Ottilie Wildermuth
Jugendgabe
Ottilie Wildermuth

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Der kluge Bruno

In einem etwas abgelegenen Tal des schönen Schweizerlandes gibt es ein Dorf, das seltener als viele andere Gegenden der Schweiz von Reisenden besucht wird, obgleich es so freundlich gelegen ist, daß es jedem Herzen und Auge gefallen muß. Wie in den meisten Schweizerdörfern, so liegen auch hier die Häuser weit auseinander, zerstreut im Grünen, und dieses Grün der Schweizer Täler ist so wunderschön! Da rieseln und rollen von allen Höhen herab die klaren Bergwasser; die fließen dann unten fort unter Gras und Moos und erhalten es so frisch und schön.

Das Tal war eingeschlossen von grünen Hügeln; auf einer Seite aber ragte hoch hinüber ein gewaltiger Gletscher, schneeweiß schimmernd und blinkend wie Kristall. An dem Abhang eines der grünen Hügel stand das Pfarrhaus; es war gebaut wie die andern Häuser, mit einem breit hervorspringenden Dach, einer Galerie ringsherum, in der Schweiz »die Laube« genannt, auf die eine Treppe von unten führte, gerade wie die niedlichen Schweizerhäuschen, die wir zum Schmuck auf Tischen und Schränken sehen. Es war etwas größer und fester gebaut als die andern Häuser des Tales, gar freundlich anzusehen mit den spiegelblanken Fenstern und dem Spruch, der nach alter Schweizer Sitte an der Vorderseite des Hauses gemalt war:

»So lange dieses Haus
Wird auf dem Boden stehen,
Soll Gottesfurcht und Treu
Darin im Schwange gehen.
Und wenn ein Christ darin
Beschließet seinen Lauf,
So nimm ihn seliglich
In deine Wohnung auf!«

Herr Oschwald, der Pfarrer, war den Leuten gar lieb und wohlbekannt im ganzen Tale auf und ab; auch seine Frau, obgleich sie kein Schweizerkind war, sondern fern aus England stammte, hatten sie sehr liebgewonnen. Zwar verstanden sie einander oft nicht, die Schweizerbauersleute und die englische Frau Pfarrerin; aber sie lachten einander freundlich an, und die Frau beschenkte alle Kinder und Armen; das war auch eine Sprache.

Der Pfarrer hatte kein sehr ruhiges Leben und durfte nicht allzulange in seiner Studierstube sitzen. Denn nicht nur das Dörflein, dessen Häuser zerstreut im Grünen um das Pfarrhaus lagen, bildete seine Gemeinde, – gar weit umher, hoch auf steilen Höhen oder tief in Felsenschluchten lagen einzelne Häuser, die alle noch zur Gemeinde gehörten; und es war gut, daß das Kirchglöcklein einen so hellen Ton hatte, denn es mußte am Sonntag die Leute von allen Seiten her zusammenrufen.

In die Kirche kamen die Leute alle von nah und fern; auch die Kindlein brachten sie zur Taufe her, wenn der Schnee nicht gar zu tief lag; aber wo Kranke waren und Sterbende, denen der Pfarrer Trost bringen sollte, da mußte er selbst hinaus, oft bei recht schlechtem Wetter, und mußte auf gefährlichen Wegen herumsteigen, so daß seine Frau in großer Angst war, bis er glücklich wieder nach Haus kam.

Herr Oschwald selbst war nicht ängstlich. »Da sieh hinauf, liebe Marie!« sagte er und deutete auf die prachtvollen Schneeberge, die sich hoch über den grünen Hügeln erhoben, »der diese Berge gesetzt hat, der wacht auch über unser Leben.«

»Aber diese Berge selbst können stürzen, lieber Konrad,« sagte die ängstliche Frau; »weißt du nicht, was uns der alte Mann drunten erzählt, daß, wie er noch ein Kind war, eine Lawine herabgestürzt ist, und die Häuser gerade auf unserer Seite verschüttet hat, so daß nur dies eine stehengeblieben, weil es von Stein ist?«

»Die Lawine hat ja die Leute in ihren Häusern begraben,« sagte lächelnd der Pfarrer; »die auswärts waren auf Wegen ihres Berufs, die sind verschont geblieben, und wenn der allmächtige Gott will, so kann er auch Verschüttete aus dem Schnee wieder erretten.«

»Aber es ist auch schon Gottes Wille gewesen, daß Menschen unter dem Schnee verkommen sind,« sagte die Frau.

»Wenn es Gottes Wille ist, liebe Marie, so wird die Zeit kommen, wo wir sehen, daß wir auch davor uns nicht fürchten durften. Aber es hat noch keine Gefahr,« sagte er freundlich, »es ist noch niemand viel Schlimmes geschehen, der auf guten Wegen ging.«

Frau Oschwald war eine gar zarte Frau; sie hatte auf einer Reise in die Schweiz einst ihren Mann kennen gelernt und hatte ihn so liebgewonnen, daß sie gern allein mit ihm gezogen war in dieses stille Tal, obgleich sie ihre frühere Jugend in großen und prächtigen Städten verlebt hatte. Sie war zufrieden und glücklich, wenn auch oft ein leises Heimweh sie überschlich, weniger nach dem Glanz und Wechsel einer großen Stadt, als nach dem Leben mit ihrer zahlreichen Familie, wo sie mit Freundinnen, Vettern und Bäschen oft so fröhliche Zeiten gehabt hatte. Aber sie sah, daß man sie lieb hatte; daß ihrem Manne Dank und Segen folgte, wo er ging; sie fühlte sich wohl unter den freundlichen Leuten, und als ihre liebe, kleine Gertrud recht als ein frisches Alpenröschen aufwuchs, da hatte sie auf der Welt Nichts mehr zu vermissen.

