Ottilie Wildermuth
Jugendgabe
Ottilie Wildermuth

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Spätes Glück

Der liebe Gott hatte ein gesegnetes Jahr, warmen klaren Sonnenschein und fruchtbaren Regen ins Land geschickt. Es war Friede allenthalben; alle Bäume voll von köstlichem Obst, an den grünen Hügeln in den Rheinlanden reiften die herrlichsten Trauben; die Herzen waren fröhlich und die Arbeit wurde niemand sauer. Auch für die Kinder war gute Zeit; die Gärten waren voll, und es gab überall etwas zu schmausen, und der Überfluß machte die Herzen mildtätig, und selbst die, welchen kein Baum wuchs, welche kein Stückchen Land ihr eigen nennen konnten, durften nicht leer ausgehen.

Es war in einer schönen großen Stadt am Rhein, an einem herrlichen Sommerabend, wo von allen Hügeln herab, von den Wiesen und Tälern das rege und doch friedliche Abendleben sich zeigte, das sich so behaglich ansieht in ruhigen Zeiten.

Aus den niederen Häusern in dem Teil der Stadt, wo die Weingärtner und Ackerbauern wohnten, stieg schon ein leichter Rauch auf; dort kochte eine besorgte Mutter das Abendbrot; hochgeladene Wagen mit duftendem Oehmd fuhren heimzu, und fröhliche Kinder, die oben saßen, blickten triumphierend von der grünen Höhe herab; andere Kinderscharen zogen frohlockend an einem Handwagen, auf dem Körbe mit rotbackigen Äpfeln standen. Die Weinlese hatte noch nicht angefangen, nur hier und da brachte ein Winzer mit freudigem Stolz ein Körbchen auserlesener Trauben vom Berg herunter, die er irgendeinem vornehmen Herrn »zur Verehrung« bringen wollte, als Probe, wie prachtvoll heuer der Wein werden müsse, und wenn er eine der großen schwarzen Trauben in die Höhe hielt und den Vorübergehenden zeigte, so brachen alle in ein bewunderndes Ah! aus und die Kleinen sahen mit lüsternen Blicken daran empor.

Durch all dieses rege abendliche Leben und Treiben zog in gleichmäßigem Schritt, fast in Reih und Glied wie die Soldaten, ein Häufchen Kinder, denen kein Apfel reifte und keine Traube glühte; die fremd und unbeteiligt an all den geschäftigen Leuten und fröhlichen Kindern vorbeischritten und welche auch von diesen mit fremden Augen angeschaut wurden, als solche, die einem ganz anderen Kreise angehörten. Sie gingen alle gleich gekleidet: die Knaben in grauen Jäckchen, die Mädchen in blauem Kattun, – es waren die Zöglinge des Waisenhauses. Die Knaben sahen nicht viel um sich und waren schweigsam; hie und da blickte einer nach den Kindern »in der Welt draußen«, und es fiel ihm wohl ein, wie er auch einmal mit seinem Vater vom Acker heimgegangen war oder der Mutter an der Schürze gehangen und Aepfel aus ihrer Tasche gezogen hatte; aber er redete nicht darüber. Die Mädchen, die sahen mehr um sich, plauderten zusammen und erzählten sich von daheim, wie ihre Mutter auch ein Gärtchen gehabt, oder ihr Vater einmal einen Weinberg. Hinter dem Zuge der Mädchen, zunächst der Lehrerin, die ihn beschloß, um ein Auge zu haben auf die kleine Schar, ging zwischen zwei großen Mädchen ein kleines, nach dem alle Vorübergehenden hinsahen. Es war, wie die übrigen Kinder, in das schlichte blaue Kattunröckchen gekleidet; aber es hatte ein so feines, liebliches Gesichtchen und ein Köpfchen voll blonder Locken, wie man sie noch nie bei einem Waisenhauskind gesehen, denn gewöhnlich wurden den Mädchen der Einfachheit wegen die Haare kurz geschnitten; dem Dörtchen allein hatte man sie wachsen lassen, weil sie so gar schön und lockig waren. Die größern Mädchen schienen Dörtchen auch mit besonderer Zärtlichkeit zu hüten; es trug ein Blumensträußchen in der Hand. Das kleine Lockenköpfchen war augenscheinlich der Liebling der Anstalt.

Es war nicht, als ob von all dem Segen auf Feld und Flur für die Waisenhauskinder gar nichts gewachsen wäre. Gar mancher Korb Aepfel wurde von mildtätigen Händen ins Waisenhaus geschickt; auch war ein Garten hinter dem Hause, in dem schöne Apfelbäume standen, und die Kinder hatten Gott und guten Menschen zu danken, daß sie hier nicht bitteres Bettelbrot essen durften. – Aber ein andres ist's, an der Hand des Vaters heimzukehren mit dem Segen, der auf »unsrem Feld«, in »unsrem Obstgarten« gewachsen ist, und ein andres, so in Reih und Glied einzurücken unter ein fremdes Dach, wo kein so herzliches »Grüß Gott« ertönt wie daheim.

Wenn Kinder, denen die Zucht eines treuen Vaters entleidet ist, die der Mutter Herz kränken mit widerspenstigem, unfreundlichem Wesen, – wenn sie einmal wollten nachdenklich so einen Zug von Waisenkindern ansehen, vielleicht würde ihr Herz warm für den Segen der Heimat und sie würden Gott danken dafür durch ein liebevolles kindliches Herz.

Das kleine lockige Mädchen, von den Kindern das Versedörtchen genannt, weil sie besonders leicht Lieder und Verse auswendig behalten und hersagen konnte, das empfand freilich nicht, daß ihm etwas fehlte, daß keine Mutter in seine blauen Aeuglein schaute, keine Vaterhand seine blonden Locken streichelte; – sie hatte Vater und Mutter nie gekannt, und niemand konnte ihr sagen, wo sie zu finden seien; sie kannte keine Heimat als das Waisenhaus.

Vor zwei Jahren war eine arme Schustersfrau der Stadt mit dem dreijährigen Kind zu dem Vorsteher des Waisenhauses gekommen und hatte gefragt, ob das Würmchen da nicht könnte aufgenommen werden.

»Ist es Ihr Kind?« fragte der Vorsteher.

»Nein, lieber Herr; mein Mann lebt noch, Gott sei Dank, und von meinen könnt' ich keins hergeben, auch das da geb' ich blutungern fort; aber wir haben sechse, nächstens sieben, und ich kann's meinem Mann nicht zumuten, daß er auch noch für ein fremdes Kind arbeitet.«

»Ja, wem gehört denn das Kind?«

»Ach, wissen Sie, im Winter vor drei Jahren waren einmal so Komödiantenleute hier, da draußen in der »Sonne«; es ging kümmerlich genug zu bei ihnen. Ich habe damals meinen kleinen Peter gestillt, da holte man mich hinaus; eine junge Frau liege schwer krank, ob ich nicht auch ihr Kindchen nähren könne neben dem meinen. Mein Mann wollte nicht, daß ich mich mit solchen Leuten einlassen solle, aber die Frau dauerte mich; sie war sehr schwach und weinte in einem fort, und das Kindchen war so zart. So nahm ich denn das Dingelchen mit mir heim, da ich nicht alle Tage den weiten Weg in die »Sonne« hinaus machen konnte; die Jäckchen und Windeln, die ihm die Frau mitgab, waren nicht sehr gut, aber aus feinem Zeug gemacht. Den Vater des Kindes habe ich nicht gesehen. Nur einmal, als das Kindlein schon recht im Gedeihen war, habe ich's ihr wieder hinaus gebracht; da war der Mann dabei, ein sauberer, großer Herr mit einem gewaltigen Backenbart. Die Frau hatte eine unbeschreibliche Freude an dem Kindlein; der Herr machte nicht viel, er guckte nur so drüber hin. »Wir müssen nun abreisen,« sagte er zu mir – die andern Komödianten waren schon lang fort – »das Kind ist noch zu zart, als daß wir es mitnehmen könnten; es scheint bei Ihnen zu gedeihen, wollen Sie es in Kost behalten? Ich bezahle das Kostgeld auf ein halbes Jahr voraus.« sagte er, als er sah, daß ich mich besann, Und er zählte mir dreißig Gulden auf den Tisch; er mußte sie aus allerlei Schieblädchen und Beutelein zusammenkratzen, der arme Mensch; war auch noch ein Goldstück dabei, das die Frau aus einem kleinen Beutelchen holte, das sie auf ihrem Herzen trug. Ich hatte das Kindchen so lieb, ich hätte es umsonst behalten; aber wir waren arm, das Geld kam mir wie vom Himmel geschickt, mein Mann hätte gerade Leder kaufen sollen. So habe ich denn das Kind und das Geld mit mir genommen. Die Frau aber hat geweint, daß es einen Stein hätte erbarmen können, und hat das Kind nicht aus den Augen lassen wollen; der Herr wurde am Ende ganz zornig. Er sagte, sie werden bald wieder nach dem Kinde sehen, und die Frau band ihm noch ein dünnes goldnes Kettelein um den Hals; es brauchte lang, bis ich endlich fort kam.

»Mein Mann ist ärgerlich gewesen, daß ich nicht einmal den Namen von den Leuten wußte – ich hatte das vergessen – und im Wirtshaus sagten sie, der Herr heiße Eichstrom, aber man wisse nie gewiß, was solchen Leuten ihr rechter Name sei. Da meinem Manne das Geld so nötig war, so war er's am Ende doch zufrieden.

