendländischen Denkens einnimmt, daß er diese beiden Strömungen in ein Bett geleitet hat. Die Weltanschauung, die er auf dem Wege wissenschaftlicher Untersuchung als das Gesamtergebnis aller bisher aufgestellten Theorien gewann und begründete, war derartig, daß in ihrem Rahmen die Dogmen der dionysischen Seelenlehre Platz fanden und als notwendig sich daraus ergebende Folgerungen erscheinen konnten. Platon macht also den Versuch, religiöse Dogmen philosophisch zu begründen oder wenigstens als möglich und »wahrscheinlich« gelten zu machen: und in diesem Sinne ist er der erste Theologe. Seine Methode ist dabei die, den gedanklichen Inhalt jener Seelenlehre der Dialektik anzugleichen und ihn in die Zweiweltenansicht der Ideenlehre hineinzudeuten. Wenn so das Wesentliche der religiösen Vorstellung wissenschaftlich begründet erscheint, darf Platon im »Mythos« die anschaulich lebendige Form hinzufügen, welche die Gedanken, sei es in der Gemeinde und ihrem Kult, sei es in seiner eigenen, frei mit diesem Stoffe schaltenden Phantasie angenommen hatten.

Mit typischer Durchsichtigkeit ist diese Methode der platonischen Theologie besonders im »Phaidon« gehandhabt: die philosophische Interpretation richtet sich hier nicht, wie später bei Philon, auf religiöse Urkunden – solche gab es damals in Griechenland noch nicht –, wohl aber auf traditionelle, in der Festlegung begriffene Lehren und Anschauungen der Gemeinde: und eben darin besteht das spezifisch Theologische bei Platon. Deshalb aber dürfen wir auch andrerseits annehmen, daß sein lebhaftes, in der bestimmten Richtung dieser Sekten in Anspruch genommenes religiöses Interesse stark bei der Herausarbeitung der philosophischen Anschauung mitgewirkt hat, welche zur wissenschaftlichen Assimilation der dionysischen Seelenlehre geeignet war, – der Theorie von den beiden Welten.

Denn nun verstehen wir erst ganz die Bedeutung, welche die Welt des ewig gleichen, unkörperlichen und unsichtbaren Wesens für Platon besaß: die war nicht bloß der übersinnliche Ort der Ideen und der reinen Gestalten, sondern auch das Reich der Götter und Dämonen, aus dem die Menschenseele stammte, aus dem sie hinabgestiegen war in den Leib, dem sie aber doch dauernd angehörte, in das sie hinabschwärmte im Taumel bakchischer Begeisterung und in das sie nach ihrer Reinigung erlöst zurückkehren sollte. Und andrerseits läuterte der Theologe die religiöse Vorstellung zum wissenschaftlichen Begriff: aus der Geisterwelt ward ihm eine Geisteswelt, das Reich Gottes, der Vernunft, der Zwecke und der Ordnung. Das unsichtbare Weben und Schweben der Dämonen verwandelte sich in die Welt der Werte, in die lichte Sphäre der Idee des Guten. Man sieht leicht, welch eine vermittelnde und ausgleichende Rolle hier das Merkmal des »Unsichtbaren« spielt, das Platon an verschiedenen Stellen in diesem Sinne wirksam verwendet hat. Jene reine Welt der Ideen und der Geister ist ihm der wahre »Hades«.

Erfuhr aber die Ideenwelt diese theologische Umdeutung, so fielen dadurch mit einem Schlage alle die Schwierigkeiten dahin, welche in der dialektischen Behandlung dem metaphysischen Postulat einer Ursächlichkeit des Wesens in bezug auf das Werden entgegenstanden, und so konnten die Dogmen der orphischen Kosmogonie, welche Zeus als vernünftige Persönlichkeit zum Weltbildner erhoben hatten, in eine wissenschaftliche Form gebracht werden. Nichts anderes enthält prinzipiell der »Timaios«, in dessen phantasievoller Darstellung philosophische und theologische Ansicht auf die merkwürdigste Weise ineinander spielen. Die Tätigkeit und Wirksamkeit, welche die Ideen nach der dialektischen Bestimmung der Zweiweltenlehre eigentlich nicht besitzen durften, erscheint hier personifiziert in dem weltbildenden Gotte, dem Demiurgen. Er, der »gute« Gott, soll im Hinblick auf die ewig ruhenden Urbilder, die Ideen, die Welt aus dem »Nichts« geschaffen, d. h. aus dem Raum gebildet haben: er hat ihr die Seele und damit Leben, Bewußtsein und mathematische Ordnung gegeben und alles in ihr so gut als es möglich war, d. h. als es die »Mitursache«, der Raum, gestattete, eingerichtet. Er hat auch den »sichtbaren« Göttern, den himmlischen Sternseelen, und dem ganzen niedern Geschlecht der Dämonen und Seelen ihre Tätigkeit und Wirkungsweise bestimmt. So ist das Unsichtbare die »Ursache« des Sichtbaren geworden. Die philosophische Lehre des »Philebos« hat sich in eine theologische Schöpfungsgeschichte umgesetzt, die das kosmogonische Dogma mit Hilfe der Begriffe der Dialektik und der Theorien der Naturforschung zur wissenschaftlichen Ausführung zu bringen sucht.