Gertrud war durch und durch ein gesundes, kräftiges Schweizermädchen; nur die blonden Haare und die feine, weiße Haut konnten an die englische Abstammung ihrer Mutter erinnern. Sie tummelte sich, sobald sie recht gehen konnte, am liebsten mit den Kindern im Dorfe herum; der Mutter wollte das oft schwer eingehen und sie mußte manchmal mit einem stillen Seufzer denken, was wohl die vornehme Tante Dalton oder die feine Base Cäcilie sagen würde, wenn sie ihr kleines Mädchen mit den Bauernkindern und Geißen am Berg herumklettern sähen. Aber Gertrud war eben gar zu munter und glücklich dabei und blühte und glühte von Leben und Gesundheit; daneben war sie, wenn auch oft ein wildes, doch ein gehorsames Kind, und so hoffte die Mama, sie werde zur rechten Zeit lernen, was nötig sei.

Das Dienstmädchen im Pfarrhaus war noch jung und ein fröhliches Geschöpf, das den ganzen Tag seine Liedchen sang und trällerte und eine heitere Gespielin für Gertrud gab. Sie war gar reinlich und zierlich gekleidet, »gerade wie eine Schweizerpuppe!« hatte Cousine Cäcilie verwundert ausgerufen, als die Pfarrerin bei einem Besuch in England das Meyeli mitgebracht. Sie war aber auch zu nett in dem schwarzen Samtmieder, dem eigentlichen schwarzen Spitzenthäubchen, das wie Strahlen ihr frisches Gesicht umgab, dem schneeweißen gefalteten Goller und den weißen Aermeln, die sie bei keiner Arbeit beschmutzte.

Die Mutter hatte auch der kleinen Gertrud einen Schweizeranzug machen lassen, der ihr niedlich stand; nur blieben Goller und Aermel nicht so rein erhalten wie bei Meyeli.

Am meisten freute sich Gertrud, wenn der Vater sie mitnahm auf seinen Gängen. Sie durfte dann in irgendeinem Bauernhause bleiben, wo er wußte, daß gesittete Kinder waren; dann trieb sie sich fröhlich mit ihnen herum, half die Geißen hüten und schaute hinüber nach den prächtigen Schneebergen und lauschte den Märlein, die ihnen eine alte Ahne erzählte von der verschütteten Alme, die dort tief unterm Schnee begraben liege. Manchmal, wenn Gertrud ganz allein im grünen Gras lag und den leuchtenden Gletscher oben in seiner Herrlichkeit silberweiß in die blaue Luft sich heben sah, da mußte sie sich denken, dort hinauf gehe der Weg zum Himmel, und wer einmal oben sei, der bekomme dann silberglänzende Flügel, mit denen er vollends hineinfliegen dürfe, geradezu unter die Engelein. Wenn ihr dann freilich der Vater erzählte, wie mühsam und schwer es sei, solchen Berg zu ersteigen, wie schon mancher sein Leben darüber gelassen habe, – dann lüstete sie's nicht mehr, diesen Weg zum Himmel zu suchen, und der Vater tröstete sie, daß der liebe Gott ihr einen andern Weg zeigen werde, der freilich auch nicht immer leicht sei.

Einmal besuchten die vornehme Tante und Cousine Cäcilie das Pfarrhaus, als sie eine Reise in die Schweiz machten; sie kamen mit baumhohen Alpenstöcken auf Eseln einhergeritten, obgleich man in das Tal, wo Herr Oschwald wohnte, recht wohl hätte in leichten Wagen fahren können. Sie hatten sich fast vorgestellt, ihre liebe Mary wohne in einem Kuhstall, und waren sehr erfreut über die zierliche und bequeme Wohnung, und darüber, daß sie nicht lauter Milch trinken mußten, sondern auch Kaffee und ordentliche Mahlzeiten bekamen.

Das Töchterlein aber, das hatten sie sich nicht ganz als ein solches Naturkind vorgestellt. Sie waren noch nicht lang angekommen, als Gertrud mit glühenden Wangen und fliegenden Haaren hereinsprang, Bruno, der treue Haushund, hinter ihr drein, der in lustigen Sprüngen um sie herumhüpfte und vergnüglich bellte. »O Mutter, wir machen einen so schönen Wasserfall am Bach drunten, der Hansle und das Vreni und ich! Und es sind so ein paar närrische Damen hereingeritten mit langen Stecken...«

»Deine liebe Tante und die liebe Base Cäcilie sind zu uns gekommen,« sagte die Mutter rasch in großer Verlegenheit; »grüß sie, Gertrud!« Gertrud wurde sehr rot und grüßte die Damen, die ihr die kleine Unbedachtsamkeit nicht zu übel nahmen und später gut Freund mit ihr wurden.

Sie waren sehr gern in dem freundlichen Pfarrhaus und konnten jetzt wohl begreifen, daß ihre liebe Mary nicht vor Heimweh gestorben war. Es war so schön hier, so prächtig in stillen Nächten, wenn oben am dunkeln Himmel der Mond stand und alle die mächtigen Berge umher so still und feierlich, und aus den Hütten die traulichen Lämplein blinkten, bei deren Schein die Leute friedlich beisammen saßen, oder an klaren Sommerabenden, wenn die Sonne untergegangen war und die Schneeberge noch einmal erglühten in leuchtend rotem Glanz wie in einem purpurnen Königsmantel. Und es war schön, an sonnigen Nachmittagen draußen zu sitzen auf der Galerie und hinaus zu sehen auf das grüne Tal und die anmutigen Hütten, wenn die Leute mit freundlichem Gruß vorbeizogen auf ihre Felder, die gar mühsam zu bebauen sind, da sie an lauter Bergabhängen liegen; im Dorf war es dann ganz still und nur da und dort saß vor den Häusern ein altes Weiblein oder ein weißhaariger Aehni, der sein Enkelein hütete.

Alles gefiel den Tanten, nur das gar zu wilde Wesen der kleinen Gertrud nicht; und als die ihnen selbst ihre Heldentaten erzählte, wie sie einmal auf des Hanslis Bock geritten, und wie sie im Winter mit dem Meyeli am Bach einen Feenpalast aus lauter hellen Eisstücken gebaut, der dann so schön zusammengefroren: da wurde ihnen angst und bang für die kleine, wilde Kreatur.

