Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I. Der Mann.

Platons Geburt fällt in die ersten Jahre des peloponnesischen Krieges, in jenen Kulminationspunkt der griechischen Geschichte, wo der Glanz des Augenblicks noch den Beginn des Niederganges verdeckt. Platons Heimat ist Athen, zu dieser Zeit unbestritten der Mittelpunkt des hellenischen Lebens und die herrschende Stadt, eben mit stolzer Siegeszuversicht in den Kampf eingetreten, der ihre Macht schließlich brechen sollte. In ihrem Innern herrscht ein reiches, vielgestaltiges Treiben, wofür alle Kräfte des Willens und des Intellekts zu höchster Freiheit entbunden sind. Der Sieg der demokratischen Verfassung ist entschieden, und schon beginnen ihre Gefahren an den Tag zu treten; das öffentliche Leben wird aufgeregter und wilder, die Leidenschaften der Masse reißen die Herrschaft an sich, und der Klassengegensatz der Armut und des Reichtums wird von immer düstrerer Gewalt. Aus dieser trüben Gärung aber wachsen die lichten Gebilde der Kunst und Wissenschaft hervor. Die dramatische Dichtung erhebt sich zu ihren höchsten Leistungen in Tragödie und Komödie, die Stadt bevölkert sich mit den hehren Gestalten der Skulptur, und die Männer der ernsten Wissenschaft halten ebenso wie die Sophisten ihren Einzug in Athen.

In eine solche Welt gesteigerten und schon überreizten Kulturlebens wurde Platon hineingeboren als der Geist, in welchem sich all die heiße Sehnsucht der Zeit zur Gestaltung eines neuen Ideals zusammendrängen und verklären sollte.

Sein Leben ist, obwohl es in eine geschichtlich so helle Zeit fällt, doch nur in den Hauptzügen mit voller Sicherheit festzustellen; in vielen Einzelheiten bleiben beklagenswerte Lücken unseres Wissens. Das liegt an dem allgemeinen Charakter der antiken Überlieferung: selbst das, was von ihr auf uns gekommen ist, erscheint allzu leicht in unbestimmten Linien. Auch um Platons Gestalt hat sich früh die mythenbildende Phantasie gerankt, die bei den Griechen das Erleben wie das Erzählen mit so reicher Fülle umspann, daß wir uns nur schwer davon eine Vorstellung machen und nicht minder schwer die Tatsachen von der bunten Hülle scheiden können, die sie umschleiert. Dazu kommt, daß eine so ausgeprägte Persönlichkeit, die mit so bestimmter Energie ein hohes Prinzip vertritt wie Platon, notwendig von der Bewunderung ebenso verklärt wie von der Gegnerschaft verdunkelt werden mußte. So hat es denn langer und vielseitiger Arbeit bedurft, ehe die geschichtliche Erkenntnis ein annähernd sicheres Bild des großen Mannes gewinnen konnte. Die philologisch-historische Forschung, die in unserem Jahrhundert der Geschichte der Philosophie so wertvoll klärend, ergänzend und berichtigend an die Seite getreten ist, hat sich keinem Gegenstande lebhafter und fruchtbarer zugewendet, als gerade Platon und seiner Lehre. Wer in die weitschichtigen Untersuchungen des Einzelnen dabei eintreten will, wird sich am besten der bewährten Führung Eduard Zellers im zweiten Bande seiner »Philosophie der Griechen« (4. Aufl., Leipzig 1889) anvertrauen.

Als das Geburtsjahr Platons gilt mit der größten Wahrscheinlichkeit 427 v. Chr. Seine Abstammung war durchaus vornehmer Art. Der Vater, Ariston, durfte sein Geschlecht auf die Kodriden, die Mutter, Periktione, das ihre auf das Haus des Solon zurückführen. Er selbst soll nach seinem Großvater eigentlich Aristokles geheißen und den Beinamen Platon erst von einem seiner Turnlehrer wegen seiner stattlichen Gestalt erhalten haben. Aber nicht nur die Breite des Körperbaues, sondern auch die Schönheit und Harmonie seiner ganzen Erscheinung, die glückliche Gesundheit seines leiblichen Wesens hat das Altertum gerühmt, und wir glauben es gern, daß dieser vollkommene Geist auch in einem vollkommenen Körper gewohnt hat. Das Bild des gereiften Schulhaupts, das, erst in neuester Zeit als dasjenige Platons erkannt, am Eingang dieser Darstellung wiedergegeben ist, läßt freilich mehr den Ernst und das Pathos des Denkers als den Schwung jugendlichen Aufstrebens erkennen.

