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76. Das geraubte Mädchen

Initial Im Westen der alten Hauptstadt Lo Yang lag ein verfallenes Kloster. Dort stand eine ungeheure Pagode, mehrere hundert Stockwerke hoch. Auf ihrer Spitze konnten noch immer drei bis vier Menschen stehen.

In der Nähe wohnte ein schönes Mädchen; die saß eines Tages, als der Sommer heiß war, im Hofe, um sich zu kühlen. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, der das Mädchen entführte. Als sie die Augen öffnete, da war sie auf der Spitze der Pagode. Neben ihr stand ein junger Mann in der Tracht eines Scholaren.

Der war gar hübsch und höflich und sprach zu ihr: »Wir sind vom Himmel füreinander bestimmt.«

Darauf nahm er Brot und Wein und feierte mit ihr die Hochzeit. Seitdem war er tagsüber weg und kam abends zurück. Beim Weggehen schloß er mit Steinen die Öffnungen der Pagode. Auch hatte er einige Stufen der Treppe entfernt, so daß sie ihre Behausung nicht verlassen konnte. Wenn er heimkam, brachte er immer Wein und Speisen mit, die er mit dem Mädchen teilte. Auch Schminke und Puder, Kleider und Röcke und allerhand Schmucksachen schenkte er ihr. Er habe sie auf dem Markt gekauft, sagte er. Auch hängte er einen Karfunkelstein auf, so daß es auch bei Nacht ganz hell in der Pagode war. Das Mädchen hatte alles, was ihr Herz begehrte, und dennoch fühlte sie sich nicht wohl.

Im Laufe der Monate war er vertraut mit ihr geworden, und als er eines Tages wegging, vergaß er, das Fenster zu schließen. Das Mädchen spähte ihm heimlich nach, da sah sie, wie ihr Jüngling sich in einen Oger verwandelte, die Haare rot wie Krapp, das Gesicht schwarz wie Kohle. Die Augäpfel quollen aus ihren Höhlen hervor, und der Mund glich einer Blutschüssel. Aus den Lippen drangen krumme Stoßzähne heraus, an den Schultern schössen zwei Flügel hervor. Damit flog er zur Erde und verwandelte sich dann wieder in einen Menschen.

Das Mädchen ward von Entsetzen erfaßt und brach in Tränen aus. Sie blickte von ihrer Pagode herunter; da sah sie unten einen Wanderer vorbeigehen. Sie rief ihn an; aber die Pagode war so hoch, daß die Stimme nicht bis unten drang. Sie winkte ihm mit der Hand; aber der Wanderer blickte nicht auf. Sie wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie ihre alten Kleider, die sie früher getragen, hinunterwarf. Sie flatterten durch die Luft zu Boden.

Der Wanderer hob die Kleider auf. Dann sah er an der Pagode hinauf und entdeckte ganz droben auf der Spitze eine winzige Gestalt, die einem Mädchen glich; doch konnte er ihre Gesichtszüge nicht unterscheiden. Lange besann er sich vergebens. Dann ging ihm ein Licht auf.

»Unsere Nachbarstochter«, sprach er bei sich selbst, »wurde ja von einem Zaubersturm entführt, sollte sie vielleicht da oben stehen?«

Da nahm er die Kleider mit und zeigte sie den Eltern des Mädchens. Die Eltern brachen beim Anblick der Kleider in Tränen aus.

Das Mädchen hatte aber einen Bruder, der war so stark und mutig wie niemand weit umher. Als der von der Geschichte hörte, nahm er eine schwere Axt zu sich und ging zu der Pagode. Dort versteckte er sich im Grase und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Als die Sonne eben untergegangen war, da kam ein Jüngling heran, der stampfte den Berg herauf. Plötzlich verwandelte er sich in einen Oger, breitete die Flügel aus und wollte fliegen. Da warf der Bruder seine Axt nach ihm und traf ihn an den Arm. Er stieß ein lautes Gebrüll aus, dann floh er in die westlichen Berge. Als der Bruder jedoch sah, daß die Pagode nicht zu ersteigen war, kehrte er zurück und verabredete sich mit einigen Nachbarn. Mit denen kam er am andern Morgen wieder, und sie kletterten in der Pagode empor. Die meisten Treppenstufen waren noch ganz gut erhalten, nur den obersten Teil hatte der Oger zerstört. Mit einer Leiter konnte man jedoch hinaufgelangen, und der Bruder holte seine Schwester herunter und brachte sie glücklich nach Hause zurück.

Seitdem hatte der Spuk ein Ende.

 


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