Noch viel charakteristischer jedoch drängen sich die verschiedenen wissenschaftlichen Interessen Platons um den Begriff der Seele zusammen, der das Zentrum der dionysischen Religionslehre bildete. Hier werden zwei Begriffe von sehr verschiedenem Inhalt und Umfang zur Deckung und dadurch eine theologische Lehre zustande gebracht, die zwischen dem philosophischen Prinzip und der religiösen Vorstellung beständig herüber- und hinüberschillert. In Platons Metaphysik ist die »Seele« die Lebenskraft im allgemeinsten Sinne des Worts, die Ursache selbständiger Bewegung und der Träger des Bewußtseins, in der Weltseele nicht anders als in der Seele eines jeden besonderen Organismus, – als solche, wie wir sahen, ein Mittelding zwischen dem »Wesen« und dem »Werden«, worin sich das teleologische Verhältnis beider verwirklicht. In dem Dogma der Dionysosreligion dagegen ist die »Seele« die individuelle Persönlichkeit, das dämonenhafte Einzelwesen, das, als ein Fremdling aus der höheren Welt, im Menschenleibe wohnt, mit ihm leidet und sündigt und aus ihm zurückstrebt zu der unsichtbaren Heimat. So reden Philosophie und Dogma von der ψυχή, aber sie reden eigentlich in ganz verschiedenen Sprachen von ganz verschiedenen Dingen: die eine von den Ursachen der zweckmäßigen Erscheinungen des Lebens in der ganzen Weite der Welt, – das andere von der Menschenseele und ihrem Bangen um ihr ewiges Heil. Und diese beiden Bedeutungen des Worts läßt Platon, wo er als Theologe die religiöse Lehre wissenschaftlich begründen will, unmerklich ineinander übergehen, – ein Kunststück, das er nicht bewußt und absichtlich, sondern im Drange seiner innersten Überzeugungen, am vollkommensten im »Phaidon« und im »Timaios« ausgeführt, aber schon programmatisch im Beginne des großen Phaidros-Mythos verkündet hat.

Deshalb ist Platons Psychologie, deren Darstellung vielleicht im vorigen Kapitel vermißt worden ist, keine philosophische Doktrin und erst recht keine empirische Untersuchung, sondern ein theologisches Lehrstück, und zwar das wichtigste von allen. Denn die volle Bedeutung dieses Verhältnisses kommt erst darin zutage, daß, wie wir vorgreifend bemerken wollen, diese theologische Psychologie der begriffliche Grundriß ist, auf dem Platon seine sozialpolitische Theorie aufgebaut hat.

Charakteristisch für diese Psychologie ist das Schwanken zwischen zwei Richtungen: nach der einen soll der Seele, dem philosophischen Begriff gemäß, eine Zwischenstellung zwischen den beiden Welten und damit eine Doppelseitigkeit ihres eigenen Wesens gewahrt bleiben; nach der andern Richtung soll die Seele, der religiösen Vorstellung gemäß, als einheitliches Wesen dem höheren Reiche angehören. Der letztere Gedanke wird im »Phaidon« durch den Mittelbegriff des »Unsichtbaren« eingeführt. Wenn wir, heißt es dort, davon ausgehen, daß es eine Welt des Unsichtbaren und Unveränderlichen und eine Welt des Sichtbaren und Veränderlichen gibt, und daraufhin die Unterscheidung von Seele und Leib prüfen, so ist klar, daß der Leib zum Sichtbaren und Wechselnden gehört, die Seele aber, die ja »nicht zu sehen« (οὐγ δρατόν) ist, zum Unsichtbaren (ἀειδἑς): und so finden wir denn auch, daß die Seele, wenn sie sich ganz auf sich selbst besinnt, in sich die Erkenntnis der Ideen entdeckt und darin unveränderliche Ruhe und Einheit besitzt, wenn sie dagegen durch den Leib erkennen will, in die Unruhe und den Taumel der Wahrnehmungen, in den Wechsel der Meinungen verfällt. So ist offenbar die Seele dem Unsichtbaren »am ähnlichsten«. Mit unverkennbar vorsichtiger Ausdrucksweise sucht Platon hier die Verschiedenheiten der beiden Seelenbegriffe zu verschleiern und die Seele ihrem eigensten Wesen nach in die höhere Region zu weisen, so daß sie durch die Berührung mit dem Leibe in diesem ihrem eigensten Wesen getrübt und entstellt erscheint.

Andrerseits hat jedoch auch das theologische Denken Anlaß, in das Wesen der Seele selbst eine Beziehung zur Sinnenwelt zu setzen, und diesem Motive folgt Platon, wenn er die Seele als ihrer Natur nach in verschiedenwertigen Gestaltungen (εἴδη) betätigt darstellt. Der naturphilosophische Begriff der Ψυχή enthielt (vgl. oben S. 114 f.) eine Mischung aus dem Gleichförmigen und dem Veränderlichen; diesem theoretischen Gegensatze entsprach in dem theologischen Begriffe ein ethisch-religiöser.