»Liebe Mary, du mußt die Kleine zahmer und anständiger gewöhnen, wenn sie nun heranwächst,« sagte beim Abschied die Tante; »die klettert dir eines schönen Morgens auf den Montblanc und geht zugrunde in einer Eisspalte! Eine Kuhhirtin willst du ja doch nicht aus ihr machen; da muß das Kind sich benehmen lernen wie ein ordentliches Mädchen.«

»Gewiß, liebe Tante, Sie haben recht,« gab Frau Oschwald zu. »Wenn ich kräftiger wäre und könnte selbst mehr fort mit der Kleinen, so wäre es besser. Aber sie ist doch auch viel mit ihrem Vater, und ich denke, sie wird nicht immer so eine kleine Wilde bleiben. Das Kind ist gesund und kräftig, da muß sie viel im Freien sein; ich selbst kann nicht so oft hinaus und wenn mir der liebe Gott noch ein liebes kleines Kind schenkt, so muß ich noch mehr zu Hause bleiben und die Gertrud sich selbst überlassen. Doch hofft ich, wenn sie ordentlich ans Lernen kommt, wird das besser.«

»Aber das Mädchen kann inzwischen Arm und Bein, ja Leib und Leben einbüßen bei dem Herumklettern!«

»Das fürchte ich so leicht nicht, Tante. Der Bruno weicht nicht von ihr und er läßt ihr nichts geschehen.«

»Das kann ich gerade nicht leiden, « sagte die Tante, »daß sie überall mit dem garstigen Vieh herumsteigt.«

»O Tante, Sie wissen nicht, was der Bruno für ein gutes und treues Tier ist!«

Vor zwei Jahren war ein Reisender mit dem Hunde müde und krank aus Italien gekommen und in dem kleinen Gasthof des Dörfchens liegengeblieben. Der Pfarrer und seine Frau hatten sich seiner getreulich angenommen, und gar oft hatte ihm die kleine Gertrud ein Körbchen mit Erfrischungen gebracht; die Kleine und der langhaarige braune Hund, der immer am Bette des Kranken lag, waren bald recht gut Freund miteinander geworden.

Der Fremde hatte seine Gesundheit nicht wiedererlangt. Ehe er starb, sagte er dem guten Pfarrer noch tausend Dank für seine Liebe. »Ich bin nicht reich, Herr Pfarrer,« fügte er zu ihm. »Das Wenige, was ich hinterlasse, gehört meiner Schwester; ich weiß Ihnen nichts Besseres zum Danke zu geben als den Hund, mit dem Ihr Töchterlein sich jetzt schon so befreundet hat. Er ist von der edlen Rasse der Hunde vom St. Bernhard, die jetzt fast am Ausgehen ist, und es hat mich viele Mühe gekostet, ihn zu erwerben; er ist noch jung, aber das gibt ein treues, starkes Tier.«

Als der Fremde begraben worden, war der Hund dem Sarg gefolgt und hatte sich vor dem Grabe niedergelegt; er blieb auch liegen, als die ganze kleine Leichenbegleitung ins Dorf zurückkehrte. Der Pfarrer hatte schon Geschichten gehört von treuen Hunden, die auf ihres Herrn Grabe liegengeblieben, bis sie selbst gestorben waren; es hätte ihm leid getan wenn das gute, treue Tier so hätte verkommen sollen. So war er denn abends noch einmal auf den Friedhof gegangen und hatte die kleine Gertrud mitgenommen. Der Hund lag noch auf dem Grab und hatte den Kopf vor sich hin auf den Boden gelegt. »Bruno!« rief die Kleine; da hob er den Kopf und sah sie traurig an. »Bruno, komm mit!« rief sie wieder und wandte sich um zum Gehen. Und wirklich, der Hund stand langsam auf, drehte den Kopf noch ein paarmal um nach dem Grabe seines Herrn und folgte dann der Kleinen willig nach Haus.

Seither war Bruno der beständige Begleiter der kleinen Gertrud und die zwei spielten mit einander wie Kameraden. Von dem kleinen Mädchen ließ er sich alles gefallen, und sie war ganz stolz, daß sie einen eigenen Diener hatte. Der Vater hatte ihr viel erzählt von den Mönchen, die hoch oben auf dem St. Bernhard wohnen, wohin die Wege so beschwerlich und gefahrvoll sind, daß gar oft Reisende verunglücken, wenn sie den rechten Weg verfehlt oder wenn sie sich müde niedergesetzt haben und in der Kälte eingeschlafen sind. Wenn dann ein starker Schnee fällt oder ein Sturm weht, dann können solche arme Leute leicht erstarren und vom Schnee zugedeckt werden; sie können nicht mehr rufen und sich rühren, und ein Mensch könnte sie nicht auffinden.

Dann aber schicken die guten Mönche ihre wohl abgerichteten Hunde aus mit einem Körbchen um den Hals, darin Lebensmittel sind, und einer Laterne. Mit dem feinen Geruchsinn, den kein anderes Geschöpf in diesem Grade hat, entdecken sie dann die Verschütteten, scharren den Schnee auf, und wo sie die Erfrorenen nicht selbst wieder zum Leben bringen können, da kommen sie ins Kloster zurück und holen die Mönche herbei, um zu helfen.

Recht mit Stolz erzählte Gertrud die Heldentaten der Hunde vom St. Bernhard, als ob ihr Bruno das alles in eigener Person getan hätte. Sie wollte ihn auch, bald nachdem ihr der Vater dies erzählt hatte, abends hinausschicken mit einem Körbchen und einer Laterne, um schnurstracks einen erfrorenen Menschen mit heimzubringen. Mit dem Körbchen ging's ordentlich; er hatte schon manchmal Brot beim Bäcker unten geholt, die Laterne aber ließ er sich nicht gefallen; er schüttelte sich, bis sie zerbrochen am Boden lag. Der Vater hatte viele Mühe, der Gertrud begreiflich zu machen, daß zum Glück in ihrer Gegend die erfrorenen Leute doch nicht alle Abende auf der Straße herumliegen, und daß für diesen Dienst der Hund noch besonders abgerichtet werden müßte.

