Ottilie Wildermuth
Jugendgabe
Ottilie Wildermuth

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Ein einsam Kind

Wenn ihr von Einsamkeit hört, so denkt ihr euch wohl eine Einsiedlerhütte tief im grünen Wald, oder die Höhle, wo die fromme Genoveva gelebt hat allein, ganz allein mit dem kleinen Schmerzensreich; wohl auch einen Leuchtturm draußen am weiten Meer, auf dem einsam der Wächter wohnt, oder ein Kloster in einem stillen, grünen Grunde.

Das Kind aber, von dem ich euch erzählen will, war einsam und sehr allein mitten in einer großen, volkreichen Stadt, in einem stattlichen und reichen Hause; einsamer als der kleine Schmerzenreich mit seiner Hirschkuh unter den rauschenden Bäumen und bei den lustigen Vögelein und Schmetterlingen im grünen Wald.

Als Serenas Mutter noch lebte, war es auch still gewesen in dem großen, steinernen Haus; doch war sie nicht so allein. Ihr Bettchen stand in dem kleinen Kabinett neben dem Schlafzimmer der Mutter und sie durfte morgens schon, sobald das Kindsmädchen sie angekleidet hatte, ihre Milch trinken an einem kleinen Tischchen neben der Mutter Bett; durfte ihre Puppe holen und ihre Spielsachen und spielen, bis endlich die Mutter aufstand und in dem Lehnstuhl saß. Dann erzählte ihr diese zuweilen eine schöne Geschichte oder redete mit ihr, bis sie zu müde war zum Sprechen. Auch sagte die Mutter wohl zum Kindsmädchen: »Betty, geh ein wenig spazieren mit der armen Kleinen, nimm sie mit auf einen freien Platz, damit sie auch an die frische Luft und Sonne kommt!«

Das große steinerne Haus, in dem Serenas Eltern wohnten, stand in der Stadt London. Die Stadt ist unermeßlich groß und von all dem Steinkohlendampf, der aus den vielen tausend Kaminen aufsteigt, fast beständig in Dunst und Nebel gehüllt, so daß Sonnenschein und frische Luft da nicht zu häufig sind. Doch gibt es schöne Garten und grüne Plätze inmitten der Stadt, wo sich Kinder umtreiben können, und Serena freute sich, wenn das Kindermädchen so weit mit ihr ging. Nur war sie schüchtern unter den vielen geputzten Kindern; sie kannte keines. Solang sie wußte, war ihre Mutter krank und lag im Bette, oder saß in ihrem schneeweißen Morgenkleid in dem hohen Lehnstuhl von dunkelrotem Samt – es mußte, gar ruhig und still um sie sein; da konnte man keinen Kinderlärm brauchen, und Serena selbst hatte gelernt, ganz still zu spielen und hat nie Gefährten gehabt.

So wußte sie denn nicht viel anzufangen unter fremden Kindern, die nichts nach ihr fragten; sie bekam bald wieder Heimweh nach ihrer Mama und war froh, wenn das Mädchen sie heimbrachte. Dann war sie wieder zufrieden, bei ihrer bleichen Mutter zu sitzen; sie verstand nicht recht, warum diese so oft seufzte: »Armes Kind!« Aber sie wurde daran gewöhnt und dachte selbst, sie sei ein armes Kind, obschon sie gerade nichts zu klagen hatte.

Ihren Vater sah Serena gar selten. Er war Kaufmann, aber nicht ein Kaufmann mit einem offenen Laden, darin allerlei schöne Dinge verkauft werden, oder auch Kaffee, Zucker, Käse und Oel. Nein, er machte große Geschäfte, von denen Serena nichts verstand; dazu ging er schon früh morgens in die City; so heißt ein großer Stadtteil von London, in dem die meisten Geschäftslokale sind. Dort hatte er sein Kontor und von dort kam er erst abends nach Haus, wo in England zu Mittag gegessen wird. Da kam er denn jedesmal herauf zu Serena und ihrer Mutter und sagte: »Guten Abend, Kleine; guten Abend, liebe Anna, wie geht dir's?« Und die Mutter lächelte traurig und sagte: »Guten Abend, lieber William; du dauerst mich, daß du immer eine kranke Frau hast.« Dann redete er eine Weile mit der Mutter, stand wieder auf und sagte: »Aber ich mache dich müde, arme Anna; sei nur recht still und artig, Kleine, daß du der Mutter nicht Kopfweh machst!« Und damit küßte er sie und ging.

So war es lange gewesen. Dann war ein Tag gekommen, wo die stille, bleiche Mutter noch viel stiller und bleicher geworden war, wo sie nicht mehr im Lehnstuhl saß, sondern ganz blaß in einem langen weißen Kleide auf dem Bette lag; wo Serena nicht recht verstehen konnte, warum die Leute sagten, ihre liebe Mutter sei jetzt im Himmel, und sie lag doch vor ihr. Die Dienstmädchen brachten schöne Blumen und legten sie auf das Lager, und Serena sah ihren Vater weinen zum erstenmal in ihrem Leben; es kam ihr alles sehr traurig vor. Und ein andrer Tag kam, wo sie die liebe Mutter in den Sarg legten; es war ein sehr feierliches Leichenbegängnis, wie es in England Sitte ist bei angesehenen Leuten. Die Pferde waren mit schwarzen Federn und schwarzen Floren geschmückt und viele, viele Wagen folgten dem Sarg.

Nach diesem kam die Zeit, wo die kleine Serena erst so ganz allein war auf der Welt. Der Vater hielt sie noch für zu jung und klein, um schon eine Gouvernante zu haben. An das Kindermädchen war sie gewöhnt; es war gutmütig, wenn es auch gar nicht verstand, die Kleine zu unterhalten; es konnte sie morgens hübsch ankleiden und ihre Sachen in Ordnung halten: so hielt sie der Vater für ganz gut versorgt.

Da saß denn Serena den lieben langen Tag allein in ihrer Kinderstube, wo die Fenster eiserne Gitter hatten, damit sie nicht hinausfallen könne. Das kam ihr vor wie ein Gefängnis und sie nahm ihre Puppe auf den Schoß und spielte mit ihr Genoveva, wie sie im Gefängnis war. Zu Mittag deckte man ihr unten im Eßzimmer an einem langen Tisch eine Serviette auf; darauf stand ihr Tellerchen und ihr kleines Besteck; da aß sie ganz allein und dann ging sie an guten Tagen hinunter in den trübseligen Hofgarten. Es wuchsen aber keine Blumen darin; nur hie und da stand ein Gänseblümchen, das war schon eine große Freude. Manchmal setzte sich auch ein kleines, rotes Käferlein auf ihre Hand; das hielt sie ganz sachte und freute sich dran, bis es seine kleinen Flügelein wieder ausspannte und davonflog; dann sah sie ihm traurig nach. Ihr Kindermädchen hatte sie ein Reimlein gelehrt:

Herrgottsvög'lein flieg aus!
Flieg' in meiner Ahne Haus,
Bring' mir Aepfel und Birnen 'raus!

Da hätte sie gern gewußt, wohin das Vögelein fliege; daß sie nicht mitfliegen konnte, das wußte sie ja wohl.

Manchmal ging der dicke Doktor Schmid über den Hof, und Serena freute sich, so oft sie seinen schweren Tritt hörte. Herr Schmid war der Hausarzt, ein guter, alter Herr, der nie vorüber ging, ohne sein Späßchen mit der Kleinen zu haben. »Wie geht's, kleine Miß? Hat die Fräulein Puppe gut geschlafen?« »Potz, da haben sich ein paar Bonbons in meine Tasche verirrt, die wird die kleine Miß wohl essen müssen!« Es war schon eine große Begebenheit für Serena, wenn Doktor Schmid vorbeigekommen war.

Ihr Vater kam meist spät nach Haus. Hie und da kleidete dann das Kindermädchen sie noch hübsch an und führte sie hinunter, wenn er beim Essen saß. Dann gab er ihr vielleicht einige Mandeln oder eine Feige von seinem Nachtisch und fragte: »Nun, kleine Serena, wie geht dir's? Brauchst du nichts? Geben sie dir auch genug zu essen? Du bist so dünn!« Serena war schüchtern, weil sie nie unter die Leute kam, selbst bei ihrem eignen Vater, den sie ja so selten sah; sie antwortete nur leise und wenig. Ihr Vater war gut und hatte sie lieb; aber er war nie viel mit Kindern umgegangen und wußte nicht recht, was er mit einem kleinen Mädchen reden sollte; so sagte er bald: »Nicht wahr, Kleine, du bist müde?« und Serena war auch ein wenig froh und erleichtert, wenn das Mädchen sie wieder hinaufführte.


Einmal aber, nachdem Doktor Schmid dagewesen war, kam der Vater selbst in die Kinderstube, früh am Tage, noch ehe er in die City ging; er nahm die Kleine an der Hand, führte sie ans Fenster und sah ihr wehmütig in das schmale, blasse Gesichtchen. »Ja, ja,« sagte er, »es ist wahr, Doktor Schmid hat recht: du wirst mir ganz dünn und bleich in dem Käfig da; möchtest du aufs Land, Kleine?«

»Aufs Land?« fragte Serena; »das ist, wo Kühe sind?« sonst hatte sie gerade noch nicht viel vom Lande gehört. Der Vater lachte. »Nun ja, Kühe auch, aber sonst noch allerlei schöne Sachen: grünes Gras, hohe Bäume und Blumen.«

Serenas Augen glänzten vor Freude; sie sagte nur leise: »Aber Papa, ich kenne ja gar niemand auf dem Land, und so allein kann ich doch nicht hinaus gehen; ich weiß den Weg gar nicht aufs Land.« – »Das brauchst du auch nicht,« sagte der Vater wieder lachend. »Es lebt noch eine Tante von deiner lieben, seligen Mama; eine gar gute, alte Frau, die hat ein nettes, freundliches Haus auf dem Land und hat mir geschrieben, ich solle dich zu ihr schicken, wenn du groß genug seiest, daß du reisen kannst. Es ist sehr weit von hier; aber ein guter Freund von mir reist in der nächsten Woche und will dich mitnehmen; willst du, Serena? – Sie müssen dann die Kleine in die Stadt nehmen und ihr ein paar neue Kleidchen kaufen und Hüte, und was sie sonst braucht.« sagte er zur Haushälterin, küßte sein kleines Mädchen und ging fort.

Serena aber tanzte in der Kinderstube herum, was sie sonst noch nie getan hatte, und lachte vor lauter Vergnügen. Ausgehen! Kleidchen kaufen! fortgehen, mit der Eisenbahn fahren und aufs Land! Sie freute sich gar zu sehr, aber ein bißchen fürchtete sie sich doch auch vor der weiten Reise mit einem fremden Herrn, und vor den Kühen, die nun einmal ganz unzertrennlich waren von ihrer Vorstellung vom Landleben. »Meinst du, sie stoßen mich nicht mit ihren Hörnern, Betty?« fragte sie immer wieder, als das Mädchen sie ankleidete. »Und wenn nur der Herr auch der Tante Haus weiß! Wenn er es ja vergessen würde, und ich müßte ganz fortfahren mit ihm in die weite Welt hinaus! Und die Tante, gelt, die wird alt sein und sehr lang und groß, wenn sie schon meiner Mama ihre Tante gewesen ist? Und weiß sie's denn, daß ich die Serena bin?« Die kleine Miß hatte in vielen Wochen nicht so viel geplaudert als heute, während Betty sie mit vieler Mühe ankleidete zu dem großen Ausgang, der eine ganz wunderbare Begebenheit war.

Endlich aber war sie fertig und durfte fort mit der Haushälterin, weit fort in allerlei schöne Läden, wo man fertige Kinderkleider hat. Und die kaufte ein buntes Kleidchen und ein blaues für den Winter, das ganz weich und warm war, und ein weißes und ein rosenrotes. »Auf dem Land ist's warm,« sagte Frau Schneider, »da brauchst du schon leichte Kleider.« Und Serena dachte sich »das Land« wie lauter Sonnenlicht. Auch ein Strohhütchen kaufte man ihr und ein rundes Winterhütchen und niedliche Schürzen. »Auf dem Land muß man auch arbeiten,« sagte Frau Schneider; das konnte sich Serena nicht so recht vorstellen, wie sie auf dem Land arbeiten werde.


Nach wenigen Tagen weckte Betty sie in aller Frühe, kleidete sie an und wickelte sie in ihr Mäntelchen. Der Vater selbst führte sie auf die Eisenbahn, die sie bis jetzt nur ganz von weitem pfeifen hören. Wie sie aber das unermeßliche Gewimmel von Menschen sah, das sich auf dem Bahnhof umtrieb, all den Lärm und das Geschrei hörte; da ein Paar, das sich weinend umarmte, dort andre, die sich stießen und drückten, um an die Kasse zu kommen: da ward ihr ganz ängstlich zu Mute; fast hätte sie lieber wieder mögen daheim sitzen in dem trübseligen Hofgärtchen, allein mit ihrer Puppe. Ihren netten, ganz neuen Koffer, mit glänzenden Nägeln beschlagen, in dem alle die schönen, funkelneuen Kleidchen waren, den trug so ein fremder Diener fort, weit fort auf einen andern Wagen, und sie hatte entsetzlich Angst, daß sie den in ihrem ganzen Leben nicht wieder sehen werde. Denn wie sollte man aus all den vielen, vielen Kisten, Koffern, Paketen und Schachteln der Serena ihr Köfferchen wieder herausfinden, und die Schachtel mit dem neuen Hütchen!

Ganz ängstlich hielt sie sich fest an des Vaters Hand, als dieser sie an einen großen, schönen Wagen führte; da sollte sie hinein zu lauter fremden Leuten! Sie fürchtete sich, vor dem Vater zu weinen, und doch war ihr gar weinerlich zu Mut. Da hörte sie plötzlich eine fette, freundliche Stimme hinter sich: »Wie, was! will die kleine Miß nicht vorwärts? Meint sie, die Eisenbahn werde warten auf solche kleine Kreaturen?« Ach, das war ja der Doktor Schmid! – und er hatte einen Reiseüberrock an und eine Tasche umhängen, und eine blecherne Büchse in der Hand. Es war augenscheinlich, daß das der Herr war, der mitreiste; welches Glück! »Vorwärts, kleine Miß!« kommandierte Doktor Schmid – der eine kranke Schwester besuchen mußte in der Gegend, wo Serenas Tante wohnte – und ehe noch Serena ihre Verwunderung und Freude ausdrücken konnte, schob er sie mit einem gewaltigen Ruck in den Waggon. »Adieu, Töchterlein; meinst du denn, ich hätte dich allein reisen lassen? Grüß die Tante!« rief noch der Vater; dann aber ging's vorwärts, zuerst sachte, dann rascher und rascher, bis sie endlich pfeilschnell durch die Gassen von London fuhren, die Serena in ihrem ganzen jungen Leben noch nie gesehen hatte. Und so ging's denn in die Welt hinaus!

Ganz sicher und geborgen lehnte sich das kleine Mädchen an die breite Gestalt des Herrn Schmid und sah nur hie und da mit ihren stillen Augen glückselig zu ihm hinauf. Der Doktor, der nie selbst ein Kind gehabt und dem etwas bang gewesen war, daß er sich auf der Reise mit einem kleinen Mädchen befassen solle, wurde auch ganz vergnügt über seine Schutzbefohlene und nannte ihr die Namen der Städte, an denen sie vorüberflogen.

Serena behielt nicht viel davon; sie war des Reisens so gar nicht gewöhnt. Bald schlief sie ein, immer mit ihrem Köpfchen an den weichen, haarigen Aermel von Doktor Schmids warmen Reiferock gelehnt, und dieser hielt sich ganz still, um das kleine Mädchen ja nicht zu wecken.