»Die Leute haben nichts mehr von sich hören lassen und die dreißig Gulden sind alles, was wir von dem Kinde gehabt. Wir haben es aber sehr gern, und wie ich Ihnen sagte, wenn zu unsern sechsen nicht noch ein siebentes käme, – ich gäb's gar nicht her.«

»Ja, liebe Frau,« sagte der Vorsteher, »wir nehmen so junge Kinder gar nicht auf. Unser Waisenhaus ist nur für Kinder, die schon in den Schuljahren stehen; für kleinere Kinder sind Anstalten im Land.«

»Ach bitte, lieber Herr, behalten Sie's doch!« bat die Frau. »Sehen Sie, ich kann nicht mehr weit herum und ein Unterkommen für das Kind suchen, und mein Mann ist gar ungeschickt und kann's vollends nicht. Und ich möchte so gern, daß es hier bliebe, daß ich's auch noch sehen könnte. Es ist ein liebes, lustiges Kind und wird Ihnen nicht viel Plage machen, und so klein es ist, so kann es schon so schöne Verschen; sag' mal her, Dörtchen! Dorothea ist es getauft,« sagte sie zur Erklärung, »es ist gar kein Komödiantenname.«

Das kleine Mädchen, das sich seither auf den Boden gesetzt und mit ein paar Papierstückchen gespielt hatte, die dort lagen, stand auf den Wink seiner Pflegemutter auf, stellte sich gerade vor den Direktor, sah ihn mit seinen unschuldigen blauen Augen furchtlos an und sagte ohne Wahl mit ihrem Kinderstimmchen den Vers her, den ihm die Schustersfrau als Abendgebet gelehrt hatte:

»Breit' aus die Flüglein beide,
O Jesu, meine Freude,
Und nimm dein Küchlein ein.
Will mich der Feind verschlingen,
So laß die Engel singen:
Dies Kind soll unverletzet sein. «

Der Vorsteher fühlte sich wunderbar ergriffen von des Kindes Blick und der unbewußten Innigkeit, mit der es sein Verschen sprach. Es war eine Stelle im Waisenhause frei; eine der Lehrerinnen zeigte sich willig, die größere Mühe zu übernehmen, die ein so kleines Kind machte. So wurde denn das Dörtchen aufgenommen, und es war bald der allgemeine Liebling, das »Kind« des Hauses geworden, und die Lehrer hatten nur zu hüten, daß es nicht verderbt und eitel wurde, weil es überall Verschen aufsagen sollte, die es so gar leicht behielt.

Gut war es, daß das Kind eine Heimat im Waisenhause gefunden; die gute Schustersfrau war bald nach seiner Aufnahme gestorben, der Mann hatte wieder geheiratet, und niemand in der Welt draußen kümmerte sich um das Dörtchen. Das aber wuchs fröhlich und lustig auf wie die Lilie auf dem Felde. Spielzeug hatte es nicht viel und brauchte nicht viel, es konnte mit allem spielen; zu Weihnacht hatte es eine schöne Puppe bekommen, die wurde aber eingeschlossen und nur Sonntag nachmittag herausgegeben. Dörtchen aber machte sich Püppchen aus einer Kartoffel, aus den Knospen der Mohnblumen; es spielte mit seinen Fingern, wenn es sonst nichts zu spielen hatte, gab ihnen allerlei Namen und ließ sie Gespräche miteinander aufführen. Den Lehrern, welche die Herkunft des Kindes kannten, war diese Neigung zum Schauspielen oft ein wenig bedenklich, bedenklicher noch die Gabe, die das Kind früh zeigte, die Leute nachzumachen und die den andern Kindern gar zu viel Spaß gab.

»O Dörtchen, mach' einmal Jungfer Klump nach!« das war die Arbeitslehrerin. Dann nahm Dörtchen irgendeine Schultasche an den Arm, die den Arbeitsbeutel der Jungfer Klump vorstellen sollte, wandelte ganz ehrbar und gerade mit hochgetragenem Kopf und auswärts gesetzten Füßen durchs Zimmer und ermahnte die Mädchen: »Kinder, schämt euch! Bleibt hübsch in der Reihe! Geht aufrecht wie ich!« Und je mehr die andern sich ausschütteten vor Lachen, desto mehr steigerte sich das kleine Mädchen. Strafen und Verweise halfen nicht viel dagegen; es gefiel ihr eben gar sehr, die andern so zu belustigen.

Einmal waren die Mädchen allein im Schulzimmer. »Du, Dörtchen, wen machst du jetzt?« riefen sie, als Dörtchen schon allerlei Darstellungen aufgeführt hatte; »o du, den Herrn Pfarrer!« rief ein mutwilliges Mädchen. Der Pfarrer des Waisenhauses war ein sehr gütiger, freundlicher Mann, der sich von ganzer Seele der Kinder annahm; durch ein körperliches Leiden hielt er, namentlich beim Predigen, den Kopf fehr auf eine Seite geneigt, was seltsam aussah, auch hatte er sich ein äußerst langsames, gedehntes Sprechen angewöhnt.

Dem Dörtchen war nicht ganz Wohl zu Mute, als ihr eines der Mädchen eine schwarze Schürze umband und aus Papier Priesterkrägelchen schnitt. Wie sie aber auf den Sitz des Katheders stieg, ihr Lockenköpfchen zur Seite neigte und mit langsamem, schleppendem Ton anhub: »Wir sind hier versammelt, ihr meine lieben Kinder,« da brach ein unauslöschliches Gelächter bei den Mädchen los und Dörtchen war im besten Zuge, fortzumachen. Da ging die Tür leise auf und eine ernste Stimme fragte: »Nun, wie geht's weiter?« Das war der Herr Pfarrer selbst. Das Lachen wurde totenstill; einige der Mädchen schlüpften unter die Schulbank, andre steckten den Kopf in die Schürze und meinten, so sehe man sie nicht; Dörtchen blieb erstarrt vor Schrecken auf ihrem Katheder stehen. »Ich will dir weiter helfen, mein Kind,« sagte der Pfarrer, stellte sich neben sie und fuhr mit ruhigem Ernste fort: »Ihr seid zu jung, um das tiefe Geheimnis der göttlichen Heilslehre zu verstehen; aber ihr seid alt genug, um zu wissen, daß der Heiland auch für euch in die Welt gekommen ist, und daß er die Kindlein zu sich gerufen hat.«

»So fing meine letzte Predigt an,« sagte der Pfarrer sanft zu Dörtchen; »bist du so auf dem Weg zu dem Herrn, der auch dich zu sich ruft?«

Dörtchen war leise herabgestiegen und verbarg bitterlich weinend ihr Gesicht in beide Hände; sie wäre niedergesunken, wenn es der Geistliche nicht gewehrt hätte; die Reue war größer, als selbst die Angst vor der Strafe. »Mußt es nicht mehr tun,« sagte der Pfarrer gütig, »mußt auch andre Leute nicht so verspotten. Aller Jubel und Beifall deiner Gespielen wiegt nicht auf, wenn du einem Menschen damit wehe getan hast.«

Lange noch war dem Mädchen bang vor der Strafe, die nachkommen werde, wenn der Lehrer es erfahre; der gute Herr Pfarrer aber hatte geschwiegen. Von dieser Stunde an war Dörtchen nicht mehr zu bewegen, jemand nachzumachen, wie stark auch in ihr selber die Lust dazu sein mochte.

Versedörtchen aber blieb sie. Niemand wußte, wo sie nur all die vielen Lieder und Gedichte her hatte, die sie auswendig wußte, und sie sagte sie nicht nur, wie sie ihr eben zufällig einfielen, nein, zu jeder Gelegenheit kam ihr auch ein passendes Lied zu Sinne; wo gesungen werden sollte auf einem Spaziergang oder während der Arbeitsstunden, da mußte Törtchen allezeit den Text hersagen.

Sonst war sie gerade keine Gelehrte. Anfangs hatte man aus dem außerordentlichen Gedächtnis des Mädchens auf große Begabung geschlossen; aber sie war zu zerstreut, um es im Lernen sehr weit zu bringen, besonders war sie keine Heldin im Rechnen. Unterhaltende Geschichten las sie gar zu gern; zu Weihnachten wurden immer viele schöne Kinderbücher an das Waisenhaus geschenkt und sie war sehr glücklich, wenn sie manchmal am Sonntag eins davon bekam und sich im Haus oder Garten irgendein stilles Winkelchen suchen konnte, um zu lesen. Nachher schnitt sie Papierpüppchen aus und führte den andern Mädchen die Geschichten damit auf; bei allen Kindern war Dörtchen beliebt und galt für sehr gescheit. Das Abendgebetchen, das sie noch von der Schusterin mitgebracht, vergaß sie nicht, und sie betete es immer leise für sich, wenn nach der Abendandacht im großen Lehrzimmer die Kinder zur Ruhe gingen; es war ihr halb unbewußt, als wenn die Worte eine schirmende Decke um sie breiteten; sie hätte nicht einschlafen können ohne ihr Verslein.

Unglücklich fühlte sich Törtchen gar nicht im Waisenhaus und begriff nicht recht, warum die Leute oft mit so tiefem Mitleid auf den Zug der Waisenkinder blickten. Sie hatte ja nie ein anderes Leben gekannt, sie war nie auf eines Vaters Knie gesessen, hatte nie einen Mutterkuß gefühlt; man begegnete ihr freundlich; sie wußte nicht, daß sie etwas entbehrte. Sie nahm auch die Wohltaten des Hauses, den Schutz gegen Hunger und Kälte, den Unterricht, den sie genoß, ebenso hin wie andre Kinder den Segen ihres Elternhauses, – sie dachte, es müsse so sein.

Wenn sie freilich in der Reihe der andern Kinder spazieren geführt wurde und es fuhren elegante Wagen an ihnen vorbei mit geputzten Kindern, oder wenn an den Jahresfesten des Waisenhauses Herren und Damen der-Stadt kamen, mit den armen Kindern sprachen und sie beschenkten, – dann setzte sie sich ein helles, farbenreiches Bild zusammen von der Welt draußen. Und sie dachte sich's gar schön und wunderbar, wenn sie nach der Konfirmation hinauskommen würde aus den engen Mauern des Waisenhauses in diese Welt – wie? das wußte sie freilich selbst nicht.

Auch über ihre Eltern mußte sie sich besinnen, als sie älter wurde. Manche der Kinder hier hatten noch eine Mutter, oder eine Großmutter, die sie besuchen durften in den Ferien und von der sie erzählten, wenn sie wieder zurückkamen; andre hatten ihre Eltern noch gekannt und die Mädchen suchten gar zu gern etwas, dessen sie sich rühmen konnten gegen ihre Gefährtinnen. »Meine Mutter hat noch ein Gärtlein am Hause,« erzählte die eine; »da sind so schöne Aepfel drin, wie meine Faust so groß.« – »O, und meine Aehne hat einen Apfelbaum vor dem Fenster, da sind die Aepfel wie eine Kegelkugel,« behauptete die andre. »Meine Großmutter wohnt in der Stadt,« sagte die dritte, »da hat man keine Apfelbäume; aber sie wohnt hinten im Hof von einem so prächtigen Haus, das ist wie ein Königsschloß!« – »Ja, im Keller wird sie wohnen!« warf eine Neidische dazwischen. »Nicht im Keller, im Hinterhaus,« rühmte Käthchen wieder, »und sie hat so schöne Nelkenstöcke vor ihrem Fenster!« Dörtchen konnte nichts rühmen und nichts erzählen; sie mußte die Ferien im Waisenhaus zubringen, wenn sie nicht eine freundliche Lehrerin manchmal mit sich in ihre Heimat nahm.