Konnte Gertrud keine erfrorenen Menschen holen lassen durch ihren Bruno, so lehrte sie ihn dafür doch allerlei andere Künste. Ein Lieblingsspiel, das sie mit dem Hund trieb, war, wenn sie sich ins hohe Gras legte und kläglich rief: »Bruno, such mich, ich liege im Schnee!« Der kluge Bruno wußte ganz gut, wo Gertrud war, aber doch schnupperte und suchte er ganz ängstlich in weitem Kreise um das Mädchen herum, immer näher, bis auf einmal mit einem lauten Schrei Gertrud in die Höhe fuhr. Aber die Sätze und Sprünge des Bruno hättet ihr sehen sollen, und das vergnügte Gebell hören, mit dem er dann um die Kleine herumsprang, bis sie den Hügel hinab so lange um die Wette liefen, bis Gertrud erschöpft ins Gras sank.


Nicht sehr lange, nachdem Tante und Cousine abgereist waren, stand eine Wiege in der Mutter Zimmer, darin ein Brüderlein schlief. Die Mutter hätte nicht Sorge haben dürfen, sie werde Gertrud gar nicht mehr daheim sehen, wenn sie ohne ihre Aufsicht sei und freien Lauf draußen habe. Gertrud war glückselig über das nette kleine Geschöpf und mochte gar zu gern an seiner Wiege sitzen und sein weiches Gesichtchen anrühren, und die kleinen, zierlichen Händchen streicheln.

Gar zu lang hätte freilich das Vergnügen nicht gedauert, da der kleine Bruder eben noch gar nicht sprechen und spielen konnte; auch sah er nicht einmal die schönen Bildchen an, die ihm Gertrud gleich am ersten Morgen zeigte. Aber die verständige Wärterin gab der Kleinen allerlei Geschäfte bei dem Brüderlein. Bald durfte sie die Wiege ein wenig schaukeln, nur ganz sachte, sachte; bald durfte sie die Windeln und kleinen Jäckchen von der Galerie holen, wo sie getrocknet wurden, oder ihm ein Liedchen singen; bald durfte sie auch der kranken Mama ein Glas Wasser bringen oder eine Tasse Tee, und sich zu ihr setzen und ihr erzählen, wie es so schön aussehe in der Welt draußen und was sie mit ihren Gespielen getrieben habe. Denn das fröhliche Kind sollte ja nicht immer in die Kinderstube und an des Brüderleins Wiege gebannt bleiben; wenn ihre Lehrstunde beim Vater vorüber war, so durfte sie hinaus und zu ihren Gespielen nach wie vor.

Aber Bruno, ihr alter Kamerad, war ihr untreu geworden. Manchmal sprang er freilich noch lustig mit ihr hinaus; sein rechter Platz jedoch schien jetzt bei der Wiege des kleinen Walter zu sein. Wenn Mädi, die Wärterin, mit dem Kleinen auf der Galerie auf- und abspazierte, so ging Bruno ganz langsam und gesetzt mit. Ein Wiegenkorb für den Kleinen wurde an schönen Tagen auf die Galerie gestellt; wenn dann das Kind schlief, so legte sich Bruno daneben, und er war mit keiner Macht davon wegzubringen, auch wenn Gertrud noch so laut in Garten nach ihm rief.

Gertrud wollte das sehr übel nehmen. Der Vater aber beruhigte sie und sagte: »Sieh, das ist eben unser kluger Bruno; der merkt jetzt, daß du ein großes Mädchen bist, die sich selbst wehren oder davonlaufen kaim, wenn ihr jemand etwas tun wollte. Das kleine Brüderlein aber, das kann sich nicht selbst helfen; da denkt er, er müsse acht geben daß ihm niemand etwas tue im Schlaf.« Die Kleine gab sich zufrieden und freute sich nur auf die Zeit, wo sie und Walter zusammen mit Bruno werden herumspringen können.

Die Wärterin, Mädi, welche die Mutter und den kleinen Bruder mit großer Sorgfalt pflegte, war eine alte Frau mit schneeweißen Haaren; ihre Augen waren noch hell und klar, ihre Wangen frisch und rot; immer war sie gesund, heiter und zufrieden. Mädi wurde rings umher geholt, wo kleine Kinder zu pflegen waren; sie selbst hatte zwölf Kinder aufgezogen, da konnte sie gar gut mit Kleinen umgehen und hatte sie sehr lieb.

Ihr Mann war gestorben, ihre eigenen Kinder waren alle groß gewachsen und draußen in der Welt herum zerstreut. Zwei Söhne waren Soldaten fern in Italien; andere Kinder dienten als Knechte und Mägde; die alte Mädi war ganz allein geblieben. Wenn sie nicht Kinder zu pflegen hatte, so wohnte sie einsam in ihrem eigenen Häuschen in dem niedrigen Stüblein, wo rote Nelken und Rosmarin am Fenster standen. Da saß sie mit ihrem Körbchen und strickte und flickte für ihre Söhne draußen; dazu schaukelte sie immer ganz sachte mit dem Fuß eine leere Wiege, die vor ihr stand; es war die Wiege, in der all ihre zwölf Kinder gelegen hatten, zweimal auch zwei zugleich, weil es Zwillinge gewesen waren.

In manchen Gegenden in Deutschland meinen die Leute, das Kindlein werde sterben, wenn man die leere Wiege schaukle; Mädi fürchtete keinen Schaden davon für ihre großen Kinder, die sie getrost alle Tage der Hut des Herrn befahl. »Ich bin es so lang gewohnt,« sagte sie; »ich kann gar nicht arbeiten, ohne daß ich dabei mein Wieglein schaukle. Dann denke ich nacheinander an alle zwölfe, die darin gelegen sind, wie es ihnen jetzt in der Welt geht, und singe mir die alten Wiegenliedlein wieder.«

Gertrud hatte die alte Mädi fast so gern, wie der Kleine, der ihr schon von weitem entgegenlachte; und auch die Mutter, als sie wieder gesund war und ein kleines Dienstmädchen das Brüderchen hütete, kehrte noch manchmal ein in Mädis sonnigem Stüblein und ließ sich von ihr erzählen von all ihren Buben und Mädchen, wie sie noch klein gewesen.