An einer Station wachte sie auf. Es war ein Eilzug, und so war es schon Mittag geworden, als sie zum erstenmal anhielten. Serena glaubte, sie seien am Ziel und griff hastig nach dem Körbchen, in dem ihre getreue Puppe schlief; aber Herr Schmid sagte: »Es eilt noch gar nicht, Töchterchen, wir haben zu fahren bis heute abend um sechs Uhr. Aussteigen wollen wir nicht; aber da komm und iß, kleine Miß!« Und Herr Schmid öffnete die blecherne Kapsel, die wunderbar viel enthielt: zwei kleine Teller, ein Besteck, Butterbrote mit Fleisch, Salz, kurz allerlei, was zu einer Mahlzeit gehört; dazu eine weiße Serviette, die breitete er auf seinen Knien aus, ordnete seine Mahlzeit darauf und lud das kleine Mädchen nochmals ein, es sich schmecken zu lassen. Dieses alles gefiel Seiena gar wohl, aber sie konnte nicht viel essen; sie war herzlich müde von dem langen, ungewöhnten Fahren. Als es wieder weiter ging, gab sie sich alle Mühe, die Städte und Gegenden zu betrachten, auf die ihr guter alter Freund sie aufmerksam machte, aber es wurde ihr zuviel; auch die Stationen gefielen ihr gar nicht, da es so düster war in den bedeckten Bahnhöfen, wo die Waggons hielten; sie schlief nicht mehr ein, aber sie sah mit recht müden Augen hinaus. Sie hatte immer geglaubt, wenn man reise, so müsse man erstaunlich viel erleben; sie aber erlebte nichts, als daß der gute Herr Schmid immer wieder seine Blechbüchse öffnete oder hie und da eine Dame sie mit ein paar Worten anredete.

Endlich wechselten sie den Zug. »Nun, meine kleine, faule Miß, sind wir bald am Ziele.« sagte Doktor Schmid: »wie wird's gehen? Wirst deine Füßchen kaum mehr brauchen können, und den letzten Weg mußt du zu Fuß machen.« Ach, gehen! Das kam ja Serena ganz herrlich vor! Ihr war, als sei sie gewiß schon ein Jahr lang gefahren.

Dieser Zug war kein Eilzug mehr, der nur an großen Stationen anhielt. Bald hielt er an einer netten, kleinen Station; ein Wärterhäuschen mit hölzernem Balkon, den dichter Efeu umrankte, und ein gar niedlicher Garten daneben, mit den allerschönsten, buntesten Blumen! Serena war ganz glücklich, als Herr Schmid sagte: »So, kleine Miß, jetzt bist du genug gefahren, nun darfst du gehen.«

Sie konnte kaum auf ihren Füßen stehen, als sie ausstieg: aber es war ihr gar zu wohl, wieder in freier Luft zu sein, eine köstliche Luft, wie sie sie in London nie eingeatmet!

Ihr Koffer und all ihre kleine Habe, um die ihr so bang gewesen war, wurden ganz sicher, ohne Schwierigkeit herbeigeschafft und auf den Bahnhof gestellt. Ehe sie sich in dem schönen Gärtchen noch recht umsehen konnte, kam ein älteres Frauenzimmer, gar sauber und einfach gekleidet, und fragte Herrn Schmid: »Wir erwarten heute ein Töchterlein von London; bitte, ist sie vielleicht mit Ihnen gekommen?« – »Freilich,« rief Herr Schmid. »Da komm her, kleine Miß; sieh, man will dich abholen zu deiner Großtante. – Bitte, wie ist Ihr Name?« fragte er das freundlich aussehende Frauenzimmer. »Sara,« erwiderte diese; »ich bin schon seit zwanzig Jahren im Dienst bei Frau Drummond; wir freuen uns alle zwei, daß die Kleine kommt.«

Jungfer Sara gefiel der kleinen Serena gleich; sie hatte ein so nettes, braunes Kleid an mit weißen Blümchen, eine säuberliche, weiße Haube, und einen schön geflochtenen Korb am Arm. Nun aber mußte sie Abschied nehmen von dem guten, dicken Doktor, der ihr zulieb einen Umweg gemacht hatte und mit dem nächsten Zug zurückging. Der Abschied tat ihr leid und dem Herrn Schmid fast noch mehr; er schenkte ihr noch eine Menge Bonbons aus seiner Blechbüchse, so daß sie kaum Platz hatten im Körbchen neben der Puppe. Und er schaute ihr nach aus dem Wagen, als er schon davondampfte und Serena an der Hand der Jungfer Sara etwas schüchtern, aber doch seelenvergnügt den schmalen, grünen Pfad dahinging, der sich durch eine schöne Wiese schlängelte nach dem Wohnsitz der Großtante. Zu der Kleinen großer Beruhigung kam auch der Koffer mit den neuen Kleidchen und die Schachtel sicher hinter ihnen drein auf einem Handkarren, den ein alter Gärtner schob.

Jetzt erst kam es Serena vor. als sei sie draußen in der Welt; es war da alles so ganz anders, als sie es je gesehen. – ein so weiter grüner Platz vor ihr – »und die Bäume mit rechten lebendigen Aepfeln!« rief sie in höchster Verwunderung – sie hatte noch nie einen Apfelbaum mit Früchten gesehen – und dort kamen wirkliche, wahrhaftige Kühe, die ihr früher in Gedanken schon so viel zu schaffen gemacht. »Nicht wahr, das ist jetzt auf dem Land?« fragte sie Sara ganz vergnügt. »Nun ja, wie man will.« sagte diese, die es beinahe ein bißchen übel nahm. »Es wohnt aber der Herr Pfarrer bei uns und ein Notar und ein Doktor, und das Landhaus der Madame Drummond ist sehr schön: so ganz und gar auf dem Lande sind wir doch nicht.« Serena verstand nicht, warum das nicht gerade das schönste sein solle, ganz auf dem Lande zu sein. Sie vergaß alle Reisemüdigkeit in dem glückseligen Gefühl, daß sie so im herrlichen Abendsonnenschein auf der weiten, freien Wiese hinwandeln durfte; sie hatte auch alles Bangen vor der unbekannten Großtante verloren, als sie von weitem das Landhaus sah, das schneeweiß sich aus dem grünen Wiesengrunde erhob.


So groß und prachtvoll, wie Sara meinte, erschien nun dem kleinen Mädchen, das die Paläste von London gesehen hatte, das Landhaus »Marienruh«, wie es der selige Großonkel genannt hatte, eben nicht; aber so schön und so friedlich war ihr in ihrem Leben nichts vorgekommen. Der samtweiche Rasengrund vor dem Hause war mit einem leichten, schwarzen Gitterwerk eingefaßt; zu beiden Seiten stieg der silberne Strahl eines Springbrunnens von dem grünen Grund in die Höhe, und die Stufen, die zu dem Hause führten, waren mit den allerschönsten blühenden Blumenstöcken eingefaßt.

Die Tante kam heraus, der Kleinen entgegen; ihr Gesicht war blaß, aber sehr freundlich, wie Mondschein. Sie trug auch ein braunes Kleid, das hatte aber keine Blümchen wie Saras: es war dunkel und vom feinsten Wollzeug; ihre Haube, Kragen und Manschetten, alles blendend weiß; es wurde einem ganz wohl und ruhig ums Herz bei der Tante Marie, sie hatte eine so gute, herzliche Stimme.

»Grüß dich Gott, mein liebes Kind!« sagte sie liebevoll und nahm die kleine Serena in ihre Arme. »So groß wie du, ist deine Mutter gewesen, als meine liebe Schwester, deine Großmutter und ich noch beisammen lebten. Nun bleibe gern bei uns: wenn es dir nur nicht zu still hier ist nach dem großen, prächtigen London!«

Zu still! Ach nein, dachte Serena, als sie um sich blickte: auf dem Seitenweg am Landhause vorüber zogen fröhliche Bauernkinder mit Ziegen und Böcken und Kühen unter lautem Lachen und Scherzen; ein kleiner muntrer Spitzer trieb sich auf dem Rasen herum und hüpfte dann wieder hoch hinauf an Serena, wie um sie zu begrüßen, und an einem offenen Fenster des Hauses sang und zwitscherte ein Kanarienvogel. – Was war das eine Lust und ein Leben, wenn Serena dagegen an das trübselige Hofgärtlein dachte! »Nein, Tante, zu still ist's mir gar nicht.« versicherte sie ernsthaft; »bei mir ist London nicht so prächtig gewesen, wie du meinst.«

»Wie bleich sie ist, die arme Kleine,« sagte Sara mitleidig; »das kommt von dem Ruß und von dem Nebel in London, und ich höre auch, daß sie dort nichts Rechtes zu essen haben: Kalbshirn und Wasser statt Milch, und Gips im Brot! Wir wollen sie schon herausfüttern, daß sie rote Bäckchen bekommt!«


Serena bekam ein eignes, kleines Kabinett neben dem Schlafzimmer der Tante. Sie schlief da herrlich in der ersten Nacht und wachte so fröhlich auf; sie fühlte sich gar nicht fremd, es war ihr, als sei sie schon lange bei der Tante gewesen. Ihr Zimmerchen war gar zu niedlich; sie hatte einen eignen Schrank zu ihren Kleidern und eine kleine Kommode, auch ein zierliches Tischchen, darauf ein Arbeitskörbchen stand. Freilich hatte noch niemand sie Handarbeiten gelehrt, obgleich sie bald sieben Jahre alt war; man hatte sich daheim nicht Zeit dazu genommen. Aber sie freute sich sehr darauf und konnte kaum erwarten, bis sie auf ihrem kleinen Stuhl sich neben die Tante setzen durfte. Im Körbchen war Stramin und farbige Wolle; da wollte sie denn in größter Eile die allerschönsten Sachen verfertigen. »Tante, soll ich dir einen Schemel nähen oder Pantoffeln; oder vielleicht einen Teppich für meine Puppe mit Rosen oder mit Astern, weil die jetzt im Garten wachsen?«

Ja, das ging nicht so rasch! Wie sie nun lernen sollte, ein Stichlein ums andere machen, immer nur über zwei Fäden, da wurde ihr's gar bald langweilig; sie blieb nur aus Gehorsam gegen die Tante noch sitzen und war gar froh, als die große künstliche Uhr in der behaglichen Wohnstube zehn schlug und die Tante sagte: »So, nun ist's genug für heute: du kannst jetzt ein Weilchen spielen und dann um elf dein Buchstabenkästchen bringen, damit du lesen lernst und ein geschicktes Mädchen wirst.« Ja, zu spielen gab's genug: sie mußte doch zuerst ihre alte, liebe, heimatliche Puppe auspacken, Miß Mary genannt. Der hatte die Reise gar nicht geschadet; sie hatte so schöne, rote Backen als vorher und verwunderte sich gar nicht über den neuen Aufenthalt. Auch die gute Tante und Sara hatten für Serena eine Puppe fertig gemacht, ein Wickelkind in einem schneeweißen Bettchen mit einem grünen Schlummertuch darüber; das hatte ein gar hübsches, feines Wachsgesicht und konnte die Aeuglein schließen: das war zu schön! Serena hatte noch kein solches gesehen, obgleich sie von London kam, aber sie hatte dort ja keine Gespielen. Das war ihr nun ein gar zu liebes Kindlein; sie hieß es Klärchen, und Miß Mary wurde sogleich zur Kindsfrau ernannt. Freilich hatte das Kind einen etwas größern Kopf, als seine Bonne, aber das tat nicht viel: Miß Mary war doch jedenfalls viel älter.

Es war sehr bald elf Uhr, und sie wäre vielleicht nicht gern mit dem Buchstabenkästchen zu der Tante gegangen, wenn das nicht eben auch etwas Neues gewesen wäre. Es war ein ganz niedliches, rotes Kästchen und Buchstaben wie ein Spielzeug. – Nun sollte sie also die einzelnen lernen: »a«, das war sehr leicht, auch »o« und »e«; aber sie sollte nun die Buchstaben, die sie gelernt, zusammensetzen und nachher in einem großgedruckten Buch wieder aufsuchen; das wurde nach und nach ein bißchen langweilig, und Serena schaute gar zu oft hinauf nach der Uhr. Diese Uhr war ein besonderes Kunstwerk; sie war von Bronze und stellte ein Hühnerhaus vor. Mit dem Schlage eins kam ein Hühnchen heraus, um zwei Uhr zwei und so immer weiter; Serena war hochvergnügt, als mit dem Schlage zwölf zwölf Hühnchen herausspazierten und sie ihre Buchstaben wieder zusammenpacken durfte.

Bis zum Mittagessen, das man bei uns zu Lande Abendessen nennen würde, durfte Serena mit der Puppe spielen, und die ganze schöne Zeit vom Essen bis zum Schlafengehen durfte sie im Garten oder sonst im Freien zubringen. Vor dem Haus war nur der schöne Rasenplatz und hie und da unter dem Grün ein kleines Beet der herrlichsten Blumen; hinter dem Haus aber streckte sich ein großer Gemüsegarten hin, der an ein Wäldchen grenzte: alles lauter Freude und Herrlichkeit für die Kleine. Es war bereits ein Gärtchen für sie abgeteilt, um das ihr John, der alte Gärtner, eine Einfassung von Weidengeflecht gemacht hatte; in einem hölzernen Häuschen daneben fand sie eine ganz neue, kleine Hacke, Rechen und Gießkanne und einen niedlichen Schiebkarren, auf dem sie das Unkraut fortführen konnte. Das war nun eine Glückseligkeit! Sie hackte und rechte und grub mit allergrößter Lust und ließ sich von Sara Anweisung geben, wie sie Blumensamen aussäen sollte und Blumenstöckchen setzen. Bald hatte sie den Rasenboden ausgerupft, nur um genug Unkraut zu haben, das sie auf ihren niedlichen Karren laden konnte.

Es gefiel ihr gar zu wohl bei der Tante; alles war schön und herrlich, nur das Arbeiten und das Lernen nicht; daran hatte sie am zweiten Tag schon genug, und als die Tante rief: »Nun bring' dein Buch, Serena!« da sagte sie ganz zutraulich: »Liebe Tante, ich will lieber gar nicht lernen und nicht geschickt werden, ich bin auch so vergnügt.« – »Nun, wenn du lieber willst, so wollen wir vorher ein wenig nähen.« – »Ja, nähen mag ich auch nicht, Tante.« – »So? willst du denn gar nichts tun?« – »O, freilich, Tante, recht viel will ich tun: spielen und im Garten arbeiten, und der Sara ein wenig helfen und herumspringen auf der Wiese und Blumen holen, und meine Kinder spazieren führen in dem netten kleinen Wagen. O Tante, ich habe so viel zu tun!«

»Weißt du, liebe Serena, wer dich in diese schöne Welt erschaffen hat?«

»Freilich weiß ich's,« sagte das kleine Mädchen, vergnügt, daß sie einmal etwas wußte, »der liebe Gott.«

»Wozu bist du denn in der Welt?«

Darauf hatte sich die kleine Serena noch nie besonnen, und es kostete sie einiges Nachdenken. »Nun, daß ich recht vergnügt sein soll,« sagte sie endlich, »und auch gut und brav,« gestand sie nach einer Weile noch zu.

»Ja, Kind, du bist auf der Welt, daß der liebe Gott und gute Menschen eine Freude an dir haben sollen; dann erst kannst du recht vergnügt sein und wirst im Himmel einmal noch viel froher und glückseliger, als auf der Erde.«

»Ja, wenn ich aber recht lustig bin und spiele, so hat der liebe Gott gewiß auch eine Freude.«

»Aber wenn du nichts lernst, liebe Serena, so kannst du andern nie etwas tun und helfen, und dann kann sich der liebe Gott nicht an dir freuen; wenn du dir aber Mühe gibst, auch wenn du's nicht gern tust, und du lernst etwas, daß du andern helfen kannst und Freude machen, gib acht, kleine Serena, dann wird dein eignes Herzchen erst recht vergnügt und du spürst, daß dich Gott lieb hat. Du mußt noch viel lernen im Leben, Kind, was schwerer ist als Buchstaben und Kreuzstich; aber es geht leichter, wenn du als Kind gelernt hast, dein eigenwillig Herzchen zu überwinden.«

So ganz verstand nun Serena nicht, wie die Tante es meinte; aber sie dachte, sie wolle einstweilen lernen und arbeiten, weil die gute Tante es wünschte, und es ging nicht so schwer; sie sprang dann so herzlich vergnügt in den Garten oder zu den Puppen, wenn sie fertig war. Sie fand alle Tage etwas Neues und etwas Schöneres; nur kam sie sich manchmal allein vor, wenn sie die Bauernkinder so lustig miteinander herumspringen sah, und doch wäre sie zu schüchtern gewesen, zu ihnen zu gehen, – sie war so gar nicht den Verkehr mit Kindern gewöhnt.