Mit den Schusterskindern hielt sie noch gute Freundschaft, obgleich sie gar selten ins Haus kam, da die neue Frau nicht viel von ihr missen wollte; sie grüßten sich freundlich, wenn sie sich im Freien sahen. Johann und Marie, die zwei, die dem Dörtchen am nächsten im Alter waren, wagten manchmal durch den Hof des Waisenhauses zu gehen und steckten ihr, wenn sie konnten, eine schöne Birne oder sonst etwas Gutes zu; – aber sie wußte wohl, daß die Schustersleute ihr nicht verwandt waren, obgleich man sie Dorothea Schefer nannte nach dem Namen des Schusters. »Deine Mutter ist eine Fremde gewesen, die nicht lange hier war,« sagte ihr der Vorsteher, als sie in späteren Jahren einmal das Herz faßte, ihn zu fragen, »sie ist wohl längst gestorben und wir wissen ihren Namen nicht.« Dörtchen hatte nicht gewagt, weiter zu fragen, aber sie konnte es nicht wieder vergessen. Oft kam sie sich unendlich arm und verlassen vor, viel mehr als die andern Kinder, die doch wußten, wo ihrer Eltern Grab war; oft aber hängte sie sich auch an das Wörtchen: sie ist »wohl« längst gestorben, »wohl«, also ganz gewiß wußte es auch der Herr Direktor nicht, und sie dachte sich wundersame Geschichten aus, wie sie die verlorene Mutter wiederfinden könnte.


So war Dörtchen im Waisenhaus herangewachsen, groß, gesund und blühend; die blonden Löckchen waren längst glatt gekämmt und in Zöpfe geflochten, als sie nach der Einsegnung Abschied nahm von dem Geistlichen, dem sie seit jenem Morgen in der Schule mit tiefer Anhänglichkeit ergeben geblieben war.

»Nun, Dörtchen, wo kommst du denn jetzt hin?« fragte der freundliche Herr.

»Weiß nicht,« sagte Dörtchen, und Tränen traten ihr in die Augen; »ich habe keinen Seelenmenschen auf der ganzen weiten Welt, der sich um mich annimmt.«

»Weißt du deinen Denkspruch noch?«

»Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf,« wiederholte Dörtchen mit leiser Stimme.

»Nun daran halte dich, liebes Kind, so wird dir nicht bange werden; du hast einen reichen Väter. – Hast auch auf Erden Leute, die an dich denken,« fügte er freundlich hinzu. »Da habe ich zum Beispiel ein recht nettes Plätzchen für dich erfahren bei der verwitweten Frau Major Sternberg; das ist eine brave Frau, die sich ein junges Mädchen zum Dienst herziehen will. Die Arbeit wird nicht zu streng bei ihr sein und ich bin gewiß, du wirst dich gut halten und meiner Empfehlung Ehre machen.« Dörtchen sagte nicht viel zu dem freundlichen Vorschlag; sie konnte gar nichts dagegen haben, und doch – sie wußte nicht, warum sie nicht ganz zufrieden war; – sie hatte sich 's eben anders gedacht, wenn sie in die Welt hinauskommen würde; aber wie, das konnte sie freilich nicht sagen. Dörtchen war ein vernünftiges Mädchen und nächstens sechzehn Jahre alt; sie begriff wohl, daß sie dem Herrn Pfarrer herzlich dankbar sein müsse für seine Hilfe, und sie tröstete sich selbst mit einem ihrer vielen Verslein:

»Hör', liebe Seele, willst auch du
In Zukunft bleiben in der Ruh'
Und nicht zu Schanden werden,
So strebe doch
Nie stolz und hoch
Und bleib' fein an der Erden!«

Und als der Pfarrer fragte: »Nun, Dörtchen, wie ist's?« da sagte sie freundlich: »Ja, ich will gern zu Frau Majorin, wenn sie mich nur haben will.«


Von »der Pracht und der Eitelkeit der gottlosen Welt,« vor der man sie gewarnt, hat Dörtchen zunächst nicht viel gesehen, als sie in ihren neuen Dienst eingetreten war. Die Frau Majorin wohnte hoch oben im dritten Stock in einer einsamen Gasse; da hatte sie drei Zimmerchen, die müßten so zierlich und rein gehalten werden, wie Puppenstuben. Der Fußboden war ohne ein Stäubchen, die Friese glänzend schwarz gebohnt, die Fenster hell wie Kristall mit schneeweißen Gardinen; auf dem Fenstertritt stand ein zierliches Arbeitstischchen, vor diesem ein niedlicher, gestickter, kleiner Fauteuil, und auf dem Stühlchen saß die Frau Majorin selbst, eine kleine Dame, meist in einem grauen Kleide, einem schwarzseidenen Schürzchen und einem schneeweißen, fein gefältelten Häubchen. Es gab erstaunlich viel zu tun bei der Frau Majorin, obgleich sie ganz allein war und sehr einfach lebte. Ihre Kommode war verziert mit niedlichen Porzellanfiguren; auf einem Pfeilertischchen standen künstliche kleine Tassen und Kaffeekannen mit roten Aepfelein darauf; auf dem andern allerlei Körbchen und Döschen, von denen kein Mensch wußte, zu was sie dienen sollten. Am Ofen standen zwei wohlgefütterte Körbchen; in einem derselben hatte Milly, das Kätzchen, und in dem andern Betty, das Hündchen, ihren bequemen Platz. Alles im Zimmer, bis zum Messingbeschlag des Porzellanofens und dem Gestell, an dem die Feuerzange und der zierliche Blasebalg lehnte, mußte rein und blank erhalten werden; nirgends ein Stäubchen, alles so sauber in Ordnung, als ob's die Erdmännlein zusammengetragen. Dörtchen war zu Anfang in beständiger, lauter Verwunderung über all die vielen schönen Sachen nach der schmucklosen Einfachheit des Waisenhauses; ihre Augen waren zweimal so groß als gewöhnlich vor lauter Erstaunen; auch konnte sie zuerst nicht begreifen, daß so viel Arbeit nötig sei um so viel kleine Dinge. Aber sie lernte es bald; sie bekam selbst eine Freude an den hübschen Sachen; besonders mit den Porzellanfigürchen machte sie sich persönlich bekannt und hielt oft ganze Gespräche mit ihnen. »Wie, du Langer,« sagte sie zu einem Winzer, der den Herbst darstellen sollte, »steh' ein bißchen zur Seite, mach Platz für das schöne Fräulein mit ihren Blumen!« – das war eine Flora – »sonst kommt der Alte da hinten und stupst dich mit seiner Gabel,« – der Alte war ein Neptun mit einem Dreizack. – »Gehen Sie ein bißchen weg, alter Herr!« sagte sie zum Winter, der beschneit in Muff und Pelzmantel dastand; »mein schönes Blumenfräulein erschrickt sonst; da hinten 'num, zu dem kleinen Burschen!« – einem Amor, – »der kann schon ein wenig von Ihrem langen Pelzrock brauchen!« Sogar ihrer alten Lust zu Theateraufführungen – obgleich sie noch nie ein Theater gesehen hatte – konnte sie nicht widerstehen, wenn sie einmal allein war; sie führte sich die schönsten Geschichten auf mit den Göttern und Göttinnen, Bauern- und Damenfigürchen, und brachte dann alles wieder sorgfältig in Ordnung.

Die Frau Majorin war freundlich und geduldig mit ihr; sie gewann bald das muntere Mädchen lieb und zeigte ihr unermüdet, wie sie alles zu reinigen und in Ordnung zu halten habe. Sie war noch gar nicht alt, aber früh Witwe geworden und hatte seitdem so ganz allein für sich gelebt. Da hatte sie nun, weil sie keine Kinder besaß, sich allmählich ihre kleine zierliche Welt geschaffen und sich daran gewöhnt; selbst Milly und Betty waren manierliche Geschöpfe, die nichts verunreinigten. Betty, ein zierliches Wachtelhündchen, war Dörtchens treuer Begleiter auf ihren Ausgängen und hüpfte und sprang allemal ganz lustig um sie herum, vergnügt, wenn es sich nicht mehr so gar anständig aufführen mußte wie in der Stube.

Auch an Kindern fehlte es nicht ganz. Eine Cousine der Frau Majorin war in derselben Stadt verheiratet und hatte ein ziemliches Kinderhäufchen. Die kleinsten vom vierten bis zum siebenten Jahr, waren die Lieblinge der Frau Majorin, und es war jedesmal ein großes Fest für sie, wenn sie zu der »netten Tante« durften, wie sie bei den Kindern hieß.

In ihren reinsten, niedlichsten Anzügen, mit schneeweißen Schürzchen und frischgewaschenen, rosigen Gesichtchen trippelten sie herbei, und es wurde ihnen ganz feierlich zu Mute, wenn sie aus dem etwas regellosen Getriebe ihres Elternhauses in die zierliche Stube der Frau Tante mit all den vielen schönen Sachen kamen.