Zu Weihnachten kam eine Schachtel mit Christgeschenken von der Tante und Cousine aus England; für Gertrud war ein niedliches Arbeitskästchen mit Nadeln und Schere, mit Stramin und farbiger Wolle dabei. Die Tante hoffte, sie werde jetzt ein fleißiges, gesetztes Mädchen werden, und statt auf des Hanslis Bock zu reiten, ordentlich bei der Mama am Nähtisch sitzen. Das Brüderlein bekam ein Paar wundernette Stiefelchen von rotem Samt mit goldenen Knöpfchen, solch' zierliche Schuhe, wie Gertrud sie in ihrem Leben noch nicht gesehen hatte. Sie wollte sie ihm auch sogleich anziehen; der kleine Kerl aber strampfte mit seinen Füßchen und wollte sich's nicht gefallen lassen; er trug noch lange Röcke und hatte nie Schuhe angehabt. »Bis zum Frühling,« vertröstete die Mutter sie, »da bekommt er kurze Röckchen und darf dann die roten Schühlein tragen.« Seither fragte Gertrud oft, wenn denn der Frühling komme, und die Mutter meinte, sie freue sich nur darauf wegen der roten Schuhe des Brüderleins.

Nun endlich schien es, als wolle der Frühling kommen; die Bäume waren noch nicht grün, aber Schneeglöckchen und gelbe Butterblumen blühten im Tal. Das Brüderlein konnte zwar immer noch nicht gehen, was Gertrud oft ungeduldig machte; doch konnte er laut lachen und spielen mit seinen Händchen und mit einem kleinen bunten Ball, den sie ihm brachte, und, was Gertrud die Hauptsache war, er trug ein kurzes, weißes Röckchen, und an seinen kleinen, fetten Füßchen weiße Strümpfchen und die roten Schuhe; er schien selbst eine Freude daran zu haben und spielte oft damit. Man stellte den großen Korb wieder auf die Galerie, in welchem man den Kleinen sein Bettchen machte; darin spielte oder schlief er in der herrlichen, lauen Frühlingsluft, und seine Bäckchen glühten wie rote Rosen. Bruno hielt getreue Wache bei ihm, auch wenn Gertrud davongelaufen war in den Garten oder in das Tal hinunter; die Mutter und das Kindermädchen waren ganz ruhig, wenn sie den Kleinen in des Hundes Hut wußten.

Es war ein warmer, schöner Nachmittag. Die Mutter und Meyeli waren sehr geschäftig mit einer Wäsche; Gertrud, die mit dem niedlichen Arbeitskästchen nun lieber arbeitete als zuvor, saß auf einem Schemel neben dem Korb, in dem der Kleine lag, und häkelte eifrig an einem etwas unbestimmten Gegenstand, von dem sie versicherte, es gebe ein Jäckchen für das Brüderchen. Die Sonne schien hell und voll auf den Schneeberg, der hoch über dem grünen Hügel emporragte, an dem das Haus stand; Gertruds Augen waren ganz geblendet und sie ging ins Zimmer, das wegen des vorstehenden Daches nie zu hell war, um dort an ihrer Arbeit fortzumachen, die rasch gefördert werden sollte. Das Brüderchen schlief fest. Bruno aber saß nicht nach seiner Gewohnheit ruhig und unbeweglich neben dem Korb; er ging langsam auf der Galerie herum und schnupperte mit seiner Nase immer wieder hinaus in die Luft. Gertrud war schon gewöhnt, daß ihr alter Kamerad nicht mehr viel von ihr wollte, so lang der Kleine schlief; also wandte sie ihm etwas trotzig den Rücken.

Sie war in ganz ungewöhnlichem Eifer mit ihrer Arbeit, durch die sie die Mutter überraschen wollte; denn sie dachte, diese werde dann der Tante schreiben, daß sie jetzt hübsch arbeiten gelernt habe.

Endlich wurde es ihr doch zu lang und sie ging hinaus, um zu sehen, ob der Kleine nicht erwacht sei und Meyeli ihn vielleicht in den Garten nehmen werde, so daß sie mit Bruno hinunterspringen könne, dem Vater entgegen. Aber, – Bruno war fort und der Korb war leer! Sie lüpfte die leichte Decke, ob nicht der Kleine darunter dersteckt sei, – nirgends! und keine Spur von Bruno. Vor dem Korb lag einer von den schönen roten Schuhen, die der Kleine angehabt, – sonst gar nichts, und wohin Gertrud blickte, war weder von dem Hund noch von dem Kind etwas zu sehen.

Außer sich vor Schrecken sprang sie hinunter in die untere Stube, wo die Mutter und Meyeli bügelten. »Das Brüderchen ist fort, das Brüderchen, und Bruno auch!« – Die Mutter wurde totenbleich und hielt sich am Tisch, um nicht umzusinken; Meyeli wollte hinaufeilen und selbst sehen, ob es so sei; da – stürzte sie mit einem Schrei wieder ins Zimmer. Ein seltsames Geräusch ließ sich hören; plötzlich war es, als ob ein schweres Federbett oben aufs Haus falle; es wurde dunkel im Zimmer und Meyeli schrie auf: »Barmherziger Gott! das ist ein Schneefall!«

Die Mutter lag einige Minuten betäubt; dann erhob sie den Kopf, blickte verstört umher in der verdunkelten Stube und rief: »Und der Vater ist fort, und das Kind! o Gott, wir sind alle verloren!«