Nun kam der Sonntag. Serena durfte das neue, kornblumenblaue Kleidchen anziehen und wandelte sittsam, ein schwarzes Büchlein in der Hand, obgleich sie noch nicht lesen konnte, an der Hand der Tante zur Kirche. Es war das erste Mal, daß sie ins Dorf kam, und es war solch ein netter Weg zwischen grünen Hecken, die die Wiesen und Aecker ringsum einfaßten! Von allen Seiten her kamen Bauersleute in ihrem Sonntagsstaat mit ihren Büchern und grüßten die freundliche Tante. Alles war so still, so feierlich, und ein goldner Sonnenschein lag über der weiten Flur.

Serena war nie in einer Kirche gewesen, obgleich in London viel große und herrliche Kirchen sind. Die kranke Mutter hatte nicht hingehen können; den Dienstmädchen aber war es zu unbequem, sich mit dem kleinen Mädchen zu befassen. Da war sie denn am Sonntag morgen auf ihrem kleinen Stuhl an der Mutter Bett gesessen, und die hatte ihr mit schwacher Stimme schöne Geschichten aus der Bibel erzählt, aber eine Orgel und ein Kirchenlied hatte sie nie gehört.

Es war nur eine kleine Kirche, in die sie in der goldnen Morgenfrühe mit ihrer Tante eintrat aus der hellen, sonnigen Welt da draußen; aber das Kirchlein stand so feierlich auf dem stillen, grünen Platz, rings umgeben von Gräbern und Kreuzen; so geheimnisvoll wurde es Serena zumute, als sie eintrat, in den kühlen, hohen Raum. Da klangen von der Höhe wunderbare Töne, nicht wie die Musik, die sie daheim wohl manchmal beim Vorbeiziehen der Soldaten oder von einem Klavier gehört hatte, – nein, wie ein Engelsgesang kam es ihr vor. Sie hob die Augen und sah das seltsame, silberglänzende Instrument, von dem die Wundertöne ausgingen – eine kleine Orgel von besonders reinem und schönem Ton. – Sie sah einen Knaben davor sitzen; aber es konnte doch wohl nicht sein, daß dieser solche wunderbare Musik machte!

Nun begann der Gesang, und Serena versuchte mit ihrem schwachen Stimmchen mitzusingen, so gut es ging; dann kam der Geistliche auf die Kanzel. Serena kniete nieder zum Gebet; es fielen ihr die stillen Zeiten wieder ein in der Mutter Kämmerlein und wie die Mutter ihr gesagt, daß der liebe Gott alles höre, was sie auch noch so leise zu ihm sage. Sie mußte denken, wie schön es sei, daß jetzt alle die vielen Leute reden mit dem lieben Gott; sie konnte freilich noch nicht recht die Gedanken ihres Herzens in Worte fassen, aber sie dachte an die selige Mutter im Himmel und bat, daß sie auch einmal zu ihr kommen dürfe; sie dachte auch, ob sie den lieben Gott nicht bitten solle um ein kleines Mädchen, das mit ihr spielen könne; aber sie wußte nicht, ob das erlaubt sei in der Kirche. – Was nun der Pfarrer predigte, das verstand sie nicht so gut; sie verstand nur die schöne Geschichte, die er vorlas vom Heiland, der die Kindlein segnete. Das Orgelspiel und der schöne Gesang am Ende, die nahmen wieder ihre ganze Seele hin; sie hätte immer und immer darauf horchen und lauschen mögen.

Als sie mit der Tante aus der Kirche ging, kam der Pfarrer der gepredigt hatte, mit einem Knaben, nicht viel älter als Serena, an der Hand. Er grüßte die Tante, und die sagte freundlich: »Nun, Edmund, willst du morgen nicht zu meiner kleinen Serena kommen und in ihrem eigenen Gärtchen spielen? »Gern,« sagte Edmund. Serena gab ihm auf den Wink der Tante die Hand; aber seine Augen, obgleich sie groß und hell waren, blickten so seltsam in die Luft hinaus; sie fühlte sich fast ein wenig scheu und war froh, als die Tante mit ihr heimwärts ging. »Tante,« sagte sie, »warum hat mich der Edmund gar nicht recht angesehen?«

»Edmund ist blind,« sagte die Tante.

»Blind?« Das konnte die kleine Serena gar nicht begreifen. – Sie hatte in London einen alten blinden Mann an Straßenecken spielen hören, sie hatte sich Blinde nur als alte Bettler gedacht; daß ein gutgekleideter, schöner Knabe wie Edmund blind sein solle, das ging über ihr Verständnis.

»Ganz blind, Tante? Und er weiß gar nicht, wie die Welt aussieht und sein Vater und alle Leute?«

»Gar nicht. Er ist blind geworden, als er noch ein ganz kleines Kind war; er hat nie die schöne Erde gesehen.«

»Aber Tante, ist das denn auch recht vom lieben Gott? Du sagst ja, er sei lauter Liebe und Güte!«

»So ist's, liebes Kind; auch wenn er deine liebe Mutter so früh zu sich genommen und Edmund hat blind werden lassen. Was Gott tut, das tut er, um die Menschenherzen zu sich zu ziehen, daß er sie seligmachen kann; warum er es so getan, das erfahren wir oft erst im Himmel. Auch mir hat der liebe Gott früh meine lieben Kinder sterben lassen, und mein einziger Sohn ist weit fort überm Meer; aber ich habe gelernt, nicht zu klagen, sondern mich zu freuen, bis ich beim Heiland sie wiedersehen darf und recht verstehen lerne, warum es der liebe Gott so gefügt. Gegen Edmund ist Gott aber sehr gut gewesen, er hat ihm ein frommes, fröhliches Herz gegeben und die schöne Gabe für Musik.«

»O ja. Tante, das ist so wunderbar, daß er solche Musik selbst machen kann! Sehe ich ihn heute wieder? Aber ich fürchte mich ein wenig.«


Serena fürchtete sich nicht lange vor dem blinden Edmund, den sein Vater nachmittags zur Tante brachte. Sie war anfangs noch etwas schüchtern, aber er wurde ihr bald ein ganz lieber Spielkamerad, so daß sie nicht mehr an ein kleines Mädchen dachte. Freilich war er etwas älter und größer als sie; aber das machte sie gerade stolz, daß sie einen so großen Knaben führen durfte. Die nächsten Wege um seines Vaters Haus und in seinem Garien wußte Edmund wohl; aber auf Pfaden, die er nicht gewöhnt war, mußte man ihn führen, und Serena tat es so nett und vorsichtig wie ein kleines Mütterlein; sie zählte für ihn die Treppen und bediente ihn beim Essen. Freilich rief sie anfangs noch oft: »Da sieh, Edmund, wie schönl« – »Sieh einmal den kleinen Käfer!« und erschrak dann, wenn sie dachte, es könnte ihn betrüben. Aber Edmund lächelte nur und sagte: »Ja, ich glaub's.«

An Blumen hatte er eine große Freude, und es war eine seiner liebsten Unterhaltungen, wenn er in der Laube saß oder unter einem Baum in dem nahen Wäldchen, und Serena ihm eine Menge Blumen zutrug, aus denen er Sträußchen machte. Er freute sich dann, wenn Serena ihm sagte, daß sie schön ausgefallen seien.

Springen konnte Edmund freilich nicht mit ihr. Auch mit der Puppe konnte er nicht gut umgehen; sie holte sie manchmal, und er sollte den Papa vorstellen. Das verstand er aber nie recht, und wenn sie ihm die Kleine auf die Arme legte und wohlgefällig sagte: »Behalt es nur ein wenig! Bei dir ist es am stillsten,« dann lachte er und sagte: »Es ist ja immerfort still,« und wollte nicht glauben, daß das Kind diesen Morgen schon geschrien habe. Aber Edmund konnte so schöne Geschichten erzählen; Serena konnte gar nicht genug bekommen. Auch lehrte er sie schöne Lieder und sang sie manchmal an dem Klavier der Tante, und es klang lieblich, wenn Serenas zartes Stimmchen darein tönte; die Tante hörte das zu gern.

Edmund durfte nur in seinen Freistunden zu Serena kommen; denn obgleich er blind war, so mußte er doch arbeiten. Er lernte bei seinem Vater, und Serena hatte großen Respekt, wenn er sie puella hieß und lateinische Wörter lehren wollte. Auch lernte er Körbe und Matten flechten von einem geschickten Mann aus dem Dorf. Sogar lesen konnte er aus einem ganz künstlich gedruckten Buch, wo man die Buchstaben mit den Fingern fühlen konnte; nur gab es nicht viele Bücher, die so gedruckt waren.

Edmund hatte selten Langeweile gehabt; doch war er nie zuvor so glücklich und vergnügt gewesen, wie jetzt mit seiner kleinen Gespielin. Die Knaben aus dem Dorf waren zu wild für ihn und hatten nicht lange Geduld mit dem armen Blinden. Serena aber war glücklich, daß sie nun Gesellschaft hatte; an lärmende Kinder war sie auch nicht gewöhnt, und es gefiel ihr gar zu wohl, daß sie für den großen Knaben sorgen durfte. Im Gärtchen pflanzte sie von jetzt an nur wohlriechende Blumen, die Edmund liebte, und Beeren, die er gern aß; auch spielten sie im Garten ihre schönsten Spiele. Am schönsten war es, wenn Edmund ihren Bruder vorstellte, der aus fremden Landen zu Besuch kam: dann führte sie ihn in die Laube und bereitete ihm einen Sitz von weichen Tüchern und trug ihm auf, was sie im Gärtchen hatte, oder was die gute Tante spendete; sie gab aber den Speisen allerhand vornehme und köstliche Namen. Die Haselnüsse hießen indianische Vogelnester und das Butterbrot Punschtorte, und wenn der weitgereiste Bruder genug geschmaust hatte, dann mußte er erzählen von den fernen Ländern, in denen er gewesen war, und das waren ganz wunderbare und schöne Geschichten; denn der blinde Edmund wußte viel von der Welt aus der Nähe und Ferne, was der Vater ihn gelehrt, und er behielt alles so gut, weil ihn nichts zerstreute.

Auch große Reisen machten die Kinder zusammen. Das nahe kleine Wäldchen war ein amerikanischer Urwald, und wenn Edmund erzählte von den Affen, die jetzt über ihnen spielen in den hohen Bäumen, von den Riesenfröschen und ungeheuren Eidechsen: da bildete sich die Kleine am Ende ein, sie sei mitten drin und war seelenfroh, wenn sie wieder den grünen Pfad miteinander heimwärts wandelten und die Bauern unterwegs sie mit treuherzigem Gruße anredeten.

Aber der blinde Edmund wurde auch Serenas Lehrer, und sie war aufmerksamer in seinen Lektionen, als in denen der Tante. Er konnte sie freilich nicht lesen und schreiben lassen; aber er lehrte sie Lieder und Sprüche, die heilige Geschichte und manches aus der Weltgeschichte, und sie mußte es ihm wiedererzählen. Sie tat das gern, auch weil es immer wieder Sachen gab, über die sie den großen Edmund belehren konnte. Das Beste aber, was sie von Edmund lernte, das war, ihr junges Herz mit all seinen kleinen Sorgen, die ja auch in einem Kinderleben nicht fehlen, vor den Vater droben zu bringen, der uns noch besser versteht als der beste Vater auf Erden. Und wenn sie von Edmund hörte, wie er oft so traurig und ungeduldig gewesen war, daß er nichts sehen durfte von all der schönen Welt, und wie er gelernt hatte, sich geduldig in Gottes Willen zu fügen, und sanft und freundlich zu bleiben bei allem, was er entbehren mußte, – da schämte sie sich ihrer kleinen kindischen Unarten und ihrer Ungeduld, wenn nicht alles nach ihrem Wunsche ging. Sie lernte andern zulieb auch tun, was sie nicht wollte, und sie wurde immer fröhlicher und zufriedener dabei.


Fast drei Jahre hatten die Kinder so ein friedliches und glückliches Leben zusammen geführt. Einmal hatte Serenas Vater sie besucht; die Reise war sehr weit, und er konnte sich seiner Geschäfte wegen nie lang von Haus entfernen. – Er hatte ihr ein schönes, seidenes Kleidchen mitgebracht und war sehr freundlich; er sah so gern in Serenas Gesichtchen, das der seligen Mutter sehr ähnlich war, und freute sich von Herzen, daß sie jetzt so blühend und gesund aussah. Aber es ging ihm wie vor Zeiten: er wußte nicht recht, was er mit einem kleinen Mädchen reden sollte; er konnte unmöglich viel Vergnügen an ihrem Gesichtchen finden, und die neue Puppenfamilie, die sie selbst gekleidet hatte, verstand er gar nicht recht zu bewundern. Daß sie keine Gespielen haben sollte, als einen blinden Knaben, kam ihm auch traurig vor; er wußte ja nicht, wie glücklich die zwei Kinder miteinander waren. »Nun, sei nur ruhig, kleine Serena,« sagte er beim Abschied, »du darfst jetzt vielleicht bald wieder nach London, wo es so schön ist! Würdest du dich freuen, wenn du eine neue Mama bekämest?«

Eine neue Mama! Das konnte sich Serena nicht recht vorstellen. Sie konnte sich ihre gute selige Mutter noch wohl denken, schneeweiß und blaß, wie sie im Sarge lag, mit lauter schönen Blumen bekränzt. Edmund hatte seine Mutter auch früh verloren; in seines Vaters Zimmer hing ein schönes Bild, wie ein lichter Engel himmelan schwebt und noch Grüße hinunterwinkt auf die Erde. So etwa dachte sie sich jetzt ihre Mutter; aber eine neue Mama auf der Erde, das war ihr nie eingefallen; sie vergaß es auch bald wieder und dachte nicht mehr daran.

An einem recht schönen Abend saß Serena im Garten mit Edmund auf der kleinen Bank bei ihrem Gärtchen; oben in der Laube waren die Tante und der Herr Pfarrer beisammen und freuten sich über die Kinder. Edmund hatte seine kleine Violine und spielte die Melodie eines schönen deutschen Liedes, die er erst gelernt:

»Was Gott tut, das ist wohlgetan ...«

Serena aber legte ihr Püppchen in einen Korb zur Ruhe, weil es bei den sanften Tönen so leicht einschlafen konnte. Da kam Sara herunter: »Hier ist ein eigener Brief an Sie, Miß.« Das war der erste Brief, den Serena erhielt; ihr Vater schrieb selten, gewöhnlich an die Tante, und schrieb dann noch herzliche Grüße für sein kleines Mädchen dazu; diesmal aber war der Brief für sie selbst!

Mit großer Freude und Begierde öffnete Serena den großen Brief, darin noch einer an die Tante war; aber sie wurde gar still, als sie ihn gelesen hatte. Sie ließ den Brief fallen und ließ ihr Köpfchen hängen und sagte kein Wort.

»Liebe Serena,« schrieb ihr der Vater, »Du bist nun bald zehn Jahre, ein großes Mädchen, und es ist Zeit, daß Du Unterricht von guten Lehrern bekommst, wie sie hier in London zu finden sind. Du wirst auch eine Gouvernante bekommen, die Dich manches lehrt, was man auf dem Lande nicht lernt und nicht nötig hat. Damit Du aber nicht mehr so allein bist, wenn Du wieder zu mir kommst, habe ich eine neue Mama heimgeführt, die gut für Dich sorgen wird. Ich hoffe, Du wirst ihr ein gehorsames Kind sein. Meine liebe Frau, Deine neue Mutter, ist Witwe gewesen und bringt zwei Söhne mit, Robert und Richard; so triffst Du doch gleich Spielkameraden daheim an.