Eh' Dörtchen kam, hatte die Frau Majorin eine alte Dienerin gehabt, die sie noch von ihrer Mutter ererbt; eine redliche Person, aber mürrisch und brummig und noch viel eifersüchtiger auf ihre schöne Stube als ihre Dame selbst. Der waren die Kinderbesuche nie angenehm und die Kleinen fürchteten sich gewaltig vor ihr. »Na, das kleine Pack wieder,« bruttelte sie für sich; »da hab' ich nachher zu putzen genug! – Gebt auch Achtung, tretet nicht auf die Fries! Verschüttet mir keine Milch! Zupft nicht an dem Körbchen!« Die Kleinen waren in beständiger Angst gewesen, und die Frau Majorin hatte fast selbst nicht mehr gewagt, sie kommen zu lassen. Nun war's etwas ganz andres mit dem jungen, freundlichen Dörtchen, die sich selbst wie ein Kind freute über die kleinen Gäste. Sorgsam spreitete sie ein Tuch auf den Boden, holte das Tischchen und die kleinen Stühle, welche die alte Christine in die Rumpelkammer versteckt hatte – »was braucht's den unnötigen Grust?« – und ordnete den Kleinen ihren zierlichen Kaffeetisch. Sie sang ihnen, erzählte ihnen, lachte und spielte mit ihnen, so daß die Kleinen auch gegen Tante Marie viel freundlicher und zutraulicher wurden und von selbst allerlei Gespräche mit ihr anfingen. »Du, Tante Marie,« erzählte das kleine Mädchen, »denke, ich hab einen Aff' gesehen!« – »So, wie sieht er denn aus?« fragte die Majorin. »O, wie ein wüster Herr mit keinem Rock und haarigen Hosen,« sagte Emma. »Hör', Tante,« fragte nachdenklich Otto, »warum hast du denn keinen Mann?« – »Mein lieber Mann ist gestorben,« sagte die Tante. »So, und einen neuen willst du dir nicht kaufen?« meinte der Kleine; »gelt, das wird teuer sein? Und er hätte vielleicht auch schmutzige Stiefel!« setzte er mit einem bedenklichen Blick auf den reinen Fußboden hinzu. Die Frau Majorin ergötzte sich höchlich an der zutraulichen Geschwätzigkeit der Kinder, die früher so scheu gewesen waren. Die Kleinen wurden nun viel öfter eingeladen, und für Dörtchen waren es ihre glücklichsten Tage, wenn die kleinen Gäste kamen.

Gewöhnlich wurde die Stille und Ordnung des kleinen Haushalts nicht oft unterbrochen: hie und da eine kleine Kaffeevisite von Verwandten oder ein paar Freundinnen der Frau Majorin, oder, was sie hoch anschlug, der Besuch von einem Offizier, irgendeinem alten Kameraden ihres Mannes mit klirrendem Säbel und Sporen.

Meistens saß Dörtchen den ganzen Nachmittag an einem kleinen Nähtisch im Zimmer bei ihrer Dame, die sich gern mit ihr unterhielt. Alle Wände des Zimmers waren voll großer und kleiner Porträts: das Bild des seligen Majors in voller Uniform mit stattlichem Schnurrbart; das Bild eines kleinen Kindchens, des einzigen Töchterleins der Frau Majorin, in zartem Alter gestorben; dann eine Menge alter und junger Herren und Damen und Kinder, lauter Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten und Bäschen der guten Frau. Und sie nannte Dörtchen nach und nach all ihre Namen und erzählte ihr, wo sie nun waren, oder wann sie gestorben, und wie es ihnen ergangen, und freute sich, daß Dörtchen überall ein passender Vers einfiel; daß sie z. B. bei ihrem Kindchen sagte:

»Wenn kleine Himmelserben
In ihrer Unschuld sterben,
So büßt man sie nicht ein;
Sie werden nur dort oben
Vom Vater aufgehoben,
Damit sie unverloren sei'n« –

und bei der jungen Nichte, die in blühendem Alter gestorben war:

»Holdselig schöne Blum',
Man sah dich frühe pflücken,
Um Gottes Garten dort
Mit deiner Blüt' zu schmücken.
Wir andern müssen uns
Mit Glut und Stürmen plagen, Ob wir nach manchem Leid
Noch edlen Samen tragen« –

und bei dem wohlhäbigen Bilde eines dicken, vergnüglichen Schwagers:

»Freund, ich bin zufrieden,
Geh' es, wie es will;
Unter meinem Dache
Leb' ich froh und still.«

Dem Dörtchen wurden all die jungen und alten Leute allmählich so bekannt und vertraut, als wären es ihre eigenen Verwandten, und sie durfte auch der Frau Majorin, die schlechte Augen hatte, und die, wie tadellos sonst ihre Ordnung war, doch immer ihre Brille verlegt hatte, alle Briefe vorlesen, die kamen, so daß sie nach und nach ganz daheim in der Familie ward.

Ach, an sie selbst kam freilich kein Brief! Es wurde ihr erst jetzt, wo sie von so vielen Verwandten erzählen hörte, oft unsäglich traurig, daß sie auf der ganzen Welt gar keinen Menschen hatte, der ihr angehörte, und der Traum, daß die verlorene Mutter noch leben könne, trat ihr immer mehr zurück.

Zu hart war ihr Dienst nicht; selbst die wenigen schweren Arbeiten: Holztragen und Wasserholen wurden ihr zum Teil noch abgenommen. Vor einem Jahre war zu der Frau Majorin ein stattlicher Unteroffizier gekommen und hatte sich als alter Bekannter bei ihr angemeldet; sie hatte ihn nicht gleich erkannt. »Wissen Sie denn nicht mehr?« hatte er gesagt; »ich bin ja der Peter, das arme verwaiste Soldatenbüblein, dessen sich vor achtzehn Jahren der Herr Major so treulich angenommen haben. Ich habe bei Ihnen essen und schlafen dürfen; der Herr Major haben mich in die Schule geschickt und für mich gesorgt, bis ich zum Regiment gekommen bin. Jetzt bin ich als Unteroffizier wieder zu hiesiger Garnison gekommen und habe gehört, daß sie Witwe sind. Ich bin arm; aber wo ich Ihnen dienen und helfen kann mit gutem Rat oder mit meiner Hände Arbeit, da soll mir nichts zuviel sein, damit Sie sehen, Frau Majorin, daß ich kein undankbares Herz habe.«

Seither war der Unteroffizier der gute Freund und die getreue Stütze der Frau Majorin. Er war ein verständiger Mann und gut in der Feder; so leistete er ihr Beistand in allen Dingen, wo eine schüchterne Frau sich nicht selbst helfen kann. Er sorgte für ihre Einkäufe und für die Einnahme ihrer bescheidenen Zinsen; er war auch nicht zu stolz, daß er in seinen freien Abendstunden einen alten Kittel überhing, ihr Holz spaltete und auf den Boden trug, und Wasser in die Küche brachte. Wenn sie jammerte, daß sie ihm so wenig dagegen tun konnte, so sagte er ruhig: »Sein Sie zufrieden, Frau Majorin; ist alles längst vorausbezahlt!«


Oft kamen Dörtchen die Tage doch gar zu einförmig vor; jeden Tag so ganz dieselbe Arbeit, dieselben Leute! Ihre einzige Abwechslung war hie und da ein Sonntagsspaziergang mit Jette, dem Dienstmädchen der Frau Cousine. Sie meinte, die Zeit gehe gar langsam hin, und doch war sie selbst hoch verwundert, als die Frau Majorin eines Tages sagte: »Nun, Dörtchen, bist du vier Jahre in meinem Dienst, und ich bin wohl mit dir zufrieden; reich bin ich nicht, aber ich will gern deinem Lohn vier Gulden jährlich zulegen, damit du siehst, daß ich dich gern habe.« Als sie die Freude und Dankbarkeit des bescheidenen Mädchens sah, fügte sie hinzu: »Wenn ich dir sonst noch eine Freude machen kann, so geschieht es gern, sag's nur!«

»O, wenn ich einmal ins Theater dürfte!« brach Dörtchen aus, »das ist schon lange mein allergrößter Wunsch.« Sie hatte von Jette gehört, daß in der Stadt, wo keine stehende Bühne war, gegenwärtig eine Schauspielergesellschaft sei, von der »eben ganz wunderschöne Sachen« gespielt werden.

»Nun, der Wunsch ist leicht zu erfüllen,« sagte lächelnd die Frau Majorin. »So groß wie du dir's vorstellst, wird die Herrlichkeit gerade nicht sein; aber heute spielen sie die Jungfrau von Orleans, das ist ein schönes Stück für dich; da kannst du wieder neue Verse behalten.«

Unter all den Zuschauern bei der heutigen Aufführung war gewiß niemand, der so ganz mit Leib und Seele sich in das Stück vertiefte, mit so leuchtenden Augen dasaß, so jedes Wort in sich trank, wie unser Dörtchen, die nun schon ein groß erwachsenes Mädchen von zwanzig Jahren war. Alles lebte an ihr; beinahe hätte sie, wie die Jungfrau vom Turm, sich selbst von der Galerie heruntergestürzt. Sie mußte gewaltsam an sich halten, um ruhig sitzen zu bleiben, und das Einflüstern ihrer Nachbarin: »Du, 's ist nicht wahr; die tun nur so, es sind Leute wie wir; daheim tun sie die Kleider aus und reden wie wir, und essen eine Wurst zu Nacht,« erbitterte sie aufs höchste.

Wie im Traum ging sie nach Hause. Zum erstenmal tat sie am andern Morgen alles verkehrt, sie konnte an nichts mehr denken als an das Theater; wo sie ging und stand, wiederholte sie sich die schönen Worte der Jungfrau, von denen sie wirklich merkwürdig viel behalten hatte. Ueberglücklich war sie vollends, als ihr der Unteroffizier das Buch selbst aus der Leihbibliothek brachte, in dem das wunderbare Stück gedruckt zu lesen stand. Die Frau Majorin freilich hielt für unnötig, daß ein Dienstmädchen den Schiller lese. Anfangs hatte sie sich ergötzt an dem Vergnügen des Mädchens; am Ende aber wurde ihr's doch zuviel, sich beständig vom Theater erzählen und vordeklamieren zu lassen, und Dörtchen konnte kaum erwarten, bis sie am nächsten Sonntag Erlaubnis zum Spaziergang mit Jette und einigen Freundinnen erhielt, bei denen sie sich aussprechen konnte nach Herzenslust. Den meisten dieser Mädchen war ein Theater nichts so Unerhörtes mehr wie dem Dörtchen; sie waren ganz erstaunt über ihr Entzücken und über den Ausdruck, mit dem diese die Reden der Jungfrau deklamierte. Sie saßen in einer Laube des Wirtsgartens, wo sie sich unbeachtet glaubten; auch hatte Dörtchen in ihrem Eifer gar nicht bemerkt, ob jemand zuhöre, als sie am Ende in höchstem Feuer deklamierte:

»Wie wird mir? – leichte Wolken heben mich!
Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide.
Hinauf! hinauf! die Erde flieht zurück,
Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude.«

Sie hatte alles um sich her vergessen und fuhr erschrocken und beschämt zurück, als ein ältlicher Herr seinen Kopf in die Laube streckte und höflich fragte: »Um Vergebung, mein liebes Kind, darf ich um Ihren Namen bitten?«

»Dorothea Schefer,« stammelte sie, »im Dienst bei der Frau Majorin Sternberg.« – »So?« sagte der Fremde etwas gedehnt und trat zurück; die Mädchen bemerkten aber, daß er ihnen beim Nachhausegehen von weitem nachging. »Du,« sagte Jette zu Dörtchen, »weißt was? das ist einer vom Theater, ich kenn' ihn; er hat neulich den Talbok gespielt oder wie er heißt.« – »Talbot,« sagte Dörtchen ärgerlich. »Ist mir eins, ob's ein Bok oder ein Bot ist!« entgegnete Jette gleichmütig; »'s ist ja doch nicht wahr. Aber gib nur acht, der will dich aufs Theater, weil du's so schön kannst!« Die Mädchen nahmen es als einen Spott und neckten Dörtchen lange damit; die aber dachte im Herzen, es könnte doch wohl sein, und mußte wachend und träumend daran denken, so daß am andern Abend die Frau Majorin kopfschüttelnd sagte: »Hör', Mädchen, dich laß' ich sobald nicht wieder in die Komödie; du bist ja ganz wie ausgetauscht.« Bei Dörtchen aber ging all' ihr Dichten und Trachten darauf, wie sie wieder in die Komödie kommen könnte.


Es war einige Wochen nach diesem Theaterbesuch; da finden wir Dörtchen in der Studierstube des ehrwürdigen Waisenhauspfarrers. Er hatte seine ehemalige Schülerin manchmal in dieser Zeit gesehen und sich gefreut, daß die Frau Majorin so wohl mit ihr zufrieden war. »Nun, Dörtchen, was führt dich heute her?« fragte er freundlich; »das ist ja ein stattliches Frauenzimmer geworden! Da werde ich wohl Jungfer Dorothea sagen müssen!« – »O, lieber Herr Pfarrer,« bat Dörtchen, »bitte, sehen Sie mich doch noch für Ihr Schulkind an! Ich habe ja keinen Menschen auf der Welt; da komme ich um guten Rat zu Ihnen, wie ich zu meinem Vater gekommen wäre.«

»So laß hören, Kind.«

»Die Frau Majorin wird von hier fortziehen,« berichtete Dörtchen; »ihrem Neffen ist seine Frau gestorben, und er hat sie gebeten, in sein Haus zu ziehen, sie solle es gut haben.«

»Tut mir leid, daß du den guten Dienst verlierst; wird sich aber schon wieder etwas für dich finden.«

»Ja, ich weiß etwas,« sagte Dörtchen, und nicht ohne Verlegenheit erzählte sie von dem Theaterbesuch und wie mächtig sie davon angeregt worden sei, so daß sie im Garten bei ihren Gefährtinnen das Gehörte wiederholt habe.

»Da ist nun ein Herr zu mir gekommen,« fuhr sie errötend fort, »ein älterer Herr vom Theater, Zeno heißt er. Der sagte, er sehe deutlich, daß ich Talent habe zum Schauspiel und dazu berufen sei; ich könne mir da eine reiche und glückliche Zukunft erringen; ich sei freilich zum Anfangen schon ein bißchen alt, aber er wolle mir helfen, und mit meinen Gaben könne ich es bald lernen. Er ist nicht nur so ein Herumzieher,« fuhr Dörtchen eifrig fort, als der Pfarrer reden wollte; »er ist angestellt beim Stadttheater in Hamburg; er verspricht mir gleich zum Anfang ein Einkommen, das mehr ist als mein Lohn und will mich unterbringen bei ordentlichen Leuten, und er sagt, daß es Schauspielerinnen gebe, die zweitausend Taler und mehr verdienen in einem Jahr!«

»Aber, Dörtchen ...«

»Und er sagt,« fuhr Dörtchen immer eifriger fort, »daß dieses Talent eine natürliche Gottesgabe sei, und daß es eine Sünde wäre, wenn ich sie liegen ließe. Und, lieber Herr Pfarrer, es muß doch etwas Prächtiges sein! Ich glaube fast selbst, daß ich dazu bestimmt bin!« Ihre Augen leuchteten, und ihre Wangen glühten, wenn sie sich die Herrlichkeit des Theaters wieder vor die Seele rief, und ängstlich sah sie den Pfarrer an, weil sie doch ahnte, daß er es nicht billigen werde.

»Liebes Kind,« sagte dieser, »es mag sein, daß du zu der Schauspielkunst Gaben hast, es ist aber darum noch nicht gewiß, ob es Gottes Wille ist, daß du diesen Beruf ergreifst.«

»Halten Sie es für eine Sünde?« fragte Dörtchen gespannt.

»Das kann ich nicht sagen,« sagte der Pfarrer, »aber ich halte es in jedem Falle für eine gefährliche Laufbahn für ein junges und schutzloses Mädchen, und glaube, daß es in einem einfachen häuslichen Beruf, bei einem ernsten, wenn auch mühsamen Tagwerk, leichter für dich wäre, den Frieden deiner Seele, die Unschuld deines Herzens und Wandels zu bewahren, als bei dieser anscheinend glänzenden Laufbahn. Freilich stehst du auch so allein ...«

»Herr Pfarrer,« sagte Dörtchen mit tiefem Erröten, »ich muß Ihnen noch etwas sagen; es ist mir noch eine andere Heimat geboten, der Unteroffizier Schröter will mich heiraten ...«

»Das ist ein braver Mann!« sagte der Pfarrer.

»O, der allerbrävste,« bestätigte Dörtchen warm, »aber er sagt selbst, es sei ein armes, einfaches Leben, zu dem er mich führen könne. Er hat etwas eigenes und erspartes Vermögen, aber nicht viel; solange er im Dienst bleibt, könnte ich etwas nebenbei verdienen mit Nähen und Bügeln; er versteht aber auch ein Handwerk ...« Dörtchen schwieg. Neben diesem Leben in Stille und Entbehrung tauchten wieder der helle Lichterglanz, die farbigen schimmernden Gewänder des Theaters vor ihr auf, die gefeierte Schauspielerin, wie der Herr Zeno ihr geschildert, die ihre eigene elegante Wohnung und ihr Kammermädchen hat und in ihrer Equipage heimfährt.

»Mein Kind, ehe du dem wackern Schröter Ja sagtest, müßtest du zuvor gewiß wissen, ob du ihn recht von Herzen lieben und ihm vertrauen kannst. Kannst du das, so glaube ich, dein Herzensfriede wäre mehr gesichert, dein Weg zum Himmel einfacher und leichter zu finden und einzuhalten, als im Glanz des Schauspielerlebens ...«

»Herr Pfarrer,« fing Dörtchen wieder an, die noch keine bestimmte Antwort geben wollte oder konnte, »können Sie mir denn nicht auch mehr sagen von meinen Eltern? – jetzt sollte ich es doch wissen.«

»Nicht viel, mein Kind. Deine Mutter war eine Schauspielerin, die dich bald nach deiner Geburt einer armen Frau hier anvertraute. Es scheint, daß die Gesellschaft weiterreisen mußte und daß dich deine Mutter auf Befehl deines Vaters sehr ungern und mit großem Leid hier zurückgelassen hat. Deine Eltern haben versprochen, wieder zu schreiben; man hat aber nie mehr von ihnen gehört. Der Name Eichstrom, der auf den Theaterzetteln stand, scheint ein angenommener gewesen zu sein; auf alle Nachforschungen hat man nichts erfahren können, und wir haben für gewiß angenommen, daß deine Mutter gestorben ist.«

»O gewiß« rief Dörtchen mit strömenden Tränen, »gewiß meine Mutter hatte mich nicht so verlassen!«

»So, mein Kind, meine Meinung weißt du; nun erwäge deinen Entschluß mit Gott. Du darfst den braven Schröter nur nehmen, wenn du eine rechte Freudigkeit im Herzen hast, Leid und Freude mit ihm zu teilen. Gott helfe dir zum Rechten!«

Dörtchen ging. Im Herzen war ihr Entschluß gefaßt. Vor allem Glanz der Theaterkerzen stand jetzt das Bild ihrer nie gesehenen Mutter, wie sie mit Tränen und Schmerzen ihr Kind verlassen mußte unter fremden Leuten: sie wollte keine Schauspielerin mehr werden, und sie bat Gott um die rechte Freudigkeit, wenn es sein Wille sei, daß sie Schröters Frau werde.


Zwölf Jahre sind vergangen, seit Dörtchen von dem Pfarrer Abschied genommen hat. Eine Schauspielerin ist sie nicht geworden, und es sieht ein wenig anders bei ihr aus, als sie sich ihre Zukunft vorgemalt zu jener Zeit, wo ihr Herz aufs Theater verlangte.

Es ist ein nettes kleines Häuschen, in dem der ehemalige Unteroffizier Schröter mit seiner Familie wohnt. Aber gewaltig eng geht's darin her, denn sie haben mit sechs Kindern nicht mehr, als zwei Zimmer und ein Kämmerchen. Reinlich und sauber sieht es zwar aus in dem kleinen Raum; Dörtchen ist nicht umsonst bei der Frau Majorin gewesen, und hat sie keine Porzellanfiguren, so sind es doch zwei Engelchen von Gips, die auf der sauber gebohnten braunen Kommode stehen, zu täglich neuer Bewunderung der Kinder.