Am glücklichsten hat ihn Platon in einer Stelle der »Politeia« an dem sittlichen Ideal der Selbstbeherrschung (ἑαυτοῦ ϰρείττω εἴναι) entwickelt. Es erinnert an die dialektischen Schwierigkeiten, die in der neueren Philosophie durch den Begriff des Selbstbewußtseins als des sich selbst zum Objekt habenden Subjekts oder der sich selbst zuschauenden Tätigkeit hervorgerufen worden sind, wenn Platon an jener Stelle zeigt, es müsse, um den Widerspruch im Begriffe des »Sich-selbst-beherrschens« zu beseitigen, angenommen werden, daß in der Seele etwas Beherrschendes und etwas Beherrschtes, etwas Besseres und etwas Schlechteres (beide Begriffspaare decken sich im griechischen Ausdruck ϰρεῖττον – ἧττον) enthalten sei: das Vernünftige (τὸ λογιστιϰόν) und das Vernunftlose. Aber die weitere Überlegung zeigt, daß auch in dem Vernunftlosen noch wieder eine Wertscheidung gemacht werden muß. Wenn die Selbstbeherrschung einen Sieg der Vernunft über die Triebe bedeutet, so ist sie nur dadurch möglich, daß es unter den Trieben edlere gibt, die sich der Vernunft willig fügen, während andre ihr dauernd entgegengesetzt sind. Innerhalb des Vernunftlosen ist also wiederum zwischen dem Edleren und dem Unedleren zu unterscheiden: jenes nennt Platon das Muthafte (τὸ ϑυμοειδές), dieses das Begehrliche (τὸ ἐπιϑυμητιϰόν). Das Verhältnis zwischen diesen drei Betätigungsweisen der Seele, der vernünftigen, der muthaften und der begehrlichen, hat Platon sehr glücklich im Phaidros-Mythos symbolisiert: das Bild der Seele ist ein Zwiegespann mit seinem Führer. Der Wagenlenker ist das »Vernünftige«; von seinen beiden Rossen ist das edlere das »Muthafte«, das dem Führer folgend nach oben strebt, das unedlere dagegen das »Begehrliche«, das widerspenstig nach unten drängt.

Diese Dreiteilung der Verhaltungsweisen der Seele muß man nicht auf eine Einteilung der Seelentätigkeiten beziehen, wie sie in der wissenschaftlichen Psychologie seit Aristoteles üblich ist. Bei Platon haben wir es mit einer zunächst ethischen Konstruktion zu tun, welche auf eine Wertunterscheidung der Arten des menschlichen Wollens oder der sittlichen Lebensrichtungen hinausläuft. »Das Vernünftige« strebt nach Weisheit, »das Muthafte« nach Ehre und Macht, »das Begehrliche« nach Genuß und Besitz. So scheiden sich die Menschen je nach dem Maße, wie ihr Streben auf eines der drei großen Güter gerichtet ist: Weisheit, Ehre und Geld; sie sind φιλόσοφοι oder φιλότιμοι oder φιλοχρήματοι. Es sind Charaktertypen, die Platon im Auge hat: und so sollen sich auch die Völker unterscheiden, wenn bei den Hellenen die Liebe zur Weisheit, bei den kriegerischen Stämmen des Nordens das Muthafte, bei den üppigen Südländern die Genußsucht überwiegt.

So geistreich und ansprechend diese Betrachtung an sich ist und so glücklich sie Platon in seiner Gesellschaftslehre zu verwenden gewußt hat, so schwer ist es ihm – er sagt es in der »Politeia« selbst – geworden, sie theoretisch mit dem Begriff der Seele als einfacher Individualität, als religiöser Persönlichkeit in Einklang zu bringen. Das formale Problem, wie das Einfache (μονοειδές) zugleich ein Vielgestaltiges (πολυειδές) sein soll, verschärft sich durch die sachliche Schwierigkeit, wie das Verhältnis der an sich unkörperlichen Seele zum Körper gedacht werden soll. Wenn jede Menschenseele (und so ist es im »Phaidros« und in der »Politeia« gemeint) alle drei Richtungen, nur immer in besonderer Mischung, in sich haben soll, so liegt ja in ihrem Wesen eine Beziehung auf das Körperliche; denn die beiden niederen Formen, das Muthafte und das Begehrliche, sind auf Güter der sichtbaren Welt gerichtet. Daher erscheint im »Phaidros« die Seele schon in ihrer vorirdischen Existenz mit der sinnlichen Neigung behaftet, und das unedle Roß zieht sie zur Erde hinab, wo sie im Menschenleibe geboren wird. Dementsprechend nimmt im »Phaidon« die Seele, wenn sie im Tode aus dem Leibe ausfährt, auch ihre sinnliche Begierde und irdische Leidenschaft mit, und wenn diese noch stark genug sind, so halten sie die Seele an der Erde fest und zwingen sie schließlich wieder in einen irdischen Leib zu fahren.

Das war konsequent, wenn die Seele, wie es der »Phaidon« betont, als einheitliche Persönlichkeit gedacht wurde: aber es war schwer vereinbar mit der Vorstellung von der an sich unkörperlichen, im Körper nur als fremder Gast wohnenden Seele. Die beiden Merkmale des theologischen Seelenbegriffs stießen hart und unvereinbar aufeinander. Das scheint Platon später auf den Gedanken gebracht zu haben, jene drei Verhaltungsweisen (εἴδη) ausdrücklich als Teile (μέρη) aufzufassen, aus denen die »Seele« des Menschen im Erdendasein zusammengesetzt sei, die aber dann auch wieder trennbar sein müssen. So lehrt er im »Timaios« und verlegt dabei die einzelnen Teile in den Kopf, in die Brust und in den Unterleib. Als die wahre, die eigentliche Seele, als »der innere Mensch im Menschen«, wie Platon an andrer Stelle sagt, erscheint dann die Vernunft, und die beiden andern Teile, das Muthafte und das Begehrliche, wachsen ihr nur während des Erdenlebens als entstellende Hüllen an, um später von der geläuterten Seele wieder abzufallen. Wenn jedoch diese Auffassung dem Merkmal der Reinheit und Unkörperlichkeit im Begriffe des Seelendämons genügend Rechnung trug, so kam dabei, weil die »Vernunft« in allen dieselbe ist, das andre Moment, dasjenige der individuellen Persönlichkeit, zu kurz.