Deiner lieben Tante will ich selbst noch vielmal danken für alle ihre Güte gegen Dich. Du bist ja so gesund und blühend bei ihr geworden, daß Du auch hier in London wohl bleiben wirst. Miß Martin, Deine neue Gouvernante, wird Dich in vierzehn Tagen auf der Station bei eurem Dorfe abholen.

Wir freuen uns alle, bis wir unser Töchterlein hier haben. Deine neue Mama grüßt Dich freundlich.«

Serena gab der Tante den Brief, der an sie eingeschlossen war, und sagte kein Wort. Sie blieb auch ganz still, als die Tante dem Vater Edmunds mitteilte, was in dem Briefe stand, und daß sie nun ihr Töchterlein verlieren müsse; – sie sah nur, daß große Tränen aus Edmunds blinden Augen flossen, und sie selbst wurde so traurig, daß sie nicht sprechen konnte.

»Da werde ich recht allein sein,« sagte endlich Edmund leise und betrübt. »Komm nur, lieber Edmund,« sagte sein Vater freundlich, »Serena kommt morgen zu uns, heute reden wir nicht viel mehr davon.« Und Edmund legte stille seine Violine in das Kästchen, sagte gute Nacht und ging an seines Vaters Hand dem Pfarrhaus zu.

»Tante,« sagte Serena heftig, als Edmund fort war, »ich will nicht heim! Ich bin so gerne bei dir, ich habe gar keine neue Mama nötig! Und Brüder brauche ich auch nicht! Ja, wenn es ein nettes, kleines Brüderlein wäre! Aber das werden gleich so große, dicke Buben sein, die wollen nichts von mir; der Edmund hat mich viel nötiger; wer soll ihn denn führen? Und in den kalten Hof daheim mag ich auch nicht wieder; bei dir ist es viel schöner. – Nein, ich gehe nicht!«

Die Tante ließ sie ruhig ausreden. Dann fragte sie nur: »Weißt du noch das vierte Gebot, Serena?« – »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren,« sagte Serena etwas verlegen. »Aber weißt du, Tante, das will ich ja; hier bei dir will ich meinen Vater so sehr ehren, wie ich nur kann; ich möchte bloß nicht nach London!«

»Ehrst du denn deinen Vater, wenn du seinem Willen nicht folgst?« fragte lächelnd die Tante, und Serena schwieg beschämt. »Liebes Kind,« fuhr die Tante fort, indem sie sie zu sich zog. »Du weißt selbst wohl, daß es Gottes Wille ist, daß du deinem Vater folgst. Alles, was der liebe Gott in deinen Weg schickt, es mag dir nun angenehm sein oder nicht, das mußt du ansehen wie einen Ruf: ›Komm zu mir, mein Kind!‹ und mußt dann suchen und sehen, daß der neue Weg, den du gehen mußt, dich näher zu Gott bringt, auch wenn er nicht angenehm aussieht.«

»Aber, Tante, daheim brauchen sie mich nicht, und Edmund hat mich so nötig; und du auch ein bißchen, Tante, nicht wahr?« setzte sie schüchtern hinzu. »Ich kann ja doch die Tassen waschen und den Vogel füttern und den Staub abwischen; da hat Sara doch viel zu schaffen, wenn sie das alles wieder allein tun muß!«

»Freilich,« sagte die Tante und küßte sie auf die Stirn, und Tränen standen in ihren Augen. »Es wird uns allen sehr fehlen, unser Töchterlein; aber es ist deine Sache, liebes Kind, so zu sein, daß du denen daheim lieb wirst wie uns, daß sie sagen: ›Gottlob, daß wir unsere liebe Serena haben!‹ Probiere es nur! Wo man Liebe erzeugt recht von Herzen, da wird man auch nötig.«

Die Tante hatte sehr recht. Aber traurig war Serena doch; sie glaubte, sie hätte gewiß genug von Edmund und seinem Vater lernen können und hätte keine Lehrer von London gebraucht. Die Kinder waren sehr betrübt, als sie zusammen noch alle ihre lieben Spaziergänge aufsuchten. Edmund hatte jedoch frühe gelernt, sein Herz in Gottes Willen zu ergeben; er tröstete Serena noch und half ihr geduldiger werden. Aber es war ein gar zu trauriger Morgen, als Serena zum Abschied ihre Hand in die seine legte; als sie scheiden mußte von dem lieben, schönen Hause, von ihrem Gärtchen, von allem, was ihr so teuer geworden war: sie meinte, sie könne in ihrem ganzen Leben nie mehr froh werden.


Miß Martin, die Gouvernante, die sie auf der Station traf, sah sehr steif, lang und gerade aus und wußte mit dem weinenden Mädchen nicht viel anzufangen, als daß sie ihr sagte, es sei unschicklich, auf der Eisenbahn zu weinen. Serena konnte aber doch lange nicht aufhören, bis sie ganz matt ihr Köpfchen zur Seite neigte und einschlief.

Die Reise war sehr lang, und Serena todmüde, als sie endlich in London eintraf; sie wurde mit Miß Martin hinaufgeführt ins Speisezimmer, wo ihr Vater und die neue Mama am Tische saßen. Ach, sie sah so ganz anders aus, als die liebe, selige Mama mit dem feinen, blassen Gesicht und den weißen Kleidern, wie Serena sie im Gedächtnis hatte! Es war eine stattliche, geputzte Dame; sie bot aber Serena sehr freundlich die Hand und sagte: »Nun, sei willkommen daheim! Ich hoffe, daß du gern bei uns sein wirst.« Der Vater nahm sie in die Arme und küßte sie, was er sonst nie getan hatte, und Serena meinte sogar, sie sehe eine Träne in seinem Auge. Sie musste sich setzen und Tee trinken mit den Eltern. In einer Ecke der Stube hörte sie immer einen dumpfen Lärm, bis mit großem Gepolter der Lehnstuhl, der dort stand, umfiel, und zwei krausköpfige Buben zum Vorschein kamen, die auf dem Boden herumpurzelten.

»Wie, Dick und Bob, schämt euch!« rief die Mutter; »geht gleich her und gebt Schwester Serena die Hand! Die wird noch keine so unartigen Schlingel gesehen haben, wie ihr seid.«

»Ja, das ist wahr,« hätte Serena beinahe gesagt, da sie noch Edmunds sanftes, freundliches Wesen im Sinne hatte; aber es fiel ihr doch ein, daß das nicht sehr höflich wäre. So bot sie denn den neuen Brüdern, Robert und Richard, was nach englischer Sitte in Bob und Dick abgekürzt wurde, die Hand; sie murmelten etwas vor sich hin und zogen sich alsbald zurück. Auch Serena war froh, als man ihr das neue, sehr nette Zimmer zeigte, das sie und Miß Martin nun miteinander bewohnen sollten. Sie schlief bald ein und träumte von der Tante und von Edmund und ihrem Gärtchen, bis sie am Morgen mit hellen Tränen aufwachte, als ihr einfiel, wie weit, weit sie sei von jener lieblichen Heimat.


Brief Serenas an ihre Tante

»Ach, liebe Tante, das hätte ich gar nicht geglaubt, daß ich an Dich noch werde heimlich schreiben müssen! Aber, siehst Du, gestern habe ich an Edmund geschrieben und habe ihm alles gesagt, wie ich so traurig bin, und wie ich das Heimweh nach euch habe. Da hat Miß Martin meinen Brief gelesen und gesagt, das sei ganz unpassend, wie ich geschrieben, sie wolle mir den Brief diktieren, und ich mußte anfangen: ›Wertgeschätzter, junger Freund!‹ und das ist ja nicht wahr. Edmund ist gar nicht mein junger Freund, ich bin über ein Jahr jünger als er, und so habe ich einen ganz steifen Brief schreiben müssen. Du wirst ihn ja sehen, liebe Tante, sag' nur dem Edmund, daß ich nichts dafür kann. An Dich will sie mir auch noch einen Brief diktieren, aber ich schreibe jetzt geschwind heute, wo sie ausgegangen ist, und der Laufjunge unten trägt ihn mir auf die Post, meinen Brief nämlich.

O, liebe Tante, wenn ich doch wieder bei Dir wäre! Die neue Mama ist nicht bös gegen mich, gar nicht wie die Stiefmütter im Märchen. Aber sie muß immer sehr viel Besuche machen, oder es kommen Damen zu ihr, und ich esse oben im Lehrzimmer mit Miß Martin, und die belehrt mich in einem fort, und das ist so langweilig. Ich darf nicht mehr allein spielen im Hofgärtchen wie vor drei Jahren; ich muß jetzt mit Miß Martin spazieren gehen, immer den nämlichen Weg, und immer sagt sie, ich soll aufrecht gehen und die Füße auswärts setzen, und das ist auch so langweilig. Wenn ich doch nur ein einziges Mal wieder in meinem Gärtlein sein könnte oder im Wald mit Edmund!

Und die Buben! O, liebe Tante, wie sind doch die Buben so bös und so unartig, und so wild! Sie schreien und lärmen in einem fort und jagen die Katze im Haus herum, oder plagen den Hofhund, daß er heult; und gegen mich sind sie so grob und lachen mich aus und sagen, ich sei ein Paradiesvogel und eine Marzipanjungfer, weil ich nicht so wild sein kann wie sie, und wenn ich es der Miß Martin sage, und die klagt es der Mutter, so gibt sie ihnen wohl einen Puff, aber sie sagt dann doch: »Das kleine Mädchen kann aber auch gar nichts ertragen!« und ich merke wohl, daß sie über mich ärgerlicher ist als über die unartigen Buben.

O, liebe Tante, wenn ich doch bei Dir wäre und bei Edmund! Ich muß alle Nacht weinen, wenn ich in mein Bett komme, und Miß Martin sagt, ich sei so verdrossen und undankbar. Nicht wahr, liebe Tante, bei Dir bin ich nicht verdrossen gewesen und auch nicht undankbar? Aber ich darf nicht mehr schreiben; sie hat mir ja noch eine französische Konjugation aufgegeben, und ich muß eilen, daß ich dem Laufburschen noch den Brief geben kann: Porto kann ich keines bezahlen. O, liebe Tante, wenn ich nur noch bei Dir wäre! – und wenn jetzt noch ein Brief von mir kommt, der anfängt: ›Hochverehrte Frau Tante!‹ so glaub's nur nicht; es ist nicht wahr, und der Brief ist dann nur diktiert. Der aber gilt, und ich grüße Dich von Herzen.

Deine betrübte Serena.«

Die Tante an Serena

»Ja, meine liebe Serena, das wäre freilich eine Freude, wenn Du noch bei uns sein könntest; wir denken viel an Dich. Sara tut es leid, daß sie kein Leibgericht mehr für Dich kochen kann; selbst unser Vögelein schaut oft aus seinem Käfig, als ob es Dich suchen wollte, und Deiner alten Großtante fehlt es recht um ihr Töchterlein. Weil es aber nicht sein sollte, so bitte ich Gott, daß es zu Deinem Heil und zu Deiner Eltern Freude sein möge, daß Du bei ihnen bist.

Edmund ist vielleicht am meisten um Dich betrübt, aber er sagt nicht viel davon. Er sagte zu mir am zweiten Tag: ›Ich kann meinem Vater nicht soviel Freude machen wie ein gesunder Sohn, der helle Augen hat und geschickt und berühmt werden kann, da will ich ihn doch nicht betrüben mit meiner Traurigkeit.‹ Und er spielt sein Klavier und singt so schön, daß alle eine Freude haben; er flicht jetzt ein feines Körbchen, das Du bekommen sollst.

Alle Morgen läßt er ein paar arme kleine Knaben vom Dorf kommen, solange ihre Eltern auf dem Feld sind; denen erzählt er aus der Bibel und andere schöne Geschichten und lehrt sie Lieder. Es sind freilich keine Gespielen für ihn, wie Serena war; aber sie haben ihn sehr lieb, und es ist so nett zu sehen, wie jeder der kleinen Bursche sich Mühe gibt, seinem blinden Lehrer eine kleine Freude zu machen: sie bringen ihm feine Weiden, Blumen und Obst, und sind ganz stolz und vergnügt, wenn sie ihn führen dürfen.

Wie wär's, wenn auch meine liebe Serena versuchen würde, andern eine Freude zu machen, statt daß sie so gar viel an alles denkt, was ihr fehlt? Wenn Deine Mama gut gegen Dich ist und nicht wie eine Stiefmutter, so sei auch du ein gutes Kind und bringe ihr ein williges, freundliches Herz entgegen. Deine liebe, selige Mutter war krank und darum immer bei Dir; eine gesunde, junge Frau lebt anders. Je mehr Du Dir Mühe gibst, ein gutes, freundliches Kind zu sein für Deine Eltern auf Erden, desto gewisser kommst Du einst zu Deiner seligen Mutter im Himmel.

Bitte Miß Martin, daß sie Dich lehrt eine hübsche Arbeit machen für Deine Mama; so sieht sie doch, daß Du den guten Willen hast, ihr Freude zu machen, und laß Dir's nicht entleidet sein, wenn Miß Martin Dich belehrt; wenn sie Dich aufrecht gehen heißt und die Füße auswärts setzen, so tu es nur! Deine alte Tante hat manches nicht gesehen, was doch nötig ist für ein gut erzogenes Mädchen.

Ein paar gesunde starke Buben, wie Deine Brüder, werden freilich wilder und wohl auch unartiger sein, als unser Edmund, den der liebe Gott so früh schon besonders in seine Schule genommen hat. Aber versuche, wenn Du ihnen freundlich und gefällig bist, ob sie nicht auch freundlicher werden! Und vor allem, liebes Kind, bitte Gott um ein liebevolles Herz, daß Du gern und von Herzen tun kannst, was Du ihnen zulieb tust. Gib nur acht! der Bob und der Dick sind am Ende nicht so schlimm, und Du wirst noch gut Freund mit ihnen werden.

Was mir aber am meisten am Herzen liegt, liebste Serena, das ist, daß Du offen und wahrhaftig bleibst in allem bis auf den innersten Grund Deiner Seele; nichts Verstecktes, liebes Kind, auch wenn es unschuldig scheint! Schreibe mir nie mehr heimlich, auch an Edmund nicht; Dein Herz verstehe ich doch, auch wenn Du mich eine verehrte Frau Tante heißt. Du weißt nicht, welch köstliche Gut es ist, wenn man jedem Menschen mit klarem Auge ins Gesicht sehen kann. Wer sich angewöhnt, etwas Heimliches und Verstecktes zu haben, der ist am Ende gegen den lieben Gott und gegen sich selbst nicht mehr wahrhaftig; davor behüte Dich der Herr!

Denkst Du daran, liebes Kind, wie Du nicht hast lesen lernen wollen? Wie bist Du seither oft so froh gewesen, daß Du es gelernt hast. Daß Du nun aus unsrem stillen, friedlichen Leben in eine andre Welt gekommen bist, das ist auch eine Schule; darin sollst Du lernen, andern in Liebe zu dienen und ein freundliches und friedliches Herz zu bewahren, auch wo es schwer scheint.