Gertrud wußte und verstand gar lange nicht, was das alles zu bedeuten habe; nach und nach machte ihr das jammernde Meyeli begreiflich, daß eine Schneelawine sich abgelöst habe und ins Tal heruntergestürzt sei. »Unser Haus ist über und über zugedeckt mit Schnee,« sagte Meyeli; »aber wenn nicht das ganze Dorf drunten zugeschüttet ist, so kommen ganz gewiß die Mannen herauf und schaufeln uns heraus, wenn wir nur derweil zu essen haben; ersticken werden wir grad' nicht.« – »Zu essen!« da kam erst der kleinen Gertrud der schreckliche Gedanke, daß sie Hungers sterben könnten unter dem Schnee. Meyeli aber zündete ein Licht an in der Küche und zeigte ihr in der Speisekammer ein großes Stück Rauchfleisch, einen Laib Brot und eine Balle Butter. Da wurde Gertrud wieder getrost und zufrieden; es schien ihr, das könne man in Wochen nicht aufessen, und mit anscheinender Besorgnis sagte sie: »Und, Meyeli, wir werden am Ende noch all die schönen eingemachten Himbeeren und Johannisbeeren aufessen müssen, die Mama im Kasten hat, wenn es lang dauert.« Meyeli mußte lachen in allem Elend und sagte: »Nun geb's Gott, daß wir davon nicht leben müssen, das würde uns nicht lang satt machen!«

Sie brachte ihrer Herrin etwas Wein zur Stärkung. Frau Oschwald war sehr bleich, aber sie saß still, mit gefalteten Händen. »O Frau,« sagte Meyeli, »seien Sie nur ruhig; ich hab's schon oft gesagt, unser Bruno, der hat über Menschenverstand; der hat am Ende unser Bubi in Sicherheit gebracht, weil er gemerkt hat, daß der Schneefall kommt. Und für den Herrn Pfarrer hat gewiß der liebe Gott selber gesorgt; das Tal ist ja lang und weit, da wird doch der Herr nicht gerade noch unter den Schnee gekommen sein.«

»Wir stehen alle in Gottes Hand,« sagte Frau Oschwald. die durch stilles Gebet wieder Ruhe gefunden hatte; »wenn es Sein gnädiger Wille ist, so kann er uns erretten, und den lieben Vater und unser Kindlein mit uns zusammenführen; ob auch Berge weichen und Hügel einfallen, Seine Gnade soll nicht von uns weichen und der Bund Seines Friedens nicht vor uns hinfallen. Eh' wir weiter sehen, wie es mit uns steht, wollen wir zusammen beten.« Und sie knieten alle nieder. Frau Oschwald betete recht aus tiefster Seele zu dem allmächtigen Herrn des Himmels und der Erde, zu dem barmherzigen Vater, der die Haare auf unserm Haupte gezählt hat; sie betete, daß er seine Hand halten wolle über ihrem Gatten und Kind, daß er auch ihre Not hier ansehen und sie glücklich ans Tageslicht bringen wolle. Wenn er aber beschlossen habe, daß sie hier ihren Tod finden sollen, so möge er ihr Ende nicht zu schwer machen und sie im Frieden heimnehmen in die ewige Heimat.

Sie waren sehr still geworden. Gertrud hatte ihr Köpfchen in der Mutter Schoß gelegt und ruhte betrübt und müde von dem Schrecken. Meyeli ging geräuschlos hinaus, um sich im Haus umzusehen; bald kam sie ganz getrost wieder: »Steht alles gut, Frau! Der schwerste Fall ist nicht auf unser Haus geschehen, das Dach ist nicht eingedrückt. Wenn sie drunten im Dorf nicht alle zusammen totgeschlagen sind, so können sie den Schnee schon wegschaffen; 's kann nicht zu viel sein, sonst wär das Dach eingedrückt.«

Nach einer Weile kam sie wieder ganz vergnügt: »'s Geißlein ist drunten! 's Geißlein steht im Stall! Ich sag's ja, so ein Tier hat über Menschenverstand! Das hat's auch gemerkt, was kommt, und ist selbst in seinen Stall gekommen; nun haben wir Milch, und Heu für das Geißlein ist auch da. Jetzt seien Sie nur ruhig, wir haben alles genug!«

Bald darauf brachte das unermüdliche Meyeli einen Topf mit Milch, etwas Brot und Butter und kaltes Fleisch zum Abendessen. »Bitte, essen Sie doch, liebe Frau!« bat sie; »wir müssen unsere Kräfte erhalten; warm kochen kann ich nicht, wir müßten im Rauch ersticken, weil er nicht hinaus kann zum Kamin; aber kalte Speisen haben wir schon für eine Weile.« Gertrud meinte, sie werde nichts essen können; als sie aber versuchte, da ging es ganz leidlich und bald schmeckte es ihr fast so gut, wie in gewöhnlichen Tagen. Die Mutter wollte nicht essen; nur auf Meyelis dringendes Bitten nahm sie endlich einige Bissen.

Meyeli reinigte das Geschirr, so gut sie konnte, mit kaltem Wasser; dann sagte sie: »Nun, Frau, wollen wir nicht in Gott's Namen miteinander ins Bett gehen? Schlafen ist das allerbeste, wenn man nichts tun kann.«

Noch einmal kniete Frau Oschwald nieder mit Meyeli und Gertrud und sprach ein recht inniges Gebet, indem sie ihren Gatten und ihr Kind in Gottes gnädige Obhut befahl und ihn für sich und die Ihren um seinen Schutz bat. Sie ließ Gertrud noch ein schönes Abendlied sprechen; sie hatte es vorher oft hergesagt; wie sie aber diesmal die Worte aussprach:

»Gott laß uns selig schlafen
Und stell' mit güldnen Waffen
Ums Bette seiner Engel Schar.«

da war dem Kind, als fühle sie das Wehen der Engelsflügel; zum erstenmal empfand die kleine Gertrud so recht, was es heißt, sich als Kind eines allmächtigen Vaters im Himmel zu wissen. Die Mutter nahm sie zu sich in ihr Bett und bald schlief sie getrost an ihrem Herzen ein, während das Mutterauge noch lange, lange schlaflos hineinschaute in die gestaltlose Nacht, und ihr Geist mit dem Gatten und Knaben beschäftigt war.