Und doch ist dieser Schwung eben der Zug, der dem Wesen Platons, soweit wir es aus seinem Wirken erkennen, bis zum Alter am kräftigsten und bezeichnendsten aufgedrückt ist. In dieser weihevollen Erhebung zu dem Höchsten und Edelsten menschlichen Denkens und Wollens besteht der Zauber seiner literarischen Persönlichkeit. Unermüdlich ist er bis zum Ende in Lehre und Schrift wirksam gewesen, und gerade an dem Werke, vor dessen Abschluß ihn der Tod hinwegnahm, den »Gesetzen«, fühlen wir durch die oft gedehnte und zerfließende Darstellung hindurch noch immer den Feuergeist, der die Wirklichkeit mit seinen Idealen durchdringen will, der von sich und von der Menschheit das Höchste verlangt und der in leidenschaftlicher Erregung gegen andersartige Gewöhnung und Gesinnung losfährt.

Welch ein Genuß müsste es sein, der Entwicklung folgen zu dürfen, mit der dieser Feuerkopf, in den günstigen Lebensverhältnissen einer angesehenen Familie aufwachsend, sich den reichen und buntschillernden Bildungsinhalt seiner bewegten Jugendzeit angeeignet hat! wie er diese unvergleichliche Gestaltenfülle in sich gesogen, bemeistert und für sich geformt hat! Was wir aus der Überlieferung davon wissen, ist gering, unbedeutend und gleichgültig. Gelegentlich werden die Namen seiner Elementarlehrer in Gymnastik und Musik, d. h. in leiblicher und geistiger Ausbildung genannt; daß er in seinem Homer gründlich beschlagen war, zeigen seine Schriften fast auf jeder Seite. Wir dürfen annehmen, daß er nach der Gewohnheit seiner Standesgenossen bei den Vorträgen der Sophisten nicht gefehlt hat, deren Art er so köstlich zu schildern weiß und von denen er vielleicht einige der bedeutenderen persönlich gehört hat: auch spricht alles dafür, daß er schon in früher Zeit mit der philosophischen Literatur Fühlung gewonnen hat. Nicht nur die Lehre Heraklits, von der es ausdrücklich bezeugt ist, auch die der berühmten Eleaten und namentlich die des Anaxagoras, der selbst in Athen gelebt hatte, sind ihm vermutlich schon in den Jugendjahren mehr oder minder nahe getreten. Dafür sorgte zweifellos die lebhafte geistige Bewegung in der athenischen Jugend.

Noch mehr aber nahm ihn gewiß das politische Interesse gefangen. Seine erste, die für die Richtung des Menschen entscheidende Entwicklung fiel in die aufgeregteste Zeit der attischen Geschichte: er entwuchs den Knabenjahren, als die Athener das glänzende, dem erschütternden Mißlingen entgegengehende Abenteuer des sizilianischen Feldzuges wagten, und er reifte zum Manne, als das schwere Geschick des Zusammenbruchs der Macht über seine Vaterstadt unabwendbar hereinbrach. Er erlebte die wilden Kämpfe, welche sich während des Krieges im Innern des heimatlichen Staates abspielten. Seine Abstammung führte ihn in die Reihen der aristokratischen Partei, die grollend und ohnmächtig der unheilvollen Volksherrschaft gegenüberstand; mehrere seiner Verwandten rechneten zu ihren Führern. Es würde mit seinem Wesen unvereinbar sein, wenn man nicht annehmen wollte, daß er von allen diesen Bewegungen auf das tiefste ergriffen wurde und daß der Ehrgeiz, zur Rettung des Staates und der höchsten Güter mit seinem ganzen Wirken einzutreten, schon damals in seiner Seele Platz griff.

Doch scheint es nicht, daß Platon früh sich am politischen Leben aktiv beteiligt habe. Wir müssen uns ihn im Umgang mit jener vornehmen Jugend Athens denken, die den Zauber ihrer Zeit in geistesfroher Geselligkeit genoß. Wieweit er je in die Auswüchse dieses oft gewiß übermütigen Treibens verwickelt war, wissen wir nicht: jedenfalls aber hat er niemals darüber den Sinn für den geistigen Lebensinhalt vergessen, den diese Jugend sich aneignen durfte. Seine Schilderung des Alkibiades ist vielleicht in gewissem Sinne eine Art von Selbstbekenntnis. Aber den Mittelpunkt dieser höheren Interessen bildete die glänzende Entwicklung der Dichtung, und wenn wir erfahren, wie ausgebreitet in jener Zeit die dilettantische Beschäftigung mit poetischen Versuchen war, so wird es uns nicht Wunder nehmen, zu hören, daß auch Platon in epischer und dramatischer Form dieser Neigung reichlich gefrönt hat. Wie weit er es darin gebracht haben mag, können wir nicht bestimmen, und bei allem poetischen Reiz, den seine Schriften besitzen, kann doch niemand sagen, wieviel wir daran verloren haben, wenn er wirklich, wie berichtet wird, alle diese dichterischen Jugendsünden verbrannt hat, als er mit Sokrates bekannt geworden war.