Gott sei mit Dir, mein liebes Mädchen! Versuch's einmal, besinne Dich zuerst, nicht auf das, was Dir jetzt lieb wäre, sondern was Du den Deinen zuliebe tun kannst. Sei fröhlich und zufrieden und behalte lieb

Deine alte Tante.«

N.S. »Edmund hat Deinen Brief erhalten und sich doch daran gefreut, wenn er auch weiß, daß Du allein anders geschrieben hättest. Mit seiner kleinen Druckerei hat er jetzt gelernt, Worte zusammensetzen, und will bald einen Brief an Dich drucken.« –

Serena fühlte wohl, daß die Tante recht hatte. Es kam ihr auch alles gar leicht zu erfüllen vor; sie wollte nun auf einmal friedlich und glücklich leben mit jedermann und durch lauter Liebe und Freundlichkeit die Herzen der wilden Brüder gewinnen. – Aber es ging nicht so von selbst, wie sie gedacht, und wenn die Buben sie auslachten mit den kleinen Freundlichkeiten, die sie ihnen erzeigen wollte, und sagten: »O, jetzt stellt sie sich nur so brav, daß man sie loben soll und uns zanken!« oder wenn sie die Katze in ihr Stübchen sperrten, daß sie ihre Blumenstöcke umwarf und ihre Sachen verdarb, dann wurde sie auch wieder böse und heftig; und wenn die Buben schrien: »Ja, jetzt ist's aus mit ihrer Artigkeit; sehet, jetzt ist sie wieder zornig!« so weinte sie bitterlich und hatte Heimweh nach dem sanften Edmund und nach der Tante.

Aber die Tante hatte gesagt, sie solle Gott bitten um ein liebevolles, geduldiges Herz. Das wollte sie nun doch versuchen; sie sah, daß sie allein es nicht zustande brachte, ihre guten Vorsätze zu erfüllen.

Der Mama, die in letzter Zeit oft nicht recht gesund war, wurde es selbst zu viel mit den wilden Burschen. Man schickte sie zu einem Lehrer in der Nachbarschaft; dort blieben sie die ganze Woche und kamen nur an Sonn- und Feiertagen nach Haus. So wurde es denn ruhiger im Haus, und Serena gewöhnte sich mehr an die Lehrstunden und an die steifen Spaziergänge mit Miß Martin, nur einmal in ihrem Leben, dachte sie, möchte sie noch der Tante Landhaus sehen und das schöne, frische, grüne, weite Land!


Einmal war Miß Martin unwohl, und Serena durfte in ihrer Erholungszeit wieder hinunter in das alte Hofgärtchen, wo sie sonst so oft mit ihrer Puppe gesessen. Sie nahm ein Buch mit und setzte sich auf das steinerne Bänkchen; von da sah man gerade hinüber in die Schule, die Robert und Richard besuchten. Eben klopfte es drüben ans Fenster, es war eine Pause; Robert schaute herüber und winkte ihr mit aller Macht. Serena war in großer Not; sie war so ängstlich der Schule näherzugehen, wo sich so viel wilde Knaben umtrieben, und doch fürchtete sie sich wieder, den Brüdern etwas zu verweigern.

Die andern Knaben spielten auf der hintern Seite des Hauses. Ganz ängstlich, mit Zittern und mit Zagen, trat sie näher. Robert ließ ein Briefchen an einem Faden herunter. Serena nahm es mit klopfendem Heizen und setzte sich auf einen Stein, um es zu lesen; sie war so gar nicht an solches Heimlichtun gewöhnt, und es war auch noch Geld in dem Briefchen! Was stand darin?«

»Liebe Serena!« – nun, das war verwunderlich, daß der grobe Bob so freundlich schrieb! – »Wir möchten gern in unsrer Klasse unten einen feuerspeienden Berg mit Pulver machen: aber der Herr Rektor erlaubt nicht, daß wir Pulver haben, und wir dürfen nicht ausgehen. Da ist Geld. Du willst ja immer so gefällig sein: hole uns gleich Pulver bei dem Kaufmann an der Ecke und binde es an die Schnur! Wenn du schnell gehst, so reicht es noch, und ich bin dann

Dein getreuer Bruder Robert.«

Ach. wie gern hätte Serena den Buben einen Gefallen getan! Aber sie fühlte und wußte gleich, daß das, was sie wollten, nicht recht sei. Der Vater selbst hatte oft gesagt, es sei so sehr gefährlich, mit Pulver zu spielen, und man sollte es gar nie Kindern ohne Aufsicht in der Hand lassen. Und doch wußte sie, wie bös die Knaben über sie sein würden: aber sie mußte tun. was recht war. Robert sah noch zum Fenster heraus. Serena schüttelte traurig ihr Köpfchen, sie knüpfte rasch das Papier mit dem Geld wieder an die Schnur und wendete sich dann ab, damit sie das böse Gesicht Roberts nicht sehen konnte. Sie war ganz traurig: hatte sie doch getan, was recht war, und sollte sich jetzt die Brüder verfeindet haben!

Ja, das war freilich ein betrübter Sonntag, als Bob und Tick heimkamen! Sonst waren sie an dem einzigen Tag freundlicher gewesen als gewöhnlich und hatten gern mit Serena gespielt: jetzt machten sie greuliche Gesichter und redeten kein einziges Wort mit ihr. Wenn sie versuchte, freundlich zu sein und ihnen einen kleinen Dienst zu tun. so drehten sie ihr den Rücken und sprachen zusammen ganz laut von »falschen, scheinheiligen Dingern, die sich nur gut anstellen«. Die Mutter kam nicht viel in die Kinderstube und bemerkte es nicht, und Serena wollte nicht klagen.

Aber recht betrübt war ihr kleines Herz, als sie an diesem Abend zu Bette ging. Sie hatte sonst wohl gedacht, Sorgen seien nur etwas für alte, große Leute, jetzt aber wußte sie auf einmal, was Sorgen sind. Sie wollte so gern mit jedermann gut und freundlich leben, und nun hatte sie den Haß der Brüder auf sich geladen, und sie durfte es keinem Menschen sagen, sonst hätten sie sie erst recht für eine Angeberin gehalten. Ganz in Tränen schlief sie ein; aber sie hatte doch nicht vergessen, auch dieses junge Herzeleid dem lieben Gott zu vertrauen und ihn um Hilfe zu bitten.

Sie wachte früh auf am andern Morgen. Miß Martin schlief noch, und auch Serena blieb eine Weile behaglich liegen und schaute die schöne Schweizerlandschaft auf dem gemalten Fensterrouleau an. Ihre Tränen hatte der gesunde Schlaf getrocknet, aber ihre Sorgen hatte sie doch nicht vergessen. Da – kam ihr auf einmal ein guter Gedanke; ja, das mußte gehen! Ganz vergnügt wurde sie über ihren glücklichen Einfall und begann so rasch, sich anzukleiden, daß Miß Martin verwundert aufschaute; denn sonst stand Serena zwar folgsam auf, wenn sie ihr rief, aber nicht gerade mit besonderm Vergnügen. Sie fand immer ihr Bett gerade am besten und schönsten, wenn sie es verlassen mußte.

Die Knaben kamen zum Frühstück ins Lernzimmer herauf, ehe sie wieder in ihre Schule einrückten. Sie bemühten sich aufs neue, ihre Verachtung gegen die arme, kleine Schwester auf die großartigste Weise an den Tag zu legen. Diese ließ sich's diesmal nicht so kümmern, gab sich auch nicht mehr besondere Mühe, sie zu versöhnen; sie war ganz beschäftigt mit ihrem neuen Plan. Beim Gehen verabschiedeten sich die Brüder viel höflicher als sonst von Miß Martin; an Serena aber, die ihnen die Hand bot, gingen sie trotzig vorüber, ohne ein Wort zu sagen, so daß die Gouvernante verwundert fragte: »Was haben denn die Bursche? Hast du Streit mit ihnen gehabt?« Serena hatte noch eine Träne im Auge, aber sie sagte leicht: »O, sie werden schon wieder gut werden!« und ging rasch an die Arbeit, damit Miß Martin sie nicht weiter fragen sollte.

Es traf sich glücklich, daß gerade heute der Vater nicht ausging, sondern unten in seinem Zimmer arbeitete. Um elf Uhr, wo Verenas Freistunde war, klopfte es ganz leise an seine Tür. »Herein!« rief er und war verwundert, als sein Töchterlein eintrat, ganz schüchtern, denn sie war in ihrem Leben nie in Papas Arbeitszimmer gekommen. Dem Vater war das sanfte, stille Kind, das ihn noch nie betrübt hatte, lieber, als er sagen und zeigen konnte. »Nun, was will mein Töchterlein?« fragte er freundlich: »wie, komm näher, Kleine!«

»Papa,« sagte Serena, immer noch ängstlich; »ich habe eine große Bitte; willst du sie erfüllen?«

»Gern, mein Kind, nur nicht, wenn du wieder fort willst aufs Land und in die weite Welt.«

Fast wären Serena die Tränen gekommen, wenn sie dachte, wie schön es wäre, wieder einmal aufs Land zu kommen; aber sie nahm sich zusammen und sagte: »Nicht wahr, Papa, übermorgen feiert man die Pulververschwörung?«

»Na, die Pulververschwörung feiert man gerade nicht,« sagte lächelnd der Vater; »aber man feiert den Tag, wo durch die Entdeckung der Pulververschwörung ein schweres Unglück abgewendet worden ist.«

»Papa, nicht wahr, man brennt manchmal dem Tag zu Ehren schönes Feuerwerk ab.« fuhr Serena herzhafter fort; »möchtest du nicht in unserm Hofgärtchen ein kleines Feuerwerk anstellen? Dick und Bob hätten so große Freude daran, sie haben noch nie eines gesehen und dürfen in der Schule nicht mit Pulver spielen.«

»Ei, sieh da, wie üppig mein Töchterlein ist!« sagte gut gelaunt ber Vater; »will sie gar ein eignes Feuerwerk im Haus! Nun, gedulde dich nur, wir wollen sehen!«

»Aber gar niemand vorher davon sagen, Papa!« bat Serena ganz vergnügt, da sie wohl merkte, daß der Vater es tun werde.

»Bewahre, keiner Seele!« versicherte dieser, und Serena eilte getröstet zu ihren Lektionen zurück.


Der Tag der »Pulververschwörung« ist ein freier Tag in allen Schulen in England; auch Bob und Dick waren daheim, aber keineswegs liebenswürdig; recht langweilig und brummig trieben sie sich im Spielzimmer herum. »Heinrich Melton darf heute mit einer rechten Pistole schießen.« erzählten sie sich, »und Eduard Braun läßt zwei Raketen los, und wir, wir dürfen nicht einmal reden von Pulver! Das scheinheilige Ding, die Serena, hat's gewiß dem Vater gesagt, daß wir haben kaufen wollen; wenn man ihr nur auch einen rechten Possen tun könnte!« Serena ertrug ihre finstern Gesichter ganz geduldig und freute sich nur auf den Abend.

Die Kinder durften diesmal mit den Eltern essen. Alle waren verwundert, als nach Tisch, wie es schon dunkel war, der Vater sagte: »Kommt, wir wollen ein wenig in das Gärtchen hinuntergehen; zieh dich warm an, liebe Frau! es wird kühl.« Das war unerhört, daß der Vater ins Gärtchen ging, und dazu noch abends! Die Buben brummten vor sich hin: »Das ist jetzt ein rechtes Vergnügen, daß die ganze Familie in dem kleinen Winkel da drunten 'rumspazieren soll.« Unten aber stand der alte Diener mit einer Laterne und allerlei geheimnisvollen Anstalten beschäftigt: nahe dem Haus waren Sitze, auf denen sich die Familie erwartungsvoll niederließ. Zsch! zsch! da stiegen drei prachtvolle Raketen pfeilgerade, hoch, hoch an den dunkelblauen Himmel hinauf und fielen in glänzenden Sternchen von allen Farben wieder herunter; und ehe noch das vielstimmige bewundernde »Ah!« verklungen war, stiegen ganz leise strahlende Kugeln, rote, blaue, grüne, aus romanischen Lichtern empor, und als die verglüht waren, drehten sich prächtige Feuerräder und warfen schimmernde Funken nach allen Seiten; dann stiegen Schwärmer wie feurige Schlangen, stille Leuchtkugeln, bengalische Feuer. Die Buben waren ganz außer sich vor Verwunderung und Vergnügen, sie jauchzten und schlugen Purzelbäume; in der ganzen Nachbarschaft schaute alles zu den Fenstern heraus, und es erhöhte den Stolz und die Freude der Knaben nicht wenig, daß ihr Feuerwerk von der ganzen Nachbarschaft bewundert wurde.

Ein Schwärmerkasten, der mit ganz ungeheurem Geprassel seine feurigen Schlangen nach allen Seiten hinausschleuderte, steigerte das allgemeine Vergnügen aufs höchste und bildete den Schluß der Feierlichteit. »Aber das war schön!« riefen die Knaben in vollem Jubel; es fiel ihnen sogar ein, aus freien Stücken hinzuzusetzen: »Danke Papa!« – »Wie ist dir's denn eingefallen?« fragte die Mutter, auch vergnügt über die Freude ihrer Jungen. »Es ist mir gar nicht eingefallen,« sagte der Vater; »da, bedankt euch bei der Serena! Die hat mir keine Ruhe gelassen, bis ich ihr versprochen, ihren galanten Brüdern eine Freude zum Feiertag zu machen.«

»Ist's wahr?« rief Richard verwundert; »nun, so ist sie doch brav und hat sich nicht nur so gestellt!«

»Komm her, Serena,« schrie Bob, »gib mir einen Patsch, du bist ein famoser Kerl!« Serena mußte lachen, daß sie ein famoser Kerl sei. Die Mutter streichelte ihren blonden Scheitel und sagte freundlich: »Das ist nett. Kleine, daß du daran denkst, deinen Brüdern eine Freude zu verschaffen; sie haben's nicht um dich verdient.«

Heute abend war große Eintracht in dem kleinen Reich der Kinderstube und die Kinder spielten höchst vergnügt zusammen. Serena vergaß nicht, ehe sie einschlief, dem lieben Gott zu danken, daß er ihr geholfen, ihre Betrübnis so in Freude zu verkehren.


Gar zu lang dauerte nun freilich die Dankbarkeit der Brüder nicht; sie fingen bald wieder an, Serena zu necken und zu plagen; doch wurden sie nie mehr so ganz unartig gegen sie.

Serena nahm sich's aber auch nicht mehr so zu Herzen; denn sie hatte eine andere große Freude erlebt: – ein niedliches, kleines Brüderchen lag auf schneeweißen Kissen im Zimmer der Mama drunten und schlief mit seinem runden Köpfchen und machte manchmal seine verschlafenen Aeuglein auf: die waren so blau wie Serenas Augen und wie die der seligen Mutter, und die neue Mama hatte doch braune Augen! Serena war unbeschreiblich glücklich: sie schrieb einen langen Brief an Edmund, wo sie das Brüderlein schilderte, wie es seine ganz kleinen, weißen Händchen hinauflegte neben das Köpflein, wenn es schlief, und gar nicht viel schrie, und wie sie es manchmal tragen dürfe. Aber mit höchstem Glück berichtete sie nach vier Wochen, daß es nun zum erstenmal gelacht habe, und gerade gegen sie, und wie es sie bald kennen werde, und daß man es Eduard getauft, was fast laute wie Edmund. – Das Brüderlein war eine unerschöpfliche Quelle der Freuden für sie, so daß sie sich seitdem viel weniger um den groben Bob und Tick bekümmerte.

Nur durfte sie sich gar selten des kleinen Eduards erfreuen? – Miß Martin sah die Besuche in der Kinderstube nicht gern. »Du lernst dich schlecht ausdrücken unter den Dienstboten,« sagte sie; »du darfst ja hinunter ins Speisezimmer, wenn der Kleine nach Tisch zu Papa und Mama gebracht wird, und wenn er größer ist, so darf er herauf ins Lehrzimmer kommen.«

»Wenn er größer ist!« Ach, das ging erstaunlich langsam. Es schien Serena, als sei es nicht zu erwarten, und wenn sie im Lehrzimmer saß so allein mit Miß Martin, und hatte eine Lektion um die andre, und sie hörte im Hofgärtchen drunten den Kleinen lachen und jauchzen, dann konnte sie's oft fast nicht mehr aushalten; – aber die erste Lehrstunde bei der Tante fiel ihr ein und die sanfte Stimme, die ihr gesagt hatte: »Liebes Kind, wenn du zu Gottes Freude und zum Segen für andre aufwachsen willst, so mußt du lernen dein eigen Herz bezwingen, auch wenn dir's sauer wird.« Und sie lernte das, selbst wenn sie allein war und ihr Herz sie noch so sehr trieb, zu dem Kleinen zu springen; und es tat ihr doch wohl, wenn Miß Martin sagte: »Ich weiß, Serena, daß ich mich auf dich verlassen darf.« Sie war dann um so vergnügter, wenn sie zum Brüderlein durfte.