Man konnte nicht sehen, wann der Morgen kam, in der trostlosen Finsternis des verschütteten Hauses; auch war die Luft schon dumpfiger als am Abend zuvor; doch wachten sie auf. Das immer geschäftige Meyeli zündete Licht an, kleidete sich an und half der Kleinen. Frau Oschwald hatte die Kleider gar nicht abgelegt; sie stand sehr müde auf, denn sie hatte fast nicht geschlafen, doch seufzte und klagte sie nicht. – Sie beteten das Vaterunser zusammen: »Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel,« tönte es ergeben und getrost von ihren Lippen.

Meyeli brachte frisch gemolkene Ziegenmilch. »Das ist doch ein bißchen warm,« sagte sie tröstend, »obgleich wir nicht kochen können. Recht munter ist unser Geißlein aber nicht; es spürt's doch auch, daß nicht alles recht ist; ja, so ein Tier, das ist grundgescheit.«

Die Mutter mutßte lächeln; es schien ihr nicht, daß große Gescheitheit dazu gehöre, wenn man nicht sehr munter sei in einem schneebegrabenen Haus; auch Gertrud ließ ihr Köpfchen hängen und saß still auf einem niedrigen Stuhl an der Mutter Seite.

Langsam, unendlich langsam schlich der lichtlose Tag hin über den Verschütteten. Gertrud stand von Zeit zu Zeit auf, nahm das Licht und sah nach der großen Wanduhr, die im Zimmer hing; sie konnte nicht begreifen, wenn erst eine Viertelstunde vorüber war, wo sie glaubte, es müssen schon Stunden vergangen sein.

Die Mutter ging unruhig mit geräuschlosen Schritten auf und ab; dann horchte sie wieder, ob sie nichts höre von den Befreiern, die Meyeli verheißen hatte –- es war stumm wie im Grab.

»Mutter, müssen wir sterben da?« fragte angstvoll Gertrud.

»Wie Gott will, Kind,« sagte die Mutter gedrückt; ihr selbst dünkte, sie seien schon wochenlang da unten begraben.

Meyeli konnte nicht sehen, wie Mutter und Kind so niedergeschlagen und traurig beisammen saßen. Ihr war nicht so bange, sie hatte schon manche Geschichte gehört von Verschütteten, die glücklich wieder ans Tageslicht gekommen waren, und gab die Hoffnung nicht auf.

»Wie wär's Jungfer Gertrud,« schlug sie vor, »wenn wir miteinander die Wäsche aufheben würden? Wir müssen es tun, so lang Licht brennt; ich weiß nicht, wie lang wir noch Oel und Kerzen haben.«

»Und dann wird es Nacht bei uns, ganz und immerfort finstre Nacht?« fragte angstvoll Gertrud.

»Nun, lang wird's ja nicht währen,« tröstete Meyeli, »und man wird's Dunkelsein auch gewöhnt. Meinem Aehni sein Vatersbruder, der ist auch einmal verschüttet gewesen in einem Keller, und der hat gesagt, er habe am End' in dem stockfinstern Loch die Mäuse spielen sehen, und die Mäuse und Spinnen sehen ja ohnehin von selbst in der Dunkelheit; aber freilich, die Tiere sind eben gar gescheit!« Der Mutter war das ein leidiger Trost; aber Gertrud war doch ein wenig begierig, wie es sein werde, wenn auch sie die Mäuse spielen sehe. Gertrud ging mit Meyeli in die Waschstube hinab; Frau Oschwald zündete sich noch ein dünnes Lichtlein an, um oben die Wäsche in den Schrank zu legen; freilich waren diesmal ihre Gedanken nicht viel bei dem schönen weißen Linnen, das sonst ihr Herz erfreut hatte.

»Nun machen Sie mit Gertrud derweil allein fort,« sagte Meyely; »ich will auf den Boden und Heu holen für's Geißlein, das müssen wir gar wohl pflegen!«

Die Mutter legte das Weißzeug, das ihr Gertrud brachte, in die Fächer des Schrankes und sagte leise tröstliche Sprüche und Liederverse vor sich hin. Sie hatte sie sonst wohl gesungen, aber das konnte sie jetzt nicht:

»Weg hast du allerwegen,
An Mitteln fehlt's dir nicht,«

sagte sie eben, da sprang Meyeli mit einem lauten Freudenschrei die Treppe herunter. »Sie kommen! sie schaufeln! sie sind droben!« rief sie mit Jubel, »ich hab's gehört!« Freudenvoll eilten die Mutter und Gertrud die Treppe hinauf bis auf den Dachboden. Da hörten sie einen dumpfen Ton wie von Graben und Schaufeln. »Gottlob, gottlob!« rief die Mutter und sank auf die Knie. »Können wir nicht helfen von unten herauf, daß es schneller geht?« fragte Gertrud. »Das ist nicht möglich,« fagte Meyeli, »wir haben ja zunächst das Dach, nicht den Schnee über uns; die Mannen machens schon fertig.« Und sie ließ einen lauten Jodler ertönen, wie sonst Sennermädchen einander von den Bergen zusingen. Es klang nicht so hell wie in freier blauer Luft auf der grünen Alme, aber sie hörten's doch. Es tönte ein Ruf herab, und immer näher hörten sie schaufeln und graben. »Marie!« rief jetzt deutlich des Pfarrers Stimme, »liebe Marie, lebst du noch, du und das Kind?« – »Wir alle, lieber Konrad!« rief die Frau. »Auch das Geißlein!« schrie Meyeli. »Bruno, ich höre Bruno bellen!« rief die kleine Gertrud in höchster Freude. Da tat es oben einen Krach, ein Haufen Schnee und ein Stück Dachsparren fiel herab; das Tageslicht drang herein, lauter tönte Brunos Bellen, und durch die kleine Lücke, die droben entstanden war, streckte er seine Schnauze und ließ ein kleines Kinderstiefelchen von rotem Samt mit goldnen Knöpfchen herabfallen.

»Das ist das andre Schühlein, und unser Bubi lebt!« rief Meyeli glückselig. »Unser Bubi lebt!« rief der Pfarrer herunter; »drunten im Dorf liegt's wohlbehalten und schläft in der alten Wiege der Mädi.«

Nun war's ein fröhliches Schaffen da oben und ging rasch voran; mit Lachen und Weinen schloß der Vater Weib und Kind, die ihm so wunderbar wiedergegeben waren, in die Arme.