Dörtchen ist noch eine gar hübsche Frau, obgleich man wohl sieht, daß schon manche Sorge über sie gegangen, seit sie das zierliche Stübchen der Frau Majorin verlassen hat. Schröter hatte nicht lange mehr im Militärdienst bleiben können; eine schwere Krankheit hatte ihm ein Augenleiden zurückgelassen, das ihm den Dienst unmöglich machte. Das war Dörtchen nicht so leid; Schröter hatte nebenher in seinen jüngeren Jahren das Handwerk eines Bürstenbinders erlernt und hoffte, seine Familie damit zu ernähren. Aber die Familie wurde nach und nach ziemlich groß; das Leben in der großen Stadt war zu teuer, so kauften sie ein wohlfeiles Häuschen in einer kleinen Stadt. Der Mann war unermüdet fleißig, die Frau suchte, wo es möglich war, neben den Kindern noch mit der Nadel etwas zu verdienen; – aber es gab ein spärliches Brot, und die Sorgen blieben nicht aus, zumal da sich dazwischen auch Krankheiten einstellten. Doch nicht nur die Sorge, auch die Freude kehrte ein. Da sehen wir Dörtchen, emsig mit der Nadel beschäftigt, an der Wiege, wo ihr jüngster Knabe schlummert; sie schaukelt sanft die Wiege mit dem Fuß und singt ein feines Schlummerliedlein; denn sie ist noch immer Versedörtchen und hat mit den vielen schönen Liedern, die sie weiß, schon oft das niedere Stüblein aufgehellt. Ihr ältestes Töchterlein, neun Jahre alt, sitzt neben ihr auf einem Stühlchen und singt mit, zeigt aber dazwischen der Mutter triumphierend das Tüchlein, an dem sie säumt, wie es schon so weit gediehen ist.

Am Fenster sitzt der Vater eifrig an seiner Arbeit, weil's heute in der Werkstatt drüben zu kalt ist. Der kleine Paul bei ihm auf einem Schemelchen bildet sich ein, er helfe dem Vater, sucht Borsten und Holzstückchen zusammen und sagt eifrig vor sich hin: »I au Büsten machen.«

Der Kleine ist eingeschlafen, und Dörtchens Gesang verstummt. »Jetzt guck' nur ein einzigs Mal her, Vater,« sagte sie zum Mann, »wie prächtig der da liegt, wie eine rote Ros'! Ist mir nur halb recht, daß er jetzt so schläft,« sagte sie weiter; »dann schreit er am Ende heute nacht, und da mußt du ihn haben; ich muß früh aufstehen und für uns waschen, weil ich morgen und übermorgen der Frau Doktor beim Bügeln helfen will.«

»Dann darf ich haushalten!« rief höchst wichtig Marie.

»Ja freilich,« sagte die Mutter, »ich habe schon das Kraut für morgen fertig gekocht; dann stellst du dir den Schemel an den Herd und kannst es wärmen.«

»Armes Weib!« sagte seufzend Schröter von seinem Fenster aus, »wie mußt du dich plagen!«

»Ist nicht so arg,« sagte Dörtchen und sah lächelnd zu ihm hinüber. »Du weißt wohl, hie und da kommt mir zu viel zusammen, dann werde ich ein wenig ungeduldig und unwirsch; das geht aber vorbei, wenn mir das Verschen einfällt:

»Und drängt mich der Geschäfte Last,
Will ich entlaufen Dir,
Der Du den Sturm gestillet hast,
Still auch den Sturm in mir.«

»O, Dörtchen!« seufzte Schröter noch einmal, »weißt du, daß ich oft denke, du seiest zu etwas viel Besserem bestimmt gewesen, als dich so kümmerlich zu Plagen mit unserem armseligen Haushalt?«

»Hab's selbst manchmal gemeint,« gestand Dörtchen treuherzig; »mein Geschmack ist's eigentlich von Anfang nicht gewesen, und ich hab' mir früher oft ein ander Leben ausgedacht. Aber ich bin schon lang gescheiter worden. Hab' ich nicht das Beste, was man vom Leben verlangen kann? – einen braven Mann, na, brauchst den Kopf nicht zu schütteln, Alter, einen recht braven Mann erst noch, von dem ich in zwölf Jahren kein rauhes Wort gehört habe – es gibt wenige vornehme und reiche Frauen, die das rühmen können – und liebe Kinder; in den letzten Jahren auch wieder Gesundheit, Frieden und Liebe dazu – was will man weiter! Das bißchen Sorge, das ist nur, daß man nicht verlernt, dem lieben Gott in die Augen zu sehen ...!«

»Ach!« seufzte der Mann, »ich denke doch oft, ich könnte dem lieben Gott viel freudiger dienen, wenn uns einmal der Sorgenstein vom Herzen genommen würde! Wenn ich an euch denke ... ich hab' mir ja nie Reichtum gewünscht; aber das eigene Häuschen schuldenfrei, ein paar Güterstückchen und einen Garten dran, wo ich für euch arbeiten könnte! – Das Handwerk geht so schlecht, und auf Märkte gehe ich blutungern; meine Augen werden immer schlechter, Gott weiß, wie das noch gehen soll!«

»Bist doch auch wieder ein alter Bummler,« sagte Dörtchen gutmutig scheltend. Da riß der älteste des Hauses, Hermann, die Tür auf, stürmte mit seinem Schulranzen herein und rief triumphierend: »Mutter, Vater, ein Prämium, so ein schönes Buch! – und der Herr Lehrer hat gesagt, er wolle mir schon helfen, daß ich einmal billig auf ein Gymnasium komme! Jetzt wird der hochmütige Ferdinand still sein, der immer sagt, es sei ein Uebermut, daß ein Bürstenbinderssohn Hermann heiße und in eine Lateinschule gehe! Aber Schulgeld muß ich morgen bringen.«

»Wenn nur das Schulgeld und der Zins nicht allemal zusammenkämen!« sagte der Vater für sich und überzählte traurig den spärlichen Inhalt seines geheimen Schiebfaches, in welchem er den Notpfennig aufbewahrte.

»Ei nun,« sagte Dörtchen lächelnd, indem sie ihren wilden Aeltesten belobend auf die Stirn küßte, »es wird sich schon Rat finden; ich habe noch ein geheimes Beutelein; lern' du nur brav, Hermann, dann wird der stolze Ferdinand noch Respekt vor dir kriegen!«

»Verständig werden ist der Mühe wert:
Durch ein gebildet Herz, durch Licht im Geiste
Erkaufst du dir die Welt mit ihren Schätzen.«

Während Dörtchen diesen Sinnspruch aus ihrem Verseschatz hervorholte, fanden sich die zwei noch fehlenden Glieder der Bevölkerung ein; der siebenjährige Hans schleppt das dreijährige Minchen, das er vor der Haustüre gehütet, mit sich herbei; sie wissen, es ist Vesperzeit.

»Weil Hermann ein Prämium bekommen, so kriegt ihr heute alle ein wenig dicken Rahm aufs Brot,« verkündet die Mutter. Das gibt einen Jubel, daß der Kleinste aufwacht; er schreit aber nicht, sondern guckt mit seinen großen Augen lachend die Geschwister an, die sich alle um die Wiege drängen, und jedes behauptet, das Brüderlein habe es angelacht.

Dörtchen aber liest aus all der Vaterfreude, mit der ihr Mann die kleine Schar überblickt, doch noch die sorgenvolle Frage in seinen Mienen: »Wo nehmen wir Brot her, daß diese essen?« – »Wer weiß noch etwas aus dem Lied, das ich euch neulich gelehrt?« fragte sie. »Ich! ich! ich!« schrie es dreistimmig von den älteren Kindern mit einer etwas vom Essen erstickten Stimme; »i au,« versicherte Paul, »und Mine!« sagte ernsthaft das kleinste Mädchen. »Nun, laßt hören! Fang du an, Hermann! Tu solang dein Brot vom Munde; aber wartet, man muß ein Fenster aufmachen, daß man die Spatzen draußen zwitschern hört, dann ist's natürlicher. Der erste Vers?«

In etwas singendem Schulton fing Hermann an:

»Kommt, lasset uns spazieren
Durch diesen grünen Wald.
Die Vöglein musizieren
Mit Singen mannigfalt.
Sie singen ohne Sorgen,
Sind fröhlich, denken nicht, Ob ihnen auch am Morgen
Dies oder das gebricht. «

Marie sagte ihr Verslein mit viel mehr Ausdruck:

»Sie trachten nicht nach Schätzen
Mit Sorge, Müh' und Streit,
Der Wald ist ihr Ergötzen,
Die Federn sind ihr Kleid.
Ihr Tisch ist stets gedecket, Sie sind gar wohlgemut,
Weil jedes, was ihm schmecket,
Hat, soviel not ihm tut.«

Etwas mühsam und nicht ohne Nachhilfe kam Hans mit dem dritten Vers:

»Sie bauen kleine Neste,
Nicht große Scheunen auf,
Sind nirgends fremde Gäste
Und kaufen guten Kauf;
Ein jedes singt hinwieder,
So gut es kann und mag,
Dem Wirte schöne Lieder
Hindurch den ganzen Tag.«

Recht schelmisch blickte Dörtchen zu ihrem Manne hinüber, als sie den vierten Vers selbst sagte:

»Der Mensch schlägt sich mit Grillen,
Ist blinder als ein Tier,
Sieht nicht auf Gottes Willen
Und sorget für und für;
›Was‹, spricht er, ›werd' ich essen?
Was trink' ich Armer doch?
Der Herr hat mein vergessen!‹
O Mensch, Gott lebet noch!«

Mit recht herzlichem Ton sagte sie den Schluß in einem nicht sehr harmonischen Chor mit der ganzen Familie:

»Auf ihn will ich fest bauen,
Ich weiß, er läßt mich nicht;
Mein Fleiß darf ihm vertrauen
In allem, was gebricht.
Ich sorge nicht für morgen,
Noch was ich jetzt verzehrt,
Ich lasse den nur sorgen,
Der alle Welt ernährt.«

Eh' noch der Hausvater sein bedenkliches »aber« zu dem tröstlichen Liede fügen konnte, klopfte es an die Tür; der Gerichtsaktuar mit einem Schreiber trat ein: »Wohnt hier der ehemalige Unteroffizier Schröter?«

»Zu dienen, meine Herren,« sagte dieser und stellte sich in gerader militärischer Haltung vor die Gerichtspersonen.

»Ich denke, Sie könnten die Kinder entlassen,« sagte der Aktuar mit einem Blick auf die kleine Schar, die mit den weitaufgesperrten rahmbeschmierten Mäulern verwundert um die ungewöhnten Besuche stand.