Die guten, treuen Briefe der Großtante machten ihr immer wieder guten Mut und ein freudiges Herz.

Seit einiger Zeit aber schrieb die gute Tante oft recht müde und meinte, sie werde vielleicht ihre liebe Serena auf Erden nicht mehr sehen. Da wollte Serena so gern ihr etwas Fröhliches schreiben, damit sie heiterer würde; so besann sie sich auf alles Gute und Freundliche aus ihrem Leben, und es fiel ihr immer etwas ein, besonders von dem Brüderlein: wie es endlich aufrecht sitzen, auf dem Boden herumkrabbeln und auf seinen Füßen stehen konnte; auch kannte sie der Kleine bald, obgleich sie nicht oft bei ihm sein durfte. Er nannte sie »Nena«, als er endlich ein wenig sprechen lernte, und hatte Nena gesagt, so bald als Papa und Mama. Serena war ganz stolz und glücklich, wenn sie einmal den Kleinen ein wenig ins Hofgärtchen nehmen durfte; es kam ihr gar nicht mehr so trübselig vor.


Vater und Mutter hatten eine Reise angetreten, von der sie erst in acht Tagen zurückkehren sollten. Dick und Bob sollten indes ganz beim Rektor bleiben. Miß Martin war ausgegangen, um eine Schwester zu besuchen und hatte Serena viele und große Aufgaben gegeben, die sie fertig machen sollte; sie saß so ganz, ganz allein in dem stillen, düstern Lehrzimmer; es war wie in den einsamen Zeiten nach der Mama Tod.

Da hörte sie etwas draußen auf dem Gang gehen oder rutschen; ein leises Stimmchen rief »Nena!« Ach, das war ja der kleine Eduard, der von der weiten Kinderstube ganz allein hergekrabbelt kam und von selbst ihre Stube gefunden hatte.

Nun, das war ein Jubel, und was für ein Wunder, daß das Brüderlein so talentvoll war und allein ihre Stube fand! Sie freute sich schon, das der Tante und Edmund zu schreiben und sprang indes auf und trug den kleinen, dicken Kerl mit tausend Freuden herein. Miß Martin mußte diesmal noch Nachsicht haben, wenn auch nicht alle Aufgaben fertig waren.

Aber der Kleine war nicht lustig wie sonst, wo er fortwährend laut auflachte und jauchzte, wenn die Schwester mit ihm spielte; er blieb auf ihrem Schoß sitzen, schlang seine kleinen Händchen fest um sie und lehnte sein heißes Köpfchen an ihre Seite.

»Wo ist der Kleine, Miß Serena?« rief die Köchin, die in hellem Schreck hereineilte; »da hat das leichtsinnige Ding, die Betty, das Kind wieder allein gelassen; das gibt gewiß noch ein Unglück! Erst gestern ist sie mit dem Kind in ihrer Base Haus gewesen und dort sind die Blattern!«

»O still. Margret!« bat Serena leise, »der Kleine ist so müd; da fühlen Sie her, wie heiß sein Köpfchen ist; er ist gewiß krank.« – »Freilich ist er krank!« schrie die Köchin jetzt wieder mit aller Macht; »da in dem Köpfchen klopft's ja wie in einer Schmiede! Hab's doch gesagt. – Betty, hab' ich gesagt, wenn das Kind nicht die Blattern erbt, wo doch der Schneidersjung' in Ihrer Base Haus schwarz voll ist mit Blattern, so will ich Madel heißen, hab' ich gesagt, und Madel ist doch gewiß ein garstiger Name.«

Serena aber war's gleichgültig, ob die Köchin Madel hieß oder nicht, sie bat sie nur flehentlich, so schnell als möglich den Doktor zu holen; sie wußte sich nicht zu raten mit dem kranken Kind, dessen Köpfchen immer heißer und röter wurde. Mühsam trug sie ihn hinüber in die Kinderstube, kleidete ihn aus und legte ihn in sein Bettchen, währenddessen die Köchin nach dem Doktor sprang. Der Kleine sah ganz betrübt aus; doch hielt er mit seinem heißen Handchen ihre Hand fest und sagte nur ganz leise und müd: »Rena!«

Endlich kam die Köchin wieder, streckte aber nur vorsichtig den Kopf zur Türe herein und rief: »Der Doktor kommt, Sie sollen geschwind herauskommen zur Miß Martin.« Ungern machte Serena ihre Hand los und ging hinaus, wo sie Miß Martin in großer Aufregung traf. »Kind, das ist eine böse Sache,« sagte sie; »allem Anschein nach hat dein kleiner Bruder die Blattern und das ist die allerschlimmste Krankheit; mein eigener Bruder ist daran gestorben. Geh' ja nicht mehr hinein zu dem Kind! Die Köchin sagt, daß der Arzt gleich kommen werde, der wird auch eine Wärterin mitbringen. Wir wollen indes deine Sachen unten rüsten; ich nehme dich sogleich mit mir zu meiner Schwester, die Gefahr der Ansteckung ist so groß.« Da hörte man von drinnen ein leises Weinen und ein klägliches Stimmchen »Rena!« rufen.

»Liebe Miß Martin,« sagte Serena eilig, »ich kann gewiß nicht fort von meinem Brüderlein; der liebe Gott wird mir schon helfen.« Und sie eilte zurück zu dem weinenden Kind.

Bei Miß Martin war die Furcht vor Ansteckung so groß, daß sie sich nicht mehr ins Zimmer getraute; sie packte ihre Kleider zusammen und sagte dann dem Doktor, den sie im Gang traf, daß sie nicht wage, sich dieser furchtbaren Krankheit auszusetzen. »Bitte, Herr Doktor, schicken Sie mir gleich das eigensinnige kleine Mädchen nach; die Köchin weiß die Wohnung meiner Schwester, und senden sie sogleich eine gute Wärterin für den Kleinen, ich bin so in Sorge.«

Der Doktor, der gute Herr Schmid, der Serena einst zu ihrer Tante begleitet hatte, sagte bedächtig: »Wir wollen sehen,« und trat ein zu dem kranken Kind. »Ja, da sieht's bedenklich aus,« sagte er, als er den Kleinen untersucht hatte; »die Blattern werden demnächst ausbrechen; mach, daß du fortkommst, Kleine! Ich will gleich eine Wärterin schicken.«

«Ich gehe nicht, lieber Herr Doktor!« sagte Serena sehr bestimmt und stellte sich ganz entschlossen vor ihn hin; »ich lasse mein Brüderlein nicht allein.«

»Nun, das ist ja nicht nötig; das große Weibsbild, die Köchin, soll auf den Platz, oder die Kindsmagd!« Und er ging hinaus und rief der Margret. »Ja, sehen Sie, Herr Doktor,« sagte diese, »die Betty geht nicht mehr her aus lauter Angst, weil sie schuld ist an der Krankheit, und ich wollte gern alles tun, du lieber Gott, was habe ich schon Kranke verpflegt! Leute, die schon gestorben waren! Aber Blattern, sehen Sie, das kann ich nicht: wäre ja mein Lebtag verschimpfiert, wenn ich so ein blatternarbiges Gesicht bekäme, als ob man mich mit Erbsen gedroschen hätte. Nein, Herr Doktor! Aus christlicher Gesinnung will ich noch im Haus bleiben, damit doch jemand kocht und nach dem Rechten sieht; aber hineingehen, das tue ich nicht, eine rechtschaffene Person muß nach sich selber sehen! Es tut auch dem Kleinen nichts, wenn er allein bleibt, bis die Wärterin kommt; er liegt ja in seinem Bettchen und ich gebe schon acht.«

Der Doktor kam nachdenklich wieder herein. »Kleine, du solltest doch fort,« meinte er; »es ist eine böse Krankheit und so sehr ansteckend! Komm sogleich mit mir zu deiner Gouvernante; die Wärterin kommt bald.«

»Lieber Herr Doktor,« sagte Serena und blickte ihn zutraulich an mit ihren großen, blauen Augen; »ich gehe nicht fort von meinem Brüderlein, wenn niemand bei ihm ist. Schicken Sie mir nur Arznei, daß es gesund wird; für mich wird schon der liebe Gott sorgen.«

Die Augen des Doktors wurden feucht. »In Gottes Namen, Kind,« sagte er; »ich kann nicht bleiben, aber ich schicke dir gleich Arznei und einen Trank, den du dem Kleinen geben darfst. Wenn du ihm die Arznei reichst, so gib acht, daß er dich nicht anhaucht, und sonst gehe nicht zu nah zu ihm; die Wärterin wird bald kommen. Dann gehst du gleich fort, die Köchin kann dich begleiten; du weißt nicht, Kind, was die Blattern sind!«

So blieb denn Serena ganz allein mit dem kranken Kind. Es lag in großer Hitze und tonnte kaum die Aeuglein auftun; doch rief es immer noch »Nena« und streckte sein heißes Händchen nach ihr; sie konnte nicht so genau befolgen, was der Doktor ihr gesagt. Der Apothekerjunge kam und brachte Arznei und einen Trank, den das arme Kind begierig einschlürfte; dann wurde es dunkel und sie war wieder allein, ganz allein. Es wollte ihr graulich werden; aber ihr war, als hörte sie innerlich sagen: »Fürchte dich nicht, ich bin bei dir,« und sie setzte sich getrost wieder ans Bettchen.

Bald klopfte es. »Da kommt die Wärterin!« schrie Margret durchs Vorzimmer herein; »und da will ich Tee und Butterbrot hinstellen, Miß Serena; dann gehen Sie in Ihr Bett und morgen können Sie fort!«

Die Wärterin war eine gute, freundliche, dicke Frau, die gleich alles reckit verständig ordnete in dem Krankenzimmer; aber das kranke Kind schrie furchtbar, wenn ihm die fremde Person nahe kam, und wollte die Arznei nicht nehmen. So war die Wärterin am Ende selbst froh, daß Serena noch da blieb, weil der Kleine immer ruhig wurde, wenn sie an sein Bettchen kam. Gegen Morgen wurde er still; die übermüdete Seren« war auf ihrem Stuhl eingeschlafen und die Wärterin trug sie sanft hinunter in ihr Bett.


Nach acht Tagen waren die Eltern wieber zurück. Der kleine Eduard, bei dem die Krankheit so heftig ausgebrochen, war schon wieder besser, so daß die Mutter mit ihm und der Wärterin aufs Land gehen durfte, wo gesundere Luft war, in der sich das Kind erholen sollte. Serena aber lag schwerkrank, bedeckt mit Blattern in großer Fieberhitze. Allein war sie nicht. Herr Schmid, der Arzt, kam zu ihr, so oft er nur konnte und hatte eine sehr gute, besorgte Wärterin gebracht. Selbst Margret, die Köchin, wagte sich zwar nicht ins Zimmer, aber sie brachte alle Arten guter, kühlender Getränke und Speisen vor ihre Tür und war äußerst bekümmert um sie. »Ich sag' Ihnen,« versicherte sie den Doktor, »unsere Kleine ist mehr als brav, und ich gebe lieber sechs so dickköpfige Buben her, wie unsern Dick und Bob, als daß die uns sterben sollte!«

Sterben sollte Serena nicht, aber sie hatte lange, trübe Tage in Hitze und großen Schmerzen. Oft wußte sie gar nichts von sich oder sie hatte recht schwere Träume; oft aber hörte sie wieder die tröstende Stimme in sich, die sagte: »Fürchte dich nicht, ich bin bei dir.« Ihr Vater war im Hause geblieben; er kam manchmal ganz in der Stille und setzte sich an das Bett des Kindes. Serena war so wenig gewöhnt, um ihn zu sein; da tat es ihr unbeschreiblich Wohl, daß er so besorgt um sie war, wenn sie ihn in hellen Augenblicken erkannte.

Eines Morgens sagte sie zur Wärterin: »O, Frau Millner, bitte, ziehen Sie die Rouleaus auf, es ist ja so nacht.« – »Es ist langst heller Tag, Miß,« sagte die Wärterin und blickte besorgt nach ihr hinüber. – »Dann bin ich ja blind!« schrie Serena laut auf, »ich sehe gar nichts; o, und die Augen tun mir so weh!« – »O, bitte, bleiben Sie doch ruhig,« bat Frau Millner; »rühren Sie ja die Augen nicht an!« Aber Serena fand es schwer, geduldig zu sein; es kam ihr ganz entsetzlich vor, blind zu bleiben; sie glaubte, sie müsse mit Gewalt ihre Augen aufreißen. Blind! Nacht, immer Nacht, das war gräßlich! Da fiel ihr Edmund ein, der so lange kein Tageslicht mehr gesehen und der doch so geduldig war, und so sanft und fröhlich, und sie schämte sich ihrer Ungeduld. Bei der Tante hatte sie viel Bibelsprüche lernen müssen und sie hatte es damals nicht immer gern getan. «Tante, das kommt mir unnötig vor,« hatte sie mit großer Weisheit versichert; »ich habe ja eine Bibel und kann darin lesen, so oft ich will; warum soll ich denn die Sprüche auswendig lernen?« – »Tu es einstweilen, weil ich es will,« hatte die Tante gesagt; »warum du es getan hast, das wirst du vielleicht später besser verstehen.« Jetzt konnte sie nicht lesen; aber so viele der Sprüche, die sie damals gedankenlos gelernt hatte, weil sie von Leiden nichts wußte, – die kamen ihr jetzt zu Sinn. »Alles, was dir widerfährt, das leide und sei geduldig in allerlei Trübsal.« »Fürchte dich vor keinem, das du leiden wirst.« Alle diese tröstlichen Worte taten ihr jetzt wohl im innersten Herzen und sie lernte allmählich geduldig sein, auch wenn sie blind bleiben müßte. Und Edmund! Was würde der sagen, wenn er wüßte, daß sie blind sei! Sie konnte ihn ja nicht mehr führen und ihm nicht vorlesen! Man hatte ihr ein seidenes Tuch über die Augen gebunden und das Zimmer dunkel gemacht; da war es nacht, ganz nacht. Sie hatte niemand, der ihr vorlesen konnte. Aber ihr Vater kam öfter als zuvor zu ihr; so still er sonst war, er hätte jetzt gern etwas getan, um sein Töchterlein zu unterhalten. Da fing er an, ihr zu erzählen von seiner Kinderzeit, von seiner Mutter, die eine arme Pfarrwitwe gewesen, von seinen Brüdern und von ihrer dürftigen, fröhlichen Jugendzeit and Kindheit auf dem Lande; wie Gott später seinen Fleiß gesegnet und ihn zum wohlhabenden Mann gemacht habe. »Aber was Gott gegeben, das kann er auch wieder nehmen,« setzte er mit einem tiefen Seufzer hinzu; »es sind bedenkliche Zeiten für einen Kaufmann, Kind!« Diesen Seufzer verstand nun Serena nicht; es freute sie nur, so viel vom Vater zu erfahren, was sie nie zuvor gewußt, und er selbst wurde oft ganz heiter dabei.

Eines Morgens, als der Doktor und der Vater bei ihr waren, sagte sie zu diesem: »Lieber Vater, wolltest du nicht der Tante schreiben, wie es mir geht und sie bitten, Edmund zu sagen, ich sei nun auch ganz blind und könne ihn nicht mehr führen; aber ich habe gelernt, geduldig zu sein, auch wenn ich blind bleibe.«

»Ist gar nicht nötig,« fiel der Doktor ein; »unsere kleine Miß braucht keine so herzbrechende Botschaft zu senden, sie wird ihren blinden Kameraden noch führen können, so oft sie will.« Und sachte nahm er das Tuch von ihren Augen; in dem halb verdunkelten Raum konnte sie doch deutlich ihren Vater erkennen, der sich besorgt und freundlich über ihr Bett herbeugte.