Dieselben unlösbaren Schwierigkeiten des theologischen Seelenbegriffs zeigen sich nun in der für das dogmatische Interesse so wichtigen Lehre von der Unsterblichkeit. Die Seele ist ein Dämon, göttlichen Wesens, und die Götter sind die Unsterblichen, die Ewiglebenden; so ist auch das Leben der Seele unabhängig von dem vergänglichen irdischen Körper, sie hat vor ihm gelebt und sie wird ihn überleben. Das war das neue Dogma der Dionysosreligion, an dem vor allem die Annahme der Präexistenz der Seele vor dem irdischen Leben am fremdartigsten in die griechische Vorstellungswelt eindrang. Läßt doch Platon einen gebildeten Athener zu Sokrates sagen, davon habe er noch nie etwas gehört. Platon selbst dagegen hält das Lehrstück für so wichtig, daß er nicht nur häufig darauf eingeht, sondern auch ihm bekanntlich einen ganzen Dialog, den »Phaidon«, gewidmet hat, um die wissenschaftlichen Beweise für das Dogma beizubringen.

Diese Beweise gehen nun wieder entweder von dem philosophischen Seelenbegriffe oder von dem theologischen aus, der natürlich in dem Dogma allein gemeint ist. Im ersteren Falle leiden sie deshalb an dem Mangel des Zuvielbeweisens. So ist es, wenn im »Phaidros« die These »jede Seele ist unsterblich« durch den Gedanken begründet werden soll, daß das Prinzip der Bewegung keinen Anfang und kein Ende haben könne. Wäre das Argument richtig, so träfe es jede »Seele« im naturphilosophischen Sinne des Worts, also auch jede Tierseele. Dasselbe gilt von dem dialektischen Hauptbeweis im »Phaidon«. Das Leben ist das wesentliche Merkmal der Seele; kein Begriff aber kann das kontradiktorische Gegenteil seines wesentlichen Merkmals zur Eigenschaft haben; folglich schließt die Seele das Gegenteil des Lebens, den Tod, aus. Daraus folgt nun zunächst die Binsenwahrheit, daß die Seele, sofern und solange sie existiert, nur lebendig und nie tot sein kann: Platon aber folgert daraus, indem er den Ausdruck ἀϑάνατον (zu deutsch genau »was den Tod ausschließt«) mit der Unvergänglichkeit (ἀνώλεϑρον) gleichsetzt, die »Unsterblichkeit« im populär-theologischen Sinne des Worts. Gesetzt aber nun auch, dieser Fehlschluß wäre richtig, so träfe er wiederum die »Seele« in der allgemeinen Bedeutung als Lebenskraft und nicht als religiöses Subjekt.

Um im letzteren Sinne überzeugend zu sein, müßte für beide Beweise die Identität der beiden Seelenbegriffe, des philosophischen und des theologischen, hinzugenommen, d. h. es müßte vorausgesetzt werden, daß auch die niederen Seelen ihrem Wesen und Ursprung nach dämonisch, d. h. mit den Menschenseelen gleichartig seien. In der Tat finden sich Anzeichen, daß Platon (vielleicht mit den Orphikern) diese paradoxe Konsequenz gezogen hat. Sie führt auf die – im »Timaios« angedeutete – Lehre, daß die Zahl der »Seelen« beschränkt sei und daß die einmal geschaffenen auf der Wanderung durch alle Organismen des Kosmos begriffen seien.

Eine ähnliche Annahme drängt sich bei dem Gedankengange auf, mit dem die Beweise des »Phaidon« beginnen. Mit Benutzung heraklitischer Sätze wird hier gezeigt, daß, wie aus den »Lebenden« die »Toten« werden, so auch die »Lebenden« aus den »Toten« geworden sein müssen. Dabei muß man es in Kauf nehmen, daß unter »Leben« die Existenz im Menschenleibe, unter »Totsein« dagegen von vornherein die jenseitige Existenz verstanden wird: im Ganzen soll die Vorstellung begründet werden, daß »Leben« und »Totsein« – in diesem Sinne – abwechselnde Existenzformen der in all dem Wechsel beharrenden Seelen seien. Gilt das nun zunächst als Beweis der Präexistenz der Seele vor dem irdischen Leben (aus der dann die Postexistenz durch Analogieschluß folgen soll), so wird der Beweis hinsichtlich der geistigen Identität der Seelen durch die Berufung auf die Lehre von der ἀνάμνησις (daß alles dialektische Wissen Erinnerung sei) ergänzt, und damit erst handelt es sich um die Präexistenz, bezw. um die Unsterblichkeit des geistig-persönlichen Seelenwesens.