Die intime Beziehung zu diesem genialen Sonderling bildet offenbar die große Epoche in Platons Jugendentwicklung. Wie sie im besonderen zustande gekommen ist, wissen wir nicht; aber die Bedingungen ihrer Möglichkeit sind leicht darzulegen. Sokrates war ein entschiedener Gegner des demokratischen Regiments; er, der Sohn eines armen Bildhauers, nicht aus Familientradition, sondern aus doktrinärer Überzeugung. Er fand, daß wenn man sonst im bürgerlichen Leben bei jedem Geschäft sich an den Sachkundigen wende, es das denkbar Törichtste sei, in den wichtigsten, in den öffentlichen Angelegenheiten die Entscheidung dem Los und (was schlimmer ist) der Wahl anheimzugeben, statt der Einsicht. So vereinigte ihn der Widerspruch gegen die Demokratie mit der aristokratischen Jugend, welche ihrerseits dabei von der angestammten Interessenpolitik nicht frei war, und es wurde kein Anstoß darin gefunden, wenn unter den ἄριστοι Sokrates die Einsichtigsten und Tugendhaftesten, seine Genossen aber den alten gesinnungstüchtigen Adel verstanden. Jedenfalls bestand der Kreis, der sich in eigenartiger Weise um Sokrates mit fröhlicher Lebensgemeinschaft und geistig gesteigerter Zusammengehörigkeit bildete, wesentlich aus Mitgliedern jener aristokratischen Jugend, und das hat ja zweifellos auch das Geschick des seltsamen Mannes in letzter Instanz mitbestimmt.

Auf diesem Wege hat vermutlich auch Platon seine Beziehungen zu Sokrates gefunden, die so tief und so innig geworden sind, wie sie überhaupt nur zwischen reifen Menschen verschiedenen Alters zu sein vermögen. Das Letzte und Individuellste eines solchen Verhältnisses entzieht sich selbstverständlich jeder historischen Erkenntnis: aber daß hier eine geistige Gemeinschaft höchster Art vorgelegen hat, dafür geben in Verbindung mit den zahlreichen, wenn auch zum großen Teil anekdotenhaften Berichten des Altertums in erster Linie Platons Schriften das entscheidende Zeugnis ab. Daß Sokrates der Wortführer in der größten Zahl der platonischen Dialoge ist, hängt zwar mit dieser künstlerischen Form und vielleicht mit allgemeineren Richtungen der gleichzeitigen Literatur zusammen: aber die Art, wie dabei neben der intellektuellen Überlegenheit der reine und hohe Charakter des Mannes überall in den feinsten und liebenswürdigsten Zügen zur Darstellung gebracht wird, ist der beste Beweis für eine den Tod überdauernde Hingebung und Liebe des Schülers, die eine fast religiöse Energie der Dankbarkeit und der Pietät erkennen lassen. Und wenn die »Apologie« eine Art von Parteischrift sein mag, so zeigen »Symposion« und »Phaidon«, von denen namentlich der letztere Jahrzehnte nach des Meisters Tode geschrieben ist, jene weihevolle Erinnerung noch gesteigert und verklärt.

Fragen wir nun aber, was Platon diesem Verhältnis verdankt hat, so ist offenbar das Maß der theoretischen Lehren dabei sehr viel geringer als die Bedeutsamkeit der ethisch-politischen Richtung, die er von Sokrates empfing. Von ersteren war ja bei diesem selbst nichts Positives zu holen: nur die formale Neigung und Übung des dialektischen Denkens konnte sich dem Schüler mitteilen und besonders jene weittragende Forderung der begrifflichen Erkenntnis. Ihre metaphysische Bedeutung freilich hat diese wie ihre wissenschaftliche Brauchbarkeit gerade erst durch Platon gewonnen.