»Ich sehe! o Gott Lob und Dank, ich sehe!« rief sie glückselig. »O Vater, schreib' jetzt nur der Tante, daß ich sehen kann; aber geduldig will ich doch sein.« Und still und zufrieden legte sie sich zurück und ließ sich die Augen wieder verbinden.

Serena wurde wieder gesund. Der Vater selbst führte sie in das Haus in einer Vorstadt, wo die Mutter mit dem Kleinen war; auch Richard und Robert durften ihre Ferienzeit dort zubringen. Es war Serena bange, bis sie alle wiedersah; denn als sie nach ihrer Krankheit zum erstenmal in den Spiegel gesehen, hatte sie sich fast selbst nicht mehr gekannt. Ihr Gesicht war sehr entstellt, blaß und voll roter Flecke, ihre Lippen farblos und ihre Augen eingesunken. Als sie zuerst den kleinen Eduard wiedersah, der nun ganz rüstig in der Stube herumgehen konnte, da kannte er sie nicht gleich und versteckte sein Köpfchen. Wie sie aber ganz traurig rief: »Neddy, Neddyl« da erkannte er sie im Augenblick, kam gern zu ihr und streichelte ihr bleiches Gesicht.

Die Mutter war sehr herzlich und freundlich mit ihr, viel mehr als je vorher, und erzählte oft dem Kleinen, wie Schwester Nena so gut sei und den kleinen Ned gepflegt habe. Er verstand nicht viel davon; er sagte nur immer wieder: »Liebe Nena« und streichelte sie. Bob und Dick, denen die Mutter auch gerühmt hatte, was Schwester Serena getan, waren zwar freundlich, doch steckten sie immer die Köpfe zusammen und flüsterten sich zu: »Aber die ist häßlich geworden!« und lachten, und das tat Serena sehr weh, so daß ihr Tränen in die Augen kamen, und sie dachte: »O, wenn ich bei Edmund wäre, der würde nicht lachen über mein entstelltes Gesicht!«

Aber sie hatte doch eine gute, freundliche Zeit hier in dem Landhaus mit der Mama und mit dem Kleinen, der täglich lieber und lustiger wurde, und mit dem sie den ganzen Tag im Freien sitzen und spielen durfte; »fast so schön wie bei der Tante!« dachte sie mit einem leisen Seufzer. Sie war immer noch sehr müde und saß am liebsten auf einer Bank vor dem Haus in Sonnenschein; der kleine Eduard trug ihr dann Kiesel in den Schoß und erzählte, »das sei viel, viel doldiges Deld,« – Sie konnte gar nicht weit vorausdenken; nur das hätte sie wissen mögen, ob sie wohl einmal in ihrem Leben noch das liebe Haus der Tante und ihren blinden Freund sehen werde.

Der Vater brachte jeden Sonntag bei den Seinigen zu. Serena hatte großes Mitleid mit dem armen Papa, daß er die ganze Woche so allein in dem großen, düstern Haus zu London sein mußte. Es schien ihn auch wirklich trübselig zu machen, er wurde immer ernster und stiller. Serena wagte einmal, ihn zu fragen: »Aber, Papa, was hast du denn? Du bist so traurig und Eduard ist doch so nett und so lieb!« – »Laß mich, Kind!« sagte er dann; »vielleicht erfährst du's noch bald genug.«

Es war mitten in der Woche, als er eines Morgens schon früh heraus kam. Serena war eben aufgestanden; der Kleine war dem Dienstmädchen entflohen, die ihn ankleiden wollte und sprang lustig barfuß und im Hemdchen in der Stube herum. Mit lautem Lachen wollte Serena ihn einfangen und der kleine Kerl wurde immer wilder und jauchzte vor Lust. Serena wurde plötzlich still, als der Vater eintrat; denn er sah totenbleich aus und konnte kaum mehr stehen. »Setz dich doch, Papa!« rief sie, indem sie eifrig einen Stuhl hertrug; »bist du denn nicht gefahren?« Der Kleine selbst schien etwas zu merken; er ließ sich ganz still von dem Dienstmädchen fortführen. »Ruf die Mama!« sagte Herr Seyton mit schwacher Stimme. »Sie wird noch nicht angekleidet sein,« sagte Serena, indem sie ängstlich den bleichen Vater betrachtete. »Ruf sie doch,« wiederholte er. »sie möchte gleich kommen.« Erschreckt durch Serenas Botschaft kam Frau Seyton herab. Der Vater hatte sich inzwischen etwas gefaßt. »Liebe Frau,« sagte er nach kurzem Gruß, da er nicht recht wußte, wie er seine Mitteilung anfangen sollte, »wir müssen das Landhaus hier verlassen; es ist für nächste Wache schon an andre vermietet.« – »Jetzt gerade fort von hier?« rief Frau Seyton, aufs höchste betroffen, »jetzt, wo die Luft noch so gut ist und den Kindern so wohlbekommt! Das kann dir nicht ernst sein! Und im Hause in der Stadt muß ja erst noch geputzt und neu tapeziert werden ...«

»Das Haus in London wird verkauft; ich habe eine kleine Wohnung in Tavernstreet gemietet,« sagte, ohne sie anzusehen, Herr Seyton. »Aber, ich bitte dich!« rief die Frau und blickte ängstlich nach ihm hin, ob er auch bei Verstand sei. »was soll denn das alles heißen?« – »Es soll heißen,« fuhr er mit tonloser Stimme fort, »daß der Krieg, durch den alle Handelsgeschäfte gelitten, mich um mein ganzes Vermögen gebracht hat. Lange habe ich noch gekämpft und glaubte, schon euretwegen, noch etwas retten zu können; jetzt kann ich nichts mehr retten als meinen ehrlichen Namen.« – »Aber um Gotteswillen.« rief die arme Frau, »das kann ja nicht sein! Und warum sollten wir denn gleich alles aufgeben und leben wie die Bettler? Ich weiß ja viele Kaufleute, die auch Unglück gehabt haben, und die leben nicht anders als vorher.« – »Die haben dann ihren ehrlichen Namen vielleicht nicht gerettet,« sagte Herr Seyton; »so weit es mir noch möglich ist. so soll durch mich niemand etwas verlieren; meinen Kindern möge Gott weiter helfen!«

Was ihnen zuerst nur wie ein böser Traum erschienen war, das mußten sie bald als eine traurige Wahrheit glauben lernen. Und jetzt noch schien es ihnen oft wie ein Traum, als nach einem Vierteljahr das große Haus mit all dem schönen Gerät verkauft war und sie in einer ganz kleinen, wohlfeilen Wohnung einer engen, dumpfen, schmutzigen Gasse wohnten. Der arme Herr Seyton wollte London nicht verlassen und ging Tag für Tag in die City, um kleine Geschäfte für andere Kaufleute zu besorgen, er, der einst einer der ersten, stolzesten Handelsherrn gewesen war. Dick und Bob hatten aus der teuren Kostschule herausgenommen werden müssen; der Vater wollte sie selbst unterrichten, aber das war schwierig. Es war doch schon ein bißchen lange her, seit Herr Seyton Latein und Griechisch gelernt hatte, da wollte es nicht mehr so recht gehen; dazu kam denn ein Lehrer, und beim Vater lernten sie Rechnen und Französisch. Es wurde ihm aber alles sehr sauer, denn seine Kraft war ganz gebrochen durch den Schlag.

Es war eine recht schwere und trübe Zeit in dem düstern, kleinen Haus in Tavernstreet; selbst die wilden Knaben schlichen scheu umher; sie schämten sich, mit den Jungen zu spielen, die sie hier auf der Straße sahen, und daheim saßen sie langweilig und trübselig in den Ecken.

Die Mutter war nicht in einem reichen, aber in einem vornehmen Hause erzogen. Sie war von zarter Gesundheit und ihr lebenlang an viele Bedienung und viele Bedürfnisse gewöhnt worden; ihr wurde es jetzt entsetzlich schwer, sich auf einmal mit so wenigem behelfen zu müssen. Sie weinte fast den ganzen Tag, oder schlich matt und zerstört umher. Das Kindsmädchen hatte den Dienst aufgesagt, noch ehe man aus dem großen Haus ausgezogen war. »Sie nehmen mir das nicht übel, Madame.« hatte sie gesagt; »aber ich habe auf großen Lohn zu sehen und habe immer in vornehmen Häusern gedient; es wäre gegen meinen Respekt, in einem Dienst in Tavernstreet zu sein.« Margret, die Köchin, zeigte sich anhänglicher. »Schämen Sie sich, Betty.« sagte sie zum Kindsmädchen; »ich lasse die Leute nicht gleich im Stich, wenn sie jetzt im Unglück sind. Ich habe mich dazumal nachher geschämt, als der Kleine die Blattern hatte und wir uns gefürchtet; das kleine Mädchen, die Serena, hat bei ihm ausgehalten. Jetzt will ich noch dableiben, auch um geringen Lohn, wenn's gleich eine wüste Gasse ist, und will für die Leute sorgen, so lang die Madame noch so elend ist, wie vor den Kopf geschlagen, bis sie ein anderes taugliches Mädchen finden von geringerem Stand als eine Herrschaftsköchin. Wir werden schon miteinander fertig werden ohne ein Stubenmädchen, Miß Serena,« sagte sie zutraulich zu dieser.


Wie sie's nun angreifen sollte, eine Magd zu ersetzen, das wußte freilich Serena gar nicht; doch hatte sie bei der Tante wenigstens gelernt, ihr Bett zu machen und ihr Zimmer in Ordnung zu bringen; nun probierte sie, auch Eduards Bettchen zu machen und ihn zu waschen und anzukleiden. Anfangs war das sehr schwierig; es war auch bei Betty nicht ohne viel Lärm, Geschrei und Ausreißen des wilden, kleinen Kerls abgegangen; aber Serena fing an, ihm zu erzählen von dem Wolf, der die kleinen Geißlein gefressen, oder von den Kindern beim zuckrigen Häuschen, in dem der Bär sitzt; oder sie wußte zum Waschen ein nettes Reimlein, das ihm Spaß machte. Wenn sie dann anfing:

»Dein Härchen rupf' ich,
Dein Stirnlein tupf' ich,
Deine Wänglein wasch' ich,
Dein Näslein hasch' ich;
Und dein rotes, rotes Mäulchen,
Ei, das küß' ich noch ein Weilchen!«

so lachte und jauchzte er laut auf und ließ alles mit sich anfangen. – Viel Gelegenheit zum Spazierengehen gab es hier nicht; da war nicht einmal ein Hofgärtchen wie an dem großen Haus, und auf die schönen, grünen Plätze, wie man sie inmitten der Stadt London findet, war es schon ziemlich weit. Aber es war eine Stelle auf der Straße, wo ein schmales Streifchen Sonnenschein hereinfiel; dahin nahm sie den Kleinen, daß das arme Kind doch etwas an die Luft kam. Er fühlte den traurigen Wechsel am wenigsten und war immer vergnügt mit seiner Nena.

Auch dem Vater war sein Töchterlein der einzige Trost in der trübseligen Zeit; sie klagte nicht und war immer freundlich, sie lernte ihm nach und nach die kleinen Dienste tun, die er bedurfte, und es freute ihn viel mehr, wenn ihm statt eines verdrossenen Bedienten oder Zimmermädchens sein Töchterlein die Pantoffeln bereit hielt und den Waschtisch in Ordnung brachte. Serena lernte sogar der Mama, die nie gewöhnt worden war, sich selbst zu bedienen, die Haare flechten; – ja, die kleine Serena, die nun freilich allmählich zwölf Jahre geworden, wurde, ohne daß sie es selbst wußte, ein ganz schätzbares Glied im Haushalt. Auch die großen Brüder, denen sie ihr Vesper brachte und abends Geschichten erzählte, waren sehr freundlich gegen sie, und Bob sagte einmal vertraulich zu Dick: »Du, sie ist am Ende doch im Ernst gut und stellt sich nicht nur so!«

Doktor Schmid, der gute alte Freund des Hauses, war krank gewesen in der Zeit, wo das Unglück über das Haus Seyton hereingebrochen war. Sobald er wieder gesund war, stieg er durch Straßen und Gäßchen, bis er das enge Häuschen in Tavernstreet fand. »Ja, das tut mir leid, meine Freunde, daß ich's so treffe,« sagte der gute, dicke Herr; »habe noch nie beklagt, daß ich nicht reich bin, als heute. Ihr wißt ja wohl, daß gar viele Arme, viel unbemittelte Vettern und Basen sich in mein Einkommen teilen, da kann ich nicht viel anbieten. Eure Buben kann ich auch nicht nehmen, ich bin so selten daheim, und meine Frau ist zu alt, um über so wilde Bursche Aufsicht zu führen. Aber gebt mir das Töchterlein da! Sie soll es gut bei uns haben und lernen, was sie noch braucht; oder wenn sie nicht zu uns will, so will ich sie nochmal zu der alten Tante bringen, wo sie schon einmal so vergnügt war. Das Kind ist zart, die soll nicht zugrunde gehen in der trübseligen Gasse.«

Einen Augenblick leuchteten Serenas Augen auf in heller Freude; – sie kannte wohl die Frau Doktor Schmid, eine stille, freundliche Frau, so gut wie ihr Mann. Die alten Leute lebten gar behaglich in einem sehr netten, kleinen Haus, daran ein Gärtchen war; sie wäre gern zu ihnen gegangen, und vollends zu der Tante! Ach, die schöne, frische, freie Gegend, das anmutige Landhaus, der zierliche Balkon von wilden Reben umrankt, – das alles schien ihr jetzt wie ein Paradies, aber – in dem Augenblick hatte sich Eduard an ihr Kleid gehängt und rief: »Nena, zählen.« Der Vater sah ganz angstvoll herüber nach seinem Kleinod, seinem freundlichen, aufmerksamen Kind, die sein Trost in der trübsten Zeit gewesen, und die Mutter sagte traurig: »In Gottes Namen, Herr Doktor, wenn es für Serena nötig ist! Sie ist uns ein Trost und eine Hilfe gewesen in diesen traurigen Tagen und wird uns sehr fehlen; aber es muß das eben auch noch sein!«

Nicht lange dauerte der stille Kampf in Serenas junger Seele zwischen dem, was sie wollte und was sie sollte: sie hatte früh gelernt, auf Gottes Stimme in ihrem Herzen zu hören und ihr zu folgen, auch wenn es ihr sauer wurde. »Ich danke herzlich, lieber Herr Doktor,« sagte sie, und gab ihm mit feuchten Augen die Hand; »aber ich glaube, es ist Gottes Wille, daß ich bei meinen Eltern und Geschwistern bleibe und ihnen helfe.« – »Es wird noch nicht gehen, Kind,« sagte der Vater mit einem tiefen Seufzer; »du bist noch zu jung, du hast noch viel zu lernen, du darfst nicht hier zugrunde gehen.«

»Nun, Papa, Rechnen und Französisch lerne ich bei dir mit den Brüdern, und die Mama kann schön sticken und häkeln, das lehrt sie mich wohl auch, wenn wir mehr Zeit haben. Laß mich dableiben, bis wir alle besser eingewöhnt sind!« So blieb sie denn in Gottes Namen, und alle waren vergnügt darüber. Der Vater selbst raffte sich ein wenig auf, daß die Abendstunden nicht so trübselig sein sollten; und die Mama zeigte ihr durch große Freundlichkeit, wie sehr sie sich freute, daß sie ihr Töchterlein behalten. Der gute Doktor Schmid sah ein, daß Serena recht hatte und war nicht empfindlich; wo irgend eine kleine Freude ins Haus kam, ein Braten oder ein Kuchen an einem Festtage, da wußte man schon, woher es kam, obgleich der Doktor nie davon wissen mochte, wenn man ihm danken wollte, und nur sagte: »Behüte, fällt mir nicht ein, euch so etwas Kostbares zu senden; das ginge mir ab! Hab' selber keinen Braten und Kuchen zu essen; da werd' ich auch noch nach Tavernstreet schicken!«

So gingen Monate vorüber. Die Mutter lernte sich allmählich besser gewöhnen, die Buben legten in etwas ihre Würde ab und waren so herablassend, sich zuzeiten tüchtig zu balgen mit den Straßenjungen. Serena und ihr Brüderlein waren manchmal recht vergnügt zusammen: aber das Heimweh nach grünen Bäumen, nach frischer Luft und Sonnenschein wollte nicht ganz vergehen, auch nicht die Sorge um den Vater.