»Sehr wohl, Herr Aktuar; marsch, 'naus!« kommandierte der Vater, »wollen die Herren gefälligst Platz nehmen?«

»Ist Ihre Frau eine Dorothea Schefer, erzogen im Waisenhause zu K.?«

»Allerdings; später in Diensten bei Frau Majorin Sternberg.«

»Das zurückgelassene Kind einer durchreisenden Schauspielerin, die unter dem Namen Eichstrom reiste?«

»Wird so sein, Herr Aktuar,« sagte Schröter leise aus Schonung für seine Frau.

»Haben Sie später niemals etwas von Ihrer Mutter gehört?« wandte sich der Aktuar an Dörtchen, die blaß und atemlos vor innerer Bewegung dastand.

»Niemals,« antwortete sie.

»Haben Sie auch keine Gegenstände, die bei der Entfernung aus der Stadt von Ihrer Mutter zurückgelassen worden wären?«

»Ein dünnes, goldenes Kettlein, sonst nichts,« sagte Dörtchen mit bebender Stimme.

»Darf ich Sie bitten, mir solches für einige Zeit zu überlassen? Das Gericht bürgt Ihnen dafür, daß sie dasselbe unversehrt wieder zurückerhalten werden.«

»Bitte, Herr Aktuar,« sagte Dörtchen mit bebender Stimme, »lebt meine Mutter noch?«

»Die Schauspielerin Eichstrom, auch manchmal Löwenstern genannt, ist, soviel hat ermittelt werden können, ein Jahr nach der Geburt ihres Kindes nach langem Siechtum im Hospital zu L. gestorben. Es ist in letzter Zeit von Berlin aus Nachfrage nach dem damals geborenen Kinde gemacht worden und soll jetzt das Resultat dahin berichtet werden; weiter kann ich Ihnen nichts sagen.«

Diesmal war es der Mann, der seine hochaufgeregte Frau beruhigen mußte, als die Herren fort waren; zum erstenmal hatte Dörtchen in ihrer Bewegung das Weinen ihres Kleinsten überhört. »So sei doch ruhig, Dörtchen!« bat Schröter, »etwas Schlimmes kann es ja in keinem Fall sein; wie, komm', sei doch nur wie vorher! Fällt dir denn keins von deinen vielen Sprüchlein ein?« Da raffte sich Dörtchen auf, sah ihn freundlich an und sagte getrost:

»Es kann mir nichts geschehen.
Denn was sein Rat ersehen
Und was mir nützlich ist.
Ich nehm' es, wie er's gibet;
Was ihm von mir beliebet.
Das hab' ich auch getrost erkiest.«

Und sie nahm ihren Kleinen auf die Arme und war das alte, heitere Versedörtchen wieder.


In einem älteren Teil der Stadt Berlin, in dem hohen, etwas düsteren Zimmer eines stattlichen Hauses saß eine alte Dame, sorgfältig mit Kissen in einen Lehnstuhl gebettet; die Dame schien sehr leidend, und die alte Dienerin, die bei ihr war, machte sich besorgt um sie zu schaffen. »Sie hätten doch besser getan, im Bett zu bleiben, Frau Kommerzienrat,« sagte sie.

»Laß mich, Charlotte!« sagte diese, »ich hätte keine Ruhe gehabt; wir haben ja ausgerechnet, daß sie heute kommen kann.«

»Aber gerade das wird Sie so angreifen,« meinte die treue Charlotte.

»Ich mußes durchmachen,« sagte die alte Frau bestimmt; »es wird freilich schrecklich sein, das Kind meiner einzigen Tochter, meiner schönen Emilie, wiederzufinden als ein gemeines Soldatenweib ...«

»Unteroffizier ist der Mann,« sagte mildernd die Dienerin.

»Das ist fast noch schrecklicher!« jammerte die alte Frau, ohne daß sie gerade wußte, warum es noch schrecklicher sein sollte; »aber gleichviel, es ist eine Pflicht, und ich kann nicht ruhig sterben, bis ich sie erfüllt habe.«

»Es ist eine junge Bürgersfrau draußen und fragt nach der Frau Kommerzienrat,« berichtete das Dienstmädchen von draußen.

»Sie soll kommen!« sagte die alte Dame mit bebender Stimme und richtete sich in ihrem Stuhl gerade auf. »Charlotte, zieh den Vorhang auf!« .

Das volle Licht fiel auf das helle, liebliche Gesicht der jungen Frau, die sehr schüchternen Schrittes das mit etwas altmodischer Pracht geschmückte Zimmer betrat. Dörtchen trug ihr bestes schwarzes Kleid, das schön stand zu ihrer hellen Farbe und ihren blonden Haaren; bescheiden und doch mit inniger Bewegung blickte sie auf die alte Frau und neigte sich vor ihr.

Bei dieser war alle Scheu vor der niedrigen Enkeltochter verschwunden beim Anblick dieses Gesichts. »Komm her,« rief sie, »du Kind meiner armen Emilie! Gott sei Dank, daß ich dich noch sehen darf, eh' ich sterbe!« Und mit tiefer Rührung beugte sich Dörtchen und küßte die abgemagerte Hand, ließ sich von der zitternden alten Frau in die Arme schließen und sprach das Wörtchen »Großmutter« aus, das ihr so wunderbar klang; – so hatte sie doch jemand eigen gehört!


Die erste tiefe Bewegung war vorüber; die sorgsame Charlotte, die selbst herzlich erfreut war, das Kind ihrer lieben Emilie zu sehen, die sie einst auf den Armen getragen, hatte ein Tischchen vor den Lehnsessel der alten Frau gerückt und brachte Kaffee und Kuchen. »Das beruhigt die Gemüter am besten,« sagte sie für sich hin, obgleich die alte und die junge Frau gewiß nicht an Essen und Trinken gedacht hatten.

Der alten Frau war es unaussprechlich wohl ums Herz, als sie in der Tochter ihres verlorenen Kindes nicht, wie sie gefürchtet, ein gemeines, rohes Geschöpf gefunden, sondern eine wohlgebildete anständige Frau, die überall an ihrem Platze war; sie ließ so gern ihre Hand in der warmen Hand ihrer Enkeltochter ruhen und sah ihr in die treuen blauen Augen. »Ja, du bist meiner Emilie Kind,« sagte sie wiederholt; »nicht wahr, Charlotte, nun brauchen wir das Kettelein nicht mehr?«

»Nein, gewiß nicht, Frau Kommerzienrat; sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, nur schlanker war das Fräulein Emilie und zarter und jünger ...« Die treue Dienerin wurde ganz verwirrt, daß die gesetzte Frau hier die Tochter der Emilie sein sollte, die sie nur als Kind und als ein junges, schönes, leichtsinniges Mädchen gekannt hatte.

»Ja, Kind, es ist eine gar traurige Geschichte,« hub die alte Frau an; »aber du mußt alles wissen, ehe ich sterbe, und daß es nicht meine Schuld war, daß wir uns jetzt erst sehen.

Mein seliger Mann, dein Großvater, hat erst spät geheiratet; er war ein gar ernster und strenger Mann. Von dem, was seine Grundsätze waren, ging er nicht ein Haarbreit ab, und auch unsere Kinder sollten gerade so erzogen werden, wie er von seinem Vater erzogen worden war. Kinderlärm konnte er nicht leiden, ausgehen sollten die Kinder auch nicht; er behauptete, sie lernen nur Unarten von andern, und ich hatte oft große Mühe, mit den zwei ausgelassenen Kindern zustande zu kommen; denn je mehr man sie daheim hielt, desto wilder wurden sie, wenn sie einmal draußen waren, und da sie zu Hause immer gescholten und gestraft wurden, so war mir oft, als hätten sie keine rechte Liebe zur Heimat.

Es waren uns von fünf Kindern nur zwei geblieben. Gustav war wild und oft störrig, aber doch ein vernünftiger Junge und gehorsam; Emilie aber, meine Jüngste, mein Liebling, – ach, ich weiß nicht, womit ich's verfehlt, daß das Mädchen nie gelernt hat, was Gehorsam ist! Die Charlotte da hat ihr oft und viel gepredigt, wenn ihr alles daheim nicht recht war, und sie zur Fügsamkeit ermahnt; aber all ihr Sinnen ging nur darauf, wie sie überall ihren eigenen Willen durchsetzen könne. Ach, hätte sie sich doch gefügt! Es ist wahr, sie hatte nicht viel Freude daheim; aber ich habe ihr ja doch keinen Wunsch versagt, den ich gewähren durfte, und später hätte sie wohl auch mit der Eltern Segen eine eigene gute Heimat gefunden, – aber so! Das Mädchen hatte mich Jahre lang geplagt, ob sie nicht ins Theater dürfe; es kam mir wie eine unnötige Strenge und Wunderlichkeit von meinem Mann, daß er's nicht zugeben wollte. – Er hat mir selbst erst lange nachher gesagt, daß ein eigener Bruder von ihm mit reisenden Schauspielern fortgelaufen und elend verkommen sei.

Von dem muß es die Emilie geerbt haben; denn wie das Mädchen einmal im Theater gewesen war, so war sie wie besessen und hat sonst an nichts mehr gedacht. O, wie habe ich lang und bitter bereuen müssen, daß ich ihr ohne des Vaters Willen dazu geholfen und daß ich still dazu war, wenn ich später merkte, daß sie auch ohne meine Erlaubnis hinging! Es gibt freilich viele junge Leute, für die es ein unschuldiges Vergnügen ist; aber es gibt auch fröhliche und glückliche Kinder, die nie ein Schauspiel gesehen, und Gehorsam gegen des Vaters Befehl hätte doch das erste sein sollen. Ungehorsam bringt Unsegen und wenn er noch so harmlos aussieht.

Ich kann dir selbst nicht genau sagen, wie es gekommen, daß meine Emilie, kaum achtzehn Jahre alt, zu dem entsetzlichen Schritt kam, ihr Elternhaus zu verlassen und in die weite Welt hinauszuziehen. Sie schrieb uns, sie könne den Zwang und das düstere Leben daheim nicht ertragen; sie sei für die Kunst begabt und werde sich mit einem jungen, talentvollen Künstler verbinden, dessen Bekanntschaft sie bei einer Freundin gemacht; sie hoffe, sie werde uns noch beweisen, daß sie für diesen Beruf geboren sei, wenn sie sich einen ehrenvollen Künstlernamen erworben habe.