Dabei liegt die Sache, was den »Beweis« anlangt, in Platons Schriften so: Im »Menon« war die Frage, wie der Mensch zu einem Wissen kommen könne, das aus den Wahrnehmungen seines irdischen Lebens nicht zu gewinnen ist, mit einer noch problematischen Berufung darauf beantwortet worden, daß in religiösen Dingen erfahrene Leute der Meinung seien, die Seele des Menschen sei »unsterblich«, sie habe schon vor der Geburt mancherlei erlebt und erschaut, und sie könne sich nun wohl darauf wieder gelegentlich besinnen. Dann folgte im »Phaidros« mit unmittelbarer Beziehung auf die göttliche Erleuchtung (μανία) die große und grundlegende Offenbarung: die Seelen sind unsterblich; sie sind dereinst mit den Göttern aufgefahren, um die Welt der reinen Gestalten zu schauen. Aber sie sind schwach und das Begehrliche in ihnen ist stark geworden. Deshalb haben sie Menschen werden müssen, und wenn nun der Anblick des irdisch Schönen in ihnen die Erinnerung an jene reine Schönheit erweckt, die sie am himmlischen Orte geschaut, so regt sich in ihnen die Sehnsucht, der philosophische Trieb.

In diesem theologischen Zusammenhange verstehen wir noch einmal, was Platons Lehre vom ἔρως bedeutet. Die Seele ist göttlicher Natur und hat die reinen Gestalten der unsichtbaren Welt dereinst mit ihrem geistigen Wesen geschaut: wenn sie jetzt in ihrer begrifflichen Einsicht sich jenes ersten Schauens entsinnt, so ist die Liebe, die ringende Sehnsucht, die sich ihrer dabei bemächtigt, nichts anderes als das Heimweh der Seele nach ihrem überirdischen Ursprung, nach dem göttlichen Leben, das ihr dereinst zuteil wurde: es ist der Schmerz, womit der gefallene Dämon zurückstrebt in das verlorene Paradies seines reinen und wahren Wesens.

Auf diese Offenbarungen beruft sich nun der »Phaidon«, um zu zeigen, daß die Ideenlehre mit der Annahme, alles Wissen sei »Erinnerung«, stehe und falle, und daß sie deshalb die Präexistenz der Seele vor dem leiblichen Leben unbedingt voraussetze. Daran knüpft sich dann der weitere Beweis, daß die Fähigkeit der Menschenseele, die Idee in ihrer Reinheit und Einheit zu erfassen, ihre Verwandtschaft mit dem Unsichtbaren und Unvergänglichen dartue. Der Mensch ist unsterblich, weil er das Ewige, das Unsichtbare sich in seiner Erkenntnis zu eigen machen kann: und seine Seele beweist, daß sie höheren und edleren Wesens ist. dadurch, daß sie, weit entfernt ein Ergebnis körperlicher Bewegungen zu sein, vielmehr als selbständiges Wesen den Körper regiert und von seinen Antrieben sich frei zu machen, seinen Begierden selbständig entgegenzuwirken vermag. So versucht Platon, das dionysische Dogma von der Unsterblichkeit der Menschenseele aus den Prinzipien der Ideenlehre abzuleiten.

Allein die Schwierigkeiten, die sich für die Bestimmung des Wesens der Seele aus ihrer philosophischen und theologischen Doppelnatur ergaben, setzen sich nun auch bis in diese Lehren fort und spitzen sich in der Frage zu, was denn nun an der Seele »unsterblich« sei. Im »Phaidon« wie im »Phaidros« und auch in der »Politeia« wird die ganze Seele in ihrer metaphysischen Einheit sowohl als präexistierend als auch als postexistierend gedacht: es ist das dämonische Einzelwesen, das alle seine Zustände und seine wechselnden Verbindungen mit irdischen Leibern überdauert. Heißt es doch in der »Politeia« mit populärer Gelegenheitswendung, die Unsterblichkeit der Seele gehe schon daraus hervor, daß sie an ihrer eigenen (sittlichen) Verderbnis nicht zugrunde gehe: um wie viel mehr müsse sie gegen jedes von außen kommende Verderben gefeit sein! Wo dagegen, wie im »Timaios«, die »Vernunft« als der höhere Seelenteil von den niederen realiter geschieden gedacht wird, da ist er, während die andern mit dem Leibe vergehen, der allein unsterblich überlebende: er wird das »Göttliche« (τὸ ϑεῖον) genannt, die vergänglichen Teile dagegen zusammen »das Sterbliche« (τὸ ϑνητόν). Aber das ist dann eben, wie schon oben bemerkt, nicht mehr eine individuelle und persönliche Unsterblichkeit, und damit fällt die Lehre in sich selbst zusammen.