Weit wichtiger war es, daß die äußere Gleichheit der politischen Richtung sich zwischen beiden Männern zu einer Gemeinschaft der Lebensauffassung vertiefte, welche die höchsten Werte der Menschheit zu ihrem Inhalt hatte. Bei Platon erreichte der attische Weise, was ihm an Alkibiades der Hauptsache nach doch mißlungen zu sein scheint: den Gegensatz gegen die Demokratie von den Interessen der Person und der Partei abzulösen und auf eine ethische Höhe zu heben – den politischen Ehrgeiz in den moralischen zu verwandeln und an die Stelle des Streites um Besitz, Macht und Ehre die gemeinsame Arbeit an den höchsten Aufgaben des Lebens zu setzen. Zweifellos war es Sokrates, der dem jungen Aristokraten die Augen darüber öffnete, daß auch von seiner Partei die Heilung des an Leib und Seele krankenden Staates nicht zu erwarten war; und die Erlebnisse um das Ende des peloponnesischen Krieges herum konnten diese Einsicht nur befördern. Aber erst durch Sokrates ging dem empfänglichen Geiste des Schülers der hohe Gedanke auf, daß es aus den Wirren der Zeit einen Ausweg nur dann gäbe, wenn das gesamte Staatswesen auf einen neuen Boden gestellt und zu seiner Grundlage statt des Interessenkampfs die sittliche Erziehung gemacht würde. Wie weit Sokrates selbst mit seiner praktischen Kritik und mit der humorvollen Bescheidung des Alters an die Durchführbarkeit solcher Ideale geglaubt hat, wird nie zu entscheiden sein: sicher aber ist, daß Platon von der Heiligkeit dieser Aufgabe in seinem ganzen Wesen erfaßt wurde und ihr sich mit der leidenschaftlichen Begeisterung hingab, die er später, obwohl vielleicht nicht sehr viel später in seinem »Gorgias« zum ergreifenden Ausdruck gebracht hat. Und nicht unmöglich ist es, daß dieser reformatorische Feuereifer des jugendlichen Genossen weit über die Grenzen hinausschoß, welche Sokrates sich mit seiner stillen und unscheinbaren Arbeit an der Klärung des Volksbewußtseins gesetzt hatte.

Dazu kam als ein Differenzpunkt zwischen beiden großen Individualitäten die Lebhaftigkeit einer positiv religiösen Überzeugung, die sich im Gegensatz gegen die kühle Skepsis des Sokrates bei Platon für seine ganze spätere Entwicklung so entscheidend erwies, daß wir allen Anlaß haben, sie auf jugendliche Einflüsse und Gewöhnungen, vielleicht auf Familientraditionen zurückzuführen. Jedenfalls tritt das Ideal einer sittlichen Reform des politischen Lebens bei Platon von Anfang an mit einer so stark religiösen Färbung auf, wie sie aus der Persönlichkeit des Sokrates nach der Zeichnung, die nicht nur andere, wie Xenophon, sondern auch Platon selbst davon gegeben haben, nimmermehr abzuleiten ist. Die Beziehung auf das jenseitige Leben, welche für Platons Weltansicht und seine Beurteilung menschlicher Verhältnisse stets maßgebend gewesen ist, bildet ein unsokratisches Moment, das wir nur aus Platons intimen Beziehungen zu der religiösen Bewegung seiner Zeit ableiten können. Auch hierin allerdings sind wir lediglich auf Schlüsse aus indirekten Angaben und Vermutungen angewiesen: aber seit Erwin Rohde in seiner »Psyche« diese Verhältnisse in großen Linien untersucht und dargestellt hat, stehen wir darin auf festerem Boden, und Platon erscheint als das wesentliche Glied in einer großen Bewegung, durch welche die transzendenten Beziehungen, mit denen der griechische Mythos das Menschenleben durchflocht, ein festes und lehrhaftes Gefüge anzunehmen sich anschickte.

Es ist nicht zu entscheiden, zu welchen Zeitpunkten und in welchen Verhältnissen zuerst sich alle diese Einflüsse in Platons Geiste gekreuzt haben: die Stellung des jungen Mannes erscheint in der Hauptsache als ausgesprochene Jüngerschaft dem Sokrates gegenüber. Deshalb wurde er denn auch so tief und so folgenreich wie nur irgend einer von dem tragischen Geschick seines Lehrers betroffen. Daß der Prozeß, der mit dem Märtyrertod endete, einen stark politischen Charakter wenn nicht von Anfang an besaß, so doch in seinem Verlaufe und namentlich in seinen Folgen annahm, darf als zweifellos angesehen werden. Platon hatte daran äußerlich den Anteil, daß er sich für die Buße, zu der sich Sokrates bereit erklärte, mit Anderen zusammen verbürgen wollte. Ob es Tatsache ist, daß er, wie der »Phaidon« annehmen lassen will, durch Krankheit verhindert war, in den letzten Stunden des väterlichen Freundes an seiner Seite zu sein, bleibt dahingestellt: die zweifelhafte Angabe kann auch eine schriftstellerisch wohl begreifliche Fiktion sein.