Welch ein entsetzlicher Schlag das für uns gewesen, kann ich nicht sagen. O, das war eine böse, böse Frucht, die aus der leichten Saat kindischen Ungehorsams aufgegangen! ›Es ist ja nichts Böses,‹ hatte sie oft gesagt, wenn sie gegen des Vaters Willen und ohne meine Erlaubnis Bekanntschaft mit fremden Mädchen angeknüpft und sie besucht hatte in Stunden, wo wir sie in der Schule oder in Lektionen glaubten. So hatte sie ihr Gewissen abgestumpft und wird auch gedacht haben: ›Es ist ja nichts Böses,‹ als sie das Vaterhaus verließ ohne der Eltern Segen.

Mein Mann war furchtbar erbittert. Als alle Mittel, sie gleich wieder aufzufinden und zurückzubringen, vergeblich waren, hat er den Fluch über das pflichtvergessene Kind ausgesprochen, und ihr Name durfte nicht mehr vor ihm genannt werden. Auch bei mir war anfangs Zorn und Erbitterung noch mächtiger als die Trauer; Charlotte aber, die treue Seele, die sie als Kind schon gepflegt, die hat nicht abgelassen mit Bitten; das eigene Mutterherz wurde mächtig in mir, und ich hoffte, meine Gebete und Tränen sollten des Vaters Fluch auslöschen.

Mein Mann hat von dem Tage an sein Haus nicht mehr verlassen und alle Geschäfte aufgegeben. Es sind nun bald dreißig Jahre, seit er, vom Schlage getroffen, schnell gestorben ist. Er wollte mir im Sterben noch etwas sagen, konnte aber kein Wort mehr hervorbringen; der Jammer hat ihm das Herz gebrochen. An unserem einzigen Sohn haben wir nicht das Herzeleid erlebt wie an Emilie, doch hat's ihn auch in die Welt hinausgetrieben; er ist in Amerika am gelben Fieber gestorben. Nach dem Tode meines Mannes habe ich alles in Bewegung gesetzt, um etwas von meinem Kinde zu erfahren. Vergeblich! Nun, vor wenigen Monaten, als ich einen alten Schreibtisch meines seligen Mannes reparieren ließ, haben wir ein geheimes Schiebfach entdeckt und in diesem einen Brief, den deine unglückliche Mutter bald nach deiner Geburt muß geschrieben haben. O, meine arme Emilie! Das Glück, das sie in dem freien Leben gesucht hat, war von sehr kurzer Dauer gewesen, und bittere Not und Herzeleid waren bald gefolgt.

Sie schreibt in tiefer Reue, sie wage nicht, für sich um unsere Vergebung zu bitten; aber sie bitte um unsere Hilfe, um unsere Liebe für ihr unschuldiges Kind, das sie auf ihres Mannes Befehl bei armen Bürgersleuten in K. zurückgelassen.

Es scheint, daß mein Mann, als er den Brief erhalten, noch zu tief erbittert war, um mir etwas mitzuteilen; der Tod hat ihn ereilt, eh' er seinen harten Sinn brechen konnte. Möge der Herr in der Sterbestunde noch den Weg zu seinem Herzen gefunden haben!

Und ich fand jetzt erst den Brief, und jetzt erst konnte ich in Erfahrung bringen, wo du bist, du armes Kind, jetzt, wo alles zu spät ist!«

In tiefer Bewegung, oft unter heißem Weinen, hatte Dörtchen die Geschichte ihrer unglücklichen Mutter gehört; jetzt aber blickte sie hell auf mit ihren verweinten Augen, bot der alten Dame die Hand und sagte: »Gott sei Dank, liebe Großmutter, daß wir uns noch gefunden, und daß ich vielleicht mit Liebe und Pflege gut machen kann, was meine arme Mutter versäumt; 's ist nicht zu spät.«

»Alles zu spät!« jammerte die alte Frau wieder. »Du bist als ein Waisenkind im Elend aufgewachsen, hast als Magd dienen müssen, hast einen gemeinen Soldaten geheiratet und deine Kinder ...«

»Einen Unteroffizier, Frau Großmutter,« fiel hier Dörtchen ein, deren Stolz sich jetzt regte, »und einen rechtschaffenen, braven, gottesfürchtigen Mann, mit dem ich in Liebe und Frieden gelebt habe und in Ehren, wenn auch oft in Armut und in Sorge.«

»Ei, denken Sie, Frau Kommerzienrat,« fiel hier die treue Charlotte ein, »wie oft Sie gefürchtet, die Kinder Ihrer Tochter möchten als arme Schauspieler heimatlos in der Welt herumirren!«

»Ist wahr,« sagte die alte Dame etwas getröstet, »es ist so immer noch besser!« Und als Dörtchen ihr erzählte, wie auch in ihr Talent und Lust zur Schauspielerin sich mächtig geregt, und wie sie aber den stillen, sichern Weg einer bescheidenen Hausfrau vorgezogen, da wurde die Großmutter immer zufriedener und lernte den Rest Standeshochmut überwinden.

»Gott hat Wohl gemacht, was Menschen verfehlt,« sagte Dörtchen. »Ich bin nie ganz verlassen gewesen, ich habe arbeiten lernen und entbehren, und beten und auf Gott vertrauen. Und meine Kinder,« fuhr sie fort in gerechtem Mutterstolz, »die sind alle wohlgebildet und gut begabt, und wenn sie mit Gottes Hilfe etwas Rechtes lernen können, so dürfen Sie sich gar nicht schämen an Ihren Urenkelein, Frau Großmutter!«

»Urenkelein?« fragte die alte Frau verwundert. Daran hatte sie gar nicht gedacht, daß sie schon Urenkel habe; »ja, bin ich denn schon so alt?«

»Sie haben eben gar jung geheiratet,« belehrte Charlotte sie; »freilich, eigene leibliche Urenkel haben Sie, und dazu schon große!«

»Mein ältester Knabe ist elf, er ist der Erste in allen Schulen und hat schon drei Prämien erhalten,« rühmte Frau Dorothea.

»Nun, die möchte ich alle sehen, ehe ich sterbe! Hörst du, Dorothea, alle – auch deinen Mann,« fügte die Großmutter mit einiger Ueberwindung hinzu. »Es ist ja doch noch gut gegangen!« seufzte sie ergeben; »der Herr macht alles wohl.«

»Er ist ein wahrer Fürst,
Und wird sich so verhalten,
Daß du dich wundern wirst.«

schloß Versedörtchen mit getrostem Mute.


Und sie sind noch alle gekommen. Schröter wollte zuerst nicht zugeben, daß Dörtchen das erste reiche Geschenk der Großmutter dazu verwendete, die ganze Familie neu, hübsch und anständig zu kleiden; doch hielt er ihr die mütterliche Eitelkeit zu gut, sie hatte ja manch dürftiges Gewand ohne Klage getragen! Er mußte selbst eine Freude haben, wenn er sah, wie nett sich seine blühende Kinderschar ausnahm: die Mädchen in ihren himmelblauen Kleidchen, die Knaben in schwarzen Samtjacken.

Die Urgroßmutter überschaute mit tiefer Rührung den blühenden Kreis und freute sich besonders der Kleinsten, die so schüchtern und erstaunt in den alten Prachtgemächern sich umsahen. »Gott segne euch, meine Kinder!« sprach sie bewegt; »seid euren Eltern gehorsam in allen Dingen, so wird euch der Segen nicht fehlen!«

Hermann hatte seine Schulhefte mitbringen müssen, darin fast lauter laudo und probo unter den Arbeiten standen, sowie die schönen Prämienbücher, und durfte sie der Urgroßmutter zeigen, die sich höchlich darüber freute; auch der wackere Schröter gewann ihr Herz mit seiner ehrenhaften Höflichkeit. »Das muß man sagen,« bemerkte sie gegen ihre Charlotte, »Leute vom Militär haben gute Lebensart, man braucht sich ihrer nirgends zu schämen.« Dörtchen aber sprach aus überfließendem Herzen, als sie wieder allein war mit den Ihren:

»Nun, so lang' ich in der Welt
Haben werd' ein Haus und Zelt,
Will ich all mein Leben lang
Gott erhöh'n mit Lobgesang,
Weil er meine Not bezwang.«

Nicht lange mehr hat sich die alte Frau der großen Familie freuen dürfen, die ihrem einsamen Alter so unvermutet noch zugefallen war. Aber sie starb recht in Frieden und Segen, und es war ein schönes Geleite von treuen und dankbaren Herzen, das mit ihr ging zur letzten Ruhestätte.

Als Dörtchen hörte, welch reiches Erbe ihr von der Großmutter zugefallen, sprach sie aus tiefstem Herzen:

»Herr, was ich hab', ist dein,
Laß mich im Unglück still,
Im Glück bescheiden sein!«

Und dies Gebet ist in Erfüllung gegangen. Die reichgesegnete Familie hat sich ihres Glückes nicht überhoben. Auf einem schönen Landgut in blühender Gegend hat Schröter nun Gelegenheit genug, tätig zu sein, ohne seinen Augen wehe zu tun, und er lebt auf in all seinem Glück. Die Kinder können nun freilich besser, als einst die Eltern, ihre Gaben und Talente ausbilden und dürfen sich daneben einer schönen glücklichen Jugendheimat freuen. Daß sie diese Gelegenheit in der rechten Weise benützen, das sieht man daran, daß ihre Liebe und Ehrfurcht vor Vater und Mutter, ihr williger Gehorsam nur wachsen, je mehr sie an Kenntnissen und Bildung vielleicht reicher werden als die Eltern.

Wer je dem Dörtchen eine Freundlichkeit erwiesen: die nun längst erwachsenen Kinder des Schusters, das Waisenhaus, die alte Frau Majorin, – allen hat sie in dankbarer Liebe vergolten, so gut sie konnte. Ihre Verse hat sie noch immer behalten, und »der Mutter Sprüchlein« bleiben unter allen Lebensverhältnissen den Kindern ein gutes Geleite. So oft sie der alten, mitunter so sorgenvollen Zeiten denkt, oder wenn eine neue Sorge sich erheben will, sagt sie fröhlich und getrost:

»Der Herr hat niemals was verseh'n.
In seinem Regiment,
Und was er tut und läßt geschehn,
Das nimmt ein selig End'.
Ei nun, so laß ihn ferner tun
Und red' ihm nicht darein,
So wirst du hier in Frieden ruhn
Und ewig selig sein!«


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