Denn der Zweck und die Bedeutung der Unsterblichkeitslehre liegt selbstverständlich in den Folgen, die sich daraus für das Geschick der Seele im zukünftigen Leben ergeben. Und hierin hat nun Platon den großen Schritt getan, diesen Vorstellungen ein durchweg ethisches Gepräge zu geben. Die Mysteriendienste lehrten in dieser Hinsicht eine Art von Werkheiligkeit: der aus der unsichtbaren Geisterwelt in den Menschenleib verirrte Dämon soll durch den religiösen Kult gereinigt, entsühnt und erlöst werden; aber die Mittel dazu sind die rituellen Formen des Gottesdienstes. Sie haben eine Zaubergewalt, die sich an jedem, der sie erfüllt, unabhängig von seiner inneren Qualifikation, bewähren muß. Das ist eine allen ursprünglichen Formen des religiösen Lebens gemeinsame Auffassung. Sie hat offenbar auch die dionysischen Sekten durchaus beherrscht: aber sie konnte dem Philosophen, der aus der Schule des Sokrates kam, nicht genügen. Er gab ihr eine ethische Bedeutung, und wenn er darin auch vielleicht schon an den Orphikern und sicher an Pythagoras und den Pythagoreern in gewissem Sinne Vorgänger gehabt hat, so ist doch seine Stellung in diesen Dingen die, daß er in viel eindringlicherer und wirksamerer Weise von seiner philosophischen Überzeugung her die dionysische Religion auf eine sittliche Höhe gehoben hat, die sie vor ihm nicht besaß: er führte der Lehre vom Geschick der Seele in ganzer Ausdehnung das Prinzip der sittlichen Verantwortlichkeit und Vergeltung zu. So gab der Philosoph der Religion zurück, was er von ihr empfangen hatte: und wenn wir annehmen dürfen, daß seine Mythen über das Leben nach dem Tode zum Teil die Vorstellungen benutzen, die in jenen Sekten vielleicht aus uraltem Glauben überliefert wurden, so hat er sie andrerseits mit seinem sittlichen Idealismus durchsetzt und umgestaltet und ist dadurch zu einem religiösen Reformator geworden. Es bleibe nicht unerwähnt, daß die Ethisierung der überlieferten Religion eine allgemeine Erscheinung jener Zeit ist. Sophisten und ihre kynisch-stoischen Nachfolger vollzogen sie an der Staatsreligion, Platon an dem dionysischen Erlösungskult.

Die Mythen, worin Platon diese Lehren vorträgt, wollen selbstverständlich, was den sinnlichen und anschaulichen Apparat anlangt, den sie verwenden, auf buchstäbliche Wahrheit keinen Anspruch machen: dazu sind sie schon zu mannigfach und miteinander unvereinbar. Derselbe Grundgedanke erscheint in sehr verschiedener bildlicher Einkleidung; Platon verschmäht es nicht, in ein und demselben Dialoge (im »Phaidon«) zwei völlig disparate Schilderungen von dem Zustande der Seele nach dem Tode zu geben; ja, er trägt kein Bedenken, gelegentlich solche Scherze dabei zu machen wie die schalkhafte Behauptung im »Timaios«, Astronomen, die, an der sinnlichen Auffassung haftend, die wahre Theorie verschmähten, würden später einmal in Vögel verwandelt werden. Dennoch gilt für ihn überall, daß zwar die sinnlich-buchstäbliche Wahrheit des Mythos nicht behauptet werden könne, aber doch die Überzeugung feststehe, »es müsse sich ungefähr so verhalten«, und an einer Stelle spricht er es sogar direkt aus (im »Gorgias«), daß, was der Leser für einen Mythos halten werde, das Totengericht, für ihn begriffliche Wahrheit (λόγος) sei.

So ist es vor allem nicht im allegorischen, sondern im eigentlichsten Sinne zu verstehen, wenn das unsterbliche Leben der Seele sich bei Platon als Seelenwanderung darstellt. Diese Vorstellung entsprach dem Wesen der dionysischen Religion am meisten: der Gott zieht mit den schwärmenden Dämonen durch die Welt, und im orgiastischen Taumel nimmt der Geweihte verzückt daran Teil, um den Fesseln des Leibes entrückt zu werden. So schweift die Seele von Leib zu Leib in ewiger Unruhe, und die Seligkeit, die als höchstes Ziel der religiösen Inbrunst vorschwebt, besteht darin, daß die Seele endlich aus dem Elend dieser Wanderungen erlöst und in die unsichtbare Heimat zurückgenommen werde.

Platon schildert im »Phaidros« mit glänzender Phantasie den Zug des Seelenschwarms, wie er im Gefolge der Götter zu dem himmlischen Orte auffährt. Aber die Bannung in den Menschenleib wird in seiner Darstellung durch den Abfall der Seelen verwirkt: ihr Schauen ist zu schwach und das Begehrliche in ihnen zu stark, als daß sie nicht aus der reinen Höhe zur Erde niedersinken sollten. So werden sie durch ihre Schuld Menschen und je nach dem Maße dessen, was sie aus der Ideenwelt zu schauen vermocht haben, in absteigender Linie Philosophen, Könige, Staatsmänner, Ärzte, Wahrsager, Dichter, Handwerker, Sophisten oder Tyrannen – eine für Platons praktische Lebensauffassung höchst charakteristische Wertung der Berufe und Stände.

Im »Timaios« sind die Seelen anfänglich den Sternen zugeteilt und werden, nachdem sie dort die Herrlichkeit der Welt geschaut, in den inneren Kosmos gesandt, um ihn zu beleben: dies wird zwar hier nicht als Strafe für einen Fall, sondern als göttliche Lebensordnung betrachtet; aber das weitere Geschick der einzelnen wird dann wieder von ihrer sittlichen und intellektuellen Leistung abhängig gemacht. Bei der ersten Geburt werden sie alle Männer, bei den weiteren aber je nach ihrer Unwürdigkeit Weiber, Vögel, Landtiere und Wassertiere: und so werden sie alle ewig nach ihrer Weisheit und Torheit ausgetauscht und verwandelt.