»Jetzt brennt's Küchenfeuer!« rief Meyeli vergnügt und zündete an und hing eine Pfanne über und kochte Kaffee, und sprang in den Keller, um Wein zu holen für die braven Mannen – man meinte wahrhaftig, das Meyeli sei an drei Orten zugleich.

Derweilen saß der Pfarrer auf dem Sofa; seine Frau lehnte sich an ihn, noch müde von Sorgen und Schrecken, und ließ sich von ihm erzählen, wie es gekommen, daß ihr Kind geborgen sei. Sie konnte nicht forteilen zu ihm, da die Haustüre noch nicht frei war; der Pfarrer war mit Hilfe der Männer von oben herabgestiegen.

»Ich besuchte einen Kranken im obern Tal,« erzählte der Pfarrer, »machte mich aber bald auf den Heimweg, da mir trotz des schönen Sonnenscheins nicht recht wohl zu Mute war; auch sagten die Leute, es steige weiß Gewölk herauf, was einen Sturm bedeute. Da ich an der Mädi Häuschen vorbeikam, so wollte ich doch nicht vorübergehen, ohne bei ihr einzukehren. Bei der Mädi aber kommt man nicht so leicht fort; bis sie zuerst nach unsrem Bubi fragt und ihr dann ihre eignen sieben Buben einfallen, die sie schon in der tannenen Wiege gewiegt, und ihre fünf Mädchen dazu: da gibt es lange Geschichten. Endlich konnte ich doch aufbrechen. Noch einen Augenblick wollte ich nach ihrer kranken Nachbarin sehen. Wie ich nun von dieser heimwärts gehe, ruft Mädi mir atemlos aus dem Fenster zu: »Herr Pfarrer! Herr Pfarrer! kommen Sie doch!« Was war's, wie ich wieder zu Mädi kam? Da lag unser Walter auf dem Fußboden, gesund und wohlbehalten, und etwas verwundert schaute er sich um mit seinen großen blauen Augen; neben ihm stand der Bruno, der höchst aufmerksam abwechselnd die Alte und das Kind anblickte, und es sehr gut zu heißen schien, als diese es mit vielen Liebkosungen in ihre alte Wiege legte.

Nicht lange nämlich, nachdem ich Mädi verlassen, hatte sie ein leises Kratzen an ihrer Tür gehört und war höchlich erstaunt, als sie öffnete und Bruno vor der Tür stand, der unsern Kleinen ganz vorsichtig an dem breiten Gurt seines Röckleins mit den Zähnen gepackt hielt und ihn nun sachte vor ihr auf den Fußboden legte.

Wir besannen uns noch zusammen, wie denn der treue, sichere Hund dazu gekommen sei, das Kind von daheim fortzuschleppen; da hörten wir plötzlich ein dumpfes Getöse, lautes Geschrei auf der Straße; eine Lawine hatte sich gelöst, ein Teil des Tals, unser Haus darunter, war im Schnee begraben!«

»Und unser Bruno hatte das vorher gewußt und unsern Bubi geborgen, eh' das Unglück kam; das Kind wäre ja zu tot gedrückt worden, weil sein Korb auf der Laube stand. Und das eine Schühlein hat er mit Absicht dagelassen und das andere wiedergebracht, daß wir sehen sollten, daß das Kind wohlbehalten sei!« rief Meyeli, die beim Ab- und Zugehen auch die Erzählung mit angehört hatte. »Ja! ich sag's ja, der allergescheiteste Mensch ist gar nichts gegen so ein kluges Tier!«

»Nun,« unterbrach der Pfarrer lächelnd ihre gar zu stürmische Bewunderung, »zuerst wollen wir doch den Herrn preisen, der solch wunderbaren Naturtrieb in die Seele eines unvernünftigen Tieres gelegt hat.«

Bald war das Haus freigeschaufelt, wie denn zum Glück der Schneefall nicht viele bewohnte Häuser getroffen hatte. Mädi zog aus in ihrem schönsten Sonntagsstaat, um das gerettete Bubi ins Pfarrhaus zurückzubringen. Der Kleine saß vergnügt auf ihrem Arm; nur hie und da betrachtete er bedenklich seine kleinen dicken Füßlein, er schien die schönen roten Schühlein zu vermissen. Bruno schritt ganz gesetzt und ehrbar neben Mädi her und sah immer wieder aufmerksam nach dem Kleinen, der ihm freundlich zulachte. Eine Menge Kinder und Leute vom Tal, die alle schon von dem Kind und dem Hund gehört, begleiteten Mädi, so daß es wie ein stattlicher Taufzug aussah, nur daß der Täufling schon frei saß und hell um sich schaute, was sonst bei Taufkindlein doch nicht der Fall ist.

Das Pfarrhaus wurde bald hergestellt, und Pfarrer Oschwald, der nach einigen Jahren in eine andere Gegend des schönen Schweizerlandes versetzt wurde, hat keinen Schneefall mehr erlebt. Der kleine Walter ist lustig herangewachsen und ein fröhlicher Kamerad des klugen Bruno geblieben; die Tante aus England, der man die wunderbare Geschichte mitgeteilt, hat ihm statt der roten, die nicht mehr schön waren, ein Paar blaue Samtstiefelchen geschickt; aber er brauchte bald starke Lederschühlein.

Gertrud ist ein frisches und fröhliches Schweizerkind geblieben; aber etwas sanfter und mädchenhafter ist sie doch geworden seit jenem Tage, wo der Tod so nahe an ihr vorübergegangen. Die kleine Wiege in Mädis Hütte steht jetzt still; die treue Mutter ist heimgegangen, nachdem sie das letzte ihrer zwölf Kinder glücklich versorgt gesehen. Meyeli steht aber noch im Dienst der Familie Oschwald; sie verpflegt sorglich den klugen Bruno, der allmählich etwas altersschwach geworden, und erzählt gar gern die Geschichte von seiner wunderbaren Klugheit.


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