Der politische Charakter des Prozesses tritt jedoch am deutlichsten darin zutage, daß ein großer Teil des sokratischen Kreises es danach für geraten hielt, Athen zu verlassen und in dem gastlichen Hause des Eukleides zu Megara eine Zuflucht zu suchen. Dorthin hat sich auch Platon begeben. Es war im Jahr 399; aber von da an verläßt uns wieder für längere Zeit jede chronologische Sicherheit. Über die Dauer des Aufenthalts in Megara fehlt es an jeder Vermutung, und auch die Reihenfolge und die Ausdehnung der Reisen, die sich daran geschlossen haben, lassen sich nicht mehr genau bestimmen. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl die Annahme, daß er zunächst, vielleicht ohne erst Athen wieder zu berühren, von Megara aus an die afrikanische Küste des Mittelmeeres ging, Kyrene und namentlich Ägypten besuchte, sodann um die Mitte des ersten Jahrzehnts des vierten Jahrhunderts wieder für eine nicht näher zu begrenzende Zeit in Athen lebte und von hier schon vor 390 zu seiner ersten Reise nach Sizilien und Großgriechenland (Unteritalien) aufbrach.

Mit nicht größerer Sicherheit läßt sich vermuten, was den besonderen Wert dieser Reisen für Platon ausgemacht haben mag. Ob irgend welche Beziehungen zu religiösen Kulten dabei obgewaltet haben, ist völlig ungewiß, und worin neben der allgemeinen Bereicherung seiner Welt- und Menschenkenntnis eine Förderung seiner wissenschaftlichen Bildung bestanden haben sollte, die ihm nicht auch literarisch zugänglich gewesen wäre, läßt sich kaum sagen. Naturwissenschaftliche Beobachtungen, zu denen überhaupt seine Anlage wenig neigte, hat er bei der damaligen Richtung seines Geistes schwerlich gesucht oder gesammelt. Wenn er dagegen in Kyrene den Umgang des berühmten Mathematikers Theodoros genossen haben soll, den er übrigens schon in Athen gekannt zu haben scheint und später in seinem »Theaetet« verherrlicht hat, so ist daran jedenfalls soviel wahr, daß er in diesem Jahrzehnt sich auf das eingehendste mit mathematischen Studien beschäftigt, darin eine eigene, achtungswürdige Stellung erworben und ihre Bedeutung für seine philosophische Lehre zu erfassen angefangen hat. Damit waren dann zunächst auch wohl die wissenschaftlichen Anknüpfungen zwischen ihm und den Pythagoreern gegeben, zu denen er in Großgriechenland und Sizilien vertraute Beziehungen gewonnen hat.

Wenn Platon wenige Jahre nach der Hinrichtung des Sokrates in seine Vaterstadt zurückkehrte, so fand er dort noch immer die siedende Leidenschaft der Parteikämpfe und in diese den Namen und die Person seines Meisters Sokrates hineingezogen vor. Auch damals ist er in aktive Politik offenbar nicht eingetreten; um so mehr scheint er in den politisch-literarischen Streit mit voller Energie eingegriffen und zugleich die ersten Versuche gemacht zu haben, um in den Mittelpunkt einer theoretischen Bewegung zu treten, die das sokratische Ideal durch wissenschaftliche Erziehung und religiöse Gesinnung zu verwirklichen suchte. Daß diese Tätigkeit schon damals die geschlossene Form einer organisierten Lehre angenommen habe, ist äußerst unwahrscheinlich: viel natürlicher ist es zu vermuten, daß Platon, ähnlich wie Sokrates, um sich eine Anzahl gleichgesinnter Genossen in freier Geselligkeit vereinigte und mit diesen die Umbildung erörterte, welche die Gedanken des sokratischen Kreises in seinem Kopfe zu gewinnen angefangen hatten.