Immer wird bei dieser Wanderung der Seelen durch die Welt jedes folgende Leben als die Vergeltung, als Lohn oder Strafe für die intellektuelle und sittliche Führung in dem vorhergehenden Leben betrachtet. Im »Phaidon« wird (im ersten Mythos) diese Neugeburt als eine natürliche Notwendigkeit durch Ähnlichkeiten der menschlichen Charaktere mit Tiertypen dargestellt: die Schlemmer fahren in Esel, die Gewalttätigen in Wölfe oder Geier, die Philisterseelen in Bienen und Ameisen oder wieder in schlichte Spießbürger. An andern Stellen dagegen, wie im »Gorgias«, am Schluß des »Phaidon« und der »Politeia« wird mit allen Mitteln erregter Phantasie das Totengericht geschildert. Da werden die Unverbesserlichen zu ewigen Strafen hinabgestoßen, die Sünder, an denen noch nicht alle Hoffnung verloren ist, durch Schrecken und Qualen gebessert, andere, die sich leidlich im Rahmen bürgerlicher Rechtschaffenheit gehalten, zu neuer Prüfung ins Menschenleben gesendet, und nur die »Philosophen«, die in der wahren Einsicht auch das Heil der Seele erfaßt haben, dürfen in das Lichtreich der Götter eingehen. So fehlt es nicht an Hölle, Fegefeuer und Himmel, und der »Phaidon« bietet den ganzen bunten Apparat einer phantastischen Kosmographie auf, um alle die Stätten der Strafe und des Lohns, der Prüfung und der Läuterung mit stark aufgetragenen Farben zu schildern. Wie weit dabei und an ähnlichen Stellen Bilder aus dem Mysterienkult verwendet und poetisch ausgeschmückt werden, läßt sich im einzelnen nicht bestimmen.

Im »Phaidros« und in der »Politeia« werden auch die Weltzeiträume bestimmt, für welche die Seelen zur Wanderung und sühnenden Läuterung verurteilt sind: sie schwanken zwischen 1000 und 10 000 Jahren. Dabei scheint die Vorstellung obzuwalten, daß nach Ablauf des großen Weltjahres alle Seelen, auch die, welche darin zur Seligkeit gelangt waren, die Wanderung von neuem antreten müssen. Sie haben dabei nach eigner freier Entscheidung das ihnen selbst verborgene Erdenlos zu wählen, mit dem sie den Kreislauf wieder beginnen sollen.

So mischen sich auch in den Mythen die metaphysischen und die ethisch-religiösen Motive: die Wanderung der Seelen ist zum Teil durch die Weltordnung, zum Teil durch ihre eigne Schuld bestimmt: und diese Schuld wiederum wird bald in einer dem einzelnen Erdenleben vorhergehenden und es in seinem sittlichen Wert von vornherein bestimmenden Wahlentscheidung, bald in der ganzen Führung des vorhergehenden Erdenlebens gesucht, Weltgesetz und persönliche Verantwortung, Schicksal und Freiheit entscheiden über des Menschen Leben und Leiden. Mit feinen und tiefsinnigen Andeutungen ziehen sich diese Probleme durch die schimmernde Bilderreihe der Mythen hin und bleiben dahinter als große Rätsel stehen, die nur die Anschauung zu ahnen, aber der Begriff nicht zu gestalten vermag.

Auf diesen Glaubenssätzen von der übersinnlichen Natur der Seele, von ihrer Unsterblichkeit und ihrer Sühnewanderung durch die Welt beruht nun auch Platons theologische Ethik, wie sie hauptsächlich im »Phaidon« vorgetragen und sonst nur im »Gorgias« und im »Theaetet« gelegentlich angedeutet wird. Sie steht mit der sittlichen Lebensansicht, die sich im »Symposion« und im »Philebos« auf den Grundlagen der Dialektik und der teleologischen Metaphysik aufbaut (vergl. oben S. 107 ff.), in einem schroffen und schwer vereinbaren Gegensatze. Sie vertieft und verschärft den Dualismus, der in jener harmonisierenden Auffassung ausgefüllt und versöhnt werden sollte. Dieser Gegensatz kann nicht geleugnet, er kann aber auch nicht durch die Annahme verschiedener Entwicklungsstufen Platons begreiflich gemacht werden. Es wäre nicht zu sagen, welches der frühere, welches der spätere Standpunkt gewesen sein sollte. Wir haben allen Anlaß zu glauben, daß der »Phaidon« zeitlich zwischen das »Symposion« und den »Philebos« fällt, dem letzteren aber nicht sehr fern steht. Es bleibt daher nur übrig, anzunehmen, daß es sich hier um einen unausgeglichenen Gegensatz in Platon selbst, um einen Widerspruch, den er nicht zu überwinden vermochte, handeln muß. Den letzten sachlichen Grund davon bildet das Widerspiel des positiven und des negativen Moments, die beide notwendig in dem Verhältnis der zwei Welten gegeben waren (vgl. oben S. 83 f. und unten S. 156 f.): aber zugleich ist dieser Widerspruch bei Platon doch der zwischen dem philosophischen und dem theologischen Denken.

Denn für das letztere kann nun allerdings unter Voraussetzung jener Glaubenssätze die Erden weit mit allen ihren Gütern und insbesondere der Menschenleib mit allen seinen Bedürfnissen nur als ein zu besiegendes Hemmnis, als ein zu bekämpfender Feind betrachtet werden; eine Fessel, die gesprengt werden, eine Hülle, die abgestreift werden soll. Ist die göttliche, unkörperliche Seele, gleichviel ob durch Schicksal oder Schuld, in dieses Jammertal und in diesen unreinen Körper gebannt, so kann ihre Aufgabe nur sein, sobald wie möglich sich davon zu befreien und in ihre unsichtbare Heimat zurückzukehren. Die Moral dieser Theologie muß weltverneinend und weltflüchtig, düster und asketisch sein. Daß Platon, der griechische Künstler, der die Ideen durch die Sinnenwelt durchleuchten sah, und der eifrige Politiker, der dem Traume nachhing, die Menschen weit nach der Idee zu gestalten, – daß dieser Platon die Moral des »Phaidon« predigen konnte, das zeugt von der Tiefe und Stärke seines religiösen Gefühls und der darin gegründeten Überzeugung. Er zieht die Folgerungen mit jener Schroffheit und Weltfremdheit, die den Anfangsstadien der Bildung religiöser Lebensanschauungen eigen zu sein pflegt. Und deshalb wird es immerdar zu den ergreifendsten Erscheinungen der Weltliteratur gehören, mit welcher künstlerischen Verklärung Platon gerade diese Lehre dem sterbenden Sokrates in den Mund gelegt hat.

Charakteristisch für diese Schroffheit der theologischen Moral ist zunächst im »Phaidon« die abschätzige Beurteilung, ja die scharfe Zurückweisung der gewöhnlichen, alltäglichen Tugend: ihr wird hier nicht einmal der Wert einer Vorstufe zuerkannt, vielmehr deckt Platon schonungslos die Widersprüche ihrer Motive auf. Sie ist tapfer aus Furcht und Feigheit; denn sie will dem vermeintlich größten aller Übel, dem Tode, entgehen. Sie ist enthaltsam aus Begehrlichkeit; denn sie verzichtet auf die einen Genüsse nur um der andern willen. Es ist eine tief einschneidende Kritik aller utilistischen Moral, wenn Platon ihre Gesinnung als einen Tauschhandel bezeichnet, wo man Lust gegen Lust, Schmerz gegen Schmerz und Furcht gegen Furcht »wie Münzen« umwechselt. Sie ist ein Messen und Wägen, das nur mit den Scheingütern der Erde, Besitz und Ehre, rechnet.

Die »philosophische Tugend« dagegen richtet sich nur auf das Eine, worin die Zugehörigkeit der Seele zur übersinnlichen Welt und ihre Gottähnlichkeit besteht: die Erkenntnis der Wahrheit. Die Seele ist des Menschen besserer Teil; deshalb soll er sie pflegen und nicht den Leib. Darum werden für den Philosophen alle Güter der Erde gleichgültig; er kümmert sich nicht um Geld und Gut, nicht um Macht und Ehre. Darum weiß auch der Philosoph – so heißt es im »Theaetet« – in dem Getriebe des Menschenlebens sich nicht einzurichten. Er tappt darin herum wie ein Blinder, – denn sein Auge ist nach innen und nach oben zu der höchsten Wahrheit gerichtet. Und es lohnt sich nicht für ihn, sich mit den Dingen dieser Welt zu befassen, in der alles schlecht und unvollkommen ist. Er soll vielmehr sich in sich selbst zurückziehen, um unbeirrt durch sinnliche Empfindungen und Gefühle dem Wissen nachzutrachten.

Denn da die Seele unkörperlichen Wesens ist, so kann sie durch die Berührung und die Beschäftigung mit der Körperwelt nur befleckt und ihrer wahren Bestimmung entfremdet werden. Der Leib ist ihr Kerker, und jeder Wunsch, jede Begierde, die auf ihn und seinen Bereich sich beziehen, sind neue Fesseln, um die Seele gefangen zu halten. Daher ist es die Aufgabe des Menschen, sich so viel wie möglich vom Leibe und vom Erdendasein innerlich frei zu machen, die Sinnlichkeit zu unterdrücken, die Begierden zum Schweigen zu bringen und sich aus der irdischen Welt in die himmlische emporzuheben.

Auf Erden leben wir wie gefesselt in einer dunklen Höhle, an deren Wand wir nur die Schattenbilder der Dinge vorüberhuschen sehen. Steil und mühsam – so zeigt es das berühmte Gleichnis in der »Politeia« – ist der Weg, der von da emporführt in die Welt des Lichts, wo die Idee des Guten lebenspendend erstrahlt, und dieser Weg ist kein andrer als der der philosophischen Erkenntnis.

Deshalb aber ist das ganze Leben des Philosophen eine Entleiblichung, eine Vorbereitung zum Tode, ein Sterbenwollen, ein Absterben der Sinnenwelt gegenüber. Nicht äußerlich und gewaltsam ist das gemeint: den Selbstmord verwirft Platon als eine Verletzung der Pflicht gegen die Götter, in deren Dienst der Mensch auf Erden steht. Die Philosophie ist ein inneres Sterben. Die Trennung der Seele vom Leibe, die das Wesen des Todes ausmacht, vollzieht der Philosoph schon während des ganzen Lebens, indem er sein Denken und Wollen vom Sinnlichen abwendet und auf das Unsichtbare richtet. So ist die wahre Tugend eine »Reinigung« der Seele von den Schlacken der Körperlichkeit: wem sie nicht völlig gelingt, der wird im folgenden Leben von neuem nach diesem Ziele zu ringen haben. Nur der, der innerlich die Erdenwelt überwunden und schon hier im Reinen und Heiligen gelebt hat, nur der findet im Tode die Erlösung – den Eingang in das Reich Gottes.


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