Herr Seyton trug schwerer als alle an seinem Unglück und konnte sich nicht recht erholen. Alle Entbehrungen der Seinigen lasteten wie eine Schuld auf seiner Seele: vor allem drückte ihn der Gedanke an die Zukunft seiner Kinder und wie er ihnen den nötigen Unterricht verschaffen sollte. Ja, wenn ich mich ein wenig erholen könnte und wieder frische Kraft sammeln'« sagte er einmal zu Serena. »Ich habe einen Freund in Indien, der mir gern helfen möchte, und der mir ein Geschäft hier im Lande übertragen will, das viel angenehmer und einträglicher wäre, als die elenden Geschäfte in der Stadt; ich müßte dabei viel Reisen machen, könnte aber immer wieder einige Monate bei euch sein.«

»Aber, Papa, warum tust du das nicht?«

»Um ein solches Geschäft zu übernehmen, müßte ich wieder gesunder und kräftiger sein, und das werde ich nicht, wenn ich nicht etwas Ruhe und frische Landluft habe.«

»Warum gehst du nicht zur Großtante. Papa? Ich weiß ja Wohl, daß sie uns alle nicht einladen kann, sie ist zu alt und zu sehr an ihr stilles Leben gewöhnt; aber du allein könntest ja wohl zu ihr. Und bei der Tante muß man gesund und fröhlich werden!« setzte sie mit glänzenden Augen hinzu.

»Du verstehst das nicht. Kind,« sagte der Vater traurig: »ihr könnt hier nicht allein leben und nicht ohne die kleine Einnahme von meinen Geschäften.«

So wußte denn Serena keinen Rat, als daß sie auch diese Sorge dem Vater im Himmel befahl, der allein den Ausweg sieht, wo unsre Pfade dunkel sind.

Sie hatte noch manche Freude in der armseligen Wohnung, die sie nicht gehabt in dem großen Hause. Das Brüderlein gehörte ihr eigen wie nie zuvor, und es wurde jeden Tag herziger und lieber. Auch schreiben durfte sie an die Tante und Edmund recht von Herzen weg, da niemand mehr ihre Briefe korrigieren wollte; zu langen Briefen hatte sie freilich nicht Zeit, aber doch war es ihr eine Freude und Erholung. Die Tante schrieb noch kürzere Briefe, sie schien schwach und müde zu sein; aber ihre herzlichen Worte taten Serena wohl in innerster Seele.

Einmal kam ein großer Brief, viel größer und dicker, als sonst die Briefe der Tante; er war von Edmunds Vater. »Mein liebes Kind,« schrieb er ihr, »was ich dir mitteilen muß, wird dir zuerst schmerzlich weh tun. Deine gute Tante ist im Himmel; sie war sehr leidend und schwach in der letzten Zeit und hatte große Sehnsucht nach Erlösung. Gott hat sie heimgenommen zu seiner Ruhe, und wir alle wollen ihr diese süße Ruhe gönnen. Ich schicke Dir ihren letzten Gruß, den Brief, den sie selbst noch an Dich geschrieben. Mein Edmund ist tiefbetrübt, er hat seine beste Freundin verloren.«

Es brauchte gar lange, bis Serena durch ihre heißen Tränen die Worte lesen konnte, die ihr wie über das Grab noch von der lieben, treuen Hand geboten wurden.

»Meine liebe Serena,« schrieb die Tante, »ich sage Dir meinen letzten Gruß auf Erden. Es war mir nicht vergönnt, Dich, mein liebes Kind, noch einmal zu sehen. Ich habe gehört, daß Du Deine Pflicht tust, daß Du gelernt hast, mehr für andre zu leben, als für Dich selbst, und ich wollte Dich nicht den Deinen nehmen, denen Du so lieb und nützlich geworden bist. Gott schütze und segne Dich, meine liebe Serena; er erhalte Dich auf dem rechten Wege und bewahre Dir ein demütiges Herz, das sich nicht erhebt, auch wenn Du fühlst, daß Du den Deinen etwas sein und tun kannst! Nimm Dir nicht nur vor: ich will das tun und das nicht; mit solchen Vorsätzen allein kommst Du nicht weit; aber nimm Dir vor: ich will mein Herz dem Herrn zu eigen geben, – der wird es wohl lenken und führen zum Segen für die Deinen, zum Frieden für Dich. Lebe wohl, mein Kind, für diese Erde. Gott gebe, daß ich Dich mit Deiner lieben Mutter einst grüßen darf in einer Heimat, wo wir uns nicht mehr Lebewohl sagen dürfen! Bis in den Tod

Deine
treue Tante.«

Recht lang und schmerzlich mußte Serena weinen; auch der Vater weinte mit ihr, als er in dem Briefe aufs neue sah, welch treues Herz seine Serena hier verloren. Der kleine Eduard sah gar bedenklich in das verweinte Gesicht der Schwester und wollte immer mit seinen dicken Händchen ihre Augen trocknen. Die Mutter nahm sie in die Arme und küßte sie so herzlich, wie nie zuvor und sagte: »Wir wollen dich alle so lieb haben, wie deine gute Tante getan hat.« Selbst Dick und Bob betrugen sich an diesem Abend anständig, und wenn Bob lärmen wollte, so stieß ihn Dick an und sagte leise in seiner feinen Weise: »Sei still, siehst nicht, daß Serena heult?«


Es war ein besonders trüber und grauer Tag in der kleinen Wohnung in Tavernstreet, nicht gar lange, nachdem Serena den Tod ihrer Tante erfahren hatte. Draußen in der Welt wollte es bald Frühling werden; das Milchmädchen, das aus einer Vorstadt kam, hatte Serena am Morgen ein paar Schneeglöckchen gebracht. Die machten sie aber nur traurig: denn hier konnten sie auch gar nichts Grünes sehen, nicht einen Grashalm. Richard und Robert hatten unter ihrer Aufsicht den Kleinen im Kinderwägelchen nach einem entfernten Platz führen wollen, wo es grüne Büsche gab; aber nun war Regen eingebrochen, Regen den ganzen Tag aus dicken, grauen Wolken; die Straße war schmutzig, die Dächer grau, die ganze Welt sah grau aus.

Der Vater saß in seinem alten Lehnstuhl, dem einzigen, den er von den schönen Möbeln des alten Hauses behalten hatte. Er war seit einigen Tagen sehr unwohl und konnte nicht ausgehen; er sah bleich und trübselig aus, und die Mutter betrachtete ihn mit stiller Sorge. Serena hatte den Kleinen auf dem Schoß, der sich fast ein wenig vor ihr fürchtete in den schwarzen Trauerkleidern; sie wollte ihm ein Geschichtchen erzählen, aber es fiel ihr heute gar nichts ein; es war ihr, als sollte es im ganzen Leben nicht mehr hell und freudig werden auf der Welt.

Da klopfte es. Es war schon eine Begebenheit hier, wenn geklopft wurde; Besuche kamen keine, und Doktor Schmid erwarteten sie heute nicht, er war gestern erst bei dem Vater gewesen. Und doch war es der gute Doktor. Er kam aber heute nicht allein. Es war noch ein Herr bei ihm, der allen unbekannt war.

»Ein schönes Wetter habt ihr bestellt.« brummte der alte Herr, »wenn man euch besuchen will; und ich komme dazu noch mit meinem gelehrten Freund, dem Herrn Rechtsanwalt Clarke, ganz expreß zu meiner kleinen Miß Serena Seyton.« Verwundert sah Serena zu ihm auf. «Nun, Clarke, erklären Sie'sl« sagte der Doktor.

»Die verstorbene Frau Drummond, Tante Ihrer seligen Frau Mutter,« hob der Rechtsanwalt an, »hat in den letzten Wochen vor ihrem Tode die Nachricht von dem Tode ihres einzigen Sohnes in Australien bekommen. Sie hat nach dieser Nachricht ein Testament gemacht und in demselben einen anständigen Jahresgehalt für den blinden Sohn des Predigers in ihrem Orte ausgesetzt, so lange er lebt.«

»Edmund!« rief Serena erfreut.

»Feiner ein schönes Legat für ihre treue, langjährige Dienerin...«

»O, die gute Sara,« sagte Serena erfreut; »die hat es Wohl verdient!«

»Ihr Landhaus nebst dem Garten und den kleinen Grundstücken, die es umgeben, sowie ihr sämtliches bares Vermögen hat sie der Tochter ihrer geliebten Nichte, Miß Serena Seyton, Tochter des Herrn Heinrich Seyton, zu alleinigem freiem Besitz vermacht,« schloß der Rechtsgelehrte. Serena blickte ihn verwundert und erstaunt an, sie konnte alles nicht recht begreifen.

»Da Ihre Tochter noch minderjährig ist,« sagte Herr Clarke zu Verenas Vater, »so bestimmen die Gefetze in einem solchen Fall, daß für des Fräuleins Erziehung die nötige Summe ausgesetzt wird. Haus und Garten werden vermietet, und das Vermögen auf Zinsen angelegt, bis sie volljährig ist und in den Besitz eintreten kann.«

»Ja, ja, meine kleine Miß wird eine reiche Erbin,« sagte der Doktor lächelnd.

Allmählich hatte Serena besser verstanden, wovon die Rede war. »Also der Tante schönes Haus und Garten gehören mir?« fragte sie mit bebender Stimme. »Dir ganz und gar und ihr Geld dazu,« antwortete der Doktor. »Und wir dürfen alle darin wohnen? und die Mama, und Richard und Robertl Und Papa kann im Garten sein den ganzen Tag, oder auf dem Balkon, und Eddy spielen auf dem Rasen!«

»Ja, kleine Miß, wenn du nicht vorziehst, daß man Haus und Garten vermietet und du in einer prächtigen Pension erzogen wirst, um später ein reiches Fräulein zu werden.«

»O, lieber Herr Doktor, so dumm sind Sie nicht, daß Sie das glauben!« rief Serena, ziemlich unhöflich in ihres Herzens Freude, »was hilft mir das Reichwerden, wenn jetzt mein lieber Vater und die Geschwister nichts davon hätten! O Papa,« rief sie glückselig, und hatte ganz die Fremden vergessen, »wie wird das so schön sein! Wir haben alle Platz, und du wirst wieder ganz gesund. Und gib acht, Mama, wie schön es ist auf dem Balkon! In dem netten kleinen Wäldchen, da könnt ihr Räubers spielen, Dick und Bob, und Ball schlagen auf der grünen Wiese! Und Edmunds Vater wird euch gewiß Stunden geben, der ist so geschickt! Und Eddy, mein Eddy, wie wollen wir schön spielen im Garten!« Eben wollte sie aus lauter Herzensfreude im Zimmer herumtanzen mit dem Kleinen, da sah sie ihr Trauerkleid, und es fiel ihr ein, daß sie das alles ja dem Tod ihrer lieben Tante verdanke. »O, es ist eine Sünde, daß ich mich freue,« sagte sie und setzte sich still nieder.

»Keine Sünde, liebes Kind!« sagte der Doktor mit einer Träne im Auge. »Deine Tante wollte dich glücklich machen, und wenn sie auf uns niedersehen kann, so wird sie sich nur freuen, daß sie noch über das Grab hinaus dir so viel Freude bereiten konnte.«

»Du meinst es gut, liebes Kind. Aber es wird dabei bleiben, daß Haus und Vermögen verwaltet werden muß, solange sie minderjährig ist?« fragte Herr Seyton, der sich nun auch von seinem Erstaunen erholt, den Rechtsanwalt.

»Die Verstorbene hat vorausgesehen,« sagte dieser, selbst bewegt, »daß Ihre Tochter den Besitz nicht allein genießen will. Es ist nur eine Form des Gesetzes, daß ich dabei sein sollte, um mich zu überzeugen, daß es der freie Wille des jungen Fräuleins ist, schon jetzt mit den Ihren zu teilen. Die Ueberzeugung habe ich jetzt,« schloß er, selbst mit feuchtem Auge; »bei Ihnen als Vater ist ja Ihres Kindes Gut am besten geborgen; Sie können es in Besitz nehmen, sobald Sie wollen. Gott segne Ihnen das Erbe!« Die beiden Männer schieden in tiefer Bewegung. Serena fiel glückselig ihrem Vater in die Arme; der aber faltete die Hände und sprach: »Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich.«

Das war ein schöner Einzug am allerschönsten Maientag den die Familie auf dem Landhaus der Tante hielt! Die Reise war glücklich vorüber samt dem ersten Strudel des Auspackens; recht wie eine Segensgabe, die die treue Tante noch vom Himmel bot, lag die schöne, freundliche Heimat vor aller Augen. Vater und Mutter saßen auf dem Balkon im warmen Sonnenschein; jetzt schon schien der Vater vergnügt, trotz der Mühen der Reise, durch das Glück seiner Kinder. Drunten auf dem weichen Rasen saß der kleine Eduard, glückselig in einem Haufen Blumen, die ihm die alte Sara gepflückt, welche auf Serenas und der Eltern Bitten eingewilligt hatte, hierzubleiben. Der Kleine jubelte hellauf vor Freude.

Dick und Bob trieben sich höchst vergnügt auf der Wiese umher, die an den Garten anstieß; sie musterten mit großer Sachkenntnis die herrlich blühenden Obstbäume und berieten, was wohl Aepfel- und was Birnbäume seien. »Du, ist's denn wahr,« fragte Bob, »daß das eigentlich der Serena gehört?« – »Ja, 's ist so,« sagte Dick; »aber sie will gar nichts für sich allein, es gehört alles auch uns.« – »Du,« meinte Bob, »weißt du, jetzt ist sie erst noch viel besser, als sie sich angestellt hat!« – »'s ist richtig.« sagte Dick.

Serena war in aller Stille mit ihrem alten Freund, dem Pfarrer, der sie zuerst in der neuen Heimat begrüßt hatte, hinübergegangen den grünen Weg, den sie zum erstenmal an der Hand der Tante gewandelt war. Dort, hinter dem friedlichen Kirchlein lag der stille Totengarten; dort zog sie ihr Herz zuerst hin. Vor einem blühenden Fliederbusch erhob sich ein Kreuz von weißem Marmor, darauf standen der Name der Tante und die Worte: »Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rühret sie an.«

Da kniete Serena nieder und legte ihr Haupt auf den Fuß des Kreuzes und weinte, weinte recht lange und schmerzlich, und doch waren es keine bittern Tränen, sie machten ihr übervolles Herz leicht.

Endlich erhob sie sich. Der Pfarrer stand still mit gefalteten Händen zur Seite, aus dem Kirchlein klangen schöne Orgelklänge. »Ich habe ja Edmund noch gar nicht gesehen!« rief Serena. »Orgelspiel ist noch immer seine liebste Freude,« sagte der Pfarrer; »er weiß, daß du wieder da bist, und wenn er fröhlich ist, so treibt es ihn, im Gesang oder Musik sein Heiz auszugießen.«

Leise waren sie nähergetreten, und sie hörten zu den Tönen der Orgel in Edmunds tiefer, weicher Stimme die Worte des schönen Psalms: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.« Sie blieben unter der Pforte stehen bis zu dem freudigen Schluß: »Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.«

Edmund hatte geendet. »Edmund!« rief Serena; »Edmund, ich bin wieder da und darf dableiben immer und immer!«

Edmund eilte herbei, und in heller Freude grüßten sich die Kinder. Das weiße Kreuz auf der Tante Grab glänzte in lichtem Rot des Abendsonnenscheins. Das war wie ein Gruß der Seligen, mit dem sie sich freute über ihres Kindes Glück.


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