Den Sinn dieser Umbildung erkennen wir aus den Schriften Platons, die wir etwa in diese Zeit zu verlegen haben: sie bewegt sich nach zwei Richtungen. Einerseits entwickelt sich aus der Ergänzung des sokratischen Philosophierens durch die teils positive, teils negative Wirkung sophistischer und namentlich protagoreischer Theorien und zum Teil vielleicht schon unter dem Einfluß der Mathematik, der Anfang einer zugleich dialektischen und metaphysischen Doktrin, die jedoch nur mehr angedeutet und gefordert als wirklich dargestellt und begründet wird. Andrerseits nimmt das ethisch-politische Ideal schon eine festere Gestalt an, und der Gegensatz gegen die verworrenen Zustände der Zeit treibt das Begehren, sie von der wissenschaftlichen Einsicht aus zu reformieren, zu heftiger, oft hoffnungsvoller, oft bitter gereizter Energie hervor. An manchen Stellen aber drängen sich schon zwischen die politische Agitation und die wissenschaftliche Untersuchung eigenartige religiöse Dogmen ein, die zwischen beiden eine theoretische Vermittlung herbeizuführen bestimmt sind.

Diese Vereinigung wissenschaftlicher, ethisch-politischer und religiöser Interessen ist es möglicherweise gewesen, welche Platon zu seiner Fahrt in den westlichen Teil des griechischen Kulturlebens bestimmte: dort konnte er hoffen, bei den Pythagoreern nicht nur Förderung seiner wissenschaftlichen Bestrebungen, sondern vielleicht auch tatkräftige Unterstützung seiner politischen Tendenzen zu finden, deren Aussichtslosigkeit auf dem heimatlichen Boden ihm mit den Jahren immer deutlicher geworden war. Der pythagoreische Bund war dort immer noch eine politische Macht. Er hatte, gegen Ende des sechsten Jahrhunderts begründet, während der leidenschaftlichen Kämpfe der folgenden Zeit mit wechselndem Glück die aristokratische Richtung vertreten, und wenn er mit dieser zusammen in den Verfassungsstreitigkeiten mehr und mehr zurückgedrängt worden war, so hatte er seine Bedeutung desto sicherer in den wissenschaftlichen und religiösen Tendenzen gefunden, die er mit den politischen von Anfang an vereinigte. Auch er trug ein reformatorisches Gepräge: er wollte die Volksherrschaft durch das Übergewicht geistiger Einsicht, sittlicher Bildung und religiöser Gesinnung brechen. In diesen praktischen Interessen lag die Einheit und der äußere Zusammenhalt des Bundes, während die wissenschaftliche Schule von ihren mathematischen Anfängen aus vermöge der Berührung mit den verschiedenen philosophischen Lehren des fünften Jahrhunderts in mancherlei Zweige auseinander gegangen war.

Zweifellos ist Platon, als er damals die Pythagoreer besuchte, auch ihren theoretischen Lehren und namentlich den Gedanken des Philolaos näher getreten, dessen Werk er für schweres Geld erworben haben soll: einen bedeutsamen Einfluß auf sein eigenes Denken hat er ihnen freilich offenbar erst sehr viel später gegönnt. Zunächst aber war die Verwandtschaft der politisch-religiösen Richtung entscheidend. Hierin nun schien sich dem Philosophen ein Feld der Wirksamkeit in Syrakus zu eröffnen.

In dieser Hauptstadt des griechischen Westens behauptete schon mehr als ein Jahrzehnt lang Dionysios unter wechselnden Geschicken die Alleinherrschaft: in der äußeren Politik gelang es ihm, sich mit den Karthagern ebenso wie mit den griechischen Staaten abzufinden, im Innern hielt er sich mit klugem Geschick über dem Spiel der Parteien, und zugleich wußte er seiner Herrschaft den Glanz künstlerischer und wissenschaftlicher Interessen zu verleihen. Jedenfalls war er eine bedeutende, eigenkräftige Persönlichkeit, und wenn Platon gelegentlich in seinen Schriften den Gedanken durchblicken läßt, die Herbeiführung des rechten Zustandes der menschlichen Gesellschaft sei schließlich nur von einem tatkräftigen und wohlberatenen Tyrannen zu erwarten, so ist es zu verstehen, daß er sich der Hoffnung hingegeben hat, durch Dionys seine idealen Pläne zu verwirklichen.

Den Zugang zu ihm fand er durch die pythagoreischen Kreise, denen in der Umgebung des Fürsten dessen Schwager Dion angehörte, der Führer der aristokratischen Partei am Hofe. Mit seiner Hilfe versuchte der Philosoph auf den Tyrannen einzuwirken, der ihn anfangs freundlich aufnahm. Aber dieser Versuch, über den wir nicht genauer unterrichtet sind, nahm ein böses Ende. Platon wurde verhaftet und als Kriegsgefangener dem spartanischen Gesandten ausgeliefert. Diese Tatsache beweist, daß es sich zwischen dem Philosophen und dem Tyrannen nicht bloß um sittliche Ermahnungen des ersteren und um überdrüssiges Mißfallen des letzteren gehandelt hat, wie die anekdotenhafte Überlieferung uns glauben machen will, sondern daß Platon in den Intrigen der Hofparteien auf Seite der aristokratischen Pythagoreer, wenn auch seinerseits mit noch so idealen Absichten, eine Rolle gespielt und sich politisch kompromittiert haben muß. Jedenfalls hat er aus der üblen Lage, als kriegsgefangener Sklave verkauft zu werden, durch freundschaftliche Verwendung – man spricht von einem kyrenaischen Philosophen namens Annikeris – befreit werden müssen.

Der Versuch praktischer Politik war gescheitert, und als Platon (etwa um 388) in seine Heimat zurückkehrte, war er von solchen Neigungen zunächst so gründlich geheilt, daß er, so lebhaft ihm das sozial-politische Ideal noch immer vorschwebte, doch seine ganze Tätigkeit ganz auf die wissenschaftliche Lehre richtete. Damals gründete er seine Schule, die Akademie, nicht mehr als einen lockeren Freundeskreis zu geselligem Umgang, sondern als einen festen Verband zu gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit. Ihre Leitung und Organisation wurde sein eigenstes Lebenswerk, und gegen diese unmittelbare Wirkung auf seine Genossen und Schüler ist selbst seine literarische Tätigkeit in den beiden nächsten Jahrzehnten zurückgetreten, ja sie erscheint seiner Absicht nach prinzipiell nur als künstlerischer Nachklang zu der Arbeit und dem Erfolge des mündlichen Verkehrs, des Unterrichts und des gemeinsamen Forschens. In dieser Wirksamkeit von Person zu Person hatte Platon das seinem Wesen entsprechende Feld gefunden, und er hat es in der glücklichsten Weise angebaut: bis an seinen Tod ist diese Lehrtätigkeit der wahre Inhalt seines Lebens gewesen. Die Schule ersetzte ihm die Familie, die er nicht gründete, und die öffentliche Wirksamkeit, auf die er in Athen dauernd verzichtete.

Wie tief aber trotz alledem der Trieb des politisch-religiösen Reformatorentums in ihm wurzelte, erkennen wir daraus, daß er mitten aus der stillen Arbeit der Wissenschaft heraus als schon betagter Mann sich in neue Abenteuer auf dem westlichen Schauplatze einließ. Er war fast sechzig Jahre alt, als (368) Dionys starb und die Herrschaft seinem gleichnamigen Sohne hinterließ. Sogleich hatte Dion, der Oheim des jungen Fürsten, die Gelegenheit benutzt, um Einfluß auf die Regierung zu gewinnen; die pythagoreische Partei in ganz Sizilien und Unteritalien gewann neue Hoffnung und Bedeutung, und Platon folgte der Einladung, mit seinem Rat in diese Bewegung einzugreifen. Auch scheint er auf das unselbständige Gemüt des jugendlichen Herrschers einen großen Eindruck gemacht zu haben: denn selbst als Dion bald darauf von der Gegenpartei verdrängt und von Dionys verbannt wurde, ließ dieser den Philosophen unbehelligt, aber freilich auch erfolglos heimkehren. Über die Einzelheiten ist auch bei der zweiten und dritten sizilischen Reise nichts festzustellen; die allgemeinen Verhältnisse und Motive sind durch den 7. der sog. platonischen Briefe wohl ziemlich authentisch klargelegt. – Die antike Überlieferung würzt die Erzählung durch Anekdoten über das Zusammentreffen Platons mit dem sophistischen Weltmann Aristippos am Hofe des Dionys. An sich nicht unmöglich, kann es doch um so weniger für gesichert angesehen werden, als dabei nicht einmal klar wird, ob der ältere oder der jüngere Dinoys gemeint ist.

Aber selbst diese Erfahrung schreckte Platon nicht ab, die Sache noch einmal zu versuchen. Die Akademie war mit dem pythagoreischen Bunde in immer nähere Beziehungen getreten; Dion wählte eine Zeit lang Athen zu seinem Aufenthalt, und wie er selbst, so verkehrten auch andere Pythagoreer in dem platonischen Kreise. Auf ihren Antrieb entschloß sich der Philosoph im Jahre 363 oder etwas später zu einer dritten sizilischen Reise, deren nächster Zweck die Aussöhnung von Dion und Dionys war. Allein wenn der eitle Fürst den berühmten Mann der Wissenschaft zunächst wieder mit allem Prunk aufnahm, so kam es an den politischen Fragen sehr bald zum Bruch. Diesmal geriet Platon von neuem in direkte Gefahr und entging ihr mit knapper Not durch den Einspruch der Regierung von Tarent, die unter Führung des der Akademie befreundeten Archytas in den Händen der Pythagoreer war.

Von da an scheint Platon sich aller politischen Eingriffe enthalten zu haben. Von einer Beteiligung an den Kämpfen um Syrakus, bei denen Dion zwar den Tyrannen stürzte, aber auch selbst seinen Untergang fand, ist nichts überliefert, obgleich sie noch in die Lebenszeit des Philosophen fallen. Daß er die Beziehungen, welche sich später zwischen der Akademie und dem makedonischen Königshofe anknüpften, nicht ungern gesehen hat, ist zwar nur Sache der Vermutung, aber an sich nicht unglaublich: die Zerrüttung der aristokratischen Partei mußte die prinzipiellen Gegner der Demokratie schließlich in die Arme der Monarchie treiben. Freilich ist dann auch diese ganz andre Wege gegangen, als sie die Phantasie des großen Idealpolitikers vorgezeichnet hatte.

Im Kreise der Akademie hat Platon sein Leben geendet: geliebt und bewundert stand er inmitten der jüngeren Generation, die ihm, auch wo sie neue Richtungen des Denkens und Forschens einzuschlagen sich anschickte, den Tribut des Dankes und der Verehrung darbrachte. Es war ihm vergönnt, mit ungebrochener Rüstigkeit in Wort und Schrift bis zum Ende tätig zu sein: den Achtzigjährigen soll der Tod bei einem Hochzeitsmahle sanft hinweggeführt haben (347).

Und trotzdem bleibt gegenüber dem gesamten Verlauf dieses in friedlichem Wirken auslaufenden Lebens der Eindruck bestehen, daß es seiner gewaltigen Persönlichkeit nicht zuteil wurde, ihrem innersten Triebe genug zu tun und ihr reines Wesen auszuleben. Hohe sittliche Zwecke erfüllen seine Seele, vor ihm schwebt das Ideal einer Neugeburt seines Volkes: geläutert in der ernsten Arbeit des Denkens, drängt ihn die politische Leidenschaft zu rettender und schöpferischer Tat. Das ist der Stachel, der ihn getrieben hat sein Leben lang. Aber dieser sittlich begeisterten Schaffenslust ist die Fähigkeit des realpolitischen Gestaltens versagt – versagt nicht nur durch die Ungunst der äußeren Umstände, in denen er keine geeignete Stätte seines Wirkens finden kann, sondern versagt auch durch seine eigne Natur, durch die Mischung der Eigenschaften in seiner Individualität. Wohl ist er rücksichtslos in der Kritik und im Angriff, er besitzt die Kraft des Hasses gegen das, was er als gemein und verwerflich erkannt hat, und selbst an Gewalttätigkeit fehlt es seinem Denken und Wollen nicht. Aber zu hoch liegen seine Ideale über der alltäglichen Wirklichkeit, und zu fein und vornehm ist sein Innenleben gestaltet, als daß er die realen Mächte des Lebens siegreich unter seinen Willen zu beugen verstünde: so oft er versucht, tätig zu ihnen herabzusteigen, zerschellt seine Kraft daran. Er ist ein durch und durch politischer Denker, aber kein Staatsmann: es erfüllt ihn die Sehnsucht nach mächtig gestaltender Wirksamkeit, aber er ist kein Mann der Tat.

Dieser Zwiespalt seines Wesens und Lebens ist nie völlig aufgehoben worden, obwohl er dafür die glücklichste Lösung fand. In den lichten Höhen des Denkens waren ihm die Ideale erstanden, die er durch politische Tat nicht zu verwirklichen vermochte: was ihm übrig blieb, war, durch stille Arbeit an seinen Genossen und Schülern die Erkenntnis und die Gesinnung zu pflegen, aus der einmal das bessere Leben der Menschheit, das er ahnte, hervorsprießen konnte. Und in eben dieser Arbeit des Erkennens ebenso wie in der künstlerischen Gestaltung ihrer Ergebnisse klärte sich die Leidenschaft des Propheten zu der heiteren Ruhe des Denkers ab: sie blieb als tiefster Lebenstrieb wirksam und brach immer wieder mit vulkanischer Gewalt durch; aber gerade in dieser Verbindung eines kraftstrotzenden Bedürfnisses nach Handlung und Wirkung mit der bändigenden Macht des wissenschaftlichen und künstlerischen Geistes besteht der Reiz von Platons Persönlichkeit. Deshalb entfaltet sich ihr ganzes Wesen in der Eigenart seines geistigen Wirkens: seine Tat ist seine Lehre.


 << zurück